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Wenn alles, woran du geglaubt hast, eine Lüge ist - was dann? Melindis ist die zweite Tochter der Königin des Silenreiches. Auf einem ihrer verbotenen Streifzüge entdeckt sie einen Durchgang in der magischen Grenze des Landes. Heimlich betritt sie eine faszinierend fremde Welt. Sie lernt Tio kennen, den ersten Jungen in ihrem Leben. In einer lieblosen Umgebung schlägt er sich zusammen mit seiner Schwester ohne Eltern durch. Bald ahnt Melindis, dass sie von ihrer Mutter über die magische Macht des Silenreiches belogen wird. Doch bevor sie die ganze Wahrheit herausfinden kann, gerät Tio in große Gefahr. Melindis ringt mit sich selbst: Soll sie in ihr bequemes Leben im Schloss zurückkehren? Oder ist sie bereit, alles aufzugeben, um jemandem zu helfen, den sie kaum kennt? Egal, wie sie sich entscheidet – ein Zurück wird es nicht geben.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Impressum
Karin Koch
Kraichtalstr. 7/1
75015 Bretten
instagram: @linda_beller_
Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de
Lektorat – Korrektorat: Susanne Rauchhaus – susannerauchhaus.com
Buchsatz: XS Werbeagentur – xs-werbeagentur.de
1. Auflage 2023
Veröffentlicht über tolino media
Melindis wachte davon auf, dass ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Sie wälzte sich aus dem Bett, tappte zur Tür, rüttelte an der Klinke. Die Prinzessin war eingesperrt, noch immer. Wütend trat sie gegen das rosarote Holz, doch es ächzte nur ein wenig und blieb ansonsten unbeeindruckt. Ihr Magen knurrte so laut wie vergeblich, denn auf dem Tisch in der Mitte des Turmzimmers standen wieder einmal nur ein Schälchen Quark und ein Körbchen mit einer dünnen Scheibe Knäckebrot.
Jeden einzelnen Morgen verpasste Melindis die Zofe, die das Frühstück brachte. Seit vierzehn Tagen verschlief sie deren Ankunft und somit die Gelegenheit, an ihr vorbei auf die Wendeltreppe zu türmen. Bestimmt lag es an der blöden Diät, die ihr aufgebrummt worden war. Aber wenn sie ehrlich war, lag es an ihrer Faulheit. Und an der Erkenntnis, dass das alles sowieso nichts nutzen würde. Man würde sie einfangen und wieder einsperren. Lustlos tunkte sie das Brot in den Quark. Es schmeckte entsetzlich fad. Wieder packte sie die Wut, und dann packte sie das Schälchen und warf es gegen die Wand. Nur, dass da gar keine Wand war, denn rings um das Turmzimmer gab es sieben Fenster, und eines dieser Fenster wurde jetzt von einem zierlichen, goldenen Gefäß zerschmettert, dass die Scherben und der Quark nur so flogen.
»Oh«, sagte Melindis.
Erschrocken blickte sie durch die kaputte Scheibe. Weit unten vor dem Teich lag etwas Kleines, Goldenes. Ein Fisch aus Marmor spuckte Wasser in die Seerosen, die Lilien und Hortensien blühten üppig in ihren Kübeln, ein Vogel sang ein nettes kleines Lied, niemand war zu sehen. Aber spätestens zum Mittagessen würde die Zofe die Bescherung sehen und Bericht erstatten. Vielleicht ließ sich die Königin ja mit der Häkelarbeit besänftigen, an der sich Melindis seit Tagen abmühte. Sie schnappte die Wolle und setzte sich auf den violetten Ohrensessel. Von hier aus konnte sie über die Tannen hinweg die große Wiese und an deren Ende gerade noch den Rand der Welt erkennen. Mit vor Schweiß quietschender Nadel häkelte sie ein paar krumme Maschen, verlor den Faden und warf das grässliche Gewirr auf ihr Bett. Sie öffnete die Fensterflügel.
Wäre sie eine mustergültige Sile gewesen, hätte sie jetzt einfach ihre Flügel schwirren lassen und davonfliegen können. Aber ihre Flügel hingen seit vielen Monaten nutzlos im Schrank, die Prinzessin war zu schwer für sie geworden. Furchtlos beugte sie sich weit über den Sims und sah nach unten. Silen sind schwindelfrei. Natürlich sind sie das, sonst könnten sie ja nicht fliegen. Auch kleine, dicke, wütende Silen, wie Melindis eine war, sind völlig ohne Angst, wenn sie an einem Abgrund stehen. Und wie alle Silen konnte Melindis einmal sehr gut klettern. Sie hatte es nur lange nicht mehr versucht. Bis unter das Fenster ragten in unregelmäßigen Abständen einzelne Backsteine aus der Mauer, an manchen hingen eiserne Ösen. Von einem plötzlichen Entschluss überwältigt, hievte sich Melindis über den Sims. Unsicher stellte sie sich auf den ersten erreichbaren Mauerstein und griff die erste erreichbare Öse. Sie schnaufte und griff die zweite. Und die dritte und vierte. Und obwohl manche Ösen und manche Steine kaum Halt boten, schaffte sie es dennoch, sich Stück für Stück nach unten zu hangeln. Sie war außer Atem und voller aufsässiger Freude.
»Melindis?«, gellte eine Stimme von oben. Es war Lovella, ihre Schwester.
Na, heute ist ja mal wieder einer dieser wundervollen Glückstage, dachte Melindis bitter.
»Was machst du da unten?«, rief Lovella.
»Äh, nichts. Ich häng hier nur so rum«, antwortete Melindis.
»Komm sofort wieder hoch!« Lovella zog ihren hübschen Lockenkopf zurück. Offenbar ging sie davon aus, dass Melindis ohne weitere Aufforderung ins Turmzimmer zurückklettern würde.
Was, wenn ich mich einfach fallen lasse?, dachte Melindis. Sie schaute in die Tiefe. Sehr weit unten berührten dicke Tannenäste die Mauer des Turmes.
Vielleicht halten die Äste meinen Sturz auf. Wenn ich mir ein paar Knochen breche, streue ich einfach Tarduss drauf, überlegte sie.
Sie tastete nach dem Grasbeutel mit dem heilsamen Blütenstaub. Da war nichts. Sie trug noch ihr Nachtgewand. Der Beutel lag im Turmzimmer.
»Melindis, beeil dich! Unsere Mutter hat dir etwas mitzuteilen. Eine Überraschung. Und die Königin lässt man nicht warten!«, kam es von oben.
Nein, die Königin lässt man wohl doch lieber nicht warten, dachte Melindis und hangelte sich seufzend wieder nach oben.
»Augenscheinlich hat sie bereits abgenommen, Lovella, findest du nicht auch?«, sagte die Königin. Sie saß hinter ihrem violetten Schreibtisch und musterte ihre jüngste Tochter wohlwollend. Mit einer eleganten Handbewegung wies sie auf eine lange Kleiderstange voller Gewänder. »Als weiteren Ansporn habe ich ihrem Stand angemessene Bekleidung fertigen lassen. Sie wird ihr ausgehändigt, sobald sie hineinpasst.«
»Danke, Mutter«, sagte Melindis artig, dabei waren ihr Kleider so sehr egal, wie Lovella sie liebte.
»Sie hat noch nie so hübsche Sachen getragen!«, rief Lovella. Sie holte ein Tüllkleid mit Puffärmeln vom Bügel und betrachtete es verzückt.
»Dem stimme ich zu, Kronprinzessin, sie wird dennoch leider noch nicht hineinpassen. Übrigens wirst du heute deiner Schwester Flugstunden erteilen, Lovella. Es wird Zeit, dass sie wieder damit anfängt.«
Sie reden über mich, als wäre ich nicht da, dachte Melindis.
»Ich werde euch nun euren gemeinsamen Aufgaben überlassen. Auf mich warten wichtige Angelegenheiten«, sagte die Königin. »Und du wirst dich anstrengen, Melindis!«
Sie erhob sich und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Eine große Schwester zu haben kann ja vielleicht ganz nett sein. Eine große Schwester, wie Melindis sie hatte, war die reinste Plage. Dabei war Lovella bezaubernd. Wirklich ganz schrecklich bezaubernd. Sie war so, wie man sich eine Kronprinzessin vorstellt: Hinreißend hübsch, außergewöhnlich anmutig und zart. Neben ihr kam sich Melindis umso mehr wie ein fetter, hässlicher Trampel vor. Lovella war mit blonden Kringellocken gesegnet, Melindis’ dünne, aschblonde Haare hingen wie Grashalme herab und reichten ihr gerade mal bis zum Kinn; irgendwie hatten sie irgendwann einfach aufgehört zu wachsen. Während Lovellas Iris wie Kornblumen leuchteten, schaute Melindis mit farblosen Augen in die Welt. Und wenn sie, selten genug, in den Spiegel sah, bemerkte Melindis, dass ihre Ohren zwischen den Haaren durchguckten wie zwei vorwitzige Segel.
Beide standen jetzt mitten in einer Frühlingswiese, die sich genau auf der Kuppe eines kleinen Hügels befand. Um sie herum flatterten Schmetterlinge, summten Bienen und tanzten Mückenschwärme in der Luft, ein Windstoß fegte Blütenblätter vom Boden und wirbelte sie umher. Anscheinend konnte hier alles und jeder fliegen. Nur Melindis nicht.
»Du musst einfach schneller flattern, dann können sie dich bestimmt tragen«, rief Lovella.
