Der Quereinsteiger - David Boventer - E-Book

Der Quereinsteiger E-Book

David Boventer

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Beschreibung

Der Quereinsteiger ist ein Blitzlicht am Horizont des Lebens. Ein kleiner Ausschnitt aus Raphaels Weg durch eine ungewöhnliche Existenz. Eingebettet in die Realität der 80er Jahre zwischen Deutschland, Griechenland und Amerika.

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Inhaltsverzeichnis

Die Nacht

Zeitenwende

Musik

Angst

Bücher

Sein Zimmer im kalifornischen Bungalow

Die goldene Trompete

Umzug in das Zimmer mit Außentreppe

Freundinnen und andere Erscheinungen

Politische Gehversuche

Freizeits-Leidenschaften

Verletzlichkeit und Erdverbundenheit

Ereignislosigkeit des Werdens

Die „richtige“ Hand

Geometrie und Sprache

Fassadenmalerei

Melancholie

Die “Guten” und die “Bösen”.

Garten

Noch regieren wir die Welt

Kostenlos

Der Beobachter

Die Erben des kriegerischen Friedens

Kleiner Nachtrag

Tier und Mensch

Kalter Krieg

Sünde und Schuld

Pariser Ausflug

Vielfalt, Leere und der Schlaf

Wohnzimmertraum

Das Haus

Gäste

Zeitfluss

Flugtraum

Mahlzeit

Die Macht der Opfer und die Tochter Amerikas

Mechanik

Abitur

Lichttraum

Hofgarten

Zwischen Priestern

Zugfahrt und Ausländeramtsparty

Amerika

Zwischenstation der Liebe

Warten in Babylon

Kernschmelze

Land of the free

Ach, die Fremde...

Griechenland

Traum

Unterricht

Die Wohnung in Athen

Die Rückkehr der Aussteiger

Eifel-Intermezzo

Vom Leben in der Wabe

Schmerz

Und hat der Schmerz einen Namen

könnte in einem Verlies eine

Heimat gefunden werden

zehn Klafter Granit und ein

schmaler Schacht mit

einem Bergmannskorb

ein von Geysiren

gespeister Trauersee

und das Erdenherz

sei nah

In blendendes Blaukristall-Leuchten getaucht

mag er dort verweilen

und aus dem glühenden Bernstein sprechen

während Funken in die

Schwärze der Gruft fliegen

Und hat der Schmerz einen Namen

können die Kinder flüssigen Zinn

in den dunklen See werfen

und in Netzen die erstarrten Figuren

mit silbernen Fischen an das Tageslicht bringen

Die Nacht

Schweißgebadet wachte er in der Nacht auf. Er war sich ganz sicher, er hatte geträumt in seinem Fieber, in seiner Agonie, dass er seine beiden Eltern im Wohnzimmer des Elternhauses stehend gesehen hatte..

Beide sprühten Funken in Rot und Blau aus den Augen und unheilvolle Wolken spannten sich über ihren Kopf, während das ganze Zimmer von gelblichen Lichtblitzen erfüllt wurde. Ihm wurde plötzlich klar, sie waren nicht von dieser Welt.

Und der Schock darüber war so schwer, dass ihm die gerade überstandene Operation wie ein Kinderspiel erschien. Immerhin hatte er mit 16 Jahren nach einer schlampig und unglücklich verlaufenen Blinddarmoperation eine heftige Wundinfektion entwickelt. Nach drei zusätzlichen Tagen und in großer Anspannung war er zunächst aus dem Krankenhaus nach Hause zurückgekehrt. Vorher war die Wunde mit reichlich Jod aseptisch behandelt worden. Dafür war die Naht aufgetrennt, der Eiter herausgedrückt und die Operationswunde - es gab noch keine minimalinvasive Operationen - ohne Metallklammern offengelassen worden.

Später würde diese Wunde, von ständigen Mullbinden umwickelt, schließlich veröden und als klaffendes Loch an seiner Seite jahrelang verbleiben.

Kaum vom Krankenhaus zurückgekehrt, hatte er nun jenen Traum. Als er dann, noch schläfrig, die Treppe hinaufgehen wollte, um etwas zu frühstücken war das rechte Bein plötzlich sehr schwer. Sein Vater stand vor seinem Arbeitszimmer und sah auf ihn herab. “Du hast Thrombose”, sagte er und schien dabei zu lächeln.

