Der Poliziotto - Uli T. Swidler - E-Book

Der Poliziotto E-Book

Uli T. Swidler

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Beschreibung

• Name: Rossi, Roberto • Wohnort: Urbino • Beruf: Beamter der Polizia Munizipale, zuständig u. a. für Straßenverkehr, Parkraumbewirtschaftung, Fundamt usw. • Konstitution: ein wenig übergewichtig • Intelligenz: Durchschnitt, vielleicht • Leibgericht: Tagliatelle à la boscaiola fatt´in casa • Besondere Eigenschaften: etwas korrupt, ziemlich faul, sehr abergläubisch Roberto Rossi ist ein Poliziotto. Er regelt den Verkehr in Urbino: 16 000 Einwohner, sehr italienisch, sehr malerisch – sieht man einmal ab von der Frauenleiche im Keller tief unter dem Palazzo Ducale. Ein Giftmord offenbar. Seltsamerweise wird ausgerechnet Roberto, der nicht übermäßig helle Streifenpolizist, mit der Aufklärung des Verbrechens betraut. Und die gelingt ihm am Ende, unterstützt von seinen Freunden, von Bekannten, die ihm etwas schulden, und auch mit Hilfe seines nervigen neuen Nachbarn – der sich als pensionierter Kripokommissar aus München entpuppt.

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Seitenzahl: 371

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Uli T. Swidler

Der Poliziotto

Kriminalroman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Für Nicole und ...UrbinoDie Personen im «Poliziotto»1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. KapitelMein Dank gilt ...
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Für Nicole und Helena

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Urbino

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Die Personen im «Poliziotto»

Roberto Rossi, 38, hätte seinerzeit fast die Ausbildung zum Commissario der Polizia di Stato geschafft. Aber jetzt ist er Verkehrspolizist in Urbino. Ein wenig korrupt, ein wenig übergewichtig, ziemlich faul und extrem abergläubisch.

Malpomena Del Vecchio ist Medizinstudentin im neunzehnten Semester und von adeliger Abstammung. Oft depressiv oder wenigstens melancholisch, aber äußerst selten euphorisch.

Antonia Del Vecchio, Chefin des Palazzo Ducale in Urbino. Sie ist die intelligenteste der vier Del-Vecchio-Schwestern. Körperkontakte sind ihr ein Gräuel.

Talia Del Vecchio lebt von dem überaus großen Erbe der Familie und ist das genaue Gegenteil ihrer Schwestern. Sie liebt das Leben, die Männer und die Nacht.

Toto Scaglioni, Barista mit akademischem Abschluss (Informatica Applicata, Scienze Politiche). Ein Fuchs, der sich jede Information beschaffen kann. Kein Humor. Spindeldürr. Geizig.

Lana Ferrea («Eiserne Wolle») heißt eigentlich Andreina Caminetti. Sie liest exklusiv für ein Regierungsmitglied in «höchster Position» die Karten. Und hin und wieder auch für Roberto Rossi.

Osvaldo, Robertos Cousin, ist extrem gelenkig und klettert wie eine Gämse. Als Automechaniker gibt es keinen schlechteren.

Ivana, Osvaldos schwergewichtige Frau, ist mit goldenen Kreolen und riesiger Lockenpracht versehen und immer unzufrieden.

Thilo Gruber aus München. Liebt die Italiener und das Italienische. Hat für sich und seine deutschen Freunde das halbe Dorf aufgekauft, in dem Roberto und die Seinen leben.

Domenica Galeotti entstammt einer Familie, die ihr Geld vor Jahrhunderten als Steuereintreiber des Papstes gemacht hat.

Carlo Manzoni, ihr Mann, ist Schuhverkäufer. Mehr muss man nicht wissen.

Fabio Romano ist ein stiller Typ. Er wäre gerne Künstler. Sein einziger Besitz ist der hochverschuldete, ärmliche Bauernhof seiner Eltern.

Carmela Tozzi, eine wunderschöne junge Frau, wird von Roberto Rossi tot in der Zisterne unter dem Palazzo Ducale gefunden.

Ersilia Tozzi ist Carmelas Mutter und eine verbitterte Person.

Davide, der Sohn von Vizebürgermeister Manchetti, gibt gerne den Hip-Hop-Gangster, ist aber ein Weichei.

Fausto Manchetti, Vizebürgermeister, ein Lächler, einer, der nicht zu packen ist und der sich nie eine Blöße gibt.

Nevio Cottelli ist Robertos Chef. Die beiden können sich nicht ausstehen. Ein Wadenbeißer. Quält Roberto gerne mit unmenschlichen Dienstplänen.

Giuseppe Ferri, der Einbeinige. Hat sein klobiges Holzbein selber geschnitzt. Keiner versteht, warum er sich nicht was Elegantes gegönnt hat.

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1.

Alles Brennbare war verbrannt. Übrig geblieben waren nur kleine, glaslose Scheinwerfer, eine runde, trotzige Motorhaube, knubbelige Radkappen und die verkohlte Karosserie mit der unverwechselbaren Form, die eindeutig sagte: Ich bin einmal ein Fiat Cinquecento gewesen, ein Topolino, und zwar ein ganz alter, Baujahr 67, mit unsynchronisiertem Getriebe und 18 PS.

«Porca putana», flüsterte Roberto. Er sah den kleinen, bösartigen Rauchwolken hinterher, die sich aus dem vor Hitze knackenden und knisternden Gerippe herausschlängelten. Die eben noch heftig brausenden Flammen waren abgeklungen. Für sie gab es keine Nahrung mehr.

«Er sollte nur den Vergaser einstellen», sagte Roberto, ohne seinen Blick von dem qualmenden Desaster abzuwenden.

«Das sieht für mich nicht danach aus», kommentierte Malpomena, die ewige Medizinstudentin aus dem Adelsgeschlecht der Del Vecchio, 19. Semester, unverheiratet, die neben ihm stand und unentwegt missbilligend ihren Kopf schüttelte.

Neben den beiden, aber mit genügend großem Abstand, um sich zur Not mit einigen Sprüngen in Sicherheit bringen zu können, tänzelte Osvaldo von einem Bein aufs andere. Die Schweißerbrille hatte er sich hoch ins dichte Haar geschoben, sein Gesicht war schwarz vor Ruß. Nur um die Augen herum, dort wo die Brille gesessen hatte, war keiner, und in diesen kreisrunden Tellern konnte man sehen, wie blass er in diesem Moment war. Blass vor Entsetzen. Die Tatsache, dass er in der Rechten einen Schweißbrenner hielt, dessen Flamme noch brannte, brachte ihn eindeutig mit dem Feuertod dieses Exemplars des kleinsten aller italienischen Kleinwagen in Verbindung.

«Wir sind Cousins, Roberto», stammelte er. «Weißt du noch, als wir –»

«Für einen Vergaser braucht man einen Schraubenzieher», Roberto wies anklagend in Osvaldos Richtung, «und keinen Schweißbrenner!»

«Mit einem Skalpell geht es auch, könnte ich mir vorstellen», ergänzte Malpomena und atmete schwer. Sie war gerade von einem Seminar über extrakorporale Tumoren zurückgekehrt und kämpfte mit einer selbst für ihre Verhältnisse außergewöhnlich tiefen Trübseligkeit. All diese furchtbaren Krankheiten, oddio …

«Keinen Schweißbrenner», nickte Osvaldo beflissen. «Das ist richtig, Roberto. Das ist völlig richtig.» Sein Tänzeln hatte sich noch verstärkt. Camoscino nannten sie ihn, Gämslein, ein Spitzname, den er zutiefst hasste, welcher Mann will schon Gämslein genannt werden?

