Der Präsident - Georges Simenon - E-Book

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Georges Simenon

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Beschreibung

Vom alten Mann und der Macht Augustin ist in seiner Welt »Der Präsident«, auch wenn er es in Wirklichkeit nicht mehr ist. Denn mit 82 Jahren hat er in der großen Politik längst ausgedient, lebt seit Jahren zusammen mit seinem Chauffeur und zwei Hausdamen in seinem kleinen Haus in der Normandie. Von hier aus verfolgt er, wie die Regierung in Paris zerbricht – und sieht in der Staatskrise seine große Chance, wieder ganz vorne mitzumischen und die Strippen zu ziehen. Da er über den neuen ersten Mann im Staat ein vernichtendes Schriftstück besitzt, wartet Augustin – auf ein Zeichen, den alles entscheidenden Anruf, die Unterwerfung. Simenons Roman vom alten Mann und der Macht ist Simenons großer politischer Roman, ein psychologisches Meisterwerk, 1961 verfilmt mit Jean Gabin.

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Georges Simenon

Der Präsident

Die großen Romane – Band 91

Aus dem Französischen von Renate Nickel

Mit einem Nachwort von Harriet Köhler

Atlantik

1

Seit über einer Stunde saß er bewegungslos in dem alten, abgenutzten Louis-Philippe-Sessel aus schwarzem Leder mit der fast senkrechten Lehne, den er vierzig Jahre lang von einem Ministerium zum andern geschleppt hatte und der zur Legende geworden war.

Er schien zu schlafen, wie er so dasaß mit geschlossenen Augen und nur ab und zu träge ein Lid hob. Er schlief aber nicht. Vielmehr konnte er sich genau vorstellen, welchen Anblick er bot mit seinem etwas steifen Oberkörper in dem weiten schwarzen Jackett, das an einen Gehrock erinnerte, und mit dem hohen gestärkten Hemdkragen unter dem Kinn, der auf allen Fotos von ihm zu sehen war und den er von dem Augenblick an, da er morgens sein Schlafzimmer verließ, wie eine Uniform trug.

Seine Haut wurde von Jahr zu Jahr feiner und glatter. Mit ihren weißen Flecken sah sie aus wie Marmor, und sie spannte sich über seine Wangenknochen und den Schädel, sodass sich seine Züge zu läutern schienen, indem sie immer klarer wurden. In einem Dorf hatte er einmal gehört, wie ein Junge zu einem andern sagte:

»Schau mal, der Totenkopf!«

Kaum einen Meter von dem Kaminfeuer entfernt, in dem von Zeit zu Zeit ein Windstoß die Holzscheite knistern ließ, saß er regungslos mit auf dem Bauch gefalteten Händen, als ob man ihn nach der Totenwaschung an diesen Platz gesetzt hätte. Ob sie sich wohl trauen würden, ihm einen Rosenkranz um die Hände zu wickeln wie einem seiner Kollegen, der auch mehrmals Ministerpräsident und einer der höchsten Würdenträger der Loge gewesen war?

Immer häufiger und unabhängig von der Tageszeit, vor allem aber in der Abenddämmerung, wenn Mademoiselle Milleran, seine Sekretärin, lautlos und unmerklich die Lampe mit dem Pergamentschirm in seinem Arbeitszimmer anknipste und sich dann nach nebenan zurückzog, umgab er sich mit dieser Ruhe und Stille. Es war, als ob er eine Mauer um sich herum aufrichtete, oder eher noch, als ob er sich fest in eine Decke einwickelte, um ganz mit sich allein zu sein.

Nickte er dabei gelegentlich ein? Das hätte er jedenfalls nie zugegeben, überzeugt davon, dass sein Verstand wach blieb, und als Beweis für sich und seine Umgebung machte er sich einen Spaß daraus, aufzuzählen, wer hereingekommen war und wann er wieder hinausging.

An diesem Nachmittag zum Beispiel war Mademoiselle Milleran – abgesehen von einem Buchstaben war es genau der Name eines früheren Kollegen, der, wenn auch nur kurz, Präsident der Republik gewesen war –, an diesem Nachmittag also war Mademoiselle Milleran zweimal auf Zehenspitzen ins Zimmer gekommen. Das zweite Mal hatte sie sich vergewissert, dass er lebte und seine Brust sich noch im Rhythmus seines Atems hob und senkte, und anschließend ein Holzscheit in die Glut zurückgeschoben, das beinahe auf den Teppich gefallen wäre.

