Gefährliche Wahrheiten - Megan Miranda - E-Book
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Gefährliche Wahrheiten E-Book

Megan Miranda

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Beschreibung

Überall lauert Gefahr! Das weiß die 17-jährige Kelsey nur zu gut. Denn ihre Mutter hat das Haus seit Kelseys Geburt nicht verlassen – seit sie mehreren Kidnappern entkommen konnte. Zu ihrem Schutz verhält Kelsey sich möglichst unauffällig. Doch ein Autounfall, bei dem sie von einem Mitschüler gerettet wird, löst ein wahres Medienfeuer aus. Als Kelsey wenig später abends nach Hause kommt, ist ihre Mutter verschwunden. Und auf dem Gelände verstecken sich Fremde. Aber das Böse wartet nicht im Dunkeln, sondern in der Vergangenheit. --- Aufregend, atemlos und voller Überraschungen - der perfekte Thriller von New-York-Times- und Spiegel-Bestseller-Autorin Megan Miranda ---

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Für Luis

1. KAPITEL

Früher war mir das schwarze eiserne Gittertor das Liebste am Haus.

Als ich noch jünger war, erinnerte es mich an geheime Gärten und versteckte Schätze, an all die großen Rätsel, die ich aus Kinderbüchern kannte.

Der ganze Zaun war wie aus dem Märchen. An manchen Stellen kletterten Pflanzen empor, Efeu und Unkraut umrankten die Stäbe, und wenn er bei Gewitter rings um das Haus aufleuchtete, bildete er einen scharfen Kontrast zur Dunkelheit.

Und wir waren drinnen.

Es war besser, den Zaun von dort aus zu betrachten, auf dem Weg nach draußen. Als ich älter wurde, begann ich ihn mit anderen Augen zu sehen. Von der anderen Seite, durch einen anderen Filter. Wenn ich im Hinausgehen einen Blick über die Schulter warf, sah ich nur die Kameras über den Eingängen. Die sterilen, kompakten Mauern des dahinterliegenden Hauses. Den Schatten hinter dem getönten Fenster.

Lange war mir nicht klar, dass genau darin das Geheimnis lag.

Trotzdem hatte der Eisenzaun etwas Vertrautes, und wenn ich morgens an ihm vorbeiging, musste ich ihn unwillkürlich berühren, ein banaler Abschied, wenn ich in den Tag aufbrach. Im Sommer waren die Stäbe heiß von der Sonne. Und im Winter, wenn ich meinen Wollmantel trug, spürte ich manchmal einen Funken unter der Kälte, als könnte ich den Strom fühlen, der oben hindurchfloss.

Aber meistens gab er mir ein Gefühl von zu Hause.

Als ich heute die Hand zurückzog, war sie feucht vom Morgentau. Alles glitzerte in der Sonne, die hinter den Bergen aufging.

Da ich mich jetzt jenseits des Zauns befand und weil ich am Fenster den Schatten meiner Mutter sah, galt es einen strikten Ablauf einzuhalten:

Vor dem Aufschließen der Autotür einen Blick auf die Rückbank werfen.

Den Motor starten und bis zwanzig zählen, damit er gleichmäßig lief.

Meiner Mutter winken, die mich aus dem Fenster beobachtete.

Mit beiden Händen am Steuer von der Kiesauffahrt rollen und dann über die gewundenen Bergstraßen in die Schule fahren.

Der Rest des Tages bestand aus abzuhakenden Stunden, einem altbekannten festen Ablauf. Man konnte diesen Mittwoch gegen jeden anderen tauschen, niemand hätte es bemerkt. Meiner Mutter zufolge bedeuteten feste Abläufe Sicherheit, aber ich sah das etwas anders. Feste Abläufe ließen sich lernen, sie waren vorhersehbar. Aber so etwas durfte man nicht aussprechen. Man durfte es noch nicht mal denken.