«Mir musst du das nicht sagen, cretino!», brüllte Roberto. Er hatte seinen alten Topolino über alles geliebt, schon allein, weil er so gänzlich unmodern war.

Robertos gesamtes Leben war altmodisch. Er mochte die Gegenwart nicht, und was die an Errungenschaften zu bieten hatte, interessierte ihn wenig. Von iPhones bis hin zu Castingshows, Klimakatastrophe und Berlusconi: Nichts wurde besser, im Gegenteil, alles wurde schlechter. Auf dem mercato di frutta konnte man das ganze Jahr über ballonartige holländische Gewächshaustomaten kaufen, und das in Italien, dem Land der pomodori! Selbst in den kleinen Lebensmittelläden gab es nur noch Mozzarella, der aus Deutschland herangekarrt wurde, weil die Milch dort billiger war. Und das Basilikum im Supermarkt war zwar so groß wie Palmwedel, schmeckte aber nach, ja, nach was? Nach nichts, ganz einfach. Und ein klassischer insalata caprese war zwar immer noch weiß-grün-rot, aber gusto und profumo? Niente! Cazzo!

«Ich hatte den Vergaser eingestellt. Perfekt, sage ich dir! Das Motörchen drehte wie ein Ferrari, willig und seidenweich», schwärmte Osvaldo, bis ihm auffiel, wie sehr seine Begeisterung Robertos Erregung noch steigerte. Erschrocken und hilflos hob er beide Hände. «Eh, Roberto, ascolta, also –»

Malpomena unterbrach ihn, indem sie ihm ihren Zeigefinger in den weichen Raum zwischen der vierten und der fünften Rippe pikste, den zu finden für sie als angehende Medizinerin kein Problem war. «Du hättest aufhören sollen, als der Motor rund drehte. Es ist nämlich so: Wenn ich dir einen Tumor, sagen wir, am Hals entferne, bist du auch nicht begeistert, wenn ich dir bei der Gelegenheit auch gleich noch eine Niere herausnehme.»

Osvaldo musste schlucken. Seine rußfreien Ringe rund um die Augen wurden noch blasser.

«Ganz zu schweigen von der körperlichen Belastung einer solchen Doppel-OP», fügte sie noch hinzu.

Roberto nickte. Er fragte sich, ob er Osvaldo mit oder ohne Betäubung operieren sollte.

Währenddessen irrten Osvaldos Blicke durch die Werkstatt, über das bunt zusammengewürfelte Werkzeug, über leere Thunfischdöschen, fettgetränkte Pizzakartons, abgeschnittene Käserinden, leere Limonadenflaschen und achtlos weggeworfene Plastiktüten, so viele, dass man damit locker einen kompletten Wochenmarkt hätte bestücken können. Sein Blick blieb an einer etikettlosen Flasche hängen, die halb voll war mit selbstgekeltertem Rotwein, Robertos Rotwein, mit dem er in der Regel höchst ungern herausrückte, weil sein jährlicher Ertrag nur gering war. Ecco!, das war’s, damit konnte er punkten! Roberto liebte das Besondere, das Persönliche, das Menschliche. Jetzt nur keinen Fehler machen.

«Eh, Roberto, ascolta!» Osvaldo zwang seine tänzelnden Glieder zur Ruhe. «Also, ich habe deinen Cinquecento besonders gründlich untersucht. Du und ich, wir sind ja schließlich Cousins, das ist wie mit deinem Wein, verstehst du?»

Roberto legte seine Stirn in Falten und sah Malpomena fragend an.

Die winkte gelassen ab. «Solange er nicht hyperventiliert, besteht keine Gefahr. Und wenn», sie bückte sich und hob eine Plastiktüte auf, «dann lassen wir ihn da hineinatmen. Das nennt man Rückatmung. Dadurch steigt die CO2-Konzentration im Blut des Patienten an, und die zuvor konstringierten Hirngefäße weiten sich wieder.»

«Hirngefäße? Welche Hirngefäße?», fragte Roberto grimmig. Malpomena reagierte nicht, weil sie gerade die Tüte einer eingehenden Betrachtung unterzog, auf keinen Fall sollte eine Tüte zum Rückatmen ein Loch haben.

Osvaldo schob sich vor die Medizinstudentin, um Robertos volle Aufmerksamkeit zu bekommen. «Ich hebe die Fußmatte hinten links hoch. Fachleute kennen ja die Schwachstelle beim Topolino aus den 60er Jahren. Und was sehe ich? Ein Loch im Bodenblech. Ein Loch. Das wollte ich dann quasi als Sonderservice –»

«Ein klitzekleines Loch», unterbrach Roberto ihn. «Und weißt du, was direkt neben dem Loch ist? Die Benzinleitung!»

«Die Benzinleitung. Osvaldo.» Malpomena schüttelte missbilligend den Kopf. «Das ist wie die Arteria carotis communis. Für Nichtmediziner wäre das die Halsschlagader. Wenn ich da reinschneide, na, buona notte.»

Osvaldo starrte Roberto an, fest entschlossen, die Worte der angehenden dottoressa zu ignorieren. Die Sache mit der Halsschlagader kannte er vom Schweineschlachten, und wenn einer das Weite suchte, sobald ein quiekendes, todgeweihtes Schwein aus seinem Stall gezogen wurde, dann er. Überhaupt war Weglaufen seine Spezialität. Wenn’s brenzlig wurde, entkam Osvaldo allen Angriffen mit Hilfe seiner unglaublichen Flinkheit und Kletterfähigkeit. Osvaldo legte das Gesicht eines Fachmanns für Autoreparaturen auf.

«Also, bei modernen Autos wäre da keine Halsschlaga…», er schüttelte sich ungehalten, «keine Benzinleitung.»

«Du Rosinenhirn! Wie kann man einen Topolino Baujahr 1967 mit einem modernen Auto verwechseln? Eh?»

«Dai, Roberto, ich wollte dir einen Gefallen tun. Wir sind Cousins, wir leben im selben Dorf, in unseren Adern fließt dasselbe Blut!»

«In deinen Adern fließt bald gar kein Blut mehr, das verspreche ich dir», knurrte Roberto.

Malpomena nickte demonstrativ und signalisierte Osvaldo mit Zeige- und Mittelfinger: Schnipp, ein Schnitt durch die Halsschlagader, und dann helfen auch keine Kompressen mehr, mein Freund, dann ist es aus und vorbei.

Doch Osvaldo hatte inzwischen einen Grad an Konzentration erreicht, der es ihm tatsächlich ermöglichte, Malpomenas Andeutungen vollkommen zu ignorieren. «Der Wagen war in einem schlechten Zustand, Roberto. Sehr schlecht. Von einem realen Wert zu sprechen, das wäre in gewisser Weise übertrieben.»

Bis jetzt hatte Roberto sich noch beherrschen können, doch das war zu viel. Er ging auf Osvaldo los, krallte seine Hände in die Brusttaschen von dessen schmutzigem Overall, auf dem schemenhaft «Malagutti – la tecnica superiore» zu lesen war, und schob ihn vor sich her. Osvaldo prallte rückwärts gegen die hölzerne Scheunenwand, aus deren Ritzen jahrzehnte-, wenn nicht gar jahrhundertealter Staub rieselte.