Für sich, als sein eigenes Reich, hatte er den unmittelbar neben dem Schlafzimmer liegenden Raum ausgesucht. Der Tisch darin war aus massivem Holz, war weder lackiert noch gewachst und sah so unbearbeitet aus wie ein Metzgertisch.

Das war sein berühmter, so oft fotografierter Schreibtisch, der, wie auch jeder kleinste Winkel in Les Ébergues, schon seit langem zu der Legende um seine Person gehörte. Alle Welt wusste, dass sein Schlafzimmer mit den weiß getünchten Wänden und dem Eisenbett aussah wie eine Mönchszelle.

Man kannte die vier niedrigen Zimmer, die früher Kuh- oder Pferdeställe gewesen waren, aus jedem Blickwinkel. Die Verbindungstüren waren herausgenommen worden, und an den Wänden standen bis hinauf zur Decke Tannenholzregale voller Bücher.

Was Milleran wohl tat, wenn er die Augen geschlossen hatte? Er hatte ihr nichts diktiert. Sie musste keinen Brief beantworten. Sie strickte nicht, nähte nicht. Nur am Morgen ging sie die Zeitungen durch und strich mit einem Rotstift die Artikel an, die ihn vielleicht interessierten.

Er war überzeugt, dass sie sich Notizen machte, so wie manche Tiere alles, was sie finden, in ihrem Bau zusammentragen; und dass sie nach seinem Tod ihre Memoiren schreiben würde. Oft hatte er, ohne Erfolg, sie dabei zu ertappen versucht oder, ebenso erfolglos, eine scherzhafte Bemerkung gemacht, um ihr etwas zu entlocken.

Man hätte schwören können, dass sie im Zimmer nebenan genauso reglos dasaß wie er und dass sie sich gegenseitig belauerten.

Ob sie an die Fünfuhrsendung dachte?

Seit dem Morgen tobte ein Sturm, drohte die Schieferplatten vom Dach und von der Westmauer abzuheben und rüttelte an den Fenstern, sodass man immer wieder meinte, es klopfe jemand. Das Fährschiff Newhaven–Dieppe hatte, wie im Radio gemeldet worden war, nach einer gefährlichen Überfahrt und nachdem es beinahe umgekehrt wäre, dreimal ansetzen müssen, um in Dieppe anzulegen.

Trotzdem hatte der Präsident gegen elf Uhr auf seinem Spaziergang bestanden, eingemummt in seinen alten Persianermantel, der so viele internationale Konferenzen zwischen London und Warschau, dem Kreml und Ottawa gesehen hatte.

»Sie wollen heute doch nicht etwa hinausgehen?«, hatte Madame Blanche, seine Pflegerin, eingewandt.

Obwohl sie wusste, dass es vergebliche Liebesmüh war, ihn von einem Vorsatz abzubringen, ließ sie sich auf eine Auseinandersetzung ein.

»Doktor Gaffé hat Ihnen gestern Abend noch einmal gesagt …«

»Geht es um das Leben des Doktors oder um meines?«

»Hören Sie, Herr Präsident … Lassen Sie mich wenigstens den Arzt anrufen und fragen …«

Er sah sie nur mit seinen hellgrauen, von der Presse gern als stählern beschriebenen Augen an. Sie hielt seinem Blick zuerst immer stand, und in diesen Momenten hätte jeder angenommen, sie hassten sich.

Vielleicht hasste er sie wirklich nach den zwölf Jahren, die er sie nun ertrug? Er hatte sich diese Frage schon gestellt, konnte sie aber nicht klar beantworten. Vielleicht war sie der einzige Mensch, dem seine Berühmtheit nicht imponierte? Oder tat sie nur so?

Früher hätte er die Frage, seines Urteilsvermögens sicher, ohne zu zögern beantwortet; aber mit zunehmendem Alter wurde er vorsichtiger.

Jedenfalls beschäftigte ihn diese weder junge noch hübsche Frau allmählich mehr als sogenannte ernsthafte Probleme. Zweimal hatte er sie in einem Wutanfall hinausgeworfen und ihr verboten, sich in Les Ébergues wieder blicken zu lassen. Er wollte im Übrigen auch nicht, dass sie über Nacht blieb, obwohl ein Zimmer frei gewesen wäre, und sie hatte sich eine Bleibe im Dorf suchen müssen.