»Schneller flattern, aha«, sagte Melindis und bewegte ihre Flügel. Es fühlte sich an, als würden sie ihr nicht gehören, als wären sie dort, wo sie an ihrem Rücken befestigt waren, irgendwie verklemmt oder verknotet. Melindis meinte, ein komisches Knacken zwischen den Schulterblättern zu spüren, als sie die Flügel hob und senkte.
»Hier, schau, wie ich das mache!«
Lovellas Flügel flirrten lautlos. Mit einer formvollendeten Drehung erhob sie sich hoch in die Luft. Die Schmetterlinge, Bienen und Mücken stoben auseinander. Lovellas Locken wippten, während sie eine Pirouette nach der anderen drehte, ihre blauen Augen funkelten in der Nebensonne.
Melindis flatterte so doll mit den Flügeln, wie sie konnte. Es klemmte und quietschte, es knirschte und rumorte. Sie reckte halb unwillig und halb hoffnungsvoll ihren pummeligen Körper, versuchte, sich leicht zu machen, aber alles, was sie zustande brachte, war ein kleiner, harmloser Hopser. Prompt geriet sie aus dem Gleichgewicht, fing an, mit den Armen in der Luft zu rudern, fiel nach hinten, plumpste auf ihr gut gepolstertes Hinterteil und kippte auf die Seite, wo sie mit extra komischem Gesichtsausdruck liegen blieb.
Lovella, die über ihr flog, schüttelte sich vor Lachen. Ihr Grasbeutel hüpfte lustig am Gürtel auf und ab, löste sich plötzlich und sauste zu Boden. Er überschlug sich mehrmals, öffnete sich im Fallen und verteilte glitzerndes Tarduss auf die Wiesenblumen und auf Melindis’ Haare.
Melindis schloss die Augen und hob ihr Kinn an. Das Tarduss prickelte wie Millionen winziger Nadelstiche auf ihrer Haut. Dann war es verschwunden, weder zu sehen noch zu spüren. Lovella landete neben ihr. Seufzend inspizierte sie den kläglichen Rest, der sich noch in ihrem Beutel befand.
»Zum Kuckuck, das gibt Ärger.« Sie seufzte theatralisch.
»Ich sage Mutter, dass ich schuld bin«, erbot sich Melindis.
»Eine Sile lügt nicht«, erwiderte Lovella.
»Es käme auf einen Versuch an«, sagte Melindis, obwohl sie wusste, dass Lovella nicht nur schön, sanft und anmutig, sondern zu allem Überfluss auch noch kreuzbrav war.
»Vergiss es, Melindis«, antwortete Lovella wie erwartet. »Außerdem hast du auch so schon genügend Ärger.«
»Dann leih ich dir halt was von meinem Tarduss«, sagte Melindis.
»Ist schon in Ordnung, ich krieg das alleine hin. Musst mir nicht helfen«, erwiderte Lovella betont liebenswürdig.
Sie befestigte ihren Beutel am Gürtel und schwang sich mit kaum merklichem Flügelschlag erneut in die Luft.
»Nimm halt weiter ab«, rief sie. »Ich muss jetzt zum Zauberunterricht. Da will ich auf keinen Fall zu spät kommen! Pass auf, dass du dem Rand der Welt nicht zu nahe kommst! Und denk daran: Du musst in den Turm zurück!«
Lovella flog so schnell davon, dass ihr die von irgendwoher aufgetauchte Riesenlibelle kaum folgen konnte. Die Libelle war Lovellas nagelneuer Fittich. Oft trudelte das unbeholfene Schutztier erst ein, wenn Lovella schon längst wieder woanders war.
Umständlich stand Melindis auf und betastete ihren eigenen Beutel. Alles schien noch an Ort und Stelle und gut verschlossen zu sein. Dann drehte sie sich so weit nach hinten, wie es ihr möglich war – und das war nicht besonders weit – und untersuchte die Teile der Flügel, die sie sehen konnte. Sie waren verbogen und zerfleddert. Über Nacht würde sie die Flügel wie alle Silen ohnehin abnehmen, ohne Tageslicht waren sie nutzlos. Sie würde Tarduss darauf streuen, und am Morgen wären sie wieder wie neu. Ihr blassrosa Rock war allerdings nicht mehr zu retten. Zerrissen und übersät mit Grasflecken würde sie ihn genauso in den Lumpensack befördern müssen wie die violetten Schuhe aus Nachtfaltersamt, an denen matschige Erde hing.
Was soll’s, dachte Melindis und machte sich auf den Rückweg. Sie würde trotz Lovellas Warnung am Rand der Welt entlang gehen. Schmutzig und abgerissen wie sie war, hatte sie keine Lust, auf dem offiziellen Waldweg gesehen zu werden. Melindis hasste es, angestarrt zu werden. Sie würde allein und unbeobachtet extra tief durch den Matsch stapfen und später die wohlmeinend strengen Worte ihrer Mutter über sich ergehen lassen.
»Eine Prinzessin mit Schmutz an den Schuhen, das ist würdelos!«, würde die Königin sagen. »Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester. Sei ein Vorbild, wie sie es ist! Pflege die drei Tugenden einer Sile. Denn die Tugenden sind das, was eine Sile ausmacht«, würde sie nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal betonen.
Anmut, Sanftmut und Würde: die drei Tugenden einer Sile. Nirgendwo im ganzen Silenreich waren sie wohl weniger anzutreffen als hier bei Melindis auf der Wiese.
»Anmut«, sagte sie, während sich ihre ruinierten Schuhe in den Matsch bohrten.
»Würde«, keuchte sie, als sie stolperte und auf die Knie fiel.
»Sanftmut«, sagte sie, zog wütend die Schuhe aus und zerrte sich die Strumpfhosen von den Beinen.
Beim nächsten Schritt senkte sich ihr nackter Fuß in den Matsch. Der braune, feuchte Schlabber quetschte sich zwischen ihren Zehen hindurch. Kleine rosa Schlammwürmer ringelten sich auf ihrem Fußrücken. Es war ein großartiges Gefühl.
Das Gefühl, am Rand der Welt entlangzugehen, war auch großartig, wenn auch auf eine andere Art. Allein, dass es verboten war, sich hier aufzuhalten, war reizvoll, doch Melindis liebte noch viel mehr das Grauen, das sie befiel, sobald sie sich in seiner Nähe befand. Es war unmöglich, den Rand der Welt anzusehen. Melindis hatte es mehr als einmal versucht, jedes Mal war es gewesen, als würde ihr eine unbezwingbare Kraft den Kopf zur Seite drehen.
Am Horizont tauchte die Hauptsonne auf. Bis zum Abend löste sie für kurze Zeit die gerade untergehende Nebensonne ab; die Sonnendopplung stand unmittelbar bevor. Für den Rest des Heimweges war es also noch lange genug hell. Melindis blieb stehen. Sie genoss das Licht, das entstand, wenn sich die beiden Sonnen einen Wimpernschlag lang komplett überdeckten. Alles bekam neue, unbeschreibliche Farben. Für eine Sekunde schien die Welt den Atem anzuhalten, alle Gedanken ruhten; in diesem einen, winzigen Moment schien alles perfekt zu sein.
Melindis schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Da war der Moment auch schon vorüber.
Irgendetwas hinderte sie plötzlich am Weitergehen. Dieselbe unheimliche Kraft, die sie bisher immer davon abgehalten hatte, zwang sie jetzt dazu, sich dem Rand der Welt zuzuwenden. Zuerst wurde ihr Kopf, dann der gesamte Körper seitwärts gedreht.
Mit schreckstarren Augen blickte sie in ein beängstigendes Nichts, das mit Worten nicht zu beschreiben war, das alles auslöschte, was ihr Sicherheit gab. Sie wollte weglaufen, oder wenigstens die Augen schließen. Es ging nicht. Wie festgenagelt musste sie stehenbleiben.
Und dann war da auf einmal diese Wellenbewegung. Da war so ein ovaler Schleier aus flüssiger Luft. Als gäbe es flüssige Luft, dachte Melindis, aber sie war froh, dass sie für das, was sich ihr zeigte, wieder Worte hatte. Und hinter diesem Schleier flatterte die seltsamste Sile, die Melindis je gesehen hatte.
Die Sile war etwa so alt wie sie selbst, sie wirkte stark, zäh und entschlossen. Sie starrte Melindis an. Melindis bemühte sich, nicht zurück zu starren, doch sie konnte die Augen noch immer nicht abwenden. Und genauso schien es der fremden Sile zu gehen. Melindis wurde von lebhaften, dunklen Augen bestaunt und musste unwillkürlich lächeln. Die Sile lächelte unbefangen und neugierig zurück. Ihre krausen Haare waren kurz und von dunkler Farbe, und jetzt erst bemerkte Melindis, was das Ungeheuerlichste an ihr war: Die Sile trug die verbotenen Farben! Ihre Beine waren umschlossen von dunkelgrünen Hosen, die Bluse war grau und das Wams braun mit feuerroten Knöpfen. Sie war barfuß und entsetzt bemerkte Melindis, dass auf ihren Zehen ein paar schwarze Haare wuchsen.
Melindis wich zurück und hob die Hand, und wie in einem Spiegel tat es die andere Sile ihr gleich. Mutig flog diese näher und berührte den Schleier, er schien undurchdringlich zu sein. Sie presste ihre Hand dagegen. Zögernd näherte sich nun auch Melindis. Sie legte ihre Handfläche gegen die der Sile. Sie spürte, dass es ein Dazwischen gab, eine unbeschreibliche, undurchlässige und substanzlose Grenze. Ein warmer Strom floss durch Melindis’ Körper. Erschrocken fuhr sie zurück. Die merkwürdige Sile erschrak ebenfalls, flatterte aufgeregt mit den Flügeln, entfernte sich ein Stück, flog wieder näher heran, und unvermittelt straffte sich ihr Körper. Wie ein Pfeil schoss sie nach oben. Melindis versuchte, ihr nachzuschauen. Sie dachte, die Sile würde jetzt immer höher und höher steigen, stattdessen verschwand sie, als würde sie aus einem Bilderrahmen fliegen.