«Roberto! Cugino! Bitte, beruhige dich», flehte Osvaldo und zuckte zusammen, als Robertos Hand in seine Overall-Hosentasche fuhr, und ein zweites Mal, als sie mit einem Autoschlüssel zum Vorschein kam, auf dem «Fiat» zu lesen war. Osvaldos Autoschlüssel. «Der ist nagelneu, Roberto! Der hat noch nicht mal tausend Kilometer drauf!»

«Melde dich, wenn du meinen Cinquecento wieder hergerichtet hast.» Roberto winkte mit dem Schlüssel. «Solange nehme ich deinen.» Er ließ Osvaldo stehen und ging zur Tür.

Osvaldo zeigte eindeutige Zeichen von Panik. «Der hat Servolenkung. Und Servobremsen. Und Servokupplung. Damit kommst du nicht klar. Roberto! Per favore, ti prego!»

Roberto lief ungerührt weiter.

«69PS! Roberto! Deiner hat nur 18!»

Roberto winkte mit dem Schlüssel. «Das ist jetzt meiner», sagte er und ging hinaus. Malpomena Del Vecchio blickte noch einmal kopfschüttelnd auf das qualmende Wrack und folgte ihm.

Osvaldo biss die Zähne zusammen. Der Familie Del Vecchio gehörte praktisch die Hälfte aller Ländereien rund um Urbino: Ihr Immobilienbesitz übertraf sogar den der heiligen Kirche. Auch die Scheune, in der er seine Werkstatt eingerichtet hatte, um in Schwarzarbeit Autos zu reparieren, gehörte denen, da war es wenig ratsam, mit negativen Äußerungen einen schlechten Eindruck zu machen. Und Roberto, sein Cousin? Osvaldo zog eine Zigarette aus der Brusttasche seines Overalls und stieß sie sich zwischen die Lippen.

«Scheiß Verwandtschaft.»

Er zündete sie mit dem Schweißbrenner an und starrte auf das qualmende Autowrack Baujahr 1967. Toter konnte ein Auto wohl kaum sein. Gedankenverloren legte er den Schweißbrenner auf den eisernen Arbeitstisch. Die öligen Lappen, die dort lagen, fingen sofort Feuer.

«So was», sagte er, drehte den Gashahn zu und blickte versonnen in die Flammen, die nicht genug Nahrung fanden, um lange zu brennen. Trotzig spuckte er hinein. Natürlich wusste er, dass ins Feuer zu spucken einen Unglücksfall heraufbeschwören konnte, aber im Gegensatz zu seinem Cousin war er nicht abergläubisch, also spuckte er gleich noch einmal. Hätte Roberto das in diesem Moment gesehen, wäre er sofort hinausgestürzt, um einen lang gewachsenen Brombeersprössling zu finden, an dessen oberirdischem Ende sich neue Wurzeln gebildet hatten. Sprösslinge mit Wurzeln an beiden Enden halfen gegen alle Arten von Unheil und Verzauberung. Wenn man darunter hindurchkroch, was Roberto dann als Nächstes getan hätte.

«Scheiß Verwandtschaft», wiederholte Osvaldo verächtlich, bekam aber wegen der trockenen Hitze in der Luft nicht mehr genug Speichel zusammen, um noch einmal zu spucken.

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2.

Die Werkstatt befand sich kurz vor Urbino unweit der Strada Statale 73, kurz: SS 73, die sich von Fano an der Adria quer durch die Provinz Pesaro Urbino schlängelte, um dann kurz vor Grosseto in der Toskana zu enden. Auf den letzten Kilometern vor Urbino schraubte sie sich über sanfte Hügel und durch kleine Dörfer hindurch, in teilweise abenteuerlich engen Kurven, die besonders für den ständig wild und heiser hupenden Linienbus eine große Herausforderung darstellten; natürlich ein Bus der Gebrüder Bozzi, die mit ihrer Firma monopolistisch den gesamten Nahverkehr der Provinz Pesaro-Urbino abwickelten.

Roberto marschierte auf Osvaldos nagelneuen Fiat 500 zu, den Autoschlüssel vorgereckt wie einen Dolch.

«Das ist nun einmal so, Roberto», sagte Malpomena traurig. «Alles wird fernbedient. Du brauchst ein neues Hüftgelenk? Bitte sehr. Aber sei gewarnt, heutzutage macht das nicht mehr der Chefarzt, sondern ein Operationsroboter.»

Roberto hatte nicht zugehört. Er brauchte noch eine Weile, bis er die Funktion der Funkfernbedienung für die Zentralverriegelung begriffen hatte und der Wagen mit einem merkwürdigen Geräusch und heftigem Blinken seine Türen entriegelte.

«Blödsinn. Schnickschnack. Angeberei», murmelte er, während er sich hinter das Lenkrad quetschte.

Malpomena ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. «Ich sage dir eins, Roberto. Die Medizin gibt es nur, weil es die Vergänglichkeit gibt.» Ihr Blick ging in die Ferne, während sie sich anschnallte. «Wir Mediziner bringen so manches zuwege, aber bisweilen ist der Tod die bessere Wahl.» Sie schüttelte deprimiert den Kopf. «Nur, bring das mal einem Patienten bei. Oder den nahen Angehörigen. Und Männer», sie verdrehte die Augen, «die versagen in dieser Hinsicht in der Regel komplett. Warum das so ist? Keine Ahnung. Da müsstest du einen Genetiker fragen. Aber möglicherweise ist es auch was Evolutionäres.» Sie versank in Schweigen. Oddio, so viele ungeklärte Fragen! Da ist ein Tunnel am Ende des Lichtes, und je weiter man vorangeht, desto dunkler wird es …

Roberto startete den Motor, trat die Kupplung, wie leicht das ging! Zur Sicherheit trat er sie noch einmal, dann legte er den ersten Gang ein, gab Gas, viel zu viel!, und ließ die Kupplung kommen, viel zu schnell!, dass die Räder durchdrehten und Schottersteine gegen den jungfräulichen Lack schleuderten. Mit unschönen Hüpfern beschleunigte das Wägelchen, verfehlte um Haaresbreite die uralte Eiche, die die Grenze des Grundstücks markierte, und schoss hinaus auf die SS 73 in Richtung Urbino. Erstaunt sah Roberto in den Rückspiegel, als er hinter sich schrilles Quietschen hörte. Ein Geländewagen mit deutschem, mit Münchner Kennzeichen, dem Roberto offenbar die Vorfahrt genommen hatte, klebte gefährlich nahe an seiner Stoßstange.

«Vaffanculo», flüsterte Roberto grimmig. Erst jetzt bemerkte er, dass er seinerseits ein viel zu hohes Tempo erreicht hatte und seinem Vordermann, einem mit einer Kleinfamilie vollbesetzten Fiat Multipla, gefährlich nahe kam. Er trat in die Pedale, Servobremsen!, wie Osvaldo gewarnt hatte, was wiederum den Deutschen hinter ihm derart in Bedrängnis brachte, dass der nur noch eine Chance sah, einer Kollision zu entkommen: Mit einem gewagten Manöver scherte er auf die Gegenspur aus und überholte. Dabei hupte er mehrmals und signalisierte sehr deutlich, was er von italienischer Fahrkunst hielt.

«Die Deutschen bauen gute medizinische Geräte.» Malpomena nickte anerkennend, während sie sich mit den Händen links und rechts abstützte. «Und in München? Na, da sind Bosch und Siemens zu Hause.»