Der Rest meiner Mittwochsroutine ging so:

Früh genug in der Schule ankommen, um einen Parkplatz neben einer Straßenlaterne zu ergattern, da ich erst spät wieder losfahren würde. Den vollen Flur meiden und hoffen, dass Mr Graham das Klassenzimmer schon früh aufsperrte. Vor dem Matheunterricht auf meinem Platz in der letzten Reihe sitzen und weitgehend unbemerkt durch den Tag gleiten.

Weitgehend.

Ich hatte meine Bücher schon ausgepackt und war gerade mit den morgendlichen Aufgaben durch, als Ryan Baker ins Klassenzimmer rauschte.

»Hey, Kelsey«, sagte er und rutschte genau mit dem Läuten auf seinen Stuhl.

»Hi, Ryan«, erwiderte ich. Auch das gehörte zur Routine. Ryan sah aus, wie er immer aussah, nämlich: braune Haare, die jeden Tag anders fielen; Beine, die für sein Pult zu lang waren, sodass er sie nach vorne oder in den Gang zwischen uns streckte (heute: Gang); Jeans, braune Schnürstiefel, T-Shirt. Herbst in Vermont hieß für mich Sweatshirt-Wetter, aber für Ryan war es offensichtlich noch zu früh dafür.

Heute trug er ein dunkelblaues T-Shirt, auf dem FREIWILLIGER stand, und er merkte, wie ich die Aufschrift anstarrte. Ich wusste nicht, ob es ironisch gemeint war.

Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Wippte mit dem Fuß im Gang.

Ich hätte ihn beinahe danach gefragt, aber dann rief Mr Graham mich zum Vorrechnen an die Tafel, und Ryan fing an mit blauer Tinte auf sein Handgelenk zu malen, und als ich auf meinen Platz zurückkehrte, war es zum Fragen zu spät.

Die ersten beiden Stunden verliefen meistens ruhig und weitgehend leise. Alle gähnten und streckten sich, manchmal legte jemand den Kopf auf den Tisch und hoffte, dass Mr Graham es nicht merkte. Im Laufe der neunzig Minuten erwachten alle langsam zum Leben.

Aber Ryan war das genaue Gegenteil – er sprühte schon um acht Uhr früh vor Energie. Er stürmte ins Klassenzimmer, wippte in einem fort mit dem Bein und kritzelte ständig irgendwelche Muster. Seine Energie war ansteckend, denn wenn es endlich klingelte, sprang ich jedes Mal wie von der Tarantel gestochen auf. Ich winkte zum Abschied, ging durch den Flur zum Englischunterricht und tat so, als hätten er und ich nicht einst das peinlichste Gespräch meines Lebens geführt.

Der Rest der täglichen Routine: Englisch, Mittagessen, Naturwissenschaften, Geschichte. Gesichter, an deren Anblick ich mich im Lauf der letzten zwei Jahre gewöhnt hatte. Namen, die ich gut, Leute, die ich flüchtig kannte. Der Tag verging angenehm gleichförmig. Einmal zu lange blinzeln, und schon hätte man ihn verpasst.

Mittwoch hieß auch, dass ich nach der Schule Nachhilfe gab, um auf die für den Abschluss nötige Stundenzahl Freiwilligenarbeit zu kommen. Da ich den meisten aus meiner Stufe weit voraus war und hauptsächlich Leistungskurse besuchte, war das der einfachste Weg.

Heute hatte ich meine erste Stunde mit Leo Johnson – einem Zwölftklässler, der in Naturwissenschaften einen Grundkurs belegte. Ich kannte ihn mehr oder weniger aus der Lodge. Mehr oder weniger, weil Leo (a) zu den Leuten gehörte, die jeder mehr oder weniger kannte, und (b) mit Ryan befreundet war, mit dem ich im Sommer zweimal die Woche in der Lodge Dienst geschoben hatte. Das hieß, dass Leo mir, wenn er dort vorbeikam, manchmal zugenickt und mich noch seltener mit Namen begrüßt hatte.

Er warf sein Notizbuch auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber. »Hi, ich bin Leo und falle durch.« Er lächelte.