Beide Male stand sie morgens, als es Zeit für seine Spritze war, wieder da, und er hatte in dem ausdruckslosen, harten Gesicht dieser fünfzigjährigen Frau keine Gefühlsregung entdecken können.

Er hatte sie sich nicht einmal ausgesucht. Als er zehn Jahre zuvor das letzte Mal Ministerpräsident gewesen war, geschah es, dass er eines Abends in der Abgeordnetenkammer nach einer dreistündigen Rede vor einer unerbittlichen Opposition ohnmächtig geworden war, und da hatte sie neben ihm gestanden.

Er erinnerte sich noch, wie überrascht er gewesen war, als er sich auf dem staubigen Fußboden wiederfand und diese Frau in einem weißen Mantel und mit einer Spritze in der Hand sah, die als Einzige inmitten der allgemeinen Aufregung heiter und gelassen dreinblickte.

Eine Zeitlang war sie jeden Tag zur Krankenpflege in die Rue Matignon gekommen und später, nach dem Sturz der Regierung, in seine Junggesellenwohnung am Quai Malaquais.

Les Ébergues war damals noch ein bescheidenes Bauernhaus, das er durch einen Zufall kaufen konnte, um dort ab und zu einen Kurzurlaub zu machen. Als er beschlossen hatte, sich endgültig dorthin zurückzuziehen, hatte sie, ohne eine Zustimmung seinerseits abzuwarten, erklärt:

»Ich komme mit.«

»Und wenn ich keine Krankenschwester brauche?«

»Man wird Sie nicht dorthin lassen ohne jemanden, der Sie versorgen kann.«

»Wer, man?«

»Erstens Professor Fumet …«

Er war seit über dreißig Jahren sein Arzt und Freund.

»Diese Herren eben …«

Er wusste, was sie meinte, und der Ausdruck hatte ihn amüsiert. So blieb er bei der Bezeichnung für die paar Dutzend Leute – waren es überhaupt so viele? –, die das Land in Wahrheit regierten.

Diese Herren, das waren nicht nur der Ministerpräsident und seine Minister, Mitglieder des Staatsrates, der Verwaltung, der Banque de France und ein paar hohe Beamte auf Lebenszeit, sondern auch die Verantwortlichen der Sûreté Générale in der Rue des Saussaies, die darüber wachten, dass dem berühmten Staatsmann nichts Unangenehmes zustieß.

Waren nicht zwei Polizeiinspektoren eigens ins benachbarte Dörfchen Bénouville geschickt worden? Sie hatten sich im Gasthaus einquartiert und bewachten ihn; ein dritter, der mit Frau und Kindern in Le Havre wohnte, kam mit dem Motorrad, um seinen Wachdienst zu versehen.

In diesem Augenblick stand bestimmt einer von ihnen trotz des Sturmes und der Wassermassen, die vom Meer und vom Himmel gleichzeitig zu kommen schienen, an einem nassen Baumstamm in der Nähe der Haustür und ließ das erleuchtete Fenster nicht aus den Augen.

Madame Blanche war nach Bénouville mitgekommen. Lange Zeit hatte er geglaubt, sie sei Witwe oder aber ledig und lasse sich mit Madame anreden, wie es viele unverheiratete, berufstätige Frauen taten, um sich mehr Respekt zu verschaffen.

Es dauerte drei Jahre, bis er dahinterkam, dass ihr Mann, ein gewisser Louis Blain, in Paris lebte und in Saint-Sulpice eine Buchhandlung besaß, die auf religiöse Literatur spezialisiert war. Sie hatte ihm nie etwas davon erzählt und fuhr lediglich einmal im Monat nach Paris.

Eines Tages, als er schlechte Laune hatte und sie ihn mit ihrem immer gleichbleibend freundlichen Gesicht behandelte, brummte er:

»Geben Sie zu, dass Sie hochnäsig sind! Um nicht zu sagen, gemein. Sie sind seit dem frühen Morgen hier, frisch und ordentlich frisiert, ausgeruht und munter, und Sie kommen in das Zimmer eines alten Mannes, der sich langsam auflöst. Riecht es eigentlich morgens in meinem Schlafzimmer?«

»Wie in allen Schlafzimmern.«

»Bevor ich selber alt wurde, habe ich mich vor dem Geruch alter Leute geekelt. Und Sie sagen, Sie merken es nicht. Es befriedigt Sie zu sagen: ›Der Mann, den ich jeden Morgen nackt und hässlich und schon halb tot vor mir sehe, ist derselbe, dessen Name in den Geschichtsbüchern steht und der morgen ein Denkmal bekommen wird oder nach dem in vielen französischen Städten zumindest eine Straße benannt werden wird …‹ Wie Gambetta! … Wie dieser arme Jaurès, den ich gut gekannt habe …«

Sie hatte daraufhin gefragt:

»Ist es Ihnen wichtig, dass Straßen Ihren Namen tragen?«

Wahrscheinlich nahm er ihr einfach übel, dass sie ihn in der Blöße und ganzen Schwäche eines alten Mannes sah.

