Toskana für Arme - Uli T. Swidler - E-Book

Toskana für Arme E-Book

Uli T. Swidler

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Beschreibung

Voller Liebeskummer ist Max aus Deutschland geflohen und hat sich einen Traum erfüllt: ein Haus im sonnigen Italien. Für eine Villa in den sanft geschwungenen Hügeln der Toskana hat sein Geld nicht gereicht, und so ist es ein baufälliges «rustico» in den rauen Marken geworden. Dort lebt er einsam und allein mit Uilly, dem faulsten und gefräßigsten maremmischen Hirtenhund der Welt. Doch das selbstgewählte Eremitenleben ist nicht ohne Gefahren: Als ihm eines Tages der zentnerschwere Deckel seiner Zisterne auf den Kopf fällt, entrinnt er nur knapp dem Tode. Immerhin lernt er durch diesen Unfall Gino kennen, der doppelt so alt ist und bald sein bester Freund wird. Gino, früher Lastwagenfahrer, jetzt Maurer und selbsternannter Philosoph, macht Max mit allen bekannt, die rund um den Monte Dolciano wichtig sind. Und er führt ihn ein in das Wesen der Italiener. Oberstes Gebot: in jeder Situation «bella figura» zu wahren. Da hat der harmlose Deutsche im Land der Missverständnisse noch einiges zu lernen ... Auch was wahre Liebe betrifft.

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Uli T. Swidler

Toskana für Arme

Liebeserklärung an ein italienisches Dorf

Für Nicole, mit der immer wieder die Zeit stehenbleibt

1.Kapitel

Die Beerdigung war der Knaller. Luise hätte es auch so gesehen, da war ich mir sicher. Wenn sie gekonnt hätte.

Aber es war Luises Beerdigung. Sie lag in dem einfachen Eichensarg, den vier schwitzende Männer nur mit großer Mühe in der Waagerechten hielten, als sie ihn neben dem offenen Grab auf dem verwunschenen cimitero oben auf dem Monte Dolciano auf die sonnengeröstete Erde zu Boden ließen. Drei der Träger waren Nachbarn von Luise, die der deutschen Signora die letzte Ehre erweisen wollten, und folglich waren sie nicht so geübt wie der vierte, Manfredo, Besitzer des Bestattungsunternehmens, Fahrer des Leichenwagens und Sargschreiner in einem. Manfredos Augen wanderten nervös zwischen den Trägern hin und her.

Mein Freund Gino, früher Lastwagenfahrer, aber vor 20Jahren als Maurer sesshaft geworden, stieß mir seinen Ellbogen in die Rippen. «Bei der letzten Beerdigung ist ihm der Sarg weggerutscht», flüsterte er. «War ’ne peinliche Sache.»

«Wird schon gutgehen. Luise wiegt ja kaum was.»

«Eiche», erwiderte Gino mit tadelndem Blick, zuerst zu mir, dann zum Sarg hin, «du weißt doch, was Eiche wiegt.»

Er hob seinen linken Arm, halbhoch nur, mehr war angeblich nicht drin, seit ihm letzte Woche beim Auswechseln eines morschen Dachbalkens in meinem alten Bauernhaus, einem rustico mit dem Namen Ca’Tommaso, der neue Balken auf den Arm gefallen war. Eiche natürlich.

«Was kann ich dafür, wenn dir ein Balken auf den Arm fällt!», flüsterte ich aufgebracht. Gleichzeitig ärgerte ich mich. Warum hatte ich ein schlechtes Gewissen? Weil ich ihm, dem Maurer, den Auftrag erteilt hatte, den Balken auszutauschen?

«Habe ich gesagt, dass du was dafürkannst?», erwiderte Gino gönnerhaft, während er sich demonstrativ den Arm massierte. Ein einziger Vorwurf.

Wieder rammte er mir den Ellbogen in die Rippen, das war immerhin noch möglich. «Enrico.» Er deutete unauffällig mit dem Kinn in die Richtung des Besagten und rollte mit den Augen.

Enrico hatte sich wie gewohnt hinter seiner riesigen Sonnenbrille verschanzt, ein Teil, wie es sonst nur noch von nordkoreanischen Diktatoren getragen wurde. Sein Kopf war starr auf den Sarg gerichtet, und sein unbewegter Gesichtsausdruck ließ auf Gedanken der Trauer schließen, aber jeder rund um den Monte Dolciano wusste, dass seine Augen im Schutz der gewaltigen dunklen Gläser ununterbrochen nach nackten Frauenbeinen und offenherzigen Dekolletés Ausschau hielten. Viel gab es dieses Mal allerdings nicht zu sehen, schließlich handelte es sich um eine Beerdigung. Und selbst Sophie, die erfolglose Schauspielerin aus München, die im Allgemeinen gerne zeigte, was sie hatte, hielt sich zugeknöpft.

Enricos größter und man kann ohne Übertreibung sagen, legendärster Erfolg als Spanner lag jetzt schon einige Jahre zurück und hatte mit Isabelle zu tun, der Ehefrau eines deutschen Unternehmers, der bei Nacht und Nebel ein sehr baufälliges, schwer erreichbares rustico von dem deutschen Architekten mit Namen Gantenbein gekauft hatte. Gantenbein war ein begnadeter Verkäufer mit einem dunklen Hang zum Betrügerischen, von dem wir alle, die wir hier um Luises Grab standen, also alle Nicht-Italiener, unsere Häuser gekauft hatten. Nachdem der deutsche Unternehmer sein frisch erworbenes rustico einige Male bei Tag und in Ruhe betrachtet hatte, wurde ihm klar, wie viel Geld, Arbeitsbereitschaft und Ideen nötig waren, um es zu restaurieren. Geld hatte er, sonst jedoch nichts. Um nicht zugeben zu müssen, einen Fehler gemacht zu haben, stellte er einen Wohnwagen auf das Feld hinter dem rustico. Er müsse erst einmal ohne Zeitdruck die Lage sondieren. Dieses Sondieren dauerte etwa zwei Jahre, in denen er gelegentlich mit seiner Frau Isabelle für ein, zwei Wochen auftauchte, bevor er dann endgültig die Lust an der Sache verlor und mit seiner Geliebten nach Island zog.

Inzwischen jedoch hatte Isabelle, seine gleichermaßen zarte wie weltfremde Ehefrau von puppenhafter Schönheit, sich dem Esoterischen zugewandt, und zwar einer schamanischen Glaubensrichtung, in der man morgens mit Inbrunst die Sonne begrüßte. Isabelle nistete sich also jedes Jahr allein für einige Wochen in dem Wohnwagen ein, auf der Suche nach ihrer schöpferischen Kraft. Am rustico selbst gab es kein Wasser, das sprudelte einige hundert Meter entfernt neben einer vincinale, also einem Weglein, das einzelne Bauernhäuser miteinander verband, aus einer Quelle. Dort badete die Schöne nun jeden Tag ausgiebig und nackt im morgendlichen Dämmerlicht, um dann ihre Gänsehaut und die von der Kälte steinharten Brustwarzen der aufgehenden Sonne entgegenzurecken.

Enrico, ein ruheloser Frühaufsteher, war der Erste, der davon Wind bekam. Einige Tage genoss er dieses Schauspiel allein, bis er sein Geheimnis einfach nicht mehr für sich behalten konnte und einigen ausgewählten Kumpanen zuflüsterte. Von da an hockten jeden Morgen bis zu sechs Männer im Gebüsch, und die Sache flog erst auf, als einer von ihnen, Carlo, von dem Baum fiel, auf den er der besseren Sicht wegen geklettert war. Die schöne Isabelle rief daraufhin die Carabinieri, mit den folgenden Worten, die sie sich aus dem Wörterbuch herausgeschrieben hatte: Sechs eklige (schifosi), geifernde (sbavati), einheimische (nativi) Mistkerle (pezzi di merda) sind in meine Privatsphäre eingedrungen, um mich beim Nacktbaden in der Morgendämmerung (crepuscolo mattutino) zu beobachten.

Innerhalb kürzester Zeit waren zwei Gesetzeshüter vor Ort mit einer Geschwindigkeit, die sich nur mit der Hoffnung der beiden erklären ließ, noch einen Blick auf das nackte Corpus Delicti werfen zu können. Da Carlo sich beim Sturz vom Baum den Fuß verstaucht hatte, konnte er nicht so schnell fliehen wie seine Mittäter und wurde dingfest gemacht.

Doch damit war die Angelegenheit nicht beendet, denn Adolfo, einer der beiden Carabinieri, war Carlos Sohn, und Adolfo versuchte alles, um die Sache klein zu halten, wenn nicht gar unter den Teppich zu kehren. Das wäre sicherlich erfolgreich gewesen, wenn es sich bei Isabelle um ein unscheinbares Wesen gehandelt hätte. Das Gegenteil war jedoch der Fall, und als sie, gutaussehend und elegant (in pompa magna), beim maresciallo, dem örtlichen Chef der Carabinieri, vorsprach, außer sich vor Wut und trotzdem geschickt die Karte spielend: ‹Ich wähnte mich in einem Land der Kultur und Feinsinnigkeit›–, da wurde die Angelegenheit erst richtig groß.