Verdattert stand Melindis da und blickte beharrlich nach oben, als könne sie so die Füße der Sile greifen und festhalten und begreifen, was sie da gerade gesehen hatte.
Irgendwann schmerzte ihr Nacken, irgendwann bemerkte sie die hässliche, fette, mit braunen und grünen Warzen übersäte Kröte. Die riesige Kröte saß genau auf Melindis’ Fußrücken. Unwillkürlich machte Melindis eine Kickbewegung, um das widerliche Tier von ihrem Fuß zu schütteln. Die Kröte flog vorwärts, der Wellenbewegung entgegen. Melindis rechnete fest damit, dass sie wie gegen eine Fensterscheibe prallen und total zermatscht wieder herunterfallen würde, aber das Tier flog einfach weiter. Im hohen Bogen durchquerte sie den ovalen Schleier. Völlig unbeschadet landete sie auf der anderen Seite des Randes der Welt. Sie guckte Melindis noch einmal verwundert an und hopste dann munter durch das Gras davon, verblasste zunehmend und verschwand.
Melindis gelang es, die Augen zu schließen. Lange Zeit wagte sie es nicht, sie wieder zu öffnen. Was, wenn es dann nur wieder dieses grauenvolle Nichts gab? Was, wenn sich die Lücke im Rand der Welt schloss, sobald man die Augen zu machte? Was, wenn sie sich das alles nur eingebildet hatte?
Als sie sich traute, wieder hinzuschauen, wurde sie sofort von einem grenzenlosen Ekel erfasst. Sie wollte sich abwenden, da sah sie die Wellenbewegung. Sie war noch da. Sie war da, wie die Sile da gewesen war. Der Ekel verschwand und eine unbeschreibliche Sehnsucht keimte in Melindis auf. Noch einmal legte sie die Hand auf die Stelle, an der sie die Wärme der anderen Sile gespürt hatte. So blieb sie lange stehen und bemerkte erst, als sie fröstelte, dass die Hauptsonne längst untergegangen war und es anfing zu dunkeln.
Die Dunkelheit im Silenreich war gefährlich. Bald würden die ersten Elme auftauchen. Diese widerlichen, echsenartigen Kreaturen mit ihrer graugrünen, geschuppten Haut würden versuchen, Melindis in die nahen Sümpfe zu locken, um ihr das Tarduss zu stehlen, und auch die schwarzfelligen, apfelgroßen Wombel würden durch die Luft jagen, Melindis an den Haaren ziehen und in die nackten Arme kneifen, um sie zu ängstigen und zu verwirren, damit sie den Beutel mit Tarduss ergreifen und davonjagen konnten. Und trotzdem brachte es Melindis lange nicht fertig zu gehen.
Schließlich riss sie sich los und wandte sich dem Wald zu, nur um sich sofort wieder zurück zu drehen. Es war alles noch da: das Schaudern und die Abscheu und der ovale Schleier. Aber würde es auch morgen noch da sein?
Sie kehrte dem Rand der Welt den Rücken zu und fing an zu laufen. Sie lief und lief und bald keuchte sie. Schwer atmend blieb sie stehen und schaute ein letztes Mal zurück. Die Wiese lag im Dämmerlicht des Abends. Nebel stiegen auf, die ersten Wombel tauchten aus dem Wald auf und flogen durch die Schwaden. Mit zusammengekniffenen Augen suchte Melindis nach dem ovalen Luftschleier im Rand der Welt. Aber von hier aus war er nicht mehr zu sehen.
Der kürzeste Weg ins Schloss führte durch das kleine Nordtor. Durch das Haupttor wollte sie nicht gehen, es musste niemand wissen, wie lange sie unterwegs gewesen war. Als sie das weiß gestrichene Tor erreichte, war es verschlossen. So spät war sie noch nie heimgekommen, das Tor war bisher immer offen gewesen. Zaghaft klopfte sie an. Nichts geschah. Sie suchte vergeblich nach einem Schloss oder einer Klinke. Es gab auch keine Vorsprünge, an denen sie hätte hinaufklettern können. Da entdeckte sie eine faustgroße, in das Holz eingelassene Perle, die an ein Seil geknüpft war. Sie zog daran, und irgendwo, ganz weit oben, ertönte zuerst eine Glocke, dann wurde ein winziges Fenster geöffnet. Ein Kopf erschien. Melindis konnte nicht erkennen, wer da mit erstauntem Gesichtsausdruck auf sie herabsah, aber gleich darauf schob sich das Tor knirschend zur Seite, und sobald der Schlitz groß genug war, quetschte sich Melindis hindurch. Sie rannte an den beiden Holberhunden vorbei zur goldenen Treppe und lief, oben angekommen, direkt in die Arme der Königin, die offenbar gerade aus der Halle getreten war, um nach ihrer Tochter zu suchen. Ihr Fittich, ein blasierter, rosafarbener Flamingo, stakste auf dünnen Beinen über den Flur und stellte sich neben seinen erlauchten Schützling.
»Es tut mir leid, ich bin zu spät, ich weiß …«, fing Melindis an.
»Zu spät ist gar kein Ausdruck«, unterbrach sie die Königin. »Es wird bereits dunkel! Ich verbiete dir hiermit ausdrücklich, dich nach Sonnenuntergang außerhalb der Schlossmauern aufzuhalten. Du ahnst nicht, wie gefährlich das in diesen Tagen sein kann.«
»Vor allem in der Dunkelheit«, ergänzte der Flamingo. Melindis beachtete ihn nicht. Sie konnte diesen eingebildeten Vogel nicht ausstehen.
»Wo hast du gesteckt? Was hat dich so lange aufgehalten?«
»Erst habe ich mit Lovella geübt und dann …«
Einen winzigen Augenblick lang war Melindis versucht, ihrer Mutter von der anderen Sile zu erzählen, von dem durchsichtigen Schleier im Rand der Welt. Aber es gab etwas in ihr, das sie davon abhielt. Es war so unüberwindlich und so mächtig wie der Rand der Welt; es brachte sie dazu, schweigend zuzusehen, wie sich hektische Flecken auf den Wangen der Königin bildeten, wortlos zu beobachten, wie ihre Augen flackerten, und stumm zu registrieren, dass ihre Schultern nach vorn sanken. Melindis rechnete jeden Augenblick damit, gepackt und geschüttelt zu werden, doch die Königin fand ihre Fassung wieder und richtete sich auf.
»Und dann hast du getrödelt, wie immer! Und nicht nur das«, sagte sie. »Du bist schmutzig, ungekämmt und riechst nach Schweiß und Schlamm. Dreh dich um.«
Melindis wusste, was ihre Mutter sehen wollte, und wandte ihr die Flügel zu. Mit einem tiefen Seufzen nahm die Königin die zerknitterten und schmutzigen Flügel ab und betrachtete sie betrübt.
»Das ist würdelos«, begann sie ihren Vortrag über die drei Tugenden einer Sile.
Melindis kannte die Worte auswendig, so oft hatte sie den Appell ihrer Mutter gehört. Automatisch schaltete ihr Gehirn auf Durchzug. Automatisch setzte sie ihre schuldbewusste Miene auf, und automatisch schweiften ihre Gedanken ab zu der hässlichen Kröte, die den Schleier einfach durchflogen hatte. Und während die Königin ihre unwürdige Tochter betont geduldig belehrte und ermahnte, während sie Melindis vorwärts durch die Halle schob und in Richtung königliches Badezimmer bugsierte, dachte diese unentwegt darüber nach, wie sie es schaffen könnte, die richtige Stelle am Rand der Welt wiederzufinden. Warum hatte sie keine Markierung angebracht? Ein paar Steine im Kreis gelegt oder Grasbüschel drapiert …
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte die Königin argwöhnisch.
»Aber ja«, versicherte Melindis mit Unschuldsmiene.
»Du schreibst nächste Woche den jährlichen großen Allwissenstest. Er musste vorgezogen werden. Bist du gut vorbereitet?«
»Allwissenstest? So bald?«, stammelte Melindis.
»Offensichtlich bist du nicht vorbereitet. Du weißt aber schon, wie wichtig dieser Test ist. Ohne ihn wirst du nicht zur großen Prüfung zugelassen. Deine Privatlehrerin sagte mir, du könntest ihn bestehen, wenn du dich gut vorbereitest, auch wenn du sicher nicht so gut abschneiden wirst wie die Kronprinzessin. Ich hatte vor, dich aus dem Turm zu entlassen. Das werde ich mir nun gut überlegen müssen. Und jetzt lass dir von der Zofe ein Bad bereiten. Und weise sie an, dich ordentlich zu frisieren. Beeil dich. Das Abendessen ist gerichtet und deine Schwester ist hungrig.«
Melindis wollte loslaufen, aber ihre Mutter hielt sie zurück. Mit einer geschickten Handbewegung löste die Königin Melindis‘ Grasbeutel vom Gürtel und prüfte den Inhalt.
»Na, wenigstens darauf scheinst du angemessen achtzugeben«, sagte sie.