«Ostia!», stöhnte Roberto, als er das wilde Wägelchen endlich wieder im Griff hatte. 69 PS, das reichte seiner Meinung nach für drei, wenn nicht sogar vier Autos. Seine Hände umkrampften das Lenkrad, und er wünschte sich seinen 67er Topolino zurück, der schon vom Prinzip her nicht zu einem solchen Temperamentsausbruch fähig war.

«Wenn du wüsstest, was ich dieses Wochenende alles sehen musste», sagte Malpomena und schüttelte mit großer Schwere den Kopf. «Du wärst entsetzt, wozu fehlerhafte Zellteilung fähig ist.»

«Vielleicht solltest du dich auf Anästhesie spezialisieren», warf Roberto ein. «Da kannst du Leute zum Schlafen bringen, und ein wenig später machst du sie wieder wach. Das ist doch ein schöner Job.»

Malpomena stöhnte. «Schön? Schlimmer ist er, weit schlimmer! Da sehe ich ja nicht nur eine, sondern die komplette Bandbreite aller Krankheiten! Vom Furunkel am Allerwertesten über den amputierten Unterschenkel bis hin zum Herzkatheter. Und hast du überhaupt nur eine Ahnung, wie es aussieht, wenn man ein Gehirn öffnet?»

«Wie eine Rosine, wenn’s das von Osvaldo ist», erwiderte Roberto und konzentrierte sich wieder aufs Fahren. Dieser moderne Cinquecento vereinte in sich alle Untugenden eines Jungstiers und zeigte dieselbe Respektlosigkeit. «Und ich hatte extra eine Agathenkerze in meinem Auto deponiert.» Er schüttelte den Kopf, während er den Lichtschalter suchte. Seit ein paar Jahren musste man auch auf einer Superstrada mit Abblendlicht fahren. Böse Zungen behaupteten, Berlusconi habe dieses Gesetz nur erlassen, weil er die Mehrheit an einer marktbeherrschenden Fabrik für Autoglühbirnen hielt. Roberto, der sich selbst eher dem linken Spektrum zuordnete, hielt das für eine sehr plausible Erklärung.

«Wofür sollte das gut sein, Roberto?», fragte Malpomena desinteressiert.

«Die heilige Agathe hat die sizilianische Stadt Catania vor zweitausend Jahren vor Pest, Hungersnot und einem Ausbruch des Ätna bewahrt. Und eine Kerze mit der Inschrift ihres Grabsteins hilft gegen Feuer.» Sollte helfen, ärgerte sich Roberto, verbat sich jedoch diesen Gedanken gleich wieder, wer wusste schon, wie eine Heilige auf Kritik reagierte.

«Kerze? Eine Kerze?», erregte Malpomena sich. «Ich sage dir: Geh mal in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Du würdest dich wundern, was Menschen alles mit einer Kerze anstellen. Da hilft manchmal nur noch eine sofortige Operation.»

«Wo kann ich dich absetzen», fragte Roberto, auf keinen Fall wollte er nähere Einzelheiten erfahren.

Die ewige Studentin winkte deprimiert ab. «Irgendwo. Ist doch egal.»

«Wie wär’s mit dem Krankenhaus? Oder dem Hospiz?»

«Lieber am Friedhof. Oben, am Mausoleo dei Duchi. Ist das in Ordnung für dich?»

«Certo, solange ich nicht selbst dort liegen muss.»

«Medizinisch ist der Tod lediglich der Stillstand aller Körperfunktionen.»

«Na ja, das ist doch schon eine Menge.»

Malpomena nickte entmutigt. «Das ist das Ende, Roberto. Dann herrscht endgültig Dunkelheit. Vollkommene Dunkelheit.»

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3.

Was die Aussicht betraf, gehörte das Mausoleum der Herzöge zu Robertos Lieblingsorten. Von dort zeigte sich Urbino von seiner wehrhafteren Seite. Die östliche Stadtmauer nahm die Steilheit des Hügels auf; sie wirkte gewaltig und uneinnehmbar. Da gab es nichts Verspieltes, nur das Bild einer aus einem Guss erbauten mittelalterlichen Stadt, die ihren unverkennbaren Reichtum mit aller Kraft schützen wollte. Ganz im Gegensatz zu der vielfotografierten westlichen, der Toskana zugewandten Seite. Dort dominierte die von großen Fenstern und Balkonen aufgelockerte Front des Palazzo Ducale mit seinen beiden schlanken Türmen, und dort erzeugten die Domkuppel, allerlei Kirchtürme, Glockenstühle und die gut gelaunt in alle Richtungen zeigenden Dachstühle der Urbinater Stadthäuser den Eindruck, als hätte der Duca da Montefeltro seinerzeit Urbino nur zu seinem persönlichen Vergnügen erbaut. Wie ein gelungener Versuch, auf engstem Raum alles richtig zu machen: keine dunklen verwaisten Ecken, keine Gegend, die sich der herzoglichen Kontrolle entzog, keine Bauten, die dem Palazzo seine Dominanz streitig machten, kein architektonischer Wildwuchs, und das Ganze mit einem derart phantasievollen Gesicht und einer freundlichen Leichtigkeit, dass heutzutage die Touristen, die dort ihre Kameras ausrichteten, vor Freude und Entzücken gar nicht wussten, was sie zuerst fotografieren sollten.

Unweit der Abzweigung zum Mausoleum zog schwerer, stechend riechender Qualm die Böschung herauf, über die Straße hinweg und durch die Lüftung ins Auto hinein. Roberto rümpfte die Nase. Im Sommer draußen Abfälle zu verbrennen, das zeugte von großem Leichtsinn. Wie schnell konnte ein Funken das trockene Unterholz entflammen. Er überlegte, ob er anhalten und den Leichtsinnigen zurechtweisen sollte. Im Grunde war das keine Frage, auf die er eine Antwort suchen musste, denn Nevio Cottelli, sein Chef bei der Polizia Municipale, hatte in der letzten Lagebesprechung vor ein paar Tagen erneut darauf hingewiesen, angesichts der herrschenden Trockenheit offene Feuer jeglicher Art zu unterbinden und mit einem Bußgeld in Höhe von sechzig Euro zu ahnden.

Malpomena, die bis zu dieser Sekunde einen vollkommen geistesabwesenden Eindruck gemacht hatte, drehte einen Schalter auf dem Armaturenbrett. «Unsere Lungen sind empfindlicher, als es den meisten Menschen bewusst ist», sagte sie und hielt den Atem an.

Roberto hielt aus Solidarität ebenfalls die Luft an, gestikulierte aber mit großer Eindeutigkeit eine Frage: Und was hat dieser Schalter damit zu tun?

Malpomena antwortete nicht, regungslos wie ein toter Käfer konzentrierte sie sich darauf, ihren Atem möglichst lange anzuhalten. Roberto konnte da nicht einmal ansatzweise mithalten. Er gab Vollgas, um möglichst schnell den Qualm hinter sich zu lassen. Umkehren wollte er nicht. Dafür hätte er zuerst einmal den Rückwärtsgang bei diesem biestigen modernen Kleinwagen suchen müssen.

Malpomenas Gesicht deutete mit einem ungesunden Blau an, dass es höchste Zeit war, wieder Luft zu holen. «Mit dem Schalter unterbindest du die Frischluftzufuhr», beantwortete sie röchelnd Robertos Frage.

«Schnickschnack. Blödsinn», murmelte dieser und überlegte, wie sich wohl das Fenster öffnen ließ. Mit einer Kurbel wie bei seinem Topolino jedenfalls nicht.