»Hi, ja, wir kennen uns schon.«

Er lehnte sich zurück und kniff die Augen zusammen. »Ja, aber wusstest du auch, dass ich durchfalle?«

»Da du an einem Mittwoch nach der Schule hier aufkreuzen musst, hab ich mir das fast gedacht. Und noch aufschlussreicher ist, dass du keine Bücher dabeihast.«

Er legte den Kopf schief und kaute auf der Unterlippe, als würde er etwas überlegen.

Ich schaute auf die Uhr. Es waren erst zwei Minuten vergangen. Er hatte nicht mal einen Stift. »Hör zu, ich bekomme meine Punkte, egal ob ich dir Nachhilfe gebe oder wir nur dasitzen und uns anstarren. Sag mir einfach, was dir lieber ist.«

Er unterdrückte ein Lachen. »Okay, Kelsey Thomas. Ich hab’s kapiert.« Er deutete auf meinen Bücherstapel. »Legen wir los. Man hat mir gesagt, dass ich den Kurs für meinen Abschluss brauche.«

Wie sich herausstellte, war Leo nicht der schlechteste Schüler aller Zeiten, aber vielleicht der am schnellsten ablenkbare. Er redete mit jedem, der am Eingang der Bibliothek vorbeilief, und schaute ungefähr alle fünf Minuten auf die Uhr.

Als er nach einer Stunde Schritte auf dem Gang hörte, hob er sofort den Kopf und schrie: »Hey, Baker!«, ungeachtet der Tatsache, dass wir in der Bibliothek saßen und seine Stimme widerhallte. Leo war so jemand, dem es nichts machte, aufzufallen – positiv oder negativ.

Ryan wurde langsamer, blieb aber nicht stehen. »Ich hab’s eilig. Wir sehen uns später.« Dann trafen sich unsere Blicke und er hob kurz die Hand. »Mach’s gut, Kelsey.«

Ich winkte schüchtern zurück.

Leo kicherte leise. Als ich ihn ansah, grinste er immer noch.

»Was ist?«

»Nichts.«

Ich spürte, wie ich rot anlief, also packte ich den Bleistift fester, klopfte damit aufs Papier und wartete, dass Leo sich wieder auf die Aufgabe konzentrierte.

Dank meiner Mutter war ich dem Unterrichtsstoff weit voraus, in allem anderen dagegen hinkte ich gnadenlos hinterher. Wahrscheinlich ging es Leo bei diesen Aufgaben so ähnlich: Sie kamen ihm vor, als wären sie in einem unbekannten Code geschrieben.

Ich dagegen hatte Mühe, den Code der Highschool zu knacken.

Leo und ich ließen unsere Scheine von der Bibliothekarin unterschreiben, die es genauso eilig hatte wegzukommen wie wir und hinter uns abschloss.

»Es war mir ein Vergnügen, Kelsey«, sagte er und machte sich aus dem Staub, einer Windbö gleich, während ich in meiner Tasche nach dem Handy kramte.

Die abendliche Routine: Mom anrufen, mir was zu trinken holen und schnurstracks heimfahren.

»Bin auf dem Weg«, sagte ich, als sie abhob.

»Bis gleich.« Ihre Stimme war wie Musik. Ein Zielsuchgerät. Das Klappern der Teller im Hintergrund verriet mir, dass sie schon mit dem Abendessen angefangen hatte. Sie hatte auch ihre Routine.

Als ich auflegte, war Leo verschwunden. Die Bibliothekarin ebenfalls. Die Gänge lagen leer und stumm da, nur die Getränkeautomaten in der Ecke brummten. Ich zog einen glatten Dollarschein aus der Geldbörse und steckte ihn in einen Automaten. Das Getriebe setzte sich ratternd in Bewegung und in der Leere stellte ich mir vor, was ich nicht sehen konnte.