Der maresciallo, ein grau melierter, bulliger Kerl und Macho durch und durch, schwang sich sofort zu ihrem Beschützer auf: Wenn Frauen sich in diesem Land auf ihrem eigenen Grund und Boden nicht mehr frei bewegen können, dann ist etwas zutiefst verrottet in unserer Kultur und Zivilisation! Er listete alle Paragraphen auf, gegen die Carlo verstoßen hatte, und drohte ihm, wenn er in Zukunft nur einen einzigen anzüglichen Blick auf eine Frau werfen würde, käme es sofort zu einer Untersuchung der Abteilung für Innere Angelegenheiten.

«Was hast du mit meinen inneren Angelegenheiten zu tun, maresciallo?», versuchte Carlo es mit einer forschen Gegenwehr.

Der maresciallo ignorierte Carlo und seine Frechheit völlig, verschränkte seine Arme vor der Brust, ließ seinen Blick zur Decke wandern und atmete tief durch die Nase ein, sehr tief, eine Geste, die im alten Rom und wenn er Cäsar gewesen wäre, Carlo keine fünf Minuten später in den Circus maximus zu den Löwen befördert hätte. Doch hier, in der tristen Realität einer muffigen Carabiniere-Wache in Acqualagna, fixierte der maresciallo nicht Carlo, den Täter, sondern Adolfo, den Sohn und Carabiniere, mit einem wirklich gekonnten, lässigen Chef-Blick und tippte wie beiläufig auf seine Rangabzeichen. In der absolut unmissverständlichen italienischen Gebärdensprache hieß das so viel wie: Hör zu, ich habe nicht nur mehr Streifen als du, nein, du wirst bald sogar noch einen weniger als jetzt haben! Und das ist erst der Anfang dessen, was dich erwartet! Das Wort Karriere jedenfalls wird es in deinem Leben nicht mehr geben!

Carlo sah, wie seinem Sohn Adolfo der Schweiß ausbrach, er blass wurde und nach Luft rang. In dem Moment erkannte Carlo die Relevanz der Abteilung für Innere Angelegenheiten auch für sein Leben und entschuldigte sich wortreich bei Isabelle, ohne sie anzusehen, um sich und Adolfo keinerlei weiterem Risiko auszusetzen.

Der maresciallo scheuchte Vater und Sohn daraufhin hinaus und lud Isabelle zum Essen ein, als Akt der Wiedergutmachung und um ihr den Glauben an die große Kulturnation Italien zurückzugeben, während Carlo zum nächsten Optiker humpelte und sich dieselbe gewaltige Sonnenbrille kaufte, die auch Enrico besaß, hinter der seine Augen machen konnten, was sie wollten. Zumindest tagsüber, wenn die Sonne schien.

Das Verhältnis zwischen dem maresciallo und Isabelle war übrigens nur von kurzer Dauer, da Isabelle bald das Interesse an der großen Kulturnation Italien verlor und nach Indien in einen Ashram zog, wo sie zwei Kinder bekam und über einen international tätigen Anwalt die Scheidung von ihrem deutschen Unternehmer einreichte.

Fast alle italienischen Nachbarn waren zu Luises Beerdigung auf den cimitero oben auf dem Monte Dolciano gekommen und natürlich die meisten Deutschen und viele andere Fremde, stranieri, die ebenfalls Häuser in der Gegend besaßen. Luise war unbestritten die große, alte Dame der ersten Stunde der Hauskäufer-Invasion gewesen, die Anfang der 90er Jahre begonnen hatte. Da durfte einfach niemand fehlen. Nicht wenige dieser damaligen Neuankömmlinge waren in den ersten Jahren befreundet gewesen, alle hatten sich untereinander Motorsensen und Schlagbohrmaschinen ausgeliehen, die besten Sand-Zement-Mischungsverhältnisse diskutiert, hatten sich meterlange Tische zugelegt und gegenseitig zum Essen eingeladen und sich über die neuesten Kapriolen der italienischen Bürokratie auf dem Laufenden gehalten. Dass man zum Beispiel, obwohl Italien Teil der EU war, eine Aufenthaltsgenehmigung bei der questura beantragen und immer wieder verlängern lassen musste, um dann, nach frühestens fünf Jahren, den Status eines residente zu bekommen. Oder dass es eine Haus- und Grundsteuer namens ICI gab, die eine sogenannte Bringschuld darstellte, für die man also nicht etwa einen Bescheid bekam, sondern die man von sich aus bezahlen musste, über deren Höhe jedoch weder bei der comune noch bei der Finanzbehörde irgendetwas in Erfahrung zu bringen war.

Die Euphorie der ersten Jahre war im Laufe der Zeit verflogen und hatte einer Ernüchterung und der Erkenntnis Platz gemacht, dass man in Italien vielleicht bessere Laune hatte und schneller braun wurde, aber trotzdem derselbe Mensch blieb. Das Paradies hatte Risse bekommen, und viele, die nun um Luises zukünftiges Grab standen, spürten in diesem Moment, wie mit ihrem Tod endgültig auch der Traum von einer großen Gemeinschaft höchst unterschiedlicher, aber einander wohlwollender Menschen begraben wurde. Ein Niedergang, der am deutlichsten bei Christian und Susanne zu beobachten war, die als Mr. und Ms.Jekyll gekommen waren und nun wie zwei Hydes, wie zwei Werwölfe in gehöriger Entfernung zu Luises Grab lauerten. Sie hatten in den letzten Jahren so vielen Handwerkern das Leben schwer gemacht und sie teilweise um ihr Geld betrogen, weil diese angeblich nicht akkurat gearbeitet hatten, dass niemand mehr für sie tätig werden wollte. Jetzt hatten sie einen Makler mit dem Verkauf ihres Hauses beauftragt und erzählten überall herum, der verschlagenen Rasse der Marchigiani überdrüssig zu sein und sich stattdessen in der edlen Toskana ein Haus kaufen zu wollen.

Eine fehlte in der Runde.

Aus Taktgefühl Gino gegenüber hätte ich ihren Namen nie fallenlassen, und so war er es selbst, der sie erwähnte. Ich sah es kommen, als er unvermittelt mit einer gewissen Schwere seinen Blick in der Runde schweifen ließ und danach bedrückt die Lippen zusammenpresste.

«Valerie ist nicht gekommen.»

Ich nickte stumm. Ich wusste ja, wie ihm zumute war. Keiner, der jemals von einem Menschen verlassen worden war, den er geliebt hatte, würde je das Gefühl vergessen, dieses Schneiden und Bohren und Brennen in den Eingeweiden, gegen das man komplett machtlos war. Mich hatte es ja sogar bis nach Italien hier auf den Monte Dolciano getrieben.

«Du fährst doch bald nach Deutschland», fuhr Gino fort, ohne mich anzusehen.

«In ein paar Tagen, ja.» Mein Auto war wegen der deutlich billigeren Versicherung noch in Deutschland angemeldet und musste zum TÜV.

«Hast du noch ein wenig Platz im Wagen? Ich gebe dir was mit für sie. Und für ihre Tochter.»

Oje, armer Gino, er hatte die kleine Sandra sehr in sein Herz geschlossen.

«Ein bisschen Platz habe ich schon noch», antwortete ich.

«Sie haben diesen formaggio di fossa so gemocht. Und die frischen passatelli fatt’in casa von Rosa.» Ein schweres Seufzen. «Pasta fresca, die gibt es in Deutschland nicht.»

«Doch, schon», warf ich ein.

«Nicht solche, wie Rosa sie macht», widersprach er streng.

«Die nicht, das stimmt», lenkte ich ein und verkniff mir die Bemerkung, dass auch Rosas Pasta nach einem Tag nicht mehr frisch sein würde und allein die Fahrt nach Deutschland ja schon so lange dauerte.

Ginos Blick wanderte für einen Moment in die Ferne, dort, wo der Schmerz zu Hause war und das Glück keinen Fuß hinsetzte. Ich musste mich abwenden, Luises Tod und Ginos Melancholie waren mir in diesem Moment einfach zu viel. Doch Gino war Italiener genug, um auch dem ehrlichsten Schmerz zusätzlich noch ein wenig Drama zu verleihen, auch wenn dies in seinem Fall ausschließlich dazu diente, sich mit großer Geste auf den Olymp der Trauer zu heben, wo nur die ganz Einsamen saßen und still und mit großer Würde litten. Ein gebrochenes Herz reichte nicht, nein, es musste schon ein zerrissenes sein.

«Und den Honig von Vincenzo», fügte er hinzu mit einem ungnädigen Blick in meine Richtung. «Der benutzt gegen die Bienenmilben keine Chemie, sondern nur Thymian.»

Bitte nicht dieses Thema. Nicht jetzt. Nicht hier.

«Mann, Gino, wie oft willst du mir das noch vorhalten? Ich kaufe meinen Honig trotzdem nicht bei Vincenzo, e basta!»

«Alle anderen benutzen Antibiotika. Wenn du nicht aufpasst, wachsen dir irgendwann Brüste.»

«Brüste kriegt man von Hormonen, nicht von Antibiotika.»