Roberto setzte Malpomena schließlich an der Pforte der Chiesa di S. Bernardino ab. Obwohl sie aus rationalen Gründen nichts von «diesem ganzen Religionsfirlefanz» hielt, konnte sie an keiner Kirche vorbeigehen, ohne einen Blick hineinzuwerfen, auch wenn sie sie schon Hunderte Male von innen gesehen hatte. Roberto vermutete, dass sie das schneidende Gefühl suchte, nicht dazuzugehören zu dem Kreis der Gläubigen, nicht unter der schützenden Hand der Kurie zu stehen und stattdessen komplett auf sich selbst gestellt zu sein.

Bevor Roberto weiterfuhr, hastete er noch schnell auf den Friedhof, um sich mit etwas Erde zu versorgen. Hier musste er auf der Hut sein, denn wegen der teilweise sehr wertvollen Ausstattung der Gräber und Gruften hatte die Stadtverwaltung eigens einen Wächter eingestellt, einen ehemaligen Polizisten, der seinen Job sehr ernst nahm.

Kurz darauf lenkte Roberto das flinke Autochen wieder die schmale Straße hinunter. Mittlerweile hatte er sich etwas an dessen Spritzigkeit gewöhnt, und wenn er ehrlich war, verspürte er sogar eine gewisse Euphorie, wenn der Wagen nach einem leichten Druck auf das Gaspedal nach vorne schoss und in die Kurven ging wie ein hungriger Tiger. Aber von Dauer war das belebende Gefühl nicht. Spätestens als er wieder in den nervösen Verkehrsfluss der SS 73 eintauchte und von wild durcheinanderflitzenden Kleinwagen durch die beiden Kreisverkehre unterhalb der östlichen Stadtmauer gescheucht wurde, sehnte er sich wieder nach seinem alten Cinquecento und dessen Behäbigkeit zurück. Warum musste jedes Auto gleich ein Rennwagen sein? Wenn man alles machte, was möglich war, ging es nur noch darum, immer mehr möglich zu machen. Wie die Telefonini, die mittlerweile so viel konnten, dass es niemanden mehr gab, der in der Lage war, sie wirklich zu bedienen.

Roberto nahm den Fuß vom Gas und wartete, bis der Tacho einfache, ehrliche 50 km/h zeigte. Sofort klebte der Hintermann an seiner Stoßstange, und vor ihm wurde der Abstand zum nächsten Auto immer größer. Er lehnte sich entspannt in den Sitz zurück und rollte gelassen weiter. Was für ein tolles Gefühl. Bis ihm wieder das qualmende Gerippe seines eigenen Cinquecento in den Sinn kam und sich in ihm die Befürchtung breitmachte, damit womöglich nur den Auftakt für weit Schlimmeres erlebt zu haben.

Er griff zu seinem Telefonino, einem uralten, schlichten Nokia 6310 mit zahllosen Schrammen und Kratzern, und wählte die Nummer von Lana Ferrea.

«Ich bin’s, Lana. Sag, kannst du mir auf die Schnelle die Karten legen?» Er lauschte eine Weile. Lana hatte ihr winzig kleines Büro in der Nähe von Berlusconis Regierungssitz, dem Palazzo Chigi, und arbeitete für Normalsterbliche ausschließlich übers Telefon. Ansonsten beriet sie eine bestimmte, sehr hochgestellte Persönlichkeit der 62. italienischen Nachkriegsregierung, für die sie sich Tag und Nacht bereithalten musste. Seit sie das tat, nannte sie sich Lana Ferrea, «Eiserne Wolle», und bestand darauf, von allen so angesprochen zu werden, auch von denen, die sie, wie Roberto, von Kindesbeinen an unter ihrem bürgerlichen Namen Andreina Caminetti kannten.

«Nein, nein, Lana, mach dir keine Mühe. Wie gesagt, nur auf die Schnelle. Mein Tag fing sehr bescheiden an, und ich wüsste gern, wie es weitergeht.»

Eine Weile rollte er nur vor sich hin und lauschte Lanas Worten. «Du siehst einen dunklen Schatten neben mir? Heißt das, der hat schon neben mir gestanden, oder er wird noch neben mir stehen?» Sein Gesicht blieb bewölkt, Lanas Antwort war nicht besonders eindeutig. «Das helle Licht?», erregte er sich plötzlich. «Das war mein Cinquecento, porca madosca! Osvaldo, der camoscino, hat ihn vorhin verbrannt.»

Seine Erregung wich wieder der Bewölkung. «Ein bedrohlicher Balken in meinem Weg? Was für ein Balken? … Heute oder morgen? … Hm, va bene. Na ja, das hilft mir jetzt nicht so sehr.» Die Bewölkung wurde zu Enttäuschung. «Nein, nein, ist natürlich nicht deine Schuld. Aber danke!»

Er beendete die Verbindung. «Da hätte ich auch das Horoskop im Corriere Adriatico lesen können, verdammt.» Billiger wäre es allemal gewesen. Erneut wählte er, dieses Mal die Nummer seiner Dienststelle bei der Polizia Municipale, der städtischen Verkehrspolizei. «Ciao, Francia, sono Roberto. Hör zu, sag Cottelli, dass ich krank bin, ein Stechen und Brennen in der Lunge, sehr schmerzhaft. Also, heute zum Dienst zu erscheinen wäre Selbstmord.»

Er beendete das Gespräch schnell, um nicht die nächste Abzweigung zu verpassen, links hinunter zum ehemaligen Bahnhof, hinter dem es nach einigen Kurven und Schlenkern wieder zurück auf die SS 73 ging. Dort bog er nach rechts ab, in die Urbino entgegengesetzte Richtung. Er würde sich heute einen beschaulichen Tag in seinem Haus machen, die Sache mit dem dunklen Balken beunruhigte ihn doch sehr. Da war es besser, einen Besen umgekehrt in die Tür zu stellen und mit Salz zu bestreuen, die Füße hochzulegen und den bedrohlichen Tag in aller Ruhe verstreichen zu lassen.

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4.

Gegen 3:45 in der Nacht röchelte eine altersschwache Ape ohne Licht den Giro di Torricini herauf und hielt unterhalb der beiden verspielten, minarettartigen Türme des Palazzo Ducale, die sich spitz in den frühmorgendlichen Sommerdunst reckten. Der Fahrer, vermummt mit Skimaske und Arbeitshandschuhen, zwängte sich aus dem winzigen dreirädrigen Gefährt. Wie ein ängstliches Tier lauschte er immer wieder in die Morgendämmerung. Weit und breit kein Mensch. Wer trieb sich auch schon um die Zeit in den Straßen von Urbino herum?