Währenddessen fiel ihm das Laufen schwerer und schwerer und er begriff dennoch nicht, was eigentlich passierte.

“Da musst du wohl zum Arzt”, begrüßte ihn seine Mutter in der Küche, wo er sich ein Butterbrot zubereitete und ein Glas Orangensaft trank. Das Bein begann nun zu schmerzen, schwoll bläulich und merkwürdig an.

Durch das nahegelegene Waldstück hindurch, ein kirchlicher Wald für Wenige, zu dem aber sein Vater als Akademiedirektor Zugang hatte und dafür ein extra Tor in den Abschirmungszaun zum Elternhaus hatte installieren lassen, konnte er zu Fuß, das Bein hinter sich herschleppend zum Krankenhaus laufen. Dort wurde er dann, nachdem eine Kontrastaufnahme die “Diagnose” seines Vaters bestätigte, auf die Intensivstation verlegt und mit einem Tropf verbunden.

So, inmitten von Sterbenden und schweren Unfallopfern, die Betten getrennt durch halbdurchsichtige Plastikvorhänge, fand er sich in einem Spezialbett wieder. Seine Eltern kamen ihn “besuchen”, betrachteten ihn wie ein zappelndes Insekt und hatten einen merkwürdigen Schimmer in ihren Augen, der aber nicht auf Tränen zu beruhen schien.

Zeitenwende

Es war wie eine Art Zeitenwende, ein plötzlicher Gezeitenbruch, eine überraschende Ebbe nach einer Flut von Überraschung, Schmerz und Erstaunen.

Fortan ergab sich ohne Vorwarnung ein neuer Lebensweg, ein zunächst taumelnder Kurs der Unwägbarkeiten. Raphael wurde in einen jahrzehntelangen Strudel der Ereignisse, in einen schmerzhaften Prozess der Entwicklung hineingeworfen.

Zwar lagen die Fakten offen da, doch war es ihm gänzlich unmöglich, das ganze Ausmaß seiner Verlorenheit zu verstehen, die Bandbreite der Extreme, die unnatürlichen Abweichungen von der gewöhnlichen Mutter- und Vaterliebe vollständig zu erfassen.

In alptraumhafter Schärfe erwachte in ihm ein Überlebenswillen. Während dieser dunklen Nacht auf der Intensivstation hatte ein Krankenhaus-Fieber in ihm die Macht ergriffen. Es stellte sich später als „Malaria“ vor, innerhalb einer Stunde stieg „dank“ dieses unfeinen „Gastes“ seine Körpertemperatur von 37 auf fast 40 Grad Fieber. Mit verbissenem Gesichtsausdruck begaben sich Krankheitskeim und Körperschlitten auf eine Abwärtsspirale. Die Beine schüttelte ein krampfartiges Fieber und kalte Schauer durchzuckten den gefesselten Körper.

Die graugesichtige Krankenschwester, diese von vielfachen Dramen und plötzlichen Todesfällen zur Unempfindlichkeit zu Boden geworfene und in ihrer Menschlichkeit zerbrochene Frau war nicht bereit, vom im Krankenblatt erfassten Kurs und den Weisungen des Bereitschaftsarztes abzuweichen und ihm unmittelbar die Spritze zu geben, die eine sofortige Senkung des Fiebers als Wirkung versprach. Dieses Medikament sei experimentell, hatte ihm ein Arzt erklärt und wirke direkt auf das Fieberzentrum im Gehirn.

Versuchskaninchen hin oder her, die Beweislage war klar, der Erfolg des Vortages sprach dafür. Ein Drehscheiben-Hilfeanruf bei den Eltern half auch nicht. Sein Vater lachte ihn am Telefon aus, er möge wohl „der Alten“ gut zureden, das könne helfen.

Die Bereitschaft, sich für ihn einzusetzen oder die fünfminütige Fußdistanz zu überwinden, um ihm beizustehen, zeigte der Vater nicht.

Auf sich selbst gestellt verstand er, dass nur „Lärm“ dazu führen könne, seinem berechtigten Lebenswillen Gehör zu verschaffen. Wer in diesem Vaterland nicht brüllte, der wurde rasch zwischen zwei Aktendeckeln begraben.

Er klingelte daher Sturm und verlangte lautstark nach dem Bereitschaftsarzt. “Der Bereitschaftsarzt”, sagte die Krankenschwester, schlafe, sie wolle ihn nicht aufwecken. „Er hat mir klare Anweisungen gegeben“, meinte sie. Die Schweinehund-Diktatorin des Schwarzauf- Weiß-Zauberstabes räkelte sich auf ihrer Liege.