Gino verdrehte seine Augen und machte mit beiden Händen eine halbkreisförmige, irgendetwas in die Luft werfende Bewegung, was in der unmissverständlichen italienischen Gebärdensprache so viel bedeutete wie: drauf geschissen, ist doch alles dasselbe, man sollte nicht alles glauben, was in der Zeitung steht.

«Für ein Glas Honig», ereiferte ich mich, «sitze ich stundenlang bei Vincenzo, muss alle seine Kinder begrüßen, muss warten, bis seine Frau die Wäsche von der Leine geholt und eingeräumt hat, um dann auch sie noch persönlich zu begrüßen, muss mir anhören, wie Vincenzo ausgeschwärmte Bienenvölker zurückgeholt hat, mit bloßen Händen und ohne jede Spur von Angst, und muss, und das ist das Schlimmste von allem, seinen selbstgemachten Wein trinken!»

Gino schob das Kinn vor und hielt mir die nach oben offenen Handflächen hin. «Na, und?»

«Für ein Glas Honig, Gino! Dai!»

Gino schüttelte seinen Kopf. «Ihr Deutschen, immer habt ihr es eilig. Ich verstehe das nicht.»

«Ah!», stieß ich wütend und trotzdem so leise wie möglich hervor, schließlich waren wir hier auf einer Beerdigung. «Was hat das denn damit zu tun?»

Ich war kurz davor, den kleinen Maurer zu packen und ein wenig durchzuschütteln, obwohl ich die Strategie hinter seinen Worten erkannte. Er fühlte sich von meiner Besserwisserei bloßgestellt und unternahm einen wirkungssicheren Befreiungsschlag, denn keiner der Deutschen auf dem Monte Dolciano wollte ein typischer Deutscher sein.

Dabei hatte Gino in gewisser Weise sogar recht mit seiner Analyse deutscher Ungeduld. Ihm zum Beispiel machte das endlose Prozedere bei Vincenzo in der Tat nichts aus, bis auf den Wein, den auch nur zu probieren er sich standhaft weigerte. Er konnte stundenlang Kinder hochheben und knuddeln, er konnte geduldig warten, bis Hausfrauen ihre Wäsche eingeräumt hatten, um sie dann freudestrahlend zu begrüßen. Es gab jedoch einen feinen Unterschied, nämlich dass Gino sich bei Vincenzo keine endlosen Geschichten anhörte, sondern stattdessen selber welche erzählte, deswegen kam ihm die ganze Angelegenheit gar nicht so lange vor.

Er sah mich belustigt an, erkennbar zufrieden, wie gut seine Gegenstrategie funktionierte. «Calma, Max. So wichtig ist das nicht.»

Als ich immer noch finster dreinblickte, lächelte er mich mit seiner umwerfenden Freundlichkeit an, stupste mir seinen Ellbogen in die Seite und deutete in die Runde der Wartenden: Deutsche, Engländer, Italiener, Schweizer und Österreicher. «Vor dem Tod sind wir alle gleich, Max, spätestens vor dem Tod.»

«Mag sein, Gino, aber eins ist sicher», sagte ich und stieß ihm wenigstens meinen Zeigefinger in die Brust. «Wenn du mal stirbst, wirst du auch dann noch das letzte Wort haben.»

Gino grinste. «Nicht erst, wenn ich sterbe.»

Ich lachte, schüttelte den Kopf und gab mich geschlagen.

Alle warteten, es war heiß, und nichts passierte auf dem wunderschönen alten Friedhof auf dem Monte Dolciano.

Der Monte lag wie ein gewaltiger gestrandeter Walfisch zwischen der adriatischen Küste und dem steilen Höhenzug der Apenninen, und der Friedhof befand sich fast am Ende der über acht Kilometer langen Straße, die sich umständlich aus dem Tal heraufschraubte und von der so viele Wege und Sträßchen zu einzelnen Häusern abgingen, dass es unmöglich war, sich hier zurechtzufinden, ohne immer wieder einen Einheimischen nach dem Weg zu fragen. Was, je höher man kam, zunehmend schwieriger wurde: Wohnte im Tal noch in fast jedem Haus eine Familie, änderte sich zum Gipfel hin das Verhältnis ins Gegenteil und die Zahl der aufgegebenen, verfallenen, von Gestrüpp überwucherten Ruinen nahm zu.

Die Trauergäste hatten sich zu kleinen Gruppen formiert. Sestina, Giuseppe und Emilia, die drei letzten Ureinwohner des Monte Dolciano, die noch nicht ins Tal zu ihren Kindern in gnadenlos verputzte Häuser mit Aluminiumfenstern und Doppelverglasung gezogen waren. Orlando, der seine Frau Luciana vertrat, die mitten im Sommer bei all den Touristen ihre Bar nicht schließen konnte. Julian Bridgewater, der oft bei Luise zu rheinischem Sauerbraten mit Rotkohl und Knödeln zu Gast gewesen war. Gino, ich und 48 andere. Und sogar die Familie Hermann, also er, sie und ihre vier Töchter, die sich weit abseits der anderen mit dem Rücken an die Friedhofsmauer wie eine kleine Wagenburg halbrund zusammengedrängt aufgebaut hatten, um vor jeglicher Überraschung sicher zu sein; zum Beispiel unverhofft von einem Italiener angesprochen zu werden, was die Hermanns in jedem Fall erst einmal für eine feindliche Aktion hielten.

Manfredo, der Bestatter, war immer noch nervös, obwohl der Sarg sicher auf dem trockenharten Boden neben dem frisch ausgehobenen Grab ruhte. Verstohlen zog er den Knoten seiner Krawatte ein wenig vom Hals weg. Niemand hätte ihm verübelt, wenn er ohne gekommen wäre oder sie jetzt, der brennenden Sonne vollkommen schutzlos ausgeliefert, ganz abgelegt hätte. Doch seit er Leichenbestatter geworden war, hatte er alle Spielregeln, die zu diesem Beruf gehörten, ohne Ausnahme verinnerlicht, obwohl er sich in seinem vorigen Leben eher wie ein Wiesel durch den Wald der Konventionen hindurchgeschlängelt hatte.

Ich kannte Manfredo schon ewig, noch aus der Zeit, als er postino, Postbote, gewesen war und jeden Tag fünfzig Kilometer zurücklegen musste, um auch noch dem letzten Bewohner des Monte Dolciano Stromrechnungen, Pensionsschecks oder sogar Werbeprospekte zuzustellen, ein endloses Gekurve auf schlechten Schotterpisten.

Manfredo war wie die meisten hier in der Gegend ein kleines Jobwunder: Er war Maurer, Elektriker, Schlachter, Trüffelsucher, Krankenschwester (als Luise Aufbauspritzen brauchte, erledigte Manfredo das zwischen Brief und Päckchen), Lkw-Fahrer, Schreiner und Postbote, doch eines Tages, niemand wusste warum, hatte er keine Lust mehr, jeden Tag bei Wind und Wetter den Monte Dolciano rauf und runter zu rasen. Und so wurde er eben Leichenbestatter, nachdem der bisherige, Stefano Garibaldi, eines morgens selbst tot in einem seiner Särge gefunden worden war. Nackt übrigens, aber darüber sprach man nicht, obwohl seltsamerweise jeder davon wusste. Wie Manfredo die nötigen Gewerbepapiere bekommen hatte, wird für immer sein Geheimnis bleiben, aber es interessierte auch niemanden. Wenn es darauf ankam, wusste jeder einen Weg, unbequeme und letztlich doch nun wirklich unwichtige Fragen wie die nach einer Ausbildung oder nach Berufserfahrung auszuhebeln.

Manfredo war also nervös. Wahrscheinlich, weil die Beerdigung der deutschen Signora für seinen Geschmack zu viele Unregelmäßigkeiten aufwies. Wäre Luise eine Italienerin gewesen – va bene, me ne frego. Doch von einer Deutschen erwartete man zwar weder Charme noch Ungezwungenheit noch die Fähigkeit, Feste zu feiern, aber bestimmt einen perfekt organisierten Abgang. Zuständig dafür war allerdings nicht Luise, die ihrem Tod mit einer beeindruckenden Würde und Gradlinigkeit entgegengesehen hatte, sondern ihr Ehemann Horst, den man nur Horst nannte, wenn er anwesend war, ansonsten hieß er für alle il spaccone, das Großmaul. Oder, nicht ganz so direkt, uno chi si dà delle arie, einer, der Arien säuselt, statt klare Worte zu machen. Oder schlicht: ein Wichtigtuer.

Spaccone starrte regungslos auf den Sarg, wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und versuchte zu ignorieren, dass die allgemeine Unruhe zunahm. Es war heiß, der heißeste Augusttag seit Jahren. Die Natur hielt den Atem an, nichts rührte sich, kein Vogel flog, und kein noch so schwacher Windhauch verringerte die gefühlte Temperatur von 40Grad im Schatten.

Spaccone hatte die Beerdigung seiner Frau zu einem großen Ereignis machen wollen. Für ihn war es wichtig, all den Deutschen vom Monte Dolciano zu zeigen, wie viel er über die Gebräuche der Italiener wusste und wie sehr er, im Gegensatz zu allen anderen, mit deren Mentalität und deren Riten verbunden war. Er liebte es, darüber zu schwadronieren, was die Deutschen, also die anderen, ständig falsch machten und wieso sie von den Italienern nicht respektiert wurden. Eine Frage, die übrigens allen sehr wichtig war: Wer wurde von Italienern zu privaten Anlässen eingeladen und wer nicht? Wer erfuhr den neusten Klatsch und wer nicht, womöglich, weil er selbst Gegenstand des Klatsches war?