Ich merkte, dass ich im Kopf die Ausgänge durchging, eine alte Angewohnheit: die Doppeltür im Foyer, die Notausgänge am Ende jedes Flurs, Fenster in den Klassenzimmern, die nicht abgeschlossen waren …

Ich schüttelte den Gedanken ab, schnappte mir mein Getränk und trabte mit hallenden Schritten durchs Foyer zur Eingangstür; die Schlüssel in meiner Tasche klimperten. Erst als ich auf dem nahezu leeren Parkplatz den Lichtkegel um mein Auto erreichte, wurde ich langsamer.

Es dämmerte, aus den Bergen drückte kalte Luft herab, und im Schein der Straßenlaternen ähnelten die Schatten der umstehenden Bäume denen unseres schwarzen Eisenzauns, wenn er von einem Gewitter erleuchtet wurde.

Ich wiederholte die morgendliche Routine: die Rückbank prüfen, den Motor starten und warm werden lassen. Das Handy in der Tasche, die Tasche neben mir, im Scheinwerferlicht nur Mücken und Nebel.

Heute war ein guter Tag. Ein normaler Tag. Er verschwamm mit vielen anderen, die so ähnlich abgelaufen waren.

Während der Fahrt leuchteten die Reflektoren der gelben Doppellinie in der Straßenmitte in regelmäßigen, fast schon hypnotischen Abständen auf.

Der Oktober brachte nächtliche Kälte mit sich, und ich wünschte, ich hätte meinen Mantel dabei. Ich beugte mich vor, stellte die Heizung an, lehnte mich in meinem Sitz zurück und lauschte dem Luftstrom aus dem Gebläse.

Ein Hitzestoß.

Ein Lichtblitz.

Die Welt in Bewegung.

Ich wusste nicht, dass die Luft schreien kann.

2. KAPITEL

Keine Angst.

Die Stimme klang weit entfernt, als müsste sie erst Wasser oder Glas durchdringen, bevor sie mich erreichte. Und dann war da dieses Rauschen – ein Funkgerät? Weißes Rauschen, das wie Elektrizität knisterte und meine Nerven reizte.

Alles ist gut.

Warme Finger an meinem Hals, die Stimme, deutlicher als vorhin. Meine Glieder fühlten sich zu schwer an, als wäre ich mit einem Arm und einem Bein aus dem Bett hängend eingeschlafen, und jetzt kribbelte alles wie tausend Nadelstiche – taub und wie losgelöst. Ich versuchte mein Gewicht zu verlagern. Meine Augenlider flatterten, während ich nach den Wänden meines Zimmers suchte.

»Hörst du mich?« Eine Stimme, die nicht mir gehörte, oder meiner Mutter, oder Jan. Trotzdem kam sie mir bekannt vor. Die Stimme eines Jungen. Also nicht mein Zimmer.

Ich öffnete die Augen, aber nichts ergab Sinn – weder das Gefühl, dass mein Blut in die falsche Richtung schoss, noch das Fehlen der Schwerkraft oder mein dunkles Haar, das mir wie ein Wasserfall ins Gesicht fiel. Auch nicht mein Atem, der in meinem Kopf widerhallte, oder der Geruch nach brennendem Gummi, oder das dumpfe Pochen hinter meinen Lidern, die ich wieder geschlossen hatte.

Aber.

Keine Angst. Alles ist gut.

Gut.

»Ich hol dich hier raus. Dir passiert nichts.«

Mir passiert nichts, sprach ich die Worte nach, wie meine Mutter es getan hätte. Aber selbst während ich mich an ihnen festklammerte wie an einer weichen Decke, die jemand über mich gelegt hatte, spürte ich, wie die Angst allmählich in mir aufstieg.

»Wo bin ich?«, fragte ich. Mein Kopf schmerzte, Nacken und Schultern waren steif, und es kribbelte in meinen Armen und Beinen, die langsam wieder zum Leben erwachten.

»Gott sei Dank.« Die Stimme kam von irgendwo hinter mir. Vage vertraut. Aber bevor ich sie einordnen konnte, setzte in einiger Entfernung ein hohes, mechanisches Surren ein. Wieder das Rauschen – deutlicher und durchdringender.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Alles ist gut. Keine Panik.«

Was wohl hieß, dass (a) vermutlich nicht alles gut war, und (b) vermutlich durchaus Grund zur Panik bestand.