Émile jedoch, dem Diener und Chauffeur, der ebenfalls schonungslos Einblick hatte in seinen elenden körperlichen Zustand, verübelte er es nicht.

Weil Émile ein Mann war?

Jedenfalls waren Madame Blanche und Émile mit ihm an die frische Luft gegangen, hinaus in den Nordwestwind, in dem sie nur gebückt vorwärtskamen; Madame Blanche in ihrem Umhang, der wie ein schlaffes Segel flatterte, Émile in schwarzer strenger Uniform mit Ledergamaschen.

An diesem Morgen war kein Tourist da, um zu fotografieren, kein Reporter, nur Soulas, derjenige der drei Inspektoren mit den dunkelsten Haaren; er rauchte eine nasse Zigarette unter seinem Baum und schlug sich von Zeit zu Zeit mit den Armen um den Körper, um sich aufzuwärmen.

Das Haus war bis auf drei kleine Mansardenzimmer über der Küche einstöckig und bestand aus zwei untereinander verbundenen Trakten. Etwa einen halben Kilometer von Bénouville entfernt, stand es ganz allein, oder es hockte eher oben an der Steilküste zwischen Étretat und Fécamp.

Émile ging wie gewöhnlich links neben dem Präsidenten, um ihn jederzeit stützen zu können, wenn sein Bein ihm den Dienst versagen sollte. Madame Blanche folgte in einigem Abstand, so wie er es ein für alle Mal angeordnet hatte.

Auch dieser tägliche Spaziergang war von der Presse publik gemacht worden. Im Sommer schleppte ein Transportunternehmen aus Fécamp ganze Busse mit Touristen an, die ihn aus der Ferne miterleben wollten.

Hinter dem Haus fing ein schmaler Weg an, der sich durch die Wiesen schlängelte, bis er an der äußersten Felskante mit dem Zollweg zusammenlief. Das Land gehörte einem Bauern aus dem Dorf, der dort seine Kühe weiden ließ, und es kam immer wieder vor, dass der Boden unter dem Fuß eines Tieres nachgab und man es hundert Meter tiefer auf den Felsen wiederfand.

Er wusste, es war verkehrt, bei schlechtem Wetter spazieren zu gehen. In seinem ganzen Leben hatte er gewusst, wann er etwas verkehrt machte, trotzdem hatte er es in seinem ganzen Leben immer wieder gemacht, wie um dem Schicksal Widerstand zu leisten. War ihm das denn so schlecht bekommen?

Der Himmel hing tief. Man sah, wie der Wind vom Meer kam und dunkle, zerrissene Wolken vor sich herjagte; die Luft schmeckte salzig und roch nach Tang. Der gleiche Wind, der auf dem Meer Wellen mit gefährlich weißen Schaumkronen aufpeitschte, stürmte gegen die Steilküste an, um dann wütend über das flache Land herzufallen.

In dem Brausen hörte er die Stimme von Madame Blanche hinter sich:

»Herr Präsident …«

Nein! Er war entschlossen, bis an den Rand zu gehen, um das aufgewühlte Meer zu sehen, bevor er sich wieder wie ein Invalider in seinen Louis-Philippe-Sessel setzte.

Er passte auf sein Bein auf. Er kannte es gut, besser als Gaffé, der junge Arzt aus Le Havre, der ihn täglich besuchte, besser als Lalinde, der frühere Assistenzarzt, der »als Freund« einmal in der Woche aus Rouen kam; schließlich auch besser als Professor Fumet, den man nur im Ernstfall bemühte.

Es konnte von einer Sekunde auf die andere passieren. Seit dem Anfall drei Jahre zuvor, als er neun Wochen im Bett und danach auf dem Sofa gelegen hatte, konnte er nicht mehr ganz normal gehen. Mit seinem linken Bein stimmte etwas nicht. Es gehorchte nur zögernd und schlug bei jedem Schritt leicht nach der Seite aus, ohne dass er es verhindern konnte.