Immer noch Stille, und genau das war das Problem.

Inzwischen glühte mein Kopf, und ich spürte, wie die heiße Augustsonne meine nordische Kopfhaut in Angriff nahm. Mein cappello, ein leichtes Strohhütchen mit großen Belüftungsschlitzen ringsherum, das äußerst praktisch war, hier allerdings nur von Männern über sechzig getragen wurde und auf dem Wochenmarkt dreitausend Lire kostete, lag im Auto. Ginos entsetzter Blick, als ich ihn beim Aussteigen hatte aufsetzen wollen, hatte keinerlei Worte bedurft. Obwohl er als ausgewiesener Kommunist, Sozialist und Gewerkschafter nichts von der Kirche mitsamt allen Pfaffen hielt, gab es doch Regeln, und die galten für alle, ob nun Deutsche oder Kommunisten. Also hatte ich den Hut wieder zurück auf das Armaturenbrett geworfen, die letzte Ehre für Luise war wichtiger als ein kühler Kopf.

Jetzt hielt ich eine schützende Hand über mein brennendes, der Sonnenseite zugewandtes Ohr und bedachte Gino mit einem bösen Blick, den er mit einem freundlichen Nicken beantwortete. Auch ihm war aufgefallen, dass die Hälfte der italienischen Männer Hüte trug. Na und? Man kann doch mal falschliegen mit seiner Meinung, dai!

Ich überlegte, ob ich noch einmal zum Auto zurückgehen sollte, als plötzlich ein Tuscheln in der bis dahin still vor sich hin schwitzenden Menge aufkam. Sogar der Engländer Julian, ein sehr schlanker, schmallippiger Mann mit der würdevollen, leicht arroganten Ausstrahlung eines britischen Landadeligen, ließ sich zu einem erleichtert geflüsterten, gänzlich unaristokratischen «Holy shit! Finally!» hinreißen.

Wieder rammte Gino mir seinen Ellbogen in die Rippen. «Hörst du?», fragte er und neigte seinen Kopf in Richtung des Friedhofseingangs.

Endlich! Der näselnde Klang klagender Trompeten wehte zwischen den riesigen alten Zypressen über die Friedhofsmauer herein. Dann strukturierten eine Pauke und scheppernde Becken die Töne zu einem Dreivierteltakt, und dann, mit dem kaum wahrnehmbaren Klang einer Tuba, vereinte sich alles zu einem sizilianischen Trauermarsch, wie man ihn aus wunderschönen italienischen Schwarzweißfilmen kennt. Oder von Tom Waits.

Spaccones dumpfer Gesichtsausdruck hellte sich auf, und mit triumphierendem Stolz blickte er in die Runde: sein Einfall, sein Plan, seine messa in scena, ja, seine Kreation! Wieder einmal war ich überrascht, wie es ihm gelang, Wunsch und Wirklichkeit absolut frei von jeder Verbindung zu halten. In der Beziehung war er italienischer als alle Italiener zusammen.

Es war seine Idee gewesen, Luises Beerdigung tipico zu gestalten: Alle sammeln sich am Haus der Verstorbenen, um sich gemeinsam zu Fuß auf den Weg zum Friedhof zu machen, auf der staubigen Straße unter der heiß brennenden Sonne, ringsherum die trockene macchia und vorneweg la banda, die Dorfkapelle, die einen herzzerreißenden Trauermarsch nach dem anderen spielen sollte. Dahinter, würdevoll schreitend, natürlich keine Sonnenbrillen, die Träger mit dem Sarg. Dann er selber, natürlich mit Sonnenbrille, den passenden Gesichtsausdruck hatte er sich schon zurechtgelegt. Dann, in Abstufung, Verwandte, Freunde und der Rest. Und parallel dazu sollten die beiden Glocken der alten Kirche auf dem Monte Dolciano erklingen, die nur noch einmal im Jahr, zur Festa della Maria, am 8.Dezember, genutzt wurde. Was für ein Spektakel!

Berauscht von der Vorstellung, diesen imposanten Trauerzug quasi als energetischer Mittelpunkt gemessenen Schrittes anzuführen, begann er seinen Plan noch am Tage von Luises Ableben in die Tat umzusetzen. Er suchte die Dorfkapelle in ihrem Übungsraum auf, um die einzelnen Musikstücke abzusprechen. Dass die Musiker zwar alle Stücke von Adriano Celentano und Gianna Nannini, aber keinen einzigen Trauermarsch spielen konnten, hätte jeden anderen Abstand von der Idee nehmen lassen. Spaccone jedoch sah sich sofort in der Rolle des Heilsbringers, der den armen von ihrer eigenen Kultur entfremdeten Italienern zurückbrachte, was ihnen verlorengegangen war. Also trieb er in einer kleinen Musikalienhandlung in Urbino die nötigen Noten auf und brachte sie noch spät in der Nacht einem der Musiker zu Hause vorbei.

Die Inszenierung deckte sich in diesem Fall mit der Idee, die er mir und ein paar anderen in einem halbstündigen Monolog nahebrachte, damit wir sie wie Herolde unter das Volk streuten. Ich schlug vor, einige Autos vorab am Friedhof abzustellen, damit wir nach der Zeremonie in der Mittagshitze nicht wieder zu Fuß zurückgehen mussten.

«Kann man so machen», antwortete Spaccone nach einem demonstrativen Zögern und lächelte nachsichtig. Aus meinem Vorschlag sprach natürlich nicht der Geist eines echten Italieners, sondern der irgendwie seelenlose Pragmatismus eines Deutschen. Und das nach den vielen Jahren, die ich schon hier wohnte…

Die Kreation, die Präsentation oder, anders gesagt, die Wirklichkeit am Tag der Beerdigung erfuhr dann allerdings eine leichte Veränderung: Einer der drei Amateur-Sargträger, Alberto, der einen gutgehenden Kiosk unten im Tal neben den steinernen Überresten der alten Via Flaminia hatte, erinnerte Spaccone daran, dass die Strecke zwischen seinem rustico und dem cimitero 2,3Kilometer betrug und bei der Hitze im schwarzen Anzug selbst ohne Sarg eine Tortur würde. Umberto, der vorübergehend in der Pfarrerswohnung neben der Chiesa del Monte Dolciano zur Miete wohnte, wies erneut darauf hin, dass die Glockenläutseile schon seit Jahren fehlten und er sich speziell jetzt, nach seinem Bandscheibenvorfall, außerstande sah, auf das Dach der Kirche zu klettern und die Glocken von Hand anzuschieben. Und Spaccone selber spürte plötzlich das Gewicht seines über die Jahre sorgfältig angetrunkenen gewaltigen Rotweinbauchs schwer auf seinen von der Hitze geschwollenen Knöcheln lasten; außerdem konnte er seine Sonnenbrille nicht finden. Also entschied er, natürlich ganz italienisch, weil spontan und frei von jeder dogmatischen Fessel, doch lieber mit einem der wenigen Autos zu fahren, die noch nicht vorab am Friedhof abgestellt worden waren. Insgeheim atmeten alle auf. Natürlich wollte jeder ohne Jammern Luise das letzte Geleit geben, aber wenn es nicht ganz so beschwerlich würde, wäre das sicherlich auch in ihrem Sinne gewesen.

Ganz sicher sogar, denn Luise hatte rein gar nichts übrig für Brimborium und Getue. Sie liebte es geradeaus und ohne Umwege: tot, rein in den Sarg, unter die Erde, e finito. Romantik hatte in ihrem Leben keinen Platz gehabt. Nicht mehr, musste man eigentlich sagen, denn sie hatte die bitteren Lektionen, die das Leben oder besser Spaccone ihr geschrieben hatte, gelernt und akzeptiert. Und da war einiges zusammengekommen. Zum Beispiel, dass Spaccone/​Horst praktisch seit ihrer Hochzeitsnacht ungezählte Verhältnisse und Beziehungen hatte, manchmal sogar mehrere gleichzeitig, als wäre er mormonischen Glaubens.

Inzwischen näherte sich die Kapelle auf dem von Zypressen gesäumten Weg dem Friedhof, der umgeben war von einer uralten, drei Meter hohen Mauer aus Natursteinen: grauen, mühselig zurechtgehauenen Quadern, die am Fuße des Monte Dolciano schon seit Jahrhunderten aus dem Berg geschlagen wurden und aus denen jedes Bauernhaus und jede Mauer der Gegend bestand. Ein wunderschöner, friedlicher Ort, ein Bild, wie geschaffen für ein Ölgemälde einer typisch italienischen Landschaft, so schön wie die Toskana, wie manche sehnsüchtig anmerkten, die sich lieber südlich von Siena niedergelassen hätten und nur nach mehr oder weniger frustrierender Abwägung ihrer finanziellen Möglichkeiten in der Marche ihr Haus gekauft hatten – der Toskana für Arme, wie reiche toskanische Immobilienbesitzer sie gerne mit böser Zunge titulierten.