Am Abend vor dem Allwissenstest wurde Melindis früh in ihr Zimmer geschickt. Die Königin hatte ihr endlich erlaubt, den Turm zu verlassen. Den ganzen Nachmittag hatte sie heimlich an ihrem Spickzettel gearbeitet. Die ganze Woche hatte sie im Turm über ihren Büchern verbracht, trotzdem fühlte sie sich nicht gut vorbereitet. Ständig hatte sie sich selbst verbieten müssen, nicht an die Ereignisse am Rand der Welt zu denken. Immer wieder wollten sich ihre Gedanken davonschleichen, drängten sich Bilder von der fremdartigen Sile mit ihren merkwürdigen Kleidern in ihr Bewusstsein. Nachts träumte Melindis von der Kröte, sah sie durch den Luftschleier fliegen. Wenn sie am Morgen die Augen aufschlug, meinte sie, die wellenartige Bewegung der Luft mitten in ihrem Zimmer zu sehen, aber wenn sie dann aufstand, um sie zu berühren, war da nichts mehr. Vielleicht hatte sie sich ja überhaupt alles nur eingebildet. Sie war immer noch auf Diät, und vielleicht fing sie ja schon an, zu phantasieren.
Melindis schlüpfte unter ihre weiche, cremefarbene Wolldecke und strengte sich enorm an, weder an irgendwelches Essen noch an irgendwelche Wiesen mit irgendwelchen ungewöhnlichen Wesen zu denken. Die Augen fielen ihr zu.
Sofort wurde sie von einem Traum überfallen. Sie fand sich auf einer Wiese wieder, natürlich. Die Wiese war über und über mit rosa schimmernden Blüten bedeckt. Melindis bückte sich, um eine der zarten, kniehohen Blumen zu pflücken, als sie die raue und feuchte Haut der Kröte berührte. Es war nicht eklig. Es war angenehm kühl. Sie ließ ihren Finger über das Tier gleiten, es schien die Berührung zu genießen. Melindis nahm die Kröte auf ihre Hand und betrachtete sie mit einer zärtlichen Neugier. Die Kröte zwinkerte ihr verschwörerisch zu und fing augenblicklich an, zu wachsen. Entsetzt spürte Melindis, wie das Tier schwerer und schwerer wurde, sah, wie ihr Flügel aus dem knotigen Rücken sprossen, und da warf sie sie hoch in die Luft. Ein Flattern und ein Flirren, die Kröte umkreiste ihren Kopf, sie schien etwas zu rufen, aber aus ihrem Mund kam nur ein sehr tiefes, hohl rumpelndes Knurren.
Melindis wachte auf. Noch einmal knurrte es laut. Und das Geräusch kam direkt aus Melindis’ Innerem. Es war ihr hungriger Magen, der sich da so empört und empörend laut meldete. Melindis legte beruhigend ihre Hände auf den Bauch.
Wie soll ich den Test morgen bestehen, wenn ich derart hungern muss?, fragte sie sich. Sie war drauf und dran, an der silbernen Kette, die neben dem Portrait der Königin hing, zu ziehen, um ihre Zofe zu rufen. Doch dann schlug sie ihre Zudecke zurück und schwang in einem spontanen Entschluss die Füße aus dem Bett.
Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, zog sie die Nachttischschublade auf, holte ein Leuchtholz heraus, öffnete lautlos die Tür und schlich sich barfuß durch die spärlich beleuchteten Flure des Schlosses. Es gab viele Flure, lange Flure, verwirrend verwinkelte Flure; Melindis kannte sie alle. Rechter Hand lagen die Gemächer der Königin, nach links ging es zu Lovellas Bereich und geradeaus in die große Empfangs- und Festhalle. Dahinter befand sich der Innenhof mit den gemütlichen Lauben und hübschen Wasserspielen. Von der Halle führte eine Treppe hinunter zu den Wirtschaftsräumen. Als Melindis die Stufen in die Untergeschosse hinabstieg, leistete ihr das Leuchtholz gute Dienste. Auf dem Weg zu den alten Silen hatte man nicht nur an Lichtöffnungen, sondern auch an Kerzen gespart. Sie war erst einmal hier unten gewesen. Ihre Mutter hatte ihr die Räume gezeigt und ihr gleichzeitig verboten, sie jemals wieder aufzusuchen.
»Was hier unten vor sich geht, sollte uns nicht interessieren«, hatte die Königin gesagt. »Es dient unserem Wohlergehen. Mehr darüber wissen zu wollen ist unter unserer Würde.«
Schon von Weitem hörte Melindis Stimmen und Gelächter. Sie zögerte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass jetzt jemand in der Küche sein könnte. An der Wand war eine lange Hakenleiste befestigt. Melindis zählte fünfzehn Flügelpaare. Sie waren so verschlissen und glanzlos wie ihre Besitzerinnen.
Diese alten Silen, die in den Kellerräumen wohnten, waren Melindis nicht geheuer. Man sah sie selten. Wie Schatten huschten sie durch die Gänge des Schlosses und verrichteten diskret ihre Pflichten. Die griesgrämige, schweigsame Zofe war die einzige, die Melindis regelmäßig zu Gesicht bekam, an ihren Missmut hatte sie sich genauso gewöhnt wie an ihre Dienstbarkeit.
Melindis’ Magen knurrte schon wieder. Vielleicht saß ihre Zofe ja gerade vergnügt in der Küche, lachte und scherzte. Warum sollte sie nicht bereit sein, ein leckeres Butterschmalzbrot zu richten? Schließlich war es ihre Aufgabe, der Prinzessin Tag und Nacht zu dienen. Melindis steckte das Leuchtholz in die Halterung an der Wand und öffnete beherzt die Tür.
Die Dienerinnen und Köchinnen, die Näherinnen, Friseurinnen, Flickmamsells, Wäscherinnen, Handwerkerinnen, Gärtnerinnen und Putzfrauen, die gerade noch fidel um den großen Holztisch gesessen hatten, verstummten auf einen Schlag und sahen den Störenfried zunächst missbilligend und dann fassungslos an. Eine unangenehme Stille entstand.
Melindis suchte zwischen all den unbekannten, faltigen und von grauen Haaren umrahmten Gesichtern dasjenige ihrer Zofe. Aber sie waren unmöglich zu unterscheiden. Jede von ihnen sah gleichermaßen scheußlich aus.
»Äh, also ich …«, fing Melindis an. Alle Augen waren auf sie gerichtet, etwas, das sie immer sprachlos vor Verlegenheit machte.
»Ich bin so hungrig«, brachte sie endlich heraus.
Eine sehr alte Sile erhob sich. Geräuschvoll schob sie ihren Stuhl zurück und schlurfte zu den großen Tonkrügen, die an der Wand aufgereiht waren. Wortlos holte sie Brot und Schmalz, schnitt eine dicke Scheibe, beschmierte sie exakt mit der richtigen Menge Schmalz und streute eine winzige Prise Kräutersalz darauf. Sie legte das Brot auf einen lila Teller und reichte ihn Melindis.
»Genau wie Ihr es mögt, Hoheit«, sagte sie.
Irgendwie musste die Botschaft, dass es sehr bald etwas zu tun geben würde, Melindis’ Magen erreicht haben. Er gab ein Knurren von sich, das einem Holberhund zur Ehre gereicht hätte.
»Zum Kuckuck!«, entfuhr es Melindis. Irgendjemand kicherte verschämt. Dann fiel die nächste ein und schließlich hallte die ganze Küche vom Lachen der alten Silen wider.
»Ihr solltet in Eure Gemächer zurückkehren, Hoheit. Hier habt Ihr nichts zu suchen«, sagte Melindis’ Zofe mitten in das Gelächter hinein. Unbemerkt hatte sie sich neben die Prinzessin gestellt. Erschrocken drehte sich Melindis zu der alten Frau um. Noch nie hatte die Zofe so ungehalten und respektlos mit ihr gesprochen. Und jetzt schob sie Melindis energisch aus der Küche und schloss die Tür hinter sich.
»Bitte«, sagte Melindis, »bitte erzähl es nicht der Königin.«
Die Zofe hielt erstaunt inne.
Melindis ging auf, was sie da gesagt hatte. Sie hatte ihre Zofe um etwas gebeten. Sie war einer alten Sile gegenüber unterwürfig aufgetreten. Die Zofe sah sie fragend und schweigend, aber nicht unfreundlich an.
»Gute Nacht, Hoheit«, sagte sie schließlich und gab Melindis einen kleinen, kecken, aber freundlichen Schubs, der diese dazu veranlasste, sich endlich in Bewegung zu setzen.
Erst als sie den dunklen Treppenaufgang erreicht hatte, bemerkte Melindis, dass das Leuchtholz noch immer in der Halterung vor der Küchentür steckte. Sie kehrte um. Die Zofe war verschwunden und aus der Küche drang noch immer Gelächter. Irgendjemand rief etwas und das Lachen schwoll noch mehr an. Melindis spürte, wie ein völlig unpassendes Gefühl in ihr aufstieg. Moment mal, dachte sie, das kann aber jetzt nicht sein. Ich bin doch nicht etwa neidisch auf diese alten und hässlichen Silen?
Das Holz in der einen und das Brot in der anderen Hand stieg sie die Treppenstufen hinauf und ging nachdenklich kauend durch das stille, nächtliche Schloss. Just als sie ihre Kammer erreichte und die Hand auf den Türknauf legte – sie hatte sich ihr angebissenes Schmalzbrot zwischen die Zähne gesteckt – hörte sie ein Rascheln hinter sich. Sie drehte sich um und stieß einen entsetzten Schrei aus. Das feine Brot fiel mit der gebutterten Seite zuunterst zu Boden. Ein grüngesichtiges Geisterwesen hatte sich hinter ihr aufgebaut. Es trug ein zartrosa schimmerndes, weites Gewand und sah die erstarrte Prinzessin mit schwarzen, empörten Augen an. Melindis konnte diesem dunklen Blick nicht standhalten und sah angstvoll zu Boden. Unter dem Gewand des Geistes ragten schweinchenrosa Puschelpantoffeln hervor. Die gleichen trug Ihre Majestät, die Königin, sobald sie ihr Baderitual beendet hatte. Und bevor sich Melindis fragen konnte, wie ein Gespenst an die Pantoffeln ihrer Mutter gekommen war, hörte sie deren Stimme.