Doch irgendwann wurden ihr die kontinuierlichen Einlassungen des vom Fieber Geschüttelten “lästig”, sie ging in ihrer hölzernen Wichtigkeit gekränkt hinaus auf den Flur. Der Bereitschaftsarzt erteilte ihr zu ihrer Irritation die „ungebührliche“ Anweisung, Raphael diese Anti-Fieberspritze zu verabreichen.

Erleichtert sank er in das Kissen, während die Temperatur fiel. Am nächsten Morgen gab ihm der Arzt ein Breitband-Antibiotikum.

“Das ist das Beste, was wir haben.”, sagte er und hob dabei die Augenbrauen voller Tadel und Resignation. “Wenn das nicht anschlägt, kann ich auch nichts mehr tun.“ Das war nicht gerade eine beruhigende Aussage des Arztes, aber nach zwei Tagen zeigte das Mittel eine Wirkung. Die Alternative zwischen baldigem Hades und einer Fortführung des Lebens hatte Raphael und seine Widersacher überzeugt.

“Der alte Drachen”, wie ihn sein Vater nannte, diese verbitterte und abgehärmte alte Krankenschwester, die ihn hätte sterben lassen, nur damit ihre “Routine” gewahrt blieb, hatte die darauffolgenden Tage keine Nachtschicht und eine jüngere und noch von ihrer Mission beseelte Kollegin übernahm die Aufgabe der Betreuung.

Sein Arzt in dem kleinen und provinziellen Krankenhaus hielt sehr viel von seinen Kenntnissen moderner Medizin. Immerhin hatte er in den USA studiert und dort auch an einem größeren Krankenhaus sein Handwerk am Patienten erprobt. Von ihm kamen auch die Kontakte zu der Pharmaindustrie; die Spritze gegen das Fieber und ein damals in Deutschland noch nicht zugelassenes Verfahren, die Thromben-Auflösung mit Streptokinase zu bewerkstelligen.

Dieses Enzym konnte damals nicht künstlich hergestellt werden. “Auch Urokinase”, so der Arzt, werde „aus vielen Litern Urin hergestellt. Mittels aufwendiger Verfahren. Daher sei das „Ajax gegen Thromben“ noch sehr teuer; eine Spritze koste 1000 D-Mark. “Ich habe eine kostenlose Spritze, danach müssen deine Eltern bezahlen”, meinte er. Maximal sieben Spritzen an sieben Tagen seien notwendig, um einen Effekt zu haben, doch sei der Erfolg dieser medikamentösen Behandlung keineswegs sicher.

Seine Eltern weigerten sich, diese zusätzlichen Beträge zu bezahlen. Damals war ihm noch nicht klar, dass sie über erhebliche Geldmittel verfügten. Daher nahm er das so hin, weil er trotz aller Vorfälle das nicht von seinen Eltern fordern wollte. Viel zu sehr war er noch in einem Zustand der Unmündigkeit, mit 16 Jahren noch in jenem Schwellenzustand zwischen kindlich geprägten Empfindungen und Erwachsenwerden verblieben, in jener glückselig-gedankenlosen, kindlichen Erwartung gegenüber seinen Eltern.

Durch den Nebel seine Ängste und Schmerzen konnte er auch nichts anderes denken. Es war für ihn nicht vorstellbar, was eine kluge Stimme ihm einflüstern wollte. Dass seine Eltern ihn wissentlich und absichtlich in diesem Zustand ließen, wohl hoffend, er möge an dieser Krankheit sterben, damit sie für ihre illegale Aneignung des ihm zugedachten Vermögens eine durch “das Leben” diktierte “Erlaubnis” erhielten.

Danach erinnerte Raphael sich nur auf eine schemenhafte und undeutliche Art an sein Leben vor der unfreiwillig erworbenen Behinderung.

Ab diesem Zeitpunkt war er vom Sportunterricht an der Schule befreit. Dies verschaffte ihm ein ungeahntes Gefühl der Freiheit, er war nicht mehr in diesem primitiven Kampf zwischen Dusche, Turnraum und Muskelvorzeigen eingesperrt. Immer hatte ihn ein kritischer und nagender Zweifel in seinem Kopf darauf hingewiesen, wie dämlich und wie beschränkt eine Existenz war, die nur auf zufälligem Wachstum von Muskelgewebe beruhte.