Gino hatte den Einmarsch der Kapelle genutzt und unauffällig eine Runde um das Grab gedreht. Den kleinen Bagger, den Manfredo extra auf den Monte gebracht hatte, würdigte er keines Blickes. Gino hatte selber einen Bagger, einen deutschen, wie er stolz betonte, und der war doppelt so groß und noch nie kaputtgegangen. Mit der Herzlichkeit und der Spontaneität hapert es bei den Deutschen, aber Bagger bauen, das können sie. Nein, sein Interesse galt dem wunderschön regelmäßigen, rechteckigen Loch. Er warf mir einen von seinen Blicken zu und verzog sein Gesicht in einer Weise, für die es einfach kein passendes Adjektiv gab: eine Augenbraue hochgezogen, die Nasenflügel gebläht und die Kiefer trotzig zusammengepresst, die Unterlippe vorgeschoben. Dabei bewegte er den erhobenen Zeigefinger hin und her, die Innenseite des Fingers mir zugewandt und den kleinen Finger weit abgespreizt. Irgendetwas mit dem Grab.

Ich hob fragend die Schultern, für mich sah es gut aus.

Gino reckte daraufhin sein Kinn noch weiter vor und kam zurückgeschlendert. Den Blick in die Ferne gerichtet, stellte er sich neben mich und schwieg, obwohl ich ihn fragend ansah.

Dieses Mal stieß ich ihm in die Rippen. «Nun sag schon! Was ist los?»

Gequält kniff er die Augen zusammen, als hätte ich ihn mitten in Mozarts Requiem in d-Moll nach der Uhrzeit gefragt.

«Kommt da noch was?», fragte ich gespielt beiläufig, schließlich kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, wie sehr Drängen bei ihm zu demonstrativer Langsamkeit führte.

«Zu klein», murmelte er nach einer angemessenen Pause.

«Was soll das denn heißen, zu klein?»

«Das Loch ist zu klein.»

«Dai, Gino! Manfredo hat den Sarg selber gebaut. Der wird doch wohl wissen, wie groß das Loch dafür sein muss.» Ginos verdammte Besserwisserei war legendär.

«Manfredo? Manfredo ist ein Ignorant, der…»

Seine Worte gingen in den letzten Trompetentönen unter, gepaart mit dem finalen Paukenschlag und erschöpftem Beckengerassel wie von einer sterbenden Klapperschlange. Die Musiker ließen erleichtert ihre Instrumente sinken. Für sie war in den wenigen Autos kein Platz mehr gewesen, also waren sie die Einzigen, die die Strecke wie ursprünglich geplant zu Fuß hatten zurücklegen müssen. Außerdem war Spaccone der Meinung, dass er bekommen wollte, wofür er bezahlte, und das bedeutete: eine über die gesamte Distanz Trauermärsche schmetternde banda.

Endlich kam padre Don Stilvio zu seinem Auftritt. Er fasste sich kurz. Nur das Nötigste. Natürlich wusste er von Spaccones außerehelicher Vielweiberei, aber aus Respekt für Luise ignorierte er sie. So wie wir alle. Spaccone war ein Frettchen, aber Luise hatte die Würde eines Uhus gehabt, und das allein zählte.

«…in spiritu sancto…»

Für eine Weile wurde die karge Trauerfeier zu einem Standbild, als ein Tiefflieger über den Friedhof hinwegdonnerte, eine seit Jahren unausrottbare und noch dazu ungesetzliche Pest, denn der Monte Dolciano war längst ein ausgewiesener Naturpark und durfte eigentlich nur noch in großer Höhe überflogen werden.

«Amen», beendete Don Stilvio den zeremoniellen Teil, als das Donnergrollen des Phantomjägers sich verzogen hatte, und gab den Trägern ein Zeichen.

Manfredo signalisierte seinen Leuten: Forza! Los geht’s!, und wartete, bis alle ihr Seilende sicher im Griff hatten.

«Alora – e su!»

Bedrohlich schwankend hob sich der Sarg vom Boden, und mit winzigen Trippelschritten ließen die Träger ihn über die Öffnung des Grabes wandern. Unwillkürlich sah ich Luise vor mir, wie sie sich im Sarg mit beiden Händen abstützte und mit lässiger Missbilligung den Kopf schüttelte. Müssen es denn unbedingt solche Hungerhaken sein, hätte sie gefragt, gibt es denn auf dem gesamten Monte Dolciano keine Männer, die größer als ein Meter und fünfundsechzig sind?

«E – giù!»

Vorsichtig gaben die Träger Seil nach, allerdings jeder mit seinem eigenen Tempo. Mit unregelmäßigem Rucken senkte sich der Sarg hinab. Manfredo zischte hektische Kommandos, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Plötzlich ein dumpfes «pock», wie es eine hohle Eichenkiste macht, wenn sie auf harte Erde stößt. Jetzt bewegte sich nur noch der Kopfteil des Sarges nach unten, und dann tat sich gar nichts mehr. Der Sarg steckte fest. Schräg. Sehr schräg.

«Vedi?», bemerkte Gino voller Genugtuung und stieß die flache, wie zum Händeschütteln ausgestreckte Hand in Manfredos Richtung. «Was für ein Ignorant, dieser Manfredo!»

Ich konnte nicht anders, als ihm bewundernd zuzunicken: Was für ein Augenmaß!

Gino zog die Schultern hoch und drehte den Kopf zur Seite, was die freundliche Variante war von: Ich weiß, dass ich gut bin, aber ich würde daraus nie ein großes Thema machen. Und außerdem: Brauche ich dein Lob? Nein, brauche ich nicht.

Ein Raunen ging durch die Anwesenden, Köpfe reckten sich vor, und Don Stilvio warf Manfredo einen Blick zu, der kaum heilige Absichten vermuten ließ.

Gino neben mir richtete sich zu seiner vollen Größe von 1,62Meter auf, kompakt und muskulös.

«Das Loch ist zu klein», sagte er, ohne seinen Blick von dem Desaster abzuwenden und lauter als nötig, denn jeder sah das Problem ja mit eigenen Augen.

Manfredo warf ihm einen giftigen Blick zu, worauf Gino das Kinn vorreckte, die Schultern hochzog und seine Handflächen vor sich nach oben kehrte, was in der absolut eindeutigen italienischen Gebärdensprache so viel hieß wie: Ist es meine Verantwortung, wenn du zu blöd bist, ein Loch zu graben, das groß genug ist? Ist es meine Schuld, wenn du nur einen kleinen Bagger hast? Stronzo!

Spaccone stand am Grabesrand, allein und unfähig zu reagieren, und für einen Moment tat er mir leid. Doch dann begriff ich, was in ihm vorging – oder besser, was nicht in ihm vorging. Es war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht Luises Schräglage in dem abgekippten Sarg, die ihn beschäftigte. Nein, er machte sich Gedanken um seine Reputation. Natürlich wollte er eine bella figura machen bei all den Italienern, Deutschen und Engländern, die anwesend waren. Es sollte eine beispielhafte Beerdigung werden, eine, wie nur er sie organisieren konnte und über die alle noch lange reden würden. Und jetzt das, eine Katastrophe, die ihn zum Gespött aller machen und ganz sicher dafür sorgen würde, dass alle noch viel länger darüber redeten.

Manfredo hatte inzwischen hinter dem kleinen Bagger eine Schaufel und eine Spitzhacke hervorgeholt und hüpfte in das Grab.

«Das Fußende muss hoch! Los doch!», rief er von unten, worauf sich seine drei Träger ins Zeug legten. Jeder zog und zerrte, ihre Augen quollen hervor. Trotzdem tat sich nichts.

«Porca madosca!», tönte es fluchend aus der Tiefe des Grabes. Sofort richteten sich alle Blicke auf Don Stilvio, doch der zuckte mit keiner Miene. Im strengen Sinne hatte hier keine Gotteslästerung stattgefunden, obwohl das Kunstwort madosca nur eine geringfügige Abwandlung von madonna darstellte. Und dass porca Schwein bedeutete, war unter den im Umgang eher rauen Bewohnern der Marken, den marchigiani, nicht unbedingt etwas Schlimmes.

Eine Weile sah man nur Manfredos roten Kopf in rhythmischen Abständen nach oben schnellen und wieder in die Tiefe des Grabes hinabstoßen, jedes Mal gefolgt von einer neuen Erdfontäne, die über den Grabrand herausgeflogen kam. Bis nichts mehr kam und Manfredo dumpf aus der Tiefe kommandierte:

«Alle zusammen, bei drei. Uno, due – tre!»

Die drei Träger zerrten und stöhnten, Manfredo hebelte von unten, und wieder tat sich nichts. Doch plötzlich, ohne ein Vorzeichen, schoss das verkantete Kopfende des Sarges in die Höhe, was zur Folge hatte, dass das Fußende jeden Halt verlor und in die Tiefe polterte.

Gespenstische Stille unter den Trauergästen, niemand wagte zu atmen. Noch nie hatte jemand bisher etwas Ähnliches erlebt, und demzufolge wusste niemand, wie man sich in so einem Fall verhielt. Zu Hilfe eilen? Auf keinen Fall zu Hilfe eilen? Nur entrüstet sein? In Tränen ausbrechen? Sich von alldem distanzieren und nur den Kopf schütteln? Ein bis zwei Meter zurücktreten, eine Sonnenbrille aufsetzen und abwarten?