Der Vermummte öffnete die Klappe der Ladefläche, stützte sich für einen Moment mit beiden Händen darauf ab und starrte auf das in ein Bettlaken eingewickelte und mit Blumendraht gesicherte Paket vor ihm, lang und schmal wie ein verschnürter Perserteppich. Vorsichtig, als befürchte er, von einer Schlange gebissen zu werden, griff er nach dem Paket und hebelte es sich auf die rechte Schulter. Dass dabei etwas aus dem Bündel herausfiel, der linke Schuh einer Frau, und auf der Ladefläche liegen blieb, bemerkte er nicht. Wahrscheinlich, weil sich seine Skimaske verschoben hatte und ihm nur noch ein winziger Sehschlitz geblieben war. Praktisch blind und steif, tastete er sich den holperigen, steilen Weg hoch zum Hintereingang des Palazzo, dort wo zu Zeiten des Duca da Montefeltro die Bauern Schlachtvieh und Gemüse angeliefert hatten. Auf halber Strecke hielt er inne. Offenbar hatte er etwas vergessen. Doch anstatt sein schweres Bündel zu Boden zu lassen, behielt er es auf der Schulter und hangelte sich mit Mühe zur Ape zurück, was bergab weitaus größere Mühe machte. Er öffnete die Fahrertür und fischte mit der Linken eine massige, ledereingebundene Bibel von der Sitzbank. Als er wieder hochkam, fiel sein Blick auf einen Bunny-Aufkleber vom Playboy-Magazin auf der Heckscheibe des Dreirades. Er zuckte zusammen, und für einen Moment blieb er regungslos stehen. Er flüsterte ein kurzes Gebet, das er mit «Amen» und einem leichten Kopfnicken beendete. Für einige Momente sammelte er seine Kräfte, dann schwankte er zurück zum Hintereingang des Palazzo Ducale.

Für das Türschloss würde er beide Hände brauchen. Also klemmte er die Bibel zwischen seine Knie und bemühte sich, das Paket auf einer Schulter in der Balance zu halten. Was ganz gut gelang. Bis etwas Längliches, Blasses aus dem Paket herausrutschte, ein Arm …, gegen seine Stirn schlug und sich in der rechten Augenöffnung seiner Skimaske verhakte, ein Daumen …

Der Vermummte erstarrte, begann zu würgen, und das Zucken seines Kopfes deutete darauf hin, dass er seine gesamte Konzentration darauf richten musste, sich nicht zu übergeben. Dabei verlor er das Gleichgewicht und konnte nur mit winzigen, schnellen Tippelschritten verhindern, mitsamt der geschulterten Last Opfer der erbarmungslos zerrenden Schwerkraft zu werden und zu Boden zu gehen. Gerade noch rechtzeitig ließ er sich gegen die Mauer des Palazzo fallen. Er musste ein paar Sekunden verstreichen lassen, bis sich sein Atem etwas normalisiert hatte. Dann packte er mit spitzen Fingern den Daumen, es war ein weiblicher Daumen, zog ihn aus der Augenöffnung seiner Skimaske heraus und schob ihn mitsamt dem nackten Arm wieder zurück in die Verpackung.

Wenig später war er mit seiner Rolle in den riesigen Gewölben unterhalb des Palazzo Ducale verschwunden.

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5.

«Porca miseria!» Roberto schob die weiße Schirmmütze nach hinten, lehnte sich gegen das Schaufenster von Carlo Manzonis Schuhladen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Laune war schlecht. Der geplante geruhsame Abend war zum Albtraum geworden, nachdem Osvaldo bei ihm aufgetaucht war und ihn stundenlang bekniet hatte, ihm doch seinen nagelneuen Cinquecento wieder zurückzugeben; was er selbstredend nicht getan hatte. Hinzu kam, dass er heute Morgen keine Zeit gefunden hatte zu duschen, was sein Mischfaserhemd unangenehm auf der Haut kleben ließ und bei bestimmten Bewegungen einem etwas abgestandenen Duft Gelegenheit gab, aus dem offenen Hemdkragen zu entweichen. Selbstverständlich gab es in seinem uralten, karg ausgestatteten rustico keinen Gasdurchlauferhitzer, sondern nur einen altmodischen Boiler aus Kupfer, den er mit Holz anfeuern musste. Was eine gewisse Zeit brauchte, Zeit, die ihm gerade heute gefehlt hatte, weil er wie ein Mehlsack geschlafen und den Wecker nicht gehört hatte.

Er blickte die breite Via Mazzini hinab, die sich unten vor der Stadtmauer um mehr als die Hälfte verengte, damit sie durch die Porta Valbona passte, das Stadttor auf der Westseite von Urbino. Dahinter, auf dem Borgo Mercatale, hatte er den Wagen geparkt. Leider besaß er nicht das Privileg, in die Stadt einfahren zu dürfen. Das war nur den Bewohnern der Altstadt und einer Reihe handverlesener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gestattet. Wer dazugehörte, das bestimmte der Vizebürgermeister Fausto Manchetti persönlich und jedes Jahr aufs Neue. Eine undankbare Aufgabe, die Manchetti teilweise erhebliche Nachteile einbrachte. Zum Beispiel verschleppte Massimo Pompili, der Chef der Filiale der Banca delle Marche, seit Monaten Manchettis Kreditantrag, ganz eindeutig, weil dieser ihm das Recht verweigert hatte, seinen Lancia Thema durch die engen Gassen Urbinos zu bugsieren. Um so etwas generell zu vermeiden, hatte Manchetti dieses Jahr versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, indem er behauptete, die Auswahl der Lizenzen durch eine Art Losziehung getroffen zu haben. Aber die Sache ging nach hinten los, denn niemand glaubte ihm, im Gegenteil, jetzt waren die leer Ausgehenden sogar noch saurer, weil sie sich an der Nase herumgeführt fühlten. Von der allgemeinen Wut geschockt, hatte Manchetti den Bürgermeister ersucht, die Zahl der Lizenzen aufzustocken, doch der hatte mit dem Hinweis auf irgendwelche Vorschriften des nationalen Denkmalschutzes abgelehnt. Was in Wahrheit nur damit zu tun hatte, dass er selber eine gehörige Zahl von Lizenzen direkt vergab, um sich damit politische Vorteile zu erkaufen.

Roberto stöhnte. Zwanzig Prozent Steigung und noch zweihundert Meter bis hinauf zur Piazza della Repubblica lagen vor ihm, das war deprimierend. Vor allem, wenn man wie er locker fünf Kilo Körpergewicht zu viel mit sich herumschleppte. Fünf Kilo, die sich rund um seine Gürtelschnalle zentrierten. Nach den drei Tellern seiner Lieblings-Pasta, die er gestern Abend verdrückt hatte, unvergleichlich gelbe, zarte tagliatelle alla boscaiola fatt’ in casa mit frischen Steinpilzen und scharf angebratener Wildschweinwurst, waren es heute wahrscheinlich noch drei Pfund mehr.

«Ou, Roberto, come va?», kitzelte eine unterwürfige Stimme sein linkes Ohr, und eine kleine, robuste Espressotasse schob sich in sein Gesichtsfeld.

«Bestens», log er, nahm die Tasse, rührte fünfmal um, das brachte Glück, leerte sie mit einem Schwung und gab sie Carlo zurück. Der caffè traf exakt sein persönlich bevorzugtes Mischungsverhältnis: etwas Milch, viel Zucker und extrem starker Espresso, so stark, dass er einen festen, dunkelbraunen Schaum bildete. Eines war sicher: Carlo würde es niemals wagen, ihm etwas anderes als die perfekte Mischung anzubieten.

«Und, wo steht er?», fragte Roberto und hakte seinen Daumen in die lederne Umhängetasche, in der sein Bußgeldblock steckte. Carlo hatte zwei Lieferwagen, aber nur einer war autorisiert, in die Zone innerhalb der Stadtmauern von Urbino einzufahren, und dies auch nur zum Be- und Entladen bis zwölf Uhr mittags.