Es war ihm vollkommen unverständlich, wie einigen seiner Mitschüler die bloße Tatsache ein wenig mehr als andere physisch handlungsfähig zu sein ausreichte, ihren Tag zu füllen. Die Art dieses Überlegenheitsgefühls, sich deshalb gut zu fühlen, war ihm willentlich nicht zugänglich. Es erschien ihm als sinnloses Unterfangen, denn letztlich brauchte man zur Entlarvung der falschen Überheblichkeit nur die Stärke des Stärksten in einen relativen Maßstab zur möglichen Kraft zu setzen. Wenn nur die Überlegenheit innerhalb einer Gruppe zählte, wie konnte dann der Einzelne noch pubertierende heranwachsende Jugendliche seine Individualität behaupten?

Seine mangelnde Durchdringung vom Zweck einer reinen Körperlichkeit und seine Zweifel an dem Sinn solcher kontrollierter “Schwitzaktionen” schalteten sich stets vor der Ausübung der körperlichen Handlung ein, als habe er einen Startknopf gedrückt.

Und sei es nur das Torstehen beim Fußball im Tor, wo er sich darin übte, den Flug des Balles zu berechnen und dann diesen oft viel zu spät im Spiel abzuwehren. Manchmal wurde Raphael auch zum Helden, weil er Bälle hielt, deren ungewöhnliche Flugbahn er richtig ermittelte. Vielleicht waren diese Rechenspiele nur Ausdruck einer fehlenden Bereitschaft, den Körper als Körper handeln zu lassen; vielleicht war es auch das Ergebnis einer inneren Unausgewogenheit, einer fehlenden Kraft des Selbstbewusstseins, gar eines Mangels an Vertrauen in die unterschiedlichen Wirkungskräfte von Geist und Körper.

Er lernte schon früh, Krankheit mit zweierlei Augen zu sehen: Als Einschränkung bestehender Möglichkeiten, aber auch als Nische der Befreiung von der gesellschaftlichen Norm des Gesunden, des Kräftigen, gar des Potenten. Es irritierte ihn der Zwang zu einem so frühen Zeitpunkt, Potentiale und Befähigungen in ein Korsett zu zwängen. In ein Regelwerk der Gewöhnung nicht hinterfragter Konventionen von Denken und körperlichem Handeln.

Es war schwierig, einen klaren Kopf zu behalten und zu wissen, in welche Richtung er eigentlich sein Leben gestalten sollte. Zunächst bedeutete für ihn die Spannung zwischen Körper und Geist, dass er öfters von einer Art Nebel erfüllt wurde, einer aktiven Müdigkeit. Vielleicht war es eine Form der Ratlosigkeit, wie er mit einer Umgebung harmonisieren sollte, die ihn überhaupt nicht verstand.

So vieles blieb unausgesprochen, weniges wurde in die langen, aber oft rhetorischen Diskussionen in seinem Elternhaus gründlichst einbezogen. Er war durch drei ältere Geschwister keineswegs der Illusion ausgesetzt, mit dem Älterwerden könne sich das ändern. Die regenscheue und stumpfsinnige Lebensweise seiner älteren Geschwister; ihre Bereitschaft, sich zu kompromittieren, diese eigenartige Nachgiebigkeit gegenüber den Forderungen der amorphen Gesellschaft konnte ihn keineswegs inspirieren und beeindrucken. Es gab dieses Gefühl, dass etwas Wichtiges fehle. Überwältigend stark war die Empfindung, er müsse einen Suchlicht-Strahl aussenden, der Unsichtbares offenbaren würde, der ihm etwas von der wahrhaftigen Struktur der Welt zeigen würde.

Doch schien dieser Lichtstrahl dazu nicht imstande zu sein, das Suchen war wie ein Morsen in eine Dunkelheit hinein, wie ein Tasten eines kaum noch lebendigen Individuums.