Ich versuchte mich umzudrehen, aber ein Riemen spannte sich quer über meine Brust und über den Schoß, und Metall bohrte sich schmerzhaft in meine Seite. Als ich mir das Haar aus dem Gesicht streichen wollte, sah ich nur weißes Gewaber, wie ein Leintuch. Ich war gefangen.

Nicht gut.

Grund zur Panik.

Raus. Ich muss hier raus.

Mein Atem wurde immer schneller und ich drückte verzweifelt gegen das Metall.

Der Besitzer der Stimme zog scharf die Luft ein und legte seinen Arm um den Sitz, um mich ruhig zu halten. »Und bitte«, sagte er, »nicht bewegen.«

Sein Arm zitterte. Ich zitterte.

Jetzt waren noch andere Stimmen zu hören, weiter weg, und das Werkzeugsurren wurde lauter. »Ich komme runter!«, rief jemand.

»Okay«, rief die Stimme hinter mir zurück. Und dann an mich gewandt: »Hör zu, alles ist gut, du hattest einen Unfall, aber wir holen dich jetzt raus. Es wird nur ein bisschen laut.«

Einen Unfall? Die Kurve und die Reflektoren auf der gelben Doppellinie. Scheinwerfer, ich reiße das Lenkrad herum, das Geräusch von Metall –

Oh Gott, wie lange saß ich schon hier fest? Hatte Mom versucht mich anzurufen? Bekam sie bereits Panik, weil sie mich nicht erreichte? Ich schob mir erneut das Haar aus dem Gesicht und stopfte es unter meinen Kragen. Dann tastete ich nach meiner Tasche. Soweit ich es beurteilen konnte, hing ich – schräg und vornüber – im Gurt, und meine Tasche hatte auf dem Sitz neben mir gelegen. Das hieß also …

Ich streckte die Arme über den Kopf, aber das Metall war zu nah, eingedellt und verbogen, und ich konnte keine Tasche finden. »Es ist mein Ernst«, sagte er. »Nicht bewegen.«

»Ich brauch meine Tasche. Ich brauch mein Handy. Ich muss meine Mom anrufen.« Mein Atem ging stoßartig. Der Besitzer der Stimme begriff nicht. Ich musste Mom sagen, dass alles gut war. Alles ist gut.

»Wir rufen sie gleich an. Aber jetzt musst du erst mal stillhalten. Wie heißt du?«

»Kelsey.«

Eine Pause, dann: »Kelsey Thomas?«

»Ja.« Es war also jemand, der mich kannte. Jemand aus der Schule. Oder der Lodge, vielleicht auch aus der Nachbarschaft. Ich versuchte mühsam, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, der viel näher war, als er sein sollte. Die Welt schien aus den Fugen geraten.

Der Spiegel war schief und zerbrochen – ich sah Zweige, die Felsen am Berghang, nur nicht das Gesicht meines Retters. »Ryan«, sagte er, als hätte er begriffen, dass ich nach etwas zum Festhalten suchte. Dann fügte er hinzu: »Baker.«

»Ryan aus meinem Mathekurs?« Ich hätte alles Mögliche sagen können, aber das war das Erste, was mir einfiel, und das Erste, was aus mir herausplatzte.

Ein langsamer, ruhiger Atemzug. »Ja. Ryan aus deinem Mathekurs.«

Ich war von Metall und weißen Kissen umgeben und hing wahrscheinlich kopfüber da, aber ich konnte mit den Zehen wackeln, ich konnte atmen, ich konnte denken, und ich unterhielt mich mit Ryan Baker aus meinem Mathekurs, also hakte ich die Dinge ab, die ich nicht war: gelähmt, dem Erstickungstod nah, bewusstlos, tot. Meiner Mutter half es, die Dinge aufzulisten, die sie war – immer angefangen mit in Sicherheit –, ich dagegen belegte meine Sicherheit lieber mittels Ausschlussverfahren.