»Was um Himmels willen hast du mitten in der Nacht in den Schlossfluren zu suchen?«
Ihre Mutter bückte sich, hob das Schmalzbrot auf und besah es angewidert. Sie hatte eine grüne Schönheitsmaske aufgelegt, sah aber derzeit alles andere als schön aus.
»Ich hatte solchen Hunger«, versuchte Melindis sich kläglich zu erklären.
»Und deshalb musste dir mitten in der Nacht die Zofe ein Brot bringen? Aber was hast du dann hier draußen zu suchen?«
»Ich bin so aufgeregt. Wegen dem Test morgen früh.«
Wie zur Unterstützung fing ihr Magen an, unüberhörbar zu knurren. Offenbar war es außerhalb der Vorstellungskraft der Königin, dass ihre Prinzessin in die Wirtschaftsräume gegangen sein könnte, um sich das Brot selbst zu holen. Vermutlich war sie selbst seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Und während ihre Mutter angesichts von Melindis’ nackten Füßen zu ihrer Lieblingsansprache über Würde, Tugend und Mäßigung ansetzte, fragte sich Melindis, die eine bekümmerte Miene zur Schau trug, was die Königin wohl sagen würde, wenn sie wüsste, wie fröhlich die Bediensteten ihre Abende in der Schlossküche verbrachten.
Die Königin saß am Schreibtisch und bereitete eine Ratssitzung vor. Wenn sie alleine war, gestatte sie sich ein weiches Kissen im Rücken. Die Zeiten waren hart genug für das kleine Königreich der Silen. Es gab immer mehr Berichte von seltsamen Vorgängen am Rand der Welt. Angeblich war es an mehreren Stellen möglich, ihn anzusehen. Der magische Bann, der genau das so viele Jahrhunderte zuverlässig verhindert hatte, wurde schwächer und das machte ihr Angst. Bisher hatte der überwältigende Ekel, der jeden befiel, der dem Rand der Welt zu nahe kam, dafür gesorgt, dass niemand Fragen stellte. Es durften keine Fragen aufkommen, keine Unruhe durfte das gesittete Leben der Silen erfassen. Man musste sie nur weiter beschäftigen, all diese zarten und doch zähen Silen. Solange sie mit verbotenen Farben, ihrer Schönheit und ihren Tugenden befasst waren, würden sie nicht aufbegehren. Solange sie mit ihren Zauberstäben für die Magisade üben konnten, würden sie auf keine aufsässigen Gedanken kommen. Und sie selbst musste weiter dafür sorgen, dass die alten Silen in ihren Kellern blieben und schwiegen.
Sie wollte eine gute Königin sein, wie ihre Mutter und Großmutter es gewesen waren und vor ihnen ihre Urgroßmutter und alle Königinnen davor. Ihnen war es gelungen, dass das Silenreich ganz ohne Männer auskam. Männer, die mit ungebührlich grobem Benehmen und Waffengewalt Gefahren abwehrten, die sie selbst heraufbeschworen hatten. Keine Sile sollte je erfahren, dass auch hier einst Männer gelebt hatten. Sie sollten sich in der Gewissheit wiegen, dass Zauberkraft und Tarduss und die Anmut und Würde der Silen ausreichten, um ein angenehmes und geschütztes Leben zu führen. Über viele Jahrhunderte hatte das ausgereicht. Aber würde es auch für die Zukunft gelten, wenn der Rand der Welt zerfiel? Und warum zerfiel er?
Der schwere Schreibtischstuhl gab ein knarrendes Geräusch von sich, als die Königin ihn zurückschob. Sie trat vor den Spiegel. Mit einem Wattebausch wischte sie sich die grüne Gesichtsmaske ab. Das anmutige Lächeln, das sie jetzt aufsetzte, hatte sie als Kind so oft mit ihrer Mutter geübt. Doch im Spiegel war nur eine müde, mutlose Sile zu sehen. Kein Wunder, dass ihre jüngere Tochter anfing zu rebellieren.
Im Prüfungsraum waren die violetten Vorhänge zugezogen und die Bilder von der Wand entfernt worden. Kein Sonnenstrahl und keine Gemälde mit strengen Blicken ehemaliger Königinnen sollten die Konzentration des Prüflings stören. Der Fittich der Privatlehrerin Rinella Tausendacker, eine hellrot getigerte Katze, saß aufrecht auf einem fliederfarbenen Samtkissen und blinzelte Melindis warnend an. Während im Nebenraum Lovellas Einzelunterricht vonstatten ging, war es die Aufgabe der Katze, dafür zu sorgen, dass es keine Mogeleien beim Ausfüllen der Prüfbögen gab. Melindis aber hatte vorgesorgt. In ihrem Mäppchen befanden sich nicht nur der Spickzettel, sondern auch ein Döschen mit Hefepaste. Die Paste hatte sie heimlich gesammelt, sie war ein beliebter, aber sehr seltener Brotaufstrich und eine begehrte Leckerei bei Katzen.
Melindis brütete über die erste Frage aus dem Bereich »Regeln und Gebote im Silenreich«:
Ia) Nenne die verbotenen Farben
Ib) Erläutere die Gründe für die Verbote
Der erste Teil der Frage war lächerlich leicht. Jede, aber auch jede Sile im Reich konnte sie im Schlaf beantworten. Schwarz, Braun, Grau, Feuerrot, Blau, Gelb und Grün waren unwürdige Farben. Keine Sile umgab sich freiwillig mit etwas Unwürdigem. Oder kleidete sich gar darin. Wie es die Sile hinter dem Rand der Welt getan hatte.
Stopp!, rief sich Melindis selbst zur Ordnung. Nicht daran denken! Zurück zu den Farben!
Bestimmt gab es logische Erklärungen für ein Verbot. Sie hatte sie nur leider gerade nicht parat.
Melindis schaute auf die große Sanduhr auf dem Pult. Das kleine Sandhäufchen auf der unteren Hälfte war erst so hoch wie ihr Daumennagel, aber es wuchs stetig. Die Katze saß noch immer aufrecht auf ihrem Kissen und wackelte argwöhnisch mit den Ohren. Auf Melindis’ Spickzettel standen Rezepturen für Heilsalben, Geschichtsdaten und hilfreiche Stichworte für die wichtigsten der ellenlangen Dichtungen von Elisade von Berdulia. Aber keine Begründung für die verbotenen Farben.
Melindis zog an ihren Ohrläppchen, knabberte an den Fingernägeln und kratzte sich am Scheitel. Wer kam bloß auf die blöde Idee, Farben zu verbieten? Sie sah zur Uhr. Der Sand rieselte unerbittlich, das Häufchen wuchs zu einem Riesenberg, und warf ihr nicht Rinellas blöde Katze hämische Blicke zu?
Wütend fing Melindis an zu schreiben.
Schwarz:
Die Nacht ist schwarz und die Gestalten darin ebenfalls. Silen sind Lichtgestalten. Deshalb sollte diese Farbe vermieden werden.
Das hörte sich fast an, als könnte es stimmen.
Grau:
Grau ist wie der Nebel. Man kann sich darin verirren. Außerdem ist es eine triste Farbe. Silen sind fröhlich. Das passt nicht zusammen.
Jej, das wird ja immer besser!, dachte Melindis.
Braun:
steht für Schmutz. Und Schlimmeres. Silen sind blitzblank und duften. Also geht Braun gar nicht.
Feuerrot:
Feuer ist gefährlich. Und Blut ist auch rot und Bluten ist schlimm und es gibt eine Wunde und eine Verletzung und außerdem ist Feuerrot aggressiv und Silen sind sanftmütig.
Grün …
Also warum könnte denn bloß Grün verboten sein? Oder Blau? Schließlich war doch die ganze Welt grün und blau wie die Wiesen und der Himmel und die Seen und die Bäume? Was daran war so schlimm, dass man es verbieten müsste?
Seufzend schrieb sie:
Grün und Blau:
Davon gibt es schon genug auf der Welt.
Dafür würde es zwar auf keinen Fall einen Punkt geben, aber würde sie gar nichts schreiben, bekäme sie Punkte abgezogen.
Gelb …
Gelb?
Gelb war doch eigentlich eine schöne Farbe. Sonnenblumen waren gelb, und die Sommersonnen waren gelb, und es gab leckeren gelben Safrankuchen, aber wenn man einen Holzsplitter im Finger hatte und ein paar Tage wartete und dann drückte, kam gelber Eiter heraus. Das war eklig und faszinierend zugleich. Aber bestimmt war es verboten.
Also schrieb Melindis: Gelb ist verboten, weil die Sommersonnen am Mittag strahlend gelb sind und es am Tag, an dem sie sich volle siebzehn Atemzüge lang überdecken, das höchste Fest der Silen gibt und weil keine Sile glauben sollte, sie sei so toll wie die Sonnen, und außerdem ist Eiter gelb und voll abscheulich.
Gut. Nächste Frage.
IIa Zeige anhand von drei Beispielen die Wirkweise von Tarduss.