Musik

Die Reichhaltigkeit und Vielfalt der Musik ermöglichte ihm in seltenen Momenten eine umfassende Einbettung in das Sein und das Nachdenken darüber. Daher versuchte er die nicht erkannten aber nur erahnten Wahrheiten in einer Sprache auszudrücken, die zugleich Ton als auch graphische Verdeutlichung seiner grundsätzlichen Trost- und Orientierungslosigkeit sein konnte. So schuf er neue Laute und neue Sprachwort-Kombinationen. Seine musikalische Sprach-Poesie beschäftigte sich mit dem Tatsächlichen, das weder glitzernd noch schimmernd sofort die Aufmerksamkeit erregte. Der Versuch, das Wesentliche der Sprache mit Hilfe von Melodien zu erfassen und sich dennoch nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, gelang. Er schuf Chiffren, wirkungsvolle Zwitter von Klang, Buchstaben und der Metrik nach Zahlenmustern.

Angst

Raphael stellte bei einfacher Rundsicht in seinem Umfeld fest, dass sich viele Menschen von Angst beherrschen ließen. Dabei entdeckte er, dass die schlimmste Angst in ihre Köpfe kroch, wenn sie für einen Moment die Ränder ihres Daseins wahrnahmen.

Nachvollziehbar existierte deshalb das geschätzte und in Ehren gehaltene Bild der Erde als Scheibe so ausdauernd und hartnäckig. Die tatsächliche Flachheit ihres Denkens war die süße Versuchung, die sie als Bild der Welt um sich herum wie Schokolade aufleckten. Dem Rand dieser Scheibe wollten sie sich nicht annähern. Denn sie fürchteten, von ihr stürzend in die Leere zu fallen. Solange sie mangels der Technik durch die Reise in einem Flugzeug die Krümmung des Meeres-Horizonts nicht erblickten, wiegten sie sich in Sicherheit. Der nicht so ferne Horizont beruhigte. Die Scheibe war eine kleine, aber stabile Welt mit einem blauen Tuch darüber. Planetarische Beunruhigungen wurden da ausgeblendet. Weite und Sehgrenze auf eine angenehme und gefällige Art und Weise miteinander versöhnt.

Bücher

Eine kleine Bibliothek in seiner ländlich geprägten Stadt der Kindheit bot ausreichende und anregende Lektüre an. Oft aber blieb die Lektüre im Ungefähren, glich in ihrer Gesamtheit einem Zug, der in einem Tunnel stehen bleibt, weil die Elektrizität ausfällt.

Chemie, Physik, Mathematik, Biologie, Literatur, Science-Fiction und alle möglichen Bücher, die gerade zufälligerweise im Regal greifbar waren, vermengten und vermischten sich. Vermählten sich und ließen sich scheiden.

Die Worte und Aussagen der Bücher wurden zu einem Kristallmuster des Überlegens und der Analyse als die ordnende Methodik der Philosophie und Literatur diesen Wissensgebieten eine Form und Gestalt gab.

Nachdenken gebar die Gedanken. Zwischen Details und Informationen bildeten sich dauerhafte Gesprächsthemen. Gleich einer magischen Flüssigkeit sickerte in die erstarkende Routine der alltäglichen und gehegten Einsicht der Saft von Märchen und fantastischen Geschichten hinein.

Der Grenzlinie zwischen Erforschtem und Unerforschtem wurde durchsichtig und durchdrang mehrdimensional Art den Rohbau seines Gedankenschlosses.

Erstmalig erlaubte sich sein Bewusstsein nun Schwärze, die Anerkennung jener Unwägbarkeit des Suchenden, der es für möglich hielt, dass alles nichtig werden könne.

Das Da-Sein und das Amalgam vermählten sich in einem Kaleidoskop, wurden zu einem gigantischen Kinderspiel, wo Muster sich ständig neu formten und im Wirbel der Zufälle aushärteten.

Sein Zimmer im kalifornischen Bungalow

Sein ursprüngliches Zimmer in dem viel zu großen Haus nach kalifornischem Vorbild auf einem Hügel mit Blick auf Köln, war ein kleiner Raum mit Fenster, der zum Garten hinausschaute. Seiner Vorliebe für die Astronomie entsprechend hatte er die Decke mit Sternbildern dekoriert, als ob er von seinem Bett aus in die Galaxien hineinsehen könne. Poster vom Washingtoner „Smithsonian Museum“ und anderen Quellen, verschiedene Planeten und Nebel, vervollständigten das Bild. Ein Mars-Globus auf seinem Schreibtisch mit einem Plastikmodell des Space-Shuttles ergänzten es.

Bis zum 16. Lebensjahr war es sein größter Traum, Astronaut zu werden und in dieser Schwärze zu schweben, die man Weltall nannte. Über jene Grenzen hinweg zu schreiten, in denen eine primitive Antriebstechnik die Menschheit bisher gefangen hielt.