Ich hörte ein weibliches Lachen in Alt-Stimmlage und sah mich irritiert um. Nichts als verschlossene, ernste Gesichter.

«Zu blöd, um ein Loch zu graben, diese Italiener», ertönte Luises tiefe Stimme, in der die kühle Geringschätzung einer Diva und das dazu gehörende Bewusstsein mitschwangen, mit allem, was sie sagt, recht zu haben. Mir lief ein Schauer über den Rücken, und ich unterdrückte meinen Impuls, vorzutreten, an den Sarg zu klopfen und Luise zu fragen, ob ich sie mit meinem Auto nach Hause bringen solle. Luise war tot, da gab es keinen Zweifel. Vor zwei Tagen hatte ich selbst der Totenwache beigewohnt, die vier italienische Nachbarinnen in Luises Schlafzimmer abgehalten hatten, und es war mir noch in sehr guter Erinnerung, weil ich bis dahin in meinem Leben noch keinen Toten gesehen hatte.

«Hast du es auch gehört?», fragte ich Gino.

Seine Antwort war nur eine in unwillige Falten gelegte Stirn, ohne mich dabei anzusehen, denn seine Augen klebten förmlich an Manfredo, dem Ignoranten, der gerade allen, die einen Bagger besaßen, Schande antat.

Manfredo hackte und schaufelte noch energischer als zuvor und mit der Kraft eines Menschen, der einen Fehler gemacht hatte und der nur Vergebung erhoffen konnte, wenn er alles gab, was in ihm steckte, um diesen wiedergutzumachen. In immer kürzeren Abständen kamen Erdklumpen aus dem Loch geflogen. Zwischendurch stieß er Anweisungen an die Träger hervor, wie sie den Sarg sichern sollten, damit er nicht noch mehr aus dem Lot geriet. Und die ganze Zeit schaffte er es, niemanden anzusehen, schon gar nicht Don Stilvio, der dazu übergegangen war, leise ein Gebet vor sich hin zu murmeln, um über dieses Trauerspiel auf nützliche Weise hinwegzumeditieren oder es wenigstens nicht mit vollem Bewusstsein mitansehen zu müssen.

Der nächste Versuch geriet unspektakulär. Das Fußende löste sich, und mit fast beiläufiger Leichtigkeit gelang es den drei Trägern oben auf dem verdorrten Rasen und Manfredo unten auf dem Boden der Grube, den Sarg wieder hochzubefördern und neben dem Grab zu platzieren. Alle erwarteten, dass Manfredo nun mit dem kleinen Bagger in null Komma nichts das Loch einfach um einen halben Meter verlängerte. Doch merkwürdigerweise und als strebe er die volle Selbstkasteiung an, um zu vollständiger Vergebung aller Versäumnisse zu gelangen, griff Manfredo erneut zu Hacke und Schaufel.

Gino schüttelte ernst den Kopf, sehr ernst, und wiederholte die Worte «Che ignorante!» noch einige Male. Genervt stieß ich ihn an. Litt der arme Manfredo nicht schon genug? Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn er jetzt, angesichts des aktuellen Desasters, nur ein wenig logischer an das Problem herangegangen wäre. Denn auch beim nächsten Versuch ließ sich Luise nicht auf den Grund des Grabes absenken, wieder verkantete der Sarg, und wieder musste Manfredo in die Hände spucken. Eine der Folgen würde sein, dass später am Abend, in Lucianas Bar, niemand, wirklich niemand mit ihm sprechen, er hingegen allen, aber wirklich allen, erklären wollte, wie es zu dieser für ihn absolut unverständlichen Misere gekommen war.

Endlich, eine halbe Stunde später als geplant – nur Don Stilvio verströmte eine gewisse Zuversicht, wahrscheinlich war es ihm mit seinem konsequenten Meditieren gelungen, tatsächlich alle Gedanken, in diesem Fall wohl vorrangig schlechte, aus seinem Bewusstsein zu verbannen–, ertönte ein dumpfer Ton aus der Tiefe der Gruft, und dann lag Luise, oder zumindest ihr Sarg, in perfekter horizontaler Lage zur ewigen Ruhe gebettet. Don Stilvio erwachte aus seiner Entrücktheit, sprach ein letztes Gebet, warf Erde auf den Sarg, verzog sich in den Schatten und setzte ein Gesicht auf, das eindeutig besagte: Wer mich jetzt anspricht, der kann etwas erleben!

Spaccone platzierte sich ans Kopfende des Grabes, bereit, unsere Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Julian trat als Erster heran. Mit beiden Händen umfasste er Spaccones Rechte, beugte sich steif vor und murmelte ein paar englische Worte. Die musste Spaccone als so berührend empfunden haben, dass er den Briten packte und in eine heftige Umarmung zwang. Julians Augenbrauen schnellten indigniert in die Höhe, seine Lippen spitzten sich, während er gleichzeitig seine Wangen nach innen sog, was sein Gesicht noch schmaler machte, und im Geiste schien er die Sekunden zu zählen, bis Spaccones Zuneigungsbekundung endlich vorbei war. Dann, mit einem sonoren «Farewell, Luise» in Richtung Grab, verzog er sich in den Schatten, unweit von Don Stilvio, dem er zunickte und mit fester Stimme dankte: «Grazie, Don Stilvio.»

Der Padre wandte langsam und drohend seinen Kopf. Hatte er nicht deutlich gemacht, dass er nicht wünsche, angesprochen zu werden? Und dann noch von einem, der höchstwahrscheinlich Anhänger der anglikanischen Kirche war, in der Don Stilvio nichts anderes sah als religiöses Raubrittertum, das das Beste der katholischen Kirche, nämlich die Liturgie mit all ihren wunderbaren Showelementen, mit den unseligen Reformationselementen der evangelischen Kirche zu einem illustren Brei von Eigenverantwortlichkeit und Individualismus mischte? Doch angesichts von Julians distinguiertem Auftreten seinerseits zur Würde verpflichtet, presste sich Don Stilvio für einen winzigen Moment ein Lächeln ins Gesicht und antwortete mit einem knappen «Prego», bevor er seinen Blick wieder in die Ferne wandern ließ, gen Süden, dort, wo im Refektorium seines Kapuzinerklosters oberhalb von Cagli ein herzhaftes Mittagessen auf ihn wartete.

Von da an ging es sehr zügig weiter, die ganze Angelegenheit hatte schon viel zu lange gedauert. Sestina musste ihr Schwein, Emilia ihre Gänse füttern, Orlando Luciana in der Bar ablösen, damit sie das Mittagessen kochen konnte, und alle anderen hatten mindestens ebenso wichtige Dinge zu erledigen oder wollten einfach nur endlich über Manfredo und sein Missgeschick herziehen.

Als Letzter machte Manfredo sich auf den Weg zu dem trauernden Witwer, gebeugt von der körperlichen Anstrengung und ärgsten Befürchtungen, doch Spaccone behandelte den unglückseligen Bestatter nicht anders als all die anderen zuvor, jedenfalls die, die er nicht umarmt hatte, und Manfredo wandte sich aufatmend seinem Bagger zu und begann in einer Übersprungshandlung an dessen Hydraulikschläuchen zu rütteln und die Kupplung für die auswechselbare Schaufel auf irgendwelche bislang verborgenen Abnutzungserscheinungen hin zu inspizieren.

Gino beobachtete ihn dabei aus einiger Distanz, während er immer wieder den Kopf schüttelte und erkennbar das Wort «ignorante!» formulierte. Dann jedoch, als der allgemeine Aufbruch begann, winkte er mir verschwörerisch zu und verschwand als Erster, ohne Spaccone auch nur eines Blickes zu würdigen.

Die Geschichte zwischen den beiden war komplex, an dieser Stelle nur so viel: Als Gino sich in Valerie verliebt und mit ihr ein Verhältnis begonnen hatte, war Spaccone darüber zwar nicht begeistert, schließlich war Valerie die Schwiegertochter seines Chefs, konnte aber damit leben. Er war ja selbst ein geübter Ehebrecher und verspürte eine Grundsolidarität mit anderen Männern, die sich nicht dem Diktat der Spießermoral unterwarfen und sich nahmen, was die Natur seit Jahrtausenden für sie vorgesehen hatte, nämlich wechselnde Sexualpartnerinnen, um die eigenen einzigartigen Gene möglichst weit zu verbreiten. Allerdings benutzte Spaccone konsequent Kondome, denn die Natur hatte ja nichts von der Unterhaltspflicht in der modernen Welt der Menschen gewusst.

Nein, das war für Spaccone völlig in Ordnung. Erst als Valerie unter dem, so Spaccone, «schlechten Einfluss von diesem alten Zwerg namens Gino» selbst die Scheidung einreichte, anstatt still und ergeben zu warten, bis ihr Ehemann dies tat – er war noch mit einigen komplizierten Manipulationen in seinen Bilanzen beschäftigt, um offiziell in die Nähe der Armutsgrenze zu gelangen, damit er nicht so viel Unterhalt zahlen musste–, da geriet Spaccones Blut in eine gefährliche Dauerwallung, denn damit hatte Gino ein Gesetz gebrochen, das für Spaccone eines der einfachsten der Welt war: Männer handeln, Frauen werden behandelt.