Als Poliziotto bei der Polizia Municipale von Urbino, als Verkehrspolizist also, stand Roberto Rossi bei Licht besehen auf der untersten Stufe der italienischen Beamtenhierarchie, tiefer noch als ein Sachbearbeiter im Einwohnermeldeamt. Von der Straßen- und Autobahnpolizei Polizia Stradale belächelt, von der Kriminalpolizei Polizia di Stato noch mehr belächelt, und für die Carabinieri, da war ein Poliziotto von der Municipale nichts als ein kaum wahrnehmbares, lächerliches, laues Lüftchen. Für die Bewohner Urbinos jedoch war ein Poliziotto weitaus bedrohlicher als all die anderen Polizisten zusammen. Ein saftiges Bußgeld war schnell verhängt, und dagegen Einspruch zu erheben war in dem vor allem durch Langsamkeit geprägten italienischen Rechtssystem aussichtslos.

Carlo zeigte alle Symptome eines ertappten Verkehrssünders: Er machte ein Gesicht, als litte er Höllenqualen, legte seine flachen Hände aneinander und bewegte sie beschwörend auf und nieder, während er seine Stimmlage in die Höhe schraubte. «Zehn Minuten, Roberto. Fünf! Ach, was sage ich: zwei, mehr nicht. Dann bin ich wieder weg!»

«Es geht nicht um fünf oder zehn Minuten, Carlo Manzoni –»

«Ich weiß, ich weiß», plapperte Carlo dazwischen.

«– es geht ums Prinzip.»

«Ja, ja, das Prinzip, ich weiß», plapperte der Schuhverkäufer weiter.

Verkehrssünder sind wie Hundewelpen, dachte Roberto, sie wollen nicht begreifen, dass die große Hand, die sie von oben packt, einfach den besseren Überblick hat. Er machte eine ausladende Bewegung. «Urbino ist winzig. Wenn da jeder mit seinem Auto reinfährt, ist kein Platz mehr für die Menschen.»

«Die Menschen, ja, ja», dienerte Carlo und nickte beflissen.

«Und hör auf, mir alles nachzuplappern.»

Carlo hob die Linke und legte seinen Kopf schief, wie um zu signalisieren: nachplappern? Wo werde ich nachplappern? Nachplappern, das machen die anderen, aber ich doch nicht! Ich finde deine Meinung lediglich einzigartig richtig, das ist alles! Aber wieso hast du so eine schlechte Laune, Roberto Rossi?

Der Poliziotto holte tief Luft, um die ganze Angelegenheit auf den Punkt zu bringen, doch Carlo kam ihm zuvor, wahrscheinlich, um sich nicht erneut der Gefahr auszusetzen, irgendetwas nachzuplappern.

«Nicht einmal du als Beamter der Polizia Municipale», Carlo sagte das so, als wäre Roberto gleich nach Berlusconi der wichtigste Mann im Staat, «nicht einmal du darfst ja mit deinem Auto hier hereinfahren.»

«Esatto», erwiderte Roberto.

«Aber es kam …», Carlo drehte die Rechte in blumigen Kreisen durch die Luft, «es kam eine Lieferung, heute Morgen. Aus Florenz.»

«Na, wenn das nicht alles erklärt», erwiderte Roberto sarkastisch.

Für einen Moment erstarrte Carlo. Er versuchte es mit einer anderen Strategie. «Diese Schuhe, aus Florenz, die sind aus der Manufaktur Mambrini e Caovilla, also, das sind schon kleine Kunstwerke.»

Roberto sah den schwitzenden Schuhverkäufer mit mitleidiger Missbilligung an. Natürlich wusste jeder in Urbino von seiner, Robertos, Schwäche für die schönen Künste. Aber Fußbekleidung und le belle arti, das waren doch wohl zwei verschiedene Paar Schuhe. Erneut holte er tief Luft – da schob sich ein Teller mit Cantuccini in sein Gesichtsfeld.

«Caro Roberto! Na, wie steht’s? Willst du mal probieren? Die sind ganz frisch.» Der mit extrem rotem Nagellack lackierte Daumen und die zahllosen Goldarmbänder um das Handgelenk gehörten Signora Domenica Galeotti, Carlos Gattin, die nebenher noch in der Parafarmacia auf der Via Raffaello als, wie Carlo gerne abfällig sagte, Faltenberaterin tätig war. Allerdings sagte er so etwas nur, wenn sie ihn garantiert nicht hören konnte, denn Carlo fürchtete nichts mehr als die eisige Herablassung seiner Frau, mit der sie ihn nur zu gerne in aller Öffentlichkeit bloßstellte.

Roberto nahm einen Cantuccino und lächelte als Dank nur einen winzigen Moment, bevor er sich wieder dem Schuhverkäufer zuwandte. «Du gehst zu weit, Carlo, und das weißt du.»

«Dai, Roberto», flötete Signora Domenica, «es ging nicht anders, wir mussten zwei Wagen nehmen.» Sie senkte verschwörerisch die Stimme. «Wir haben auch zehn Kartons von meiner neuen, hypogenen, tiefenwirksamen Nachtcreme gegen Falten abgeholt. Mit eingebautem Verjüngungsfaktor Q15.» Sie strich sich demonstrativ langsam mit dem Handrücken über eine Wange. «Sag’s mir: Siehst du hier auch nur eine Falte?»

Roberto überlegte kurz, ob er ihr sagen sollte, dass er gleich hier und auf die Schnelle mindestens drei ziemlich markante sah, entschied sich jedoch anders. «Keine einzige, Signora Domenica, veramente.»

Ein Strahlen breitete sich über ihr Gesicht aus und brachte damit problemlos die drei Falten zum Verschwinden.

Na bitte, dachte Roberto, da haben wir doch schon ein perfektes, tiefenwirksames Mittelchen ohne Q15, und es ist sogar noch umsonst. Ganz im Gegensatz zu der begangenen Ordnungswidrigkeit. Er griff nach seinem Bußgeldblock. «Das ändert nichts daran, dass der Wagen wegmuss.»

Signora Domenica nickte heftig. «Also, keine Frage! Selbstverständlich muss der Wagen weg!» Sie rückte einen Schritt näher an Roberto heran und warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu, als wäre der schuld an allen Gesichtsfalten dieser Welt.

«Aber, cicciolina! Ich habe es doch auch für dich getan», beschwerte sich Carlo. «Es waren doch deine zehn Kartons!»

«Papperlapapp!» Domenica legte ihre Nagellackhand vertraulich auf Robertos Unterarm. «Die Stadt ist für uns Menschen da, ist es nicht so, Roberto?»

«Aber dann ist sie doch auch für mich da», versuchte Carlo aufzubegehren und starrte seine Frau böse an. Die strich sich zufrieden über ihre Wange und lächelte Roberto an, als wolle sie sagen: Es gibt schöne Menschen, und es gibt Schuhverkäufer.

«Wie waren die Steinpilze, Roberto?», fragte Carlo unvermittelt und mit einem gewissen Lauern in den Augen.

Putana Eva, jetzt hat er mich, dachte Roberto. Carlo war zwar ein Weichei, ein rammollito, einer, der sein Fähnchen nach dem Wind hängte, also kurzum: ein Schuhverkäufer, aber eins musste man ihm lassen: Er kannte sowohl auf dem Monte Polo als auch auf dem Monte Dolciano die besten Stellen für Steinpilze, und die, die jetzt noch schwer in Robertos Magen lagen, hatte er nur finden können, weil Carlo ihn vorgestern auf der Suche begleitet hatte. Was er in Zukunft garantiert nicht mehr tun würde, wenn Roberto ihm jetzt ein Bußgeld abknöpfte.