Die kleine Welt, in der er lebte, schien gewiss, die große Welt außerhalb seiner kleinen „Lebens-Schachtel“ aufregend und voller Abenteuer.

Er hatte gelernt, fleißige Ameisenkolonnen aus dem Garten in sein Zimmer zu locken und sie mit Kekskrümeln wieder hinauszuschicken. Zog Molche auf und war traurig, als sein Liebling ohne nachfeuchtendes Wasser vertrocknete.

Libellenlarven ernährte er mit zuckenden Regenwürmern, die er aus einem nahgelegenen Acker ausgrub und mit einem Holzstab zur schmackhaften Beute machte.

Raphael pflegte mit Freude, Sorgfalt und Liebe bis zum plötzlichen Ende wegen einer importierten Fischkrankheit drei große Aquarien voller hin- und herschwimmender Süßwasserkreaturen. Das Taschengeld vom Zeitungsaustragen ermöglichte diese Leidenschaften. Bis ihn dann diese Krankheit ereilte.

Die goldene Trompete

Fast vergaß der Chronist die goldene Trompete, deren Spielen Raphael beim St Martin-Singen große Aufmerksamkeits-Vorteile verschaffte und zusätzliches Kleingeld der begeisterten Zuhörer garantierte.

Allerdings wurde dieses Musikinstrument zur Qual, als seine Mutter sich in den amerikanischen Trompetenlehrer verliebte. Mit dem Eifer und Fanatismus der Verliebten nötigte sie nun ihren Sohn zu übermäßigen Übungs-Anstrengungen. Die Anerkennung seiner musikalischen Fähigkeiten durch Herrn Pontalto wurde für ihn zu einem unfreiwilligen Zuhörmarathon. Sobald er pünktlich um 15 Uhr nachmittags das Notenblatt auf den Schreibtisch legte oder in den Notenständer klemmte schien seine Mutter bei ihrer Arbeit in der Küche oder beim Lesen ihrer deftigen und lesefreundlichen Liebesromane innezuhalten.

Fast meinte er, sie mit gespitzten Ohren horchen zu hören.

Nur Cowboyfilme mit Erol Flynn und John Wayne waren da noch verlockender als seine Übungen mit der Trompete. Allerdings wurden die Filme meistens erst spätabends im flackernden Schwarz-Weiß-Fernsehen gezeigt. Markige Gesichter und Leidenschaften aus der Konservendose für Gefühlskalte konnten dann ihren besonderen Reiz bei seiner Mutter wirksam werden lassen.

Daher war er froh, als er den Musiklehrer so sehr verärgert hatte, dass er trotz Talents des Lern-Unwillens bezichtigt wurde und das vorher geliebte Instrument zugunsten einer “Stereoanlage” für 500 DM verkaufte.

Zwar hatte es ihm leidgetan, dieses kühle Instrument voller goldener Töne für einen Röhrenkasten zu „verscherbeln“, aber die große Erleichterung, nun ohne Übungsstunden und zwanghaftem Trompetenspielen leben zu dürfen erleichterte ihn vom Alpdruck der geborgten Liebesleistung.

Weil die Beziehung oder Flirt seiner Mutter mit dem Trompetenlehrer Pontalto bald schon wie eine flackernde Kerze erlosch und am Fehlen konkreter Zuneigungsbeweise wie eine Zimmerblume ohne Wasser verdorrte, hatte dieser Verkauf der Trompete für eine Erbsensuppe keine Konsequenzen für ihn.

Umzug in das Zimmer mit Außentreppe

Seine Mutter wollte ihr eigenes Zimmer im Haus, um dort die Redaktion des heimatverbundenen “American Clubs” -Newsletters und die Buchhaltung dieser Vereinigung amerikanischer Frauen in Deutschland pflegen zu können. Dafür zog er in den sogenannten “Hobbykeller” um. Ein großer Raum mit eigener Außentreppe, der allerdings als Durchgang zum Technikbereich des heimischen Hallenbades diente.

Und somit seinem Vater häufige Gelegenheiten bot, in Raphaels Welt voller Eifersucht einzubrechen. Die obligatorische Werkbank aller selbsternannten Handwerker jener Epoche wurde auch in diesen “Schwimmbadkeller” hineingestellt. Mit Holzstücken oder diversen Splittern ausgestattet, durchbrach sein Vater öfters respektlos seine Privatheit.