»Jetzt watschle ich wie eine Ente!«, hatte er damals scherzhaft gesagt.

Niemand fand das zum Lachen. Er hatte den Anfall als Einziger nicht ernst genommen. Trotzdem verfolgte er mit beinahe leidenschaftlicher Aufmerksamkeit, was in ihm vorging.

Alles hatte an einem Morgen angefangen, als er genauso wie am jetzigen Tage hinausging; nur machte er damals noch einen längeren Spaziergang bis zum Felsabfall, den man Valleuse du Curé nannte.

Er hatte sich immer nur um sein Herz Sorgen gemacht, das ihm ein paarmal schon übel mitgespielt hatte und das er seither schonen sollte. Der Gedanke, seine Beine oder gar seine Hände könnten ihn im Stich lassen, war ihm gar nicht gekommen.

An diesem Tag – es war März, die Luft war kalt und klar, und in der Ferne sah man die weißen Felsen der englischen Küste – hatte er im linken Bein, vom Oberschenkel ausgehend und langsam nach unten laufend, eine Wärme und ein Kribbeln auf der Haut verspürt, wie es zum Beispiel auftritt, wenn man lange neben einem Ofen oder vor einem offenen Feuer sitzt.

Nicht weiter beunruhigt, sondern nur neugierig, was da passierte, war er mit dem Spazierstock in der Hand weitergegangen (in den Zeitungen war von seinem »Pilgerstab« die Rede), als er unwillkürlich seinen Schenkel mit der Hand zu reiben begann. Zu seiner eigenen Verblüffung war ihm, als ob er einen fremden Körper berührte. Er spürte nichts. Er fasste seine Haut an, massierte sie, aber sein Fleisch fühlte sich an wie Pappkarton.

Hatte er Angst bekommen? Er hatte sich nach Madame Blanche umgedreht, um es ihr zu sagen, als von einer Sekunde zur andern sein Bein versagte, unter ihm nachgab und er sich zusammengesackt auf dem Boden wiederfand.

Es tat ihm nichts weh, es kam ihm auch nicht besorgniserregend vor, er fand sich nur einfach lächerlich, wie er so dalag, weil sein Bein ihm völlig unerwartet übel mitgespielt hatte.

»Hilf mir, Émile!«, hatte er gesagt und die Hand ausgestreckt.

In der Abgeordnetenkammer, in der alle, oder beinahe alle, sich duzten, hatte er nie jemanden geduzt; er duzte auch seine Köchin Gabrielle nicht, die schon über vierzig Jahre in seinen Diensten stand. Seine Sekretärin redete er mit ihrem Nachnamen an, wie einen Mann, niemals hätte er sie geduzt, und Madame Blanche blieb für ihn Madame Blanche.

»Haben Sie sich weh getan?«

Er hatte bemerkt, dass die Pflegerin, als sie sich über ihn beugte, blass geworden war, zum ersten Mal, seit er sie kannte, aber er hatte nicht weiter darauf geachtet.

»Stehen Sie nicht gleich auf«, riet sie ihm. »Sagen Sie mir erst, ob …«

Er bemühte sich, mit Émiles Unterstützung wieder auf die Beine zu kommen, doch sein Blick war etwas starr, und die Stimme klang auch nicht so fest wie gewohnt, als er sagte:

»Komisch … Es trägt mich nicht mehr …«

Er hatte kein linkes Bein mehr. Es gehörte ihm nicht mehr. Es gehorchte ihm nicht mehr!

»Setzen Sie ihn hin, Émile. Wir müssen jemanden holen …«

Bestimmt wusste sie sofort Bescheid, wie später auch die anderen Bescheid gewusst hatten. Fumet, der ihn gut genug kannte, hatte vorgeschlagen, ihm seinen Fall ganz offen darzulegen. Aber er wollte nicht. Er wollte nichts wissen von seiner Krankheit und war nicht einen Augenblick in Versuchung, in seinen medizinischen Büchern nachzuschlagen.

»Kannst du mich tragen, Émile?«

»Ganz bestimmt, Herr Präsident.«

Madame Blanche erhob Einspruch. Aber er bestand darauf. Es war unmöglich, mit dem Auto auf dem schmalen Weg zu fahren. Man hätte beim Pfarrer eine Bahre holen müssen, der sicher eine für die Beerdigungen hatte.