Roberto spürte noch einmal dem Geschmack der tagliatelle alla boscaiola fatt’ in casa nach und warf dann einen demonstrativen Blick auf seine Uhr. «Oddio, schon so spät? Ich muss los, ihr beiden!» Er schob seinen Bußgeldblock wieder zurück in die lederne Umhängetasche und fixierte die noch vor ihm liegende Strecke. «Führst du eigentlich noch diese Massaischuhe, Carlo?», fragte er und bereitete sich auf seinen Endspurt vor.

Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich Carlo von einem nervösen Opfer gnadenloser, gegen die Bevölkerung durchgesetzter Verkehrspolitik in einen versierten Schuhverkäufer. «Weißt du was? Ich habe extra ein Paar für dich zurückgelegt! Zum Testen. Nicht dass du denkst, ich wollte dich irgendwie beeinflussen, nein, nein, nein, nein, das ist mein reines Interesse als professioneller Schuhverkäufer. Forschung, Realitätscheck, das, was nötig ist, um die Entwicklung der Technologie voranzutreiben. Und du, du bist ja den ganzen Tag auf den Beinen. Wer könnte besser als du beurteilen, ob es die MBT bringt.»

«Die MBT?», knurrte Roberto und vermied es, Signora Domenica anzusehen, die es gar nicht mochte, wenn ihr Mann sich so penetrant in den Vordergrund drängte. Außerdem schien sie zu befürchten, mit ihrem Verjüngungsfaktor Q15 nichts gegen die MBT ausrichten zu können.

«MBT? Nun, dabei handelt es sich um die Massai Barefoot Technology. Also eine halbrunde Abrollsohle, wie bei den afrikanischen Massai-Kriegern.»

«Ah, ja», erwiderte Roberto und tat so, als hätte er für solche Kinkerlitzchen nun wirklich keine Zeit.

«Aspett’, Roberto! Un attimino!», erwiderte Carlo und verschwand in seinem Laden. Roberto vermied es weiterhin, Signora Domenica anzusehen. Zum Glück zog gerade Fabio Romano ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich, der, wie fast jeden Tag, erneut versuchte, mit seinem uralten Fahrrad ohne Gangschaltung die steile Via Mazzini in einem Rutsch zu bezwingen, und zwar ohne sich in die Pedale zu stellen. Seine Rekordmarke lag etwa auf Höhe von Rita Baldonis Buchhandlung, also noch 20 Meter von der Piazza entfernt, und bislang, also seit über einem halben Jahr, war es ihm nicht gelungen, diese Vorgabe zu überbieten. Warum er das tat, wusste niemand, denn eigentlich war er ein sehr schüchterner Mensch, der jede öffentliche Aufmerksamkeit scheute.

«Das schafft er nicht, heute nicht», beschied Signora Domenica.

«Nein, heute nicht», pflichtete Roberto ihr bei und brüllte: «Forza, Fabio, du schaffst es, heute ist dein Tag!»

Fabio reagierte nicht. Sein Blick klebte mit höchster Konzentration an der Säule oben am Straßenrand, wo die Via Mazzini in die Piazza della Repubblica einmündete. Sein Antritt war fest und seine Haut glänzte, als hätte er sie mit Öl eingerieben. Domenica nickte anerkennend, ein geringer Luftwiderstand war das Wichtigste, da konnte sich jede noch so unauffällige Falte als Nachteil erweisen, auch bei einem jungen Menschen. Fabio fuhr wie immer die Ideallinie, die wegen der zahlreichen Schlaglöcher an den Rändern exakt in der Mitte der Straße verlief, und wie immer machten ihm die entgegenkommenden Ape-Dreiräder, Motorini, Autos und städtischen Lienienbusse Platz, um seinen Rekordversuch nicht zu gefährden.

Entgegen Robertos und Domenicas Annahme sah es heute gar nicht schlecht aus. Mit erstaunlich viel Schwung passierte er das Schuhgeschäft, und seine Atemfrequenz bewegte sich eindeutig im grünen Bereich. Signora Domenica nutzte die Gelegenheit, wieder an Roberto heranzurücken und ihm erneut ihre Nagellackhand auf den Unterarm zu legen.

«Sieh dir das an, dieser junge, tüchtige Kerl.»

Jetzt begann Fabio zwar verstärkt zu drücken und zu werkeln, und ein heftiges Stöhnen brach aus seine Kehle heraus, aber sein Tempo war immer noch ungewöhnlich hoch. Eine fast unheimliche Kraft schien von ihm Besitz ergriffen zu haben.

Doch dann, plötzlich, schoss ein nagelneuer Mini Cooper um die Ecke, von der Via Raffaello in die Via Mazzini hinein, viel zu schnell und viel zu weit in der Mitte der Straße. Fabio erschrak heftig, verlor zuerst seinen Rhythmus und dann rapide an Tempo, seine Kraft verpuffte, und er kam zwei Meter vor der bisherigen Rekordmarke zum Stehen. Aber nicht nur das: Geschockt über die verpasste Chance, fiel er wie in Zeitlupe zur Seite und entkam dem wuchtigen Außenspiegel des vorbeirasenden Mini nur, indem er sich in letzter Sekunde seitlich abrollte.

Ein entsetzter Aufschrei ging durch die Menge. Frauen bedeckten ihre aufgerissenen Münder mit flachen Händen, und Männer warfen die Fäuste in die Luft, was nichts anderes besagte als: Diese verdammten englischen Autos, mit einem Fiat wäre das nicht passiert!

Fabio kam langsam wieder hoch. Benommen hockte er vor seinem Fahrrad und rang nach Luft. Roberto zögerte, schließlich war seine Aufgabe als Beamter der Polizia Municipale der ruhende und nicht der rasende Verkehr; der fiel in den Zuständigkeitsbereich der Polizia Stradale. Bis er die Blicke der Menschen ringsherum auf sich spürte. Es half nichts, er musste etwas unternehmen. Als Poliziotto genoss man nicht sehr viel Respekt, und dieses bisschen war obendrein noch sehr schnell verspielt, wenn man nicht aufpasste. Also riss er sich mit einer dramatischen Geste von Signora Domenica los, stürmte in die Mitte der Straße und warf sich mit breiter Brust dem Mini Cooper entgegen. Dessen Fahrer gelang es nur mit Mühe, seinen Wagen zum Stillstand zu bringen, beinahe hätte er den Poliziotto überrollt. Roberto stützte sich mit beiden Händen auf die Motorhaube und starrte in das Auto hinein. Porco mondo, auch das noch. Es war Davide, dieser verwöhnte Bengel und anerkannte Störenfried! Einer, der einen Breitband-Internetanschluss für eine positive Charaktereigenschaft hielt. Und der leider auch der einzige Sohn des Vizebürgermeisters Manchetti war.

«Heraus mit dir, aber schnell!», knurrte Roberto, während er sich aufrichtete und seinen Bußgeldblock zückte. Er bemühte sich, einen entschlossenen Eindruck zu machen und seinen Ärger über sich selber zu verbergen. Wieso hatte er nicht einfach im entscheidenden Moment in eine andere Richtung gesehen, zum Beispiel dorthin, wo ruhende, parkende Autos darauf warteten, dass er ihre Lizenz zum Einfahren in die Stadt überprüfte?

«Yo, man!» Davide ließ lässig das Seitenfenster herunter. «Was ist los?»

Roberto antwortete nicht und notierte sich das Kennzeichen.