IIb Beschreibe die Rezepturen zweier Salben, die mit Tarduss gefertigt werden.
IIc Beschreibe die Gewinnung von Tarduss
Mit diesen Fragen hatte Melindis gerechnet. Sie schrieb:
1. Tarduss heilt alles, was kaputt und krank ist.
2. Tarduss befestigt die Flügel am Rücken.
3. Mit Tarduss wird ein Zauberstab geweiht und seine Zauberkraft aufgefrischt.
Melindis hatte keine Ahnung von Heilsalben. Aber sie hatte ihren Spickzettel. Die Katze leckte betont gelangweilt ihre Pfoten, schielte listig zum Prüfling und ließ sie nicht aus den Augen. Melindis tat, als suchte sie etwas in ihrem Mäppchen, schraubte heimlich das Döschen auf und stippte ihren Zeigefinger in die Hefepaste. Dann ließ sie absichtlich ihren Stift fallen und strich rasch die Paste über die Holzdiele, als sie sich danach bückte. Die Katze hob ihre Nase und schnupperte. Mit heimlichem Vergnügen beobachtete Melindis die Unruhe, die das pflichtbewusste Tier befiel. Aufgeregt fing es an, sich das Fell zu putzen und sprang dann plötzlich mit einem großen Satz vom Kissen. Wie geplant verschwand die Katze zu Melindis’ Füßen und leckte die Paste auf. Nicht ahnend oder auch nur wissen wollend, dass über ihr fleißig abgeschrieben wurde.
Melindis schüttelte ihre Schreibhand aus. Die Aufgaben waren insgesamt doch gar nicht so schwierig. Kein Grund also, die Finger so zu verkrampfen! Da wurde die Tür geöffnet. Niemand Geringeres als die Köngin trat herein. Sie trug eine besorgte Miene und ein Glas Milch vor sich her. Vor Schreck ließ Melindis das Mäppchen fallen. Und dann lagen da gut sichtbar: die Stifte, der Spitzer, das kleine Lineal, der Zirkel. Und die Dose mit der Hefepaste. Und der Spickzettel.
Die Katze hatte sich aus ihrer Ruheposition auf dem Kissen erhoben und nahm eine demonstrativ wachsame Haltung ein.
»Lass dich nicht stören, Tochter«, flüsterte die Königin, als wäre noch jemand im Raum, und stellte behutsam das Milchglas ab. »Ich habe mich gerade noch einmal belesen und feststellen müssen, wie wichtig Zucker für die Konzentration ist. Ich befürchtete, dass du aufgrund deiner Diät womöglich nicht imstande bist, den Test zu bestehen. Da ließ ich es mir nicht nehmen, dir umgehend persönlich etwas gesüßte Milch zukommen zu lassen. Ich habe auch veranlasst, dass du etwas mehr Zeit erhältst, da du dich ja nun erst wieder ein wenig sammeln musst, nach der Störung, die ich verursacht habe.«
Melindis sah ihre Mutter mit großen Augen an. Sie rührte sich nicht, während die Königin sie aufmunternd anlächelte.
Bitte schau nicht nach unten, bitte geh!, flehte Melindis innerlich.
Doch die Königin machte keinerlei Anstalten, den Raum zu verlassen, stattdessen bückte sie sich – unglaublich, die Königin bückte sich! – um die heruntergefallenen Sachen einzusammeln. »Entschuldige die Unterbrechung, Kind«, sagte sie sanft und reichte Melindis den Spitzer. Rasch beugte sich Melindis nach unten und wollte den Spickzettel greifen, als ihr ihre Mutter zuvorkam.
»Oh nein!«, entfuhr es Melindis.
Misstrauisch geworden faltete die Königin das Papier auseinander und überflog es mit gerunzelter Stirn. Sie begriff sofort.
»Melindis, Prinzessin, Kind«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich bin fassungslos!« Sie ging hinaus, um kurz darauf mit Rinella Tausendacker zurückzukehren. Beide breiteten den Zettel auf dem Lehrerpult aus, strichen ihn glatt und lasen ihn kopfschüttelnd. Sie berieten sich flüsternd mit der Katze und bemerkten nicht, dass Lovella im Türrahmen aufgetaucht war und neugierig zu den beiden hinüber spähte. Sie warf ihrer Schwester fragende Blicke zu. Melindis saß steif und aufrecht auf ihrem Stuhl und wartete ergeben auf die Strafpredigt, auf die Verkündigung der Strafe und darauf, dass sie – womöglich für immer und ewig – in den lila Turm geschickt würde. Ihr Magen knurrte, und ohne darüber nachzudenken, schnappte sie sich das Glas Zuckermilch, trank es in einem Zug leer und stellte es mit einem trotzigen Knallen wieder ab. Sie bemerkte, dass sich um ihre Oberlippe ein Milchbart gebildet hatte, als Lovella demonstrativ ihre Lippen leckte. Sie wischte ihn mit dem Handrücken weg, als sich ihre Schwester eilig zurückzog.
Die Königin trat heran und richtete sich vor ihr auf.
»Dein Verhalten ist skandalös«, begann sie. »Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was ich empfinde angesichts deiner bodenlosen Verfehlung.«
Melindis hörte ihr schweigend zu. Komisch, dachte sie, es ist doch irgendwie vertrackt, dass alles, was ich in letzter Zeit anfange, mit einer endlosen Strafpredigt endet. Und je öfter ich ausgeschimpft werde, desto weniger macht es mir aus. Wenn ich mich ein wenig konzentriere, hört sich die Strafpredigt meiner Mutter an wie die Frösche im Schlossteich, ein nicht enden wollendes, vielstimmiges, lustiges Gequake.
Melindis stand am Fenster des lila Turmes. Wieder war die Tür zur Wendeltreppe abgeschlossen, wieder stand auf dem Tisch hinter ihr nichts als trockenes Brot und Würzquark. Wenn sie nicht über den Büchern brütete, schaute Melindis aus dem Fenster. Am Abend konnte sie die Lichter der Hauptstadt blinken sehen, am Tag blickte sie zu dem Hügel, um den sich die Wiese wand – und der Rand der Welt.
Bisher war ihr Blick immer spätestens am Hügel hängen geblieben. Aber nun spürte sie sogar aus der Ferne den Schauer, den ihr der Rand der Welt einjagte, wenn sie ihn ansah. Und wie sie ihn ansah! Sie starrte und suchte den ovalen Schleier, an den sie nicht denken durfte, und der sie doch immer mehr beschäftigte, je länger sie davon abgehalten wurde, das Schloss zu verlassen. Denn im Turm musste sie diesmal so lange bleiben, bis sie so weit war, den Allwissenstest zu wiederholen. Und dass sie so weit war, bestimmte natürlich nicht sie selbst, sondern Rinella Tausendacker, die sie täglich kleine schriftliche und mündliche Prüfungen ablegen ließ und ihr seitenweise Hausaufgaben aufhalste.
Es klopfte. Melindis erkannte am Klang, wer da um Einlass bat. Es war ihr ein Rätsel, wie die Königin es fertigbrachte, ein einfaches Anklopfen unerbittlich und erhaben zugleich klingen zu lassen.
Ihre Mutter stieg jeden Nachmittag nach der Teestunde die sechsundachtzig Stufen der Wendeltreppe hinauf, um Melindis wortreich daran zu erinnern, dass diese Maßnahmen nur zu ihrem Besten waren. Nach der ersten Woche war sie dazu übergegangen, Melindis aus dem Turmzimmer zu führen, um mit ihr dreimal hintereinander die Treppe hinauf und hinab zu gehen, denn sie war der Meinung, dass Bewegung wichtig sei. »Ganz besonders angesichts deines empörenden Übergewichtes«, sprach die Königin. Also keuchte Melindis neben ihr den Turm rauf und runter und gab sich – wenn sie es denn schaffte, die Wiese, den Rand der Welt und den ganzen vermaledeiten Rest aus ihren Gedanken zu verbannen – ganz dem Bild eines Froschteiches hin, das sich neuerdings in ihren Kopf schob, sobald ihre Mutter anfing zu reden. Im Laufe der vielen Strafpredigten hatte sie ihre Fähigkeit, nach außen eine schuldbewusste Miene zur Schau zu stellen, obwohl sie tief innen weit weg war, zu einer wahren Kunst entwickelt. Nicht einmal ihre scharfsinnige Mutter bemerkte, dass die Prinzessin alles andere als hoheitsvolle Gedanken hegte.
»Wenn du dich weiterhin gut führst, werden wir dir wohl Ende nächster Woche den neuen Allwissenstest vorlegen«, sagte die Königin, als sie zum dritten Mal für diesen Nachmittag vor dem Turmzimmer ankamen.
Ende nächster Woche. Das sind elf Tage, dachte Melindis bekümmert. Und ob ich nach dem Test den Turm gleich verlassen darf, ist noch gar nicht ausgemacht.
»Lass dir also raten, dir gleich noch einmal die Bücher vorzunehmen.«
Melindis seufzte.
»Es ist ein wohl gemeinter Rat. Ich werde es sicher nicht kontrollieren, zumal ich gleich wegen dringender Angelegenheiten bis spät in der Nacht außer Haus sein werde.«
Die Königin öffnete die Tür zum Turmzimmer. Sie sah auf einmal besorgt und erschöpft aus. Dann straffte sie die Schultern.
»Es gibt Zeiten«, sagte sie ernst, »in denen Disziplin und Stärke von großer Bedeutung sind, Kind.«
Sie schob Melindis in das Zimmer und schloss von außen ab.
Disziplin und Stärke, das war ja mal was ganz Neues.