»Was ist mit dem anderen Auto?«, wollte ich wissen.

Er holte tief Luft. »Kelsey, ich schneid dich gleich aus dem Gurt frei, aber erst müssen sie die Rückscheibe rausnehmen. Das dauert nur eine Minute.«

Eine Minute. Der Airbag drückte gegen mein Gesicht, und ich spürte den ersten Anflug von Panik – dass ich hier ersticken oder das Auto jeden Moment explodieren würde. Ich versuchte mich an Ryans beruhigende Worte zu klammern – alles ist gut –, aber es war zu spät. Der Gedanke hatte sich schon in meinem Kopf festgesetzt. Eine Explosion. Ein Feuer. Alle möglichen Arten zu sterben rasten an meinem inneren Auge vorbei.

»Schneid mich sofort frei.«

»Nein, das ist keine gute Idee.«

Irrationale Ängste, würde Jan, die Therapeutin meiner Mutter, sagen. Nichts, was tatsächlich passieren würde. Mach dir den Unterschied bewusst. Ich könnte den Airbag zur Seite schieben und schon ginge es mir besser. Ryan aus meinem Mathekurs würde den Gurt durchschneiden und mich aus dem Auto befreien. Dann könnte ich mein Handy suchen und meine Mutter anrufen, und sie würde alles aufzählen, was gut war, bevor sie zu der Tatsache kam, dass ich das Auto zu Schrott gefahren hatte.

Um es mir zu beweisen, drückte ich gegen den aufgeblasenen Airbag und schob ihn tiefer, weg von meinem Gesicht.

»Nein, Kelsey. Warte.«

Aber zu spät – ich hatte schon gesehen, was ich nicht sehen sollte, und alle Luft wich aus meinen Lungen.

Es war überhaupt nichts gut.

Die Windschutzscheibe war weg. Und unter mir war nichts. Kein Asphalt, keine Steine, kein Gras, kein Ausblick auf eine sich hinabwindende Straße. Nichts. Ich hing in der Luft. In der Luft und irgendwo entfernt gab es Felsen und Nebel –

»Oh Gott«, sagte ich. Und plötzlich hatte ich die volle Orientierung.

Hinter mir waren Felsen. Neben mir konnte ich gerade so die raue, dicke Borke eines Astes erkennen. Auf dem Airbag lag ein Blatt, die Spitzen vom Wechsel der Jahreszeiten braun und gewellt. Ich hörte etwas knarzen.

»Hängen wir über dem Abgrund? So ist es doch, oder? Wir hängen in einem Baum über dem verdammten Abgrund!« Mit zitternden Fingern tastete ich nach der Gurtschnalle, während sich der leichte Anflug von Panik zu einer ausgewachsenen Hyperventilation ausweitete.

»Ich hab doch gesagt, du musst ruhig bleiben!«

»Hol mich raus!«

Seine Hände umfassten von hinten meine Arme. Er drückte gegen den Sitz und durch das Polster hörte ich seine leise flehende Stimme: »Bitte halt still. Bitte. Tu nichts, was das Auto zum Wackeln bringt.«

Und wenn ich vorher noch nicht panisch war, dann war ich es spätestens jetzt.

Ich ließ mir wieder die Haare übers Gesicht rutschen, schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und versuchte an etwas – irgendetwas – anderes zu denken als den Umstand, dass ich in der Luft hing, an einem Ast, über einem Abgrund.

Jan würde das als berechtigte Angst bezeichnen. Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass ein Meteorit in unser Haus einschlug, ich in den Gefrierschrank im Keller eingesperrt wurde oder gezwungen war mit Cole zu sprechen – lauter Dinge, bei denen so gut wie ausgeschlossen war, dass sie je passieren würden, und somit irrationale Ängste. Aber das hier, das war eine berechtigte Angst: Es konnte passieren. Ich hing kopfüber in einem Auto, das in den Ästen eines Baumes über einem Abgrund hing. Das Einzige, was mich festhielt, war ein dünner Stoffgurt.