Er wollte sich lieber von Émile, der stämmig und kräftig war, stützen lassen.

»Wenn ich dir zu schwer werde, kannst du mich kurz im Gras absetzen …«

»Es wird schon gehen!«

Gabrielle stand in der Küchentür, als sie kamen. Damals hatte er noch nicht die Marie als zusätzliche Hilfe engagiert.

Knapp eine halbe Stunde später stand Doktor Gaffé, der wie ein Verrückter gefahren sein musste, an seinem Bett und rief unmittelbar darauf Doktor Lalinde in Rouen an.

Erst gegen vier Uhr, als der Präsident seine Hand betrachtete, fiel ihm auf, wie sonderbar sie aussah. Er bewegte die Finger so, wie ein Kind es macht, aber sie blieben merkwürdig steif.

»Schauen Sie, Doktor!«

Weder Gaffé, der zum Mittagessen gar nicht erst nach Le Havre zurückgefahren war, noch Lalinde, der gegen zwei Uhr eingetroffen war und danach lange mit Paris telefoniert hatte, wunderte sich darüber.

Später erfuhr er, dass er mehrere Tage lang ein starres Auge gehabt hatte und dass sein Mund verzerrt gewesen war.

»Eine halbseitige Lähmung, nicht wahr?«

Er konnte fast nicht mehr reden. Man antwortete ihm weder mit Ja noch mit Nein, doch noch am selben Abend traf der Professor mit einem Krankenwagen ein, der sie etwas später alle nach Rouen brachte.

»Ich gebe Ihnen mein Wort, mein lieber Präsident«, sagte Fumet, »dass man Sie nicht gegen Ihren Willen in der Klinik behalten wird. Wir wollen Sie nicht ins Krankenhaus einliefern, sondern Röntgenaufnahmen und Untersuchungen machen, die hier im Ort nicht möglich sind …«

Wider Erwarten berührte ihn die Erinnerung daran nicht unangenehm. Er war sehr gelassen geblieben. Er hatte sie alle beobachtet: Gaffé, der sich erst wohler fühlte, als auch Lalinde anwesend war und die Verantwortung mit ihm teilte. Lalinde selber, mit roten Haaren, rosiger Haut, blauen Augen und dichten Brauen, der sich um selbstsicheres Auftreten bemühte; schließlich Fumet, der geachtete Chef, der an berühmte Patienten und die kleine Schar junger Ärzte gewöhnt war, die ihn von Bett zu Bett begleiteten.

Während sie meinten, sich zurückziehen zu müssen, um sich in einer Ecke leise zu besprechen, vertrieb er sich die Zeit damit, die Charaktere der drei Männer zu studieren, und der Gedanke an den Tod kam ihm nicht.

Er war damals achtundsiebzig Jahre alt. Das Erste, was er in Rouen fragte, als man ihn auszog und die Röntgenapparate vorbereitete, war gewesen:

»Sind die Polizisten auch mitgekommen?«

Niemand hatte sich darum gekümmert, aber sie waren sicher da, zumindest einer von ihnen, und das Innenministerium war bestimmt auch benachrichtigt worden.

Einige Momente, besonders bei der Lumbalpunktion und auch bei der Enzephalographie, waren unangenehm gewesen. Trotzdem scherzte er die ganze Zeit, und gegen vier Uhr morgens, als man in den Labors noch an den Befunden arbeitete, verlangte er nach Champagner.

Kurioserweise ließ sich in einer ziemlich üblen Bar in Rouen, die noch geöffnet hatte, sogar welcher auftreiben; wahrscheinlich hatten sie einen der Polizisten, einen seiner Wachhunde, wie er sie manchmal nannte, mit dem Auftrag losgeschickt.

All das war nun lange her. Es hatte nur noch anekdotischen Wert. Zwei Monate lang hatten französische und ausländische Journalisten Bénouville belagert, um seinen Tod nicht zu verpassen. In den Redaktionen waren die Nachrufe schon geschrieben, die mehr oder weniger historischen Fotos schon klischiert, und man wartete nur noch auf das Startzeichen zum Drucken.

Würden nicht genau diese Artikel eines Tages, mit geändertem Datum und geringfügigen Ergänzungen, doch noch verwendet werden? Denn seitdem hatte er keinerlei Einfluss mehr auf das politische Leben ausgeübt.