Auf dem Schreibtisch türmten sich zwei Stapel Bücher. Als Melindis an ihnen vorbei zum Fenster ging, gab sie beiden einen kleinen Schubs. Sie wankten ein wenig, blieben aber hartnäckig stehen.
Melindis zog den Vorhang zur Seite und öffnete einen Fensterflügel. Sehnsüchtig schaute sie über die Wipfel der Nadelbäume hinweg zu der Wiese. Ein schwarzer, leicht gebückter Schatten löste sich aus dem dunklen Waldrand und humpelte mehr als er ging zielstrebig zu einer ganz bestimmten Stelle am Rand der Welt. Er schien die Stelle zu untersuchen, ging nach links und nach rechts und plötzlich zuckte ein waagerechter Blitz auf. Der Schatten schien ihn zu produzieren und ehe sich Melindis wundern konnte, erschien ein zweiter und dritter Blitz. Der dunkle Schatten blieb lange reglos stehen. Und dann, langsam, nach vorn gebeugt und hinkend begab sich der unheimliche Schatten wieder zum Waldrand, wo er bald mit den dunklen Stämmen der Kiefern verschmolz und verschwand. Am Humpeln erkannte Melindis, dass die Gestalt eine alte Sile gewesen sein musste. Ihr Tarduss war rationiert, und manche von ihnen verwendete es lieber, um ihren alten Zauberstab zu erneuern, statt für die Gebrechen des Alters.
Aufgewühlt ging Melindis im Zimmer auf und ab. Was war da unten geschehen? Das Ganze war unheimlich und verlockend zugleich. Die Verlockung war stärker.
Ohne zu zögern öffnete sie das Fenster und schwang sich über den Sims. Diesmal würde Lovella nicht auftauchen. Sie war im Sternenturm zum Zauberunterricht. Wie schon einmal kletterte Melindis die senkrechte, lila Mauer hinab, hielt sich an den vorstehenden Backsteinen und Ösen fest.
Nach etwa der Hälfte der Strecke gingen ihr die Puste und die Halterungen aus. Schlaff und außer Atem hing Melindis an der letzen Öse und balancierte mit einem Fuß auf einem schmalen Sims, während der andere Halt suchend in der Luft ruderte. Es gab hier keine Simse mehr, keine hervorstehenden Mauersteine, nichts, an dem sie sich festhalten konnte. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wie weit es noch runter ging. Wind kam auf. Die Äste der Nadelbäume peitschten gegen den Turm. Melindis sah nach oben. Wieder rauf zu klettern war unmöglich. Ungeübt wie sie war, hätte sie es niemals wieder bis ins Turmzimmer geschafft.
Gleich stürze ich ab, dachte sie. Gleich kann ich mich nicht mehr halten. Ich werde fallen und unten zerschmettern. Ich werde sterben, bevor ich das Fliegen erlernt habe, dachte sie. Melindis’ Hand fing an zu schwitzen. Die Finger rutschten aus der Öse, und als Melindis nachfassen wollte, verlor sie völlig den Halt. Sie fiel, und sie schrie, so laut sie konnte. Sie fuchtelte mit den Armen und strampelte mit den Beinen. Sie rutschte zwischen Ästen hindurch, sie bremsten ihren Fall ab; stachelige Zweige schlugen ihr ins Gesicht, sie fasste danach, aber sie brachen ab. Endlich bekam sie mit beiden Hände einen Ast zu fassen. Einen nadelbewehrten, biegsamen, stabilen und gesunden Ast, der sie in die Hände stach und sich elastisch nach unten bog, als sich Melindis’ Gewicht an ihn hängte und der ein wenig nach oben federte, nachdem er seinen Biegepunkt erreicht hatte. Melindis versuchte, sich auf den darunter liegenden Ast zu stellen, aber sie war zu schwer. Also ließ sie los und griff im Fallen nach dem nächsten Ast. Und dann nach dem nächsten und nächsten und nächsten, bis sie unten angekommen war.
Ihre Hände brannten von den harten grünen Nadeln der Bäume. Sie war außer Atem und von ihren Haaren tropfte der Schweiß, aber sie lebte, und sie hatte wieder festen Boden unter den Füßen.
Sie stellte sich dicht an die Mauer des Turmes und sah nach oben. Der weiße Vorhang war von einem Luftzug nach draußen gezogen worden und bauschte sich vor dem Fenster.
Wie dumm, dachte sie. Wie bescheuert und gedankenlos und verblödet. Da komme ich doch nie wieder rauf.
Der schwache, rötliche Schein der aufgehenden Nebensonne mischte sich in das Licht des frühen Abends, als Melindis die Wiese erreichte. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und legte sie sorgfältig unter einen Busch.
Es war wärmer geworden, seit sie nicht mehr hier gewesen war. Stechmücken und anderes lästiges Kleinfluggetier war inzwischen geschlüpft und kreiste harmlos, aber lästig um ihren Kopf. Die Zeit, um zu stechen, war noch nicht gekommen.
Bald spürte sie die schauderhafte Nähe des Randes der Welt. Sie hatte Angst. Sie befürchtete nichts so sehr, als dass alles war wie zuvor, dass sie den Rand der Welt nicht mehr ansehen konnte. Dass alles, was sie gesehen und gefühlt hatte, dass die fremde Sile und die Kröte und das durchsichtige Oval nur Einbildungen gewesen waren. Sie kniff die Augen zusammen und näherte sich blind dem Rand der Welt. Und als das Grauen, das sie zunehmend befiel, fast übermächtig wurde, öffnete sie die Augen. Es war noch immer möglich, sie zu öffnen, und in den beängstigenden Anblick des Nichts mischte sich das Gefühl von Erleichterung und Freude.
Frösche und Grashüpfer hopsten zur Seite, während sie plan- und erfolglos durch den feuchten Untergrund der Wiese stapfte. Zweimal ging sie die ganze Strecke vom Hügel bis zum Waldrand ab und suchte so verzweifelt wie vergeblich die Lücke im Rand der Welt. Einmal wäre sie beinahe auf einen schwarz-gelb gefleckten Feuersalamander getreten, und kurz darauf sah sie, wie sich eine gelbköpfige Ringelnatter davonschlängelte.
Währenddessen senkte sich die Hauptsonne und hob sich die Nebensonne.
»Ach, du schon wieder«, hörte Melindis eine Stimme zu ihren Füßen.
Es war die Kröte. Die fliegende Kröte, die in ihren Träumen aufgetaucht war und die sie jetzt belustigt von unten ansah. Melindis ging spontan in die Knie und hob das handtellergroße Tier auf.
Genau wie in ihrem Traum fühlte sich ihre Haut rau und angenehm kühl an.
»Na?«, sagte die Kröte.
»Na?«, sagte Melindis. »Ich hab von dir geträumt.«
»Ich nicht«, erwiderte die Kröte.
»Ich bin Melindis«, sagte Melindis.
»Ich weiß«, sagte die Kröte.
»Was? Woher?«
»Ich wurde dir vor langer Zeit zugeteilt.«
»Zugeteilt?«
Melindis klimperte verwirrt mit den Wimpern. Da endlich kapierte sie es. Sie hatte ihren Fittich gefunden. Ein hässliches, feuchtes, braunes Tier mit warziger Haut.
»Eine Kröte«, sagte Melindis verdattert.
»Nein, eine Unke«, sagte die Kröte. »Ich bin eine Unke.«
»Dafür bist du aber ganz schön groß.«
»Ich gehöre einer besonders stattlichen Gattung an«, sagte die Unke. »Was hast du hier zu suchen? Müsstest du nicht im Schloss sein? Im Turm, um auf deinen Test zu lernen?«
»Äh, woher weißt du …«
»Ich weiß vieles über dich. Wir haben da unsere Zuträger«, unterbrach sie die Unke. »Du musst mir jetzt einen Namen geben.«
»Einen Namen. Äh, ja. Also …«
»Was Klangvolles, bitte.«
Melindis seufzte. »Mir fällt nichts ein.«
»Streng dich an.«
»Also gut. Du sollst Krötel heißen.«
»Nicht dein Ernst. Ich bin eine Unke!«
»Willst du lieber Unkel heißen?«
»Also, ich meine, jetzt ist es eh zu spät. Der erste Name, der genannt wird, muss es sein.«
Sie streckte tatsächlich eines ihrer dünnen Beine aus, damit ihr die Prinzessin die Hand schütteln konnte. Oder die Pfote oder die Schwimmhäute oder was das auch immer war. Sie fühlte sich weich an, weich und zerbrechlich.
»Also, was sucht eine schuhlose Prinzessin auf dieser matschigen Wiese? Und das schon zum zweiten Mal?«
»Ich suche die durchsichtige Stelle«, antwortete Melindis. »Du weißt doch, vom letzten Mal, da war doch so ein …, so ein komisches Dings. Und du bist da durchgeflogen. Und dann warst du weg.«
»Durchgeflogen. Aha. Von wegen durchgeflogen. Du hast mich durch die Pforte gekickt!«
»Entschuldigung«, sagte Melindis.
»Schon gut. Immerhin weiß ich dadurch, wie man auf die andere Seite gelangt. Und wieder zurück.«
»Und wieder zurück«, wiederholte Melindis. »Da gibt es also echt eine andere Seite?«
»Na, klar! Und was für eine!«
»Da war so eine Sile hinter dieser Pforte. Sie sah seltsam aus, sie trug die verbotenen Farben. Ich will sie finden«, erzählte Melindis.