Seitdem hatten Spaccone und Gino kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Außerdem schuldete Spaccone Gino seit einem Jahr 94Millionen Lire für Arbeiten, die dieser an Spaccones Haus durchgeführt hatte. So standen sich die beiden in monumentaler Feindschaft gegenüber, und Ginos Andeutungen, demnächst seine entfernten Verwandten in Neapel, der Stadt, in der die Camorra zu Hause war, zu besuchen, um ein paar wichtige Dinge zu erledigen, ließen nichts Gutes ahnen.

Spaccone hatte mich gebeten, ihn nach Hause zu fahren. Als wir zu meinem Auto gingen, warteten dort die Musiker, um sich zu verabschieden. Spaccone ging mit offenen Armen auf sie zu.

«Ihr lieben, verehrten Künstler! Ihr wart wunderbar. Ihr habt genauso gespielt, wie ich es mir vorgestellt habe. Es war wie seinerzeit, als ich selbst in Trapani in der Ehrenloge des sindaco den vorbeidefilierenden Kapellen gelauscht habe. Bravo!»

Antonio, die Tuba, bedankte sich erfreut im Namen seiner Kapelle, in der allerdings Giancarlo, das Saxophon, fehlte, denn Spaccone war der Meinung gewesen, dass dieses zwar ein Holzblasinstrument war, aber mit seinem metallischen Näseln und Quäken in dem Gesamtklangbild eines original sizilianischen Trauermarsches nichts verloren hatte. Giancarlo ärgerte sich darüber und erwartete von seinen Kollegen als solidarische Geste, dass sie diesen Auftritt komplett absagten, doch 500000Lire waren letztlich das bessere Argument, und da ohnehin der gesamten banda, bis auf Giancarlo, die Tradition der sizilianischen Trauermärsche vollkommen unbekannt war, hielten auch sie das Saxophon im Zusammenhang einer Beerdigung für problematisch (Antonio, Tuba) bis unzumutbar (Francesco, Akkordeon).

«Und gleich morgen», fuhr Spaccone fort, «werde ich zu euch kommen und die Rechnung begleichen.»

«Dai!», erwiderte Antonio und hob abwehrend die Hände. «Das hat doch noch Zeit, Orst-e.» Mit der Aussprache von «Spaccone» hätte er natürlich kein Problem gehabt, aber der deutsche Name «Horst» endete auf einem Konsonanten, und kein Italiener kann damit leben, wenn ein Wort nicht mit einem Vokal endet. Das ‹H› am Anfang von Horst war da das kleinere Problem, denn ein ‹H› wurde im Italienischen einfach bei der Aussprache ignoriert. Wodurch Orst-e allerdings leicht mit orto, der Garten, oder orso, der Bär, verwechselt werden konnte.

Orst-e hielt daraufhin den Musikern seinen weit nach vorn gestreckten linken Arm entgegen, die Hand nach oben geknickt, als wollte er auf einer Kreuzung den Verkehr stoppen.

«Nein! Morgen Abend. Denn ihr seid in der Hitze mit euren schweren Instrumenten den ganzen staubigen Weg gegangen und habt zu Luises Ehren nicht aufgehört zu spielen.»

«Na ja, also», Antonio warf seinen Mitspielern einen schnellen Blick zu, der auch Spaccone nicht entging, «das war ja unser Auftrag.»

Eine unangenehme Pause entstand. Spaccone starrte Antonio durchdringend in die Augen, und man konnte förmlich spüren, wie wachsendes Misstrauen sich seiner bemächtigte.

Auch Antonio bemerkte das, aber bevor Spaccone die heikle Frage tatsächlich stellen konnte, lüftete er mit leisem Stöhnen seine Tuba vom Boden, umarmte sie wie einen Sack Zement und beugte sich leicht vor. «Es war eine schöne Beerdigung, Orst-e», sagte er. «Ganz außergewöhnlich. Ein Kunstwerk. Findet ihr nicht auch, Leute?»

Die anderen Musiker stimmten ihm voller Inbrunst zu, und langsam entspannte sich Spaccones Gesicht wieder.

«Ich danke euch, ragazzi. Es war mir eben wichtig, die ursprünglichen italienischen Trauermärsche, so wie sie im sizilianischen Trapani seit Jahrhunderten gepflegt werden, hier zu Gehör zu bringen. Und das habt ihr wunderbar gemacht.» Er signalisierte mir, dass er jetzt bereit war, sich von mir fahren zu lassen. «Ihr kommt doch noch mit, einen Wein trinken und eine Kleinigkeit essen?»

Doch plötzlich hatten es die Musiker von la banda, der Dorfkapelle, sehr eilig, und sie verabschiedeten sich mit mehr oder weniger fadenscheinigen Begründungen, so wie schon all die anderen Italiener zuvor, die Spaccone eingeladen hatte. Warum sollte man auf den Tod eines Menschen einen trinken? Auf ein Hochzeitspaar: ja! Wenn ein Kind zur Welt kommt: auf jeden Fall! Aber auf einen von uns Gegangenen? Lieber nicht.

Ich fuhr sehr langsam, trotzdem entfaltete sich hinter meinem Wagen eine mächtige Staubfahne, denn die strada bianca, der unbefestigte Schotterweg, war nach so vielen Wochen ohne Regen knochentrocken, und die kalkigen Steine, die hier alle zwei, drei Jahre von der comune ausgebracht wurden, waren längst zu einem äußerst feinen Pulver zermahlen worden, das schon bei der kleinsten Luftbewegung hochfuhr und alles in näherer Umgebung– Pflanzen, Autos, Häuser – mit einer puderigen weißen Schicht bedeckte.

«Max?», fragte Spaccone.

«Ja.»

«Tust du mir einen Gefallen?»

«Na klar», antwortete ich und versuchte den Schrecken zu überspielen, der mir durch die Glieder jagte. Würde jetzt so etwas kommen wie: Schläfst du heute Nacht bei mir in meinem Haus? Ich werde mich furchtbar einsam fühlen, so alleine, ohne Luise. Oder: Kannst du mich nicht die nächsten Tage überallhin fahren, ich bin zu angeschlagen, um selbst ein Auto zu lenken. Sofort stieg mein Puls, und ich begann mir fieberhaft zu überlegen, mit welchen Worten ich sein Ansinnen ablehnen konnte, ohne als Unmensch dazustehen.

«…anhalten?», fragte Spaccone.

«Was?» Ich schreckte aus meinen dunklen Gedanken hoch.

«Kannst du mal bei Umberto», er deutete hinaus auf die Chiesa del Monte Dolciano, «kurz anhalten?»

Erleichtert ließ ich alle Luft aus meinen Lungen entweichen. Spaccone warf mir einen strengen Blick zu, wohl weil er das als Unmutsäußerung wertete.

«Die Hitze», sagte ich und fächerte mir Luft zu.

«Wer sich, lieber Max, ein Haus in Italien kauft», belehrte er mich, «der muss wohl mit Hitze rechnen.»

Umberto hockte draußen im Schatten auf einem seiner ehemals kanarienvogelgelben Plastikstühle, die die Sonne in eine undefinierbare Farbe umgebleicht hatte, und als wir neben ihm hielten, zog er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hoch. Armer Umberto, der Bandscheibenvorfall machte ihm immer noch zu schaffen.

«Ich wäre gerne dabei gewesen, Orst-e», sagte er als Begrüßung. «Aber der verdammte Rücken, du weißt ja.»

Spaccone winkte gönnerhaft ab.

«Hast du die Glocken gehört?», fuhr Umberto fort. «Ich habe mich doch noch aufs Dach geschleppt und sie mit der Hand in Bewegung gesetzt.»

«Weißt du, Umberto…», begann Spaccone erklärend, brachte seinen Satz dann aber doch nicht zu Ende. Er wollte Umberto nicht enttäuschen, aber da niemand zu Fuß zum Friedhof marschiert war außer la banda und wir stattdessen in der akustischen Abgeschiedenheit unserer Autos gefahren waren, hatte niemand etwas von dem Geläute mitbekommen.

«Lass gut sein», erwiderte Umberto und klopfte Spaccone mitfühlend auf den aus dem offenen Fenster herausgelehnten Arm. «Eine Beerdigung ist eine kräftezehrende Angelegenheit.»

Spaccone nickte märtyrerhaft. «Sag, Umberto, die Kapelle, la banda …», wieder brachte er seinen Satz nicht zu Ende.

Umberto breitete seine Arme aus, um dann mit einer weltumspannenden Bewegung seine flachen Hände über seinem Herzen zusammenzuführen. «Stupendo! Sbalorditivo! Diese Stimmung, die sie erzeugt haben! Incantevole! Veramente, Orst-e, veramente!»

«Grazie, Umberto, grazie.» Spaccone war viel zu eitel, um nicht einen Moment zu verharren. Aber nur einen Moment. «Also, hat sie die ganze Zeit durchgespielt?»

«Ich verstehe nicht, Orst-e.»