»Wie komm ich raus?«, schrie ich über das Surren im Hintergrund hinweg. »Wie zum Teufel komm ich hier raus?«

»Sie sägen die Heckscheibe auf. Dann schneide ich deinen Sicherheitsgurt durch und zieh dich raus. Ich hab einen Rettungsgurt dabei.«

Einen Rettungsgurt. Oh Gott, wir brauchen einen Rettungsgurt.

»Und das machst du allein?«, fragte ich.

»So ist es am sichersten«, murmelte er.

Ryan aus meinem Mathekurs war wahrscheinlich der letzte Mensch auf Erden, dem ich unter diesen Umständen mein Leben anvertrauen wollte. Ryan Baker, der sich nicht mal den Unterschied zwischen Sinus und Kosinus merken konnte. Der mit Kugelschreiber nichtssagende, komplizierte Muster auf die Innenseite seines Unterarms tätowierte, statt im Unterricht mitzuschreiben. Meine Zukunft lag in den Händen eines Typen, der die Grundlagen der Trigonometrie nicht beherrschte. Was, wenn er sich im Winkel vertat? Sich im Timing verschätzte? Wie konnte ich jemandem vertrauen, der die Geometrie eines rechtwinkligen Dreiecks nicht verstand?

Der Sicherheitsgurt spannte sich in einem rechten Winkel über meine Brust. Die Äste und das Auto und die Felswand – lauter Winkel. Hier war praktische Anwendung gefragt, verdammt.

Angst: Ich könnte heute sterben. Ich könnte schon in einer Minute sterben.

Noch schlimmer: Wenn ich mich bewegte, würde ich womöglich auch Ryan Baker töten.

»Was zum Teufel machst du eigentlich hier?«, fragte ich.

»Ich bin freiwilliger Feuerwehrmann.«

»Ich will einen richtigen«, sagte ich mit hoher, angespannter Stimme.

»Ich bin ein richtiger.«

»Einen anderen!«

»Glaub mir, das wäre mir auch lieber. Aber ich bin der Leichteste von uns. Bei mir ist die Gefahr am geringsten, dass das Auto aus dem Baum stürzt.«

Jetzt war es draußen: Das Auto konnte fallen. Und das wussten sie auch. Sie mussten es einkalkulieren. Fallen, sterben – diese Dinge konnten wirklich passieren, genau jetzt.

»Du bist doch gar nicht so leicht«, sagte ich. Er war deutlich größer als ich, breitschultrig, eher drahtig als stämmig – aber definitiv nicht leicht. Ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und versuchte es mit Beten. Bitte, bitte, bitte. Aber der Ast unter uns knarzte noch immer.

»Uns passiert schon nichts«, versicherte Ryan mir. Aber er klang, als müsste er sich selbst überzeugen.

Ich ging zu der Tiefenatmung über, die Jan meiner Mutter beigebracht hatte und meine Mutter mir.

Das Auto sackte nach unten und ich stemmte die Hände gegen das Lenkrad. Mein Magen beruhigte sich, als das Fahrzeug zum Stillstand kam, stülpte sich jedoch erneut um, als es kippte und in einem steilen Winkel über dem Abgrund hängen blieb.

Ich hörte, wie Ryan nach Luft schnappte.

»Ich glaube, das wäre ein guter Zeitpunkt zu kündigen«, sagte ich.

Falls er antwortete, hörte ich es nicht, denn die Säge, oder was auch immer sie benutzten, fraß sich in den Rahmen, und das Geräusch von Werkzeug auf Metall vibrierte bis in meine Backenzähne. Ryan umklammerte meine Arme noch fester – entweder um mich zu beruhigen oder um mich zum Stillhalten zu zwingen, ich war mir nicht sicher.

Ich bin nicht gelähmt, ich bin nicht bewusstlos, ich verblute nicht, ich ertrinke nicht.