»Da drüben sind keine Silen. Sie nennen sich Leefen. Sie sehen aber ansonsten so ziemlich aus wie Silen. Könnten wir suchen. Lass mich runter und folge mir.«
»Leefen«, wiederholte Melindis und setzte ihren funkelnagelneuen Fittich ab. Die Unke hüpfte erstaunlich schnell durch das hohe Gras am Rand der Welt entlang. Melindis konnte sie oft kaum erkennen.
»Hast du die Blitze gesehen?«, fragte Melindis.
»Blitze? Nö. Keine Blitze«, antwortete Krötel. »Da war nur eine alte Sile, die im Wald herumgeirrt ist. Sah aus, als hätte sie sich verlaufen.«
»Alte Silen dürfen gar nicht in den Wald«, erwiderte Melindis.
»Was du nicht sagst«, meinte Krötel und blieb unvermittelt sitzen. »Hier«, sagte sie.
»Hier?«
»Hier.«
»Spürst du das Grauen? Dass der Rand der Welt aus Nichts besteht, macht mich fertig«, sagte Melindis.
»Man gewöhnt sich daran«, entgegnete Krötel.
»Seit wann kannst du da hingucken?«
»Seit du mich rübergeschleudert hast.«
»Entschuldigung nochmals.«
»Schon gut.«
»Und jetzt?«
»Wir warten.«
»Worauf?«
»Das wirst du gleich sehen.«
Melindis schaute sich um. Die beiden Sonnen waren kurz davor, sich zu berühren. Schon änderten sich das Licht und die Stimmung auf der Wiese. Melindis atmete tief ein und schloss die Augen, während sich die Sonnen übereinander schoben. Für einen Moment vergaß sie alles um sich herum. Der Rand der Welt war bedeutungslos, irgendwie war alles bedeutungslos. Ein warmes Gefühl durchströmte sie. Alles schien zu ruhen. Ihre Gedanken zentrierten sich auf diesen einen Augenblick und ballten sich zu einem friedvollen Nichts.
»Schau«, sagte Krötel.
Melindis schlug die Augen auf. Direkt vor ihr, keinen halben Schritt entfernt, war da auf einmal wieder diese Wellenbewegung. Sie sah aus, als bewegte sich ein durchsichtiger Vorhang gleichmäßig im Wind. Was dahinter war, erschien schemenhaft und undeutlich. Melindis vergaß den Rand der Welt und das schauerliche Nichts, aus dem er gemacht war, sie sah nur noch diese Wellenbewegung und dahinter, wie im Nebel, eine grüne Wiese.
»Es ist da. Krötel, die Pforte ist noch da!«
Sanft berührte die Prinzessin den ovalen Schleier. Und fühlte nichts. Erst als sie dagegendrückte, spürte sie den Widerstand, den sie erwartet hatte. Nach und nach konnte sie genauer sehen, was sich auf der anderen Seite befand. Da war Gras, es gab kleine, blaue Blumen und vielleicht krabbelte da ein Käfer. Aber keine Sile erschien. Nicht einmal eine Leefe.
»Erstaunlich, nicht?«, sagte Krötel. »Und jetzt komm mit.«
Die Unke vollführte einen für ihre Verhältnisse geradezu eleganten Hopser. Und landete auf der anderen Seite.
Prima, hopsen, dachte Melindis und machte einen energischen Sprung nach vorn.
Dong!, machte es, die Prinzessin prallte zurück und lag der Länge nach im Gras. Sie stand auf, setzte noch einmal an, legte all ihre Kraft und ihren Schwung und ihren Willen hinein. Und knallte so hart gegen die Wand, dass ihr schwarz vor Augen wurde.
»Wo bleibst du?«, hörte Melindis Krötels Stimme zu ihren Füßen.
»Irgendwie geht es nicht«, sagte sie benommen.
»Ach so, ach ja«, sagte Krötel. »Du willst es bestimmt ganz doll, du willst da unbedingt durch, stimmt’s?«
»Klar will ich es ganz doll.«
»Tja, genau falsch. Du darfst es nicht wollen.«
»Hä, und wie soll das gehen?«
»Wie bitte, bitte!«
»Hä?«
»Das heißt nicht hä, sondern wie bitte, und wenn du da durch willst, dann darfst du es auf keinen Fall wollen.«
»Das hast du schon mal gesagt. Und ich weiß immer noch nicht, wie es geht.«
»Übungssache. Guck,so!« Mehrmals hüpfte die Unke durch den Schleier und wieder zurück. »Ganz einfach, siehst du«, triumphierte sie.
»Ich seh überhaupt nichts. Du hüpfst. Ich bin auch gehüpft wie verrückt. Da hab ich mir den Kopf gestoßen, das war alles.«
»Du darfst nicht denken. Mach deinen Kopf leer. Und dann geh. Oder meinetwegen hüpfe. Oder renne oder mach einen Hechtsprung.«
»Woher weißt du schon, was ein Hechtsprung ist.«
»Ich weiß mehr, als du glaubst. Und jetzt hör auf zu denken.«
Nicht zu denken war das Schwierigste, das Melindis je versucht hatte. Es war schwieriger, als sich tausend Strophen der Gedichte von Elisade von Berdulia zu merken. Es war schwieriger, als einem Stück Himbeercremetorte, das direkt vor einem auf einem Teller stand, zu widerstehen, und es war erheblich schwieriger, als einen dreißig Meter hohen Turm hinabzuklettern – und höchstwahrscheinlich auch schwieriger, als ihn wieder hinauf zu klettern. Vermutlich war es sogar schwieriger, als zu fliegen, aber dieser Beweis war für Melindis noch nicht erbracht.
»Ich kann das nicht. Vielleicht hilft ja ein bisschen Tarduss?«
Melindis öffnete ihren Grasbeutel und warf eine gehörige Prise goldenen Staub durch die Luft. Dann, solange das Geglitzer noch zu Boden schwebte, machte sie drei beherzte Schritte nach vorn. Und stieß gegen die Wand.
»Na ja, hätte ja sein können«, seufzte sie.
»Als die Sonnen sich überdeckten, als du so dastandest und die Augen geschlossen hattest: Was hast du da gedacht?«, fragte Krötel geduldig.
»Äh, nichts. Aber das war wegen dem Licht.«
»Wegen des Lichtes.«
»Meinetwegen.«
»Versuche, diesen Moment für dich zurückzuholen. Aber lass die Augen offen. Unbedingt.«
Melindis stellte sich die beiden einander überdeckenden Sonnen vor. Sie stellte sich das Licht vor und die Stimmung, die dabei entstand. Unwillkürlich schloss sie die Augen und atmete tief ein. Für einen winzigen Moment erhaschte sie den Hauch einer Ahnung, wie es gehen könnte.
»Augen auf!«
»Zum Kuckuck, jetzt ist es wieder weg!«
»Du hattest es schon? Probier’s noch mal! Aber nicht die Augen zumachen!«
Melindis riss die Augen auf und holte tief Luft. Erneut versuchte sie, sich in das Gefühl zurückzuversetzen, in das sie zuvor unabsichtlich geraten war. Sie war erschöpft von ihrer Kletterei und dem Sturz und der langen Suche auf der Wiese. Sie starrte die Wellenbewegung an und irgendwie hatte dieses sanfte Strömen auf einmal eine beruhigende Wirkung. Sie hörte auf zu starren, ihre Schultern entspannten sich, ihre Zunge löste sich vom Gaumen, ihr Unterkiefer sank nach unten, und ohne auch nur darüber nachzudenken machte sie drei Schritte vorwärts. Und dann noch einen. Und noch einen. Und noch einen, und wenn Krötel nicht laut »Halt, stopp, bleib doch mal stehen!« gerufen hätte, wäre sie wohl für alle Zeiten weitergegangen.
»Ich hab’s gewusst. Du bist ein Naturtalent. Ich habe ewig und drei Tage gebraucht, bis ich wieder zurück konnte«, sagte Krötel.
»Wie jetzt, bin ich durch?«
Krötel hopste schon munter durch das Gras in Richtung Wald.
»Warte mal, Krötel. Vielleicht ist es gefährlich in diesem Wald«, rief Melindis.
»Ich war drei Tage und drei Nächte hier. Bin kreuz und quer über die Wiese und in den Wald rein und wieder raus, wenn ich nicht gerade gegen diese Luftwellen gehüpft bin. Da war nichts Gefährliches. Ein paar Leefen. Ein paar harmlose andere Wesen und magere Fliegen. Sonst nichts Besonderes«, erwiderte Krötel. »Ach, doch: Die Waldmaden sind extrem fett.«
Melindis drehte sich einmal um die eigene Achse. Hier sah es aus wie die Fortsetzung des Silenreiches. Ein paar Abendvögel sangen ihr Lied, ein kleiner Wind ließ Blätter rauschen, und in der Luft lag der Duft von Heckenrosen und feuchtem Gras. Doch das alles beruhigte Melindis kein bisschen.
»Ich weiß nicht. Was, wenn wir jemandem begegnen?«
»Die werden dich gar nicht weiter beachten, wenn du dich ganz normal verhältst. Mich hat man auch nicht beachtet.«
»Na, toll, wer beachtet schon eine Kröte«, entfuhr es Melindis.
»Erstens bin ich eine Unke und zweitens beleidigt«, empörte sich Krötel und hüpfte, ohne sich noch einmal umzudrehen, davon.
Melindis zauderte. Furcht überflutete sie. Sie stand hier mutterseelenallein und barfuß auf einer fremden Wiese in einer fremden Welt und wünschte sich auf einmal nichts so sehr, wie zu Hause in ihrem Turmzimmer zu sitzen und tausend Strophen der Gedichte von Elisade von Berdulia auswendig zu lernen.