Freundinnen und andere Erscheinungen

Der Besuch von Freundinnen war immer ein Grund zusätzlicher “Notwendigkeiten”, auch das Abschließen der Zimmertür war da nicht unbedingt förderlich; zu sehr wirkte hier die Eifersucht auf den jüngeren Sohn nach, dem solche Freuden ja im Gegensatz zum prinzipiell moralischen Vater offenstanden.

Überhaupt waren die väterlichen Vorstellungen von Sexualkunde für den gut mit französischen Magazinen von Kiosken an der Champs-Élysées ausgestatteten jungen Mann allenfalls belustigend.

Über solche Dinge wurde nicht gesprochen; zu seinem 15. Geburtstag oder kurz davor war der Vater mit einem Buch zu ihm gekommen, in dem aus Sicht eines jungen Mädchens verkrampft über ihre Gefühle berichtet wurde. Nichts wurde konkret dargestellt, alles blieb im Ungefähren. Übertüncht von schönen Worten, merkwürdigen Phrasen und dem mutig eingestreuten Sensationswort “Vagina”.

“Lese dieses Buch”, sagte der Vater zu ihm und druckste herum “Wenn du Fragen hast, kannst du dich gerne an mich wenden”. Das war seine gesamte Kommunikation und ausgeklügelte „Erziehung“ bezüglich dieses heiklen Themas. Raphael wurde nie wieder gefragt, ob er dieses Buch gelesen habe. Es verschwand in einer dunklen Ecke des Zimmers und wurde dort ignoriert.

Politische Gehversuche

In die “Villa”, einem heruntergekommenen Haus, das ursprünglich wohl einmal bessere Zeiten erlebt haben mochte, wurde zu einem „anti-imperialistischen“ Treffen der Neo-Linken eingeladen. Die Stadt hatte dieses Haus zu einem Begegnungszentrum ausgebaut.

Zwischen pickeligen Poncho-Trägern und langhaarigen Spätträumern wurde über die Ursachen von Unfrieden, Konflikt und sozialer Ungerechtigkeit diskutiert. Die „Neue Linke“ biss sich dann meistens an einer Diskussion fest, inwiefern die USA und die Sowjetunion gleich zu setzen seien. Ihm kam es so vor, dass die Kinder oder Enkel der Kriegsverlierer eine kaum unterdrückte Lust dabei empfanden, wenn sie ihren “anti-imperialen” Vorwurf in den Raum spuckten oder nur überzeugungsschwach hauchten.

Für Raphael waren solche Veranstaltungen einfach unsinnig und überflüssig. Das “Neue” der Linken hatte sich bald schon erschöpft.

Sein gut gemeinter Hinweis, es müsse wohl etwas differenziert werden, außerdem habe er eine US-amerikanische Mutter, wurde mit Achselzucken oder auch einem sehr grundsätzlichen Misstrauen beantwortet. Wie nahm sich dieser 16jährige das Recht, aus dem persönlichen Gefühl heraus Zweifel anzumelden, außerdem habe man ihn dort (im Szenetreff) noch nie zuvor gesehen. („Was bedeutet schon ein egoistisches Einzelgefühl dem allwissenden Kollektiv?“)

Er könne ja als Provokateur gekommen sein. Manche Verkünder der reinen Lehre verstummten nach dieser Verdächtigung ihm gegenüber. Raphael wurde klar, dass er dort keine politische Heimat finden würde.

Fortan mied er bis zur Universität parteiliche Kontakte. Auch eine Bundeskonferenz seiner väterlichen CDU (der damalige Verteidigungsminister Wörner stand auf einer Bühne und hatte ihn keineswegs beeindruckt) konnte ihn nicht von der Notwendigkeit einer Parteienbindung überzeugen.

Doch blieb er mehrere Jahre mit der “Friedensbewegung” verbunden und genoss es, bei den jährlichen Ostermärschen Menschenketten durch die Stadt zu ziehen, Slogans zu wiederholen und sich einfach besser zu fühlen. Solidarność, der Freiheitsdrang der polnischen Arbeiter wurde dabei ebenso wie der Widerstand gegen eine zusätzliche Stationierung amerikanischer Mittelstrecken-Raketen Teil seines Lebensgefühls, das zwischen Anpassung und Rebellion hin und her schwankte.