Es war ihm auch nicht mehr passiert, dass er hinschlug wie ein angeschossener Hase, aber manchmal hatte er noch, wenn auch weniger stark, das Gefühl, sein Bein gehorche ihm nur zögernd. Auch nachts im Bett bekam er manchmal eine Art Krampf oder Starre, die nicht schmerzhaft war. Bei den Spaziergängen bemerkte Émile dies fast im selben Augenblick wie er. Zwischen ihnen existierte eine stillschweigende Übereinkunft. Émile kam dann näher an ihn heran, und der Präsident hielt sich an seiner Schulter fest, blieb unbeweglich stehen und betrachtete dabei die Gegend. Madame Blanche kam auch herbei, gab ihm eine rosafarbene Pille, die er wortlos hinunterschluckte.

Dann warteten alle drei schweigend. Einmal war es mitten im Dorf passiert, als die Messe gerade aus war, und die Bauern hatten sich gefragt, warum sie wie angewurzelt stehen blieben, denn der Präsident schien weder Schmerzen zu haben noch an Atemnot zu leiden; es gelang ihm sogar ein flüchtiges Lächeln.

Er hasste es, wenn dies an Tagen geschah, an denen Madame Blanche darauf bestanden hatte, dass er nicht spazieren ging, und deshalb achtete er an diesem Morgen noch mehr als sonst auf die Reaktionen in seinem Bein. Aus Angst, die Pflegerin könnte recht behalten, war er nicht lange draußen geblieben, musste aber trotzdem zweimal niesen.

Bei der Rückkehr hatte er triumphierend ausgerufen:

»Sehen Sie!«

»Warten Sie ab bis morgen. Vielleicht haben Sie sich doch eine Bronchitis geholt.«

So war sie. Man musste sie nehmen, wie sie war. Milleran, seine Sekretärin, widersprach nie und verhielt sich so unauffällig, dass er ihre Anwesenheit im Haus kaum wahrnahm. Sie war sehr blass, hatte weiche, schlaffe Gesichtszüge, und wer sie nur zwei- oder dreimal gesehen hatte, konnte sich sicher kaum an sie erinnern. Doch sie war tüchtig; er war zum Beispiel davon überzeugt, dass sie in diesem Augenblick auf die kleine Pendeluhr in ihrem Arbeitszimmer starrte, um auf die Minute genau das Radio einzuschalten.

Die Regierungskrise dauerte schon eine Woche, und wie immer war gleich die Rede von einer Staatskrise. Cournot, der Präsident der Republik, hatte ein Dutzend politischer Führer der Reihe nach mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt und wusste nicht mehr ein noch aus.

Er hatte ihn in ganz jungen Jahren kennengelernt, als er gerade aus Montauban kam, wo sein Vater einen Fahrradladen hatte. Er war in der sozialistischen Partei und gehörte zu den Leuten, die sich in tristen Amtsstuben mit langweiligen Schreibarbeiten befassen und deren Name höchstens auf den jährlichen Kongressen erwähnt wird. In der Abgeordnetenkammer trat er nur selten ans Rednerpult, meistens bei Nachtsitzungen, wenn die Bänke beinahe leer waren.

Ob Cournot geahnt hatte, dass ihn diese wenig verheißungsvolle Laufbahn bis in den Élysée-Palast führen würde, in den seine beiden Töchter samt Ehemännern und Kindern gleich mit eingezogen waren?

Ein Lid leicht hochgezogen und die Hände immer noch auf dem Bauch gefaltet, saß er kerzengerade im Louis-Philippe-Sessel und schaute, wie nebenan seine Sekretärin, zu der kleinen Pendeluhr; seine jedoch war ein Geschenk des amerikanischen Präsidenten anlässlich einer triumphalen Reise nach Washington, ein historisches Stück, das eines Tages in ein Museum wandern würde.

Es sei denn, Les Ébergues würde selber zum Museum, wie es von einigen schon angeregt worden war; dann bliebe jeder Gegenstand an seinem angestammten Platz, und Émile wäre der Wärter.

Er war überzeugt, dass Émile schon seit Jahren mit diesem Gedanken spielte, so wie andere an ihre Pensionierung denken. Ob ihm die Zeit nicht allmählich zu lang wurde, wenn er an die kleine Rede dachte, die er den Besuchern halten würde, an die Trinkgelder, die man ihm beim Hinausgehen in die Hand drücken würde, und vielleicht auch an den Verkauf von Souvenirpostkarten?