«Na, la banda, hat sie durchgespielt oder nur so lange, wie wir in der Nähe waren?»

Umberto ließ sich nichts anmerken, aber ich kannte ihn gut genug, um sicher zu sein, dass er den Hintergrund zu Spaccones Frage erriet. Umberto war, was man auf dem Monte Dolciano einen furbacchione, einen birbone, einen marpione nannte, nämlich ein ganz gewitzter, ganz ausgeschlafener Kerl, einer, der immer wusste, wo es langgeht, der alle Hintertürchen kannte – oder zumindest vorgab, alle zu kennen.

«Nun…», begann er. Am liebsten hätte er geantwortet: Ich weiß von nichts, geht mich ja auch nichts an, mi non c’entro, doch dummerweise hatte er ja selbst gesagt, er habe sich auf das Dach geschleppt, um die Glocken zu läuten. Und er hatte die Stimmung der sizilianischen Trauermärsche, die la banda intoniert hatte, in den höchsten Tönen gelobt. Wie könnte er jetzt sagen: Ich weiß von nichts?

«Nun», wiederholte er und knetete mit beiden Händen einen imaginären Pastateig vor seiner Brust, «es ist so furchtbar heiß. Und der Staub, der setzt sich überall fest, die Ventile der Blasinstrumente, du weißt, wie empfindlich die sind. Also, ich sag mal so: Sie mussten einfach ihr Spiel unterbrechen.»

«Wo ungefähr?», fragte Spaccone.

Umberto atmete schwer aus. «Wo?»

«Mhm», erwiderte Spaccone, er wusste, er hatte Umberto an der Angel.

«Also, da oben.»

«Wo da oben?»

«An der Kurve.»

«Gleich an der ersten Kurve?»

Umberto nahm die Arme auf den Rücken und zog die Schultern hoch, sodass er dastand wie ein Pinguin.

«Si», presste er endlich hervor, «an der ersten Kurve.»

Jetzt war es heraus. Spaccone hatte die Musiker bezahlt, damit sie während der 2,3Kilometer durchspielten, sie aber hatten schon nach den ersten 200Metern kapituliert. Sie hatten ihm vor aller Welt eine faccia nera gemacht.

Spaccone nickte und verabschiedete sich von Umberto.

«Mit mir nicht», flüsterte er grimmig, «mit mir nicht. Stronzi!»

Als wir endlich an Spaccones rustico ankamen, das den Namen Ca’Italo trug und genau in der Mitte zwischen den Häuseransammlungen Ripidello links und Bordolino rechts oberhalb der Modonnina lag, warteten von den ehedem vierundfünfzig Trauergästen nur zwei: Ilse, Luises deutsche Freundin, die eigens für die Beerdigung aus Ratingen gekommen war und Spaccone wegen seiner Vielweiberei auf den Tod nicht ausstehen konnte, und Julian, dem gewaltig der Magen knurrte.

Julian war übrigens schwul, und nur der Himmel wusste, warum er London verlassen hatte und ausgerechnet auf den Monte Dolciano gezogen war, wo garantiert niemand schwul war oder, anders ausgedrückt, ein Mann eher mit dem Ruf leben konnte, es mit seinen Ziegen zu treiben als mit Männern.

Doch Julians Vorteil war seine, wie schon erwähnt, ungeheuer aristokratische Ausstrahlung. Er war gebildet, sprach als einziger der vielen Ausländer auf dem Monte perfektes Italienisch und pflegte die Umgangsformen eines Gentleman. Very British, indeed, also auf sehr freundliche und nachsichtige Art von oben herab. Briten im Ausland machen mit jeder Geste, mit jedem Wort klar, wie die Hierarchie außerhalb von Großbritannien für sie aussieht: Da sind die Einheimischen, in diesem Fall die Italiener, die durchweg unter dem Unglück leiden, nicht als Briten geboren worden zu sein, und da sind die Briten, die das natürliche Recht haben, zu regieren und bedient zu werden, aber ebenso eine gewisse fürsorgliche Verpflichtung gegenüber den unteren Schichten verspüren.

Julian hatte es in den Jahren, die er auf dem Monte Dolciano lebte, geschafft, kein einziges Mal irgendjemanden zum Essen einzuladen, eine Leistung, die gerade in Italien, dem Land der langen Esstische, unglaublich war. Irgendwann erwischt es jeden, und er muss einladen, um nicht verstoßen zu werden. Nicht so Julian. Waren die neun Hunde der Grund, zwei von ihnen von einer Hautkrankheit befallen und fast ohne Fell, die in seinem Haus auf den Sesseln, auf dem Sofa herumlagen? War es die Tatsache, dass niemand in den Verdacht kommen wollte, ebenfalls schwul zu sein? Es war eben etwas völlig anderes, zu sagen: «Julian, der soll schwul sein, war bei mir zum Essen», als: «Ich war beim schwulen Julian zum Essen.»

Gleichwohl wollte niemand darauf verzichten, von seiner aristokratischen Grandezza einen Schimmer abzubekommen. Seinerzeit war Julian mit einem Range Rover, grünmetallic, 4,8Liter, 8-Zylinder-Maschine, in Ca’Baldo aufgetaucht, einem winzigen Dörfchen in einem gleichnamigen kleinen, dem Monte Dolciano vorgelagerten Tal. Julian erklärte ein Haus mit 35Hektar wertvollen Waldes zu seiner neuen Residenz, legte das Geld dezent in bar auf den Tisch, ohne eine Bank bemühen zu müssen, und erklärte mit näselndem Understatement, fortan Pferde züchten zu wollen. Solche Erscheinungen kannten die Menschen vom Monte Dolciano bisher nur aus englischen Historienfilmen oder Fernsehserien wie Eaton Place, und demzufolge war Julian von der ersten Minute an das mit Abstand beliebteste Gesprächsthema überhaupt, inklusive der Erörterung, wie das denn so vor sich ging, das Schwulsein.

Doch mittlerweile war von Julians altem Glanz einiges abgebröckelt. Sein wirtschaftlicher Niedergang hatte schleichend begonnen, mittlerweile jedoch spektakuläre Züge angenommen, ohne dass dies allerdings sein Ansehen in irgendeiner Weise beschädigt hätte. Das Leben auf dem Monte Dolciano war immer schon von großer Kargheit, ja Armut gekennzeichnet gewesen. Jahrhundertelang hatte der Vatikan die Bauern bluten lassen, dann waren es die Großgrundbesitzer, denen die Bauern die Hälfte ihrer Ernte abgeben mussten, und dann war Cavaliere Berlusconi gekommen und hatte noch einmal klargemacht, in welche Richtung das Geld zu fließen hatte, nämlich von unten nach rechts oben.

Julians Pension jedenfalls, die er als ehemaliger Bibliothekar vom britischen Staat bezog, war so gering, dass er jede Gelegenheit nutzte, wenn er etwas umsonst zu essen bekommen konnte. Julian vereinte in sich auf perfekte Weise Eigenschaften, die ein erfolgreicher Schmarotzer und Müßiggänger brauchte: Einerseits war er exzentrisch und in gewisser Weise exotisch, andererseits besaß er den Charme eines Hugh Grant, mit dem er vor allem Frauen begeisterte, die es in der Regel gewohnt waren, von den marchigianischen Männern entweder ziemlich direkt und wenig feinfühlig angegangen zu werden oder, wenn sie selbst das Heft nicht aus der Hand geben wollten, auf Weicheier zurückgreifen zu müssen, die sie zwar beherrschen konnten, die aber nichts hermachten und für die «Frau» gleichbedeutend mit «Mutter» war. Julian hingegen machte etwas her, er war weder ein Weichei, noch stellte er eine Gefahr dar, denn er war ja schwul. Außerdem war es auf dem Monte Dolciano wie im Rest der Welt: Männer mit Humor kamen einfach am besten an, und Julians britischer Humor war sensationell, und dadurch, dass er herausragend gut Italienisch sprach, konnte er ihn perfekt ausspielen.

Seine Schmarotzertechnik war so einfach wie erfolgreich: In der Regel tauchte er gegen 18Uhr zu einem freundschaftlichen Besuch auf, früh genug, um nicht beim Essen zu stören, wie er gleich zu Beginn betonte. Dann legte er los mit seinen Ironien, den Anspielungen, dem Charmieren, ließ den Geist von Hugh Grant und Oscar Wilde gleich mehrmals durch den Raum spazieren, neckte die Männer freundlich, während er die Frauen mit bedingungsloser Bewunderung bedachte, sodass die Zeit wie im Fluge verging. Und wenn er sich dann gegen 19Uhr 45 höflich an die Herrin des Hauses wandte, um sich zu verabschieden, weil er ja, wie gesagt, nicht beim Essen stören wolle, schlug ihm eine ehrliche Entrüstung entgegen, nein, er könne doch jetzt nicht gehen und man fühle sich geehrt, wenn er zum Essen bliebe. Man muss wohl nicht betonen, dass es nach dem etwa zweistündigen Auftakt, dieser prickelnd-belebenden Charmedusche, nicht nur Spaghetti zu essen gab, sondern olive ascolana, pesce azzuro, tacchino, bistecca, bresaola, salsicce di ginghiale, formaggio di fossa, tiramisù, caffè und