Dann verstummte der Lärm. Ryan griff über meine Schulter und hielt mir einen mit einer Schnalle versehenen Gurt hin. »Leg dir den um die Hüfte. Vorsichtig.« Unsere Hände zitterten, und ich musste lachen, an der Schwelle zur Hysterie. Alles an dieser Situation war absurd: von Ryan über den Gurt, der mich retten sollte, hin zu dem blöden Blatt auf dem Airbag, das teilweise noch saftig grün glänzte – als wüsste es nicht, dass es bereits tot war.

Ich befolgte seine Anweisungen und versuchte mich dabei so wenig wie möglich zu bewegen. Wo die Riemen vorne zusammenliefen, befand sich ein kleiner Metallclip. »Okay«, sagte Ryan. »Los geht’s.« Er reichte mir ein Seil, das ebenfalls mit einem Clip versehen war. »Hak das ein.«

Ich gehorchte.

Aus dem Augenwinkel sah ich die Messerklinge. »Gut, ich schneid dich jetzt los, aber du bist mit mir verbunden, und ich mit der Leitplanke am Hang, dir passiert also nichts, selbst wenn du in der Luft hängst. Aber wir müssen schnell machen.«

Das Auto sackte und ich schrie. Ich hatte das Gefühl, dass mir sehr wohl etwas passieren würde, wenn das Auto jetzt abstürzte. Und Ryan ebenfalls. Denn die Kraft des Autos war vermutlich größer, als die Kraft des Seils, das uns hielt. Bestimmt stand eine mathematische Gleichung dahinter, die er nicht durchschaute.

»Los!« Eine autoritäre Stimme von draußen. Älter. Erfahren. »Raus! Sofort!«

Ryan packte mit einer Hand meinen Arm und durchtrennte mit der anderen den Sicherheitsgurt. Ohne den Halt des Stoffbands rutschte ich zu der Lücke zwischen den Sitzen, dabei drehte ich mich zu Ryan um. Wir waren durch ein kurzes Seil verbunden, das an der Vorderseite unserer Rettungsgurte befestigt war. Er packte es mit beiden Händen.

»Siehst du?«, sagte er. Ich schwang leicht hin und her und griff nach seiner Schulter. Er öffnete den Mund, um etwas hinzuzufügen.

Im selben Moment knirschte es irgendwo unter uns und das Auto kippte mit einem langen Quietschen nach vorne. Ich sah es in Ryans Augen, als meine Hand seine Schulter berührte.

Ein plötzliches Schnalzen, und ich spürte, wie die Spannung des Seils über uns nachließ. Ich fiel nach hinten und konnte mich nicht mehr an Ryan festhalten. Er streckte die Hand nach mir aus, aber es war sinnlos. Wir waren nicht mehr mit der Leitplanke verbunden.

Wir stürzten ab.

3. KAPITEL

Ich fasste verzweifelt ins Leere, griff nach irgendetwas. Meine Finger krallten sich in den Airbag, als ich durch die offene Windschutzscheibe raste – aber ich stürzte weiter, Arme und Beine schrammten über Metall, und dann spürte ich einen brennenden Schmerz, als meine Ellbogen sich in einer Rille verkeilten. Mein Körper kam unvermittelt zum Halt, meine Beine baumelten unter mir, ich war von kalter Nachtluft umgeben.

Eine Sekunde der Erleichterung, ein halber Atemzug, dann sah ich verschwommen eine Gestalt an mir vorbeisegeln, die Hände wild tastend, Fingernägel und Haut streiften Metall und mich, und als sein Gewicht das Seil zwischen uns spannte, war der Zug an meinen Hüften so unglaublich heftig, dass meine Ellbogen aus der Rille rutschten.

Entsetzt schlug ich die Hände gegen das Armaturenbrett und suchte verzweifelt nach Halt, während ich erneut abwärtsrutschte – bis meine Finger schließlich die Rille unter der Windschutzscheibe erwischten.

Ein Teil meines Gewichts lastete noch auf der Motorhaube, aber meine Beine hingen, zusammen mit Ryan, über dem Abgrund.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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