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Uson ist viel zu klein, redet nicht viel und weiß, dass er sich niemals in ein Mädchen verlieben wird. Er sehnt sich nach Trost und Zugehörigkeit, denn eine tödliche Seuche hat ihm alle genommen, die er geliebt hat. Als er die magische Pforte entdeckt, die in eine fremde Welt führt, weiß er nicht, wohin er sich wenden soll: Kann er in dieser unbekannten, verlockenden Fremde finden, wonach er sucht? Oder soll er sich auf den gefährlichen Weg zu seinen letzten Verwandten machen, den kriegerischen Wyk? Uson ahnt nicht, dass jeder Weg, den er einschlägt, zu jemandem führen wird, dessen Schicksal prophetisch mit dem seinen verbunden ist.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Karin Koch
Kraichtalstr. 7/1
75015 Bretten
instagram: @linda_beller_
Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de
Lektorat – Korrektorat: Susanne Rauchhaus – susannerauchhaus.com
Buchsatz: XS Werbeagentur – xs-werbeagentur.de
1. Auflage 2024
Veröffentlicht über tolino media
Ich heiße Uson und ich bin viel zu klein.
Ich weiß nicht, wann ich aufgehört habe zu wachsen. Es war jedenfalls zu früh. Es war so früh, dass mich alle, die mich nicht kennen, behandeln, als wäre ich ein törichter kleiner Junge. Zum Glück kennen mich alle in meinem Dorf, und Fremde kommen schon lange keine mehr. Sie machen einen großen Bogen um die immer kleiner werdende Siedlung auf der schmalen Hochebene. Diese Siedlung war immer meine Heimat.
Nur noch dieser Tag, dann werde ich sie verlassen.
Klein zu sein hat ein paar Vorteile. Zum Beispiel kann ich noch immer mit den Skiern auf Jagd gehen, die mir mein Vater gebaut hat, als er noch gesund war. Das ist lange her.
In der Nacht hat es noch einmal kräftig geschneit. Ich mag es, dass der frische, trockene Schnee wie eine Fontäne hochspritzt, wenn ich meine rasante Schussfahrt mit einem kurzen Bogen abstoppe. Das lasse ich aber jetzt lieber sein; ich würde sonst das Schneekarnickel aufschrecken, das einen Steinwurf entfernt an der einzigen Nahrungsquelle knabbert, die es im Winter finden kann. Es ist ein hübsches Tier, mit weißem, dichtem Fell, das da die Rinde der Bergkiefer abnagt. Fast tut es mir leid. Aber es darf mir nicht leidtun, denn ich brauche Vorrat für meine lange Reise die Berge hinauf.
Lautlos und langsam lasse ich mich an die ahnungslose Wackelnase herangleiten, während ich meine Fellhandschuhe unter den Gürtel schiebe. Ich lege die Skistöcke ab und nehme mein Lasso von der Schulter, halte es wurfbereit, bis ich mich unterhalb des Karnickels befinde. Dann lasse ich die Schlinge über meinem Kopf kreisen. Das arme Tier schreckt hoch, aber ich weiß, wohin es flüchten wird. Schneekarnickel flüchten immer hangabwärts. Es läuft also geradewegs auf mich und sein Schicksal zu und sein Schicksal ist es nun einmal, mich davor zu bewahren, in den Wykbergen an Auszehrung zu sterben.
Mein Vater hat so lange mit dem Lasso mit mir geübt, bis ich soweit war, mindestens jedes zweite Tier zu fangen. Es kommt vor allem auf die Art der Schlinge an und natürlich auf die Wurftechnik. Tagelang, wochenlang hat mein Vater mit mir an Attrappen trainiert. Er saß auf einem Hocker, denn er konnte schon nicht mehr stehen. Und er selbst hat auch nicht mehr immer getroffen. Dafür wurde ich immer besser, und am letzten Tag des Trainings, als mir fünf mal hintereinander die richtige Technik gelungen ist, hat er mich umarmt und so fest gedrückt wie nie mehr danach. Er hat so gut gerochen, damals, als er noch die Kraft hatte, mich zu umarmen.
Jetzt übe ich schon lange nicht mehr. In den letzten beiden Wintern war ich es, der für Fleisch auf dem Tisch sorgen musste.
Noch immer bin ich froh, dass die Tiere, die ich fange, nicht lange leiden. Sie blinzeln einmal erstaunt, wenn ich ihnen den tödlichen Schnitt an der Kehle zufüge, und dann sind sie schon tot. Während ihr gut genährter Körper mein Leben retten wird, ist ihre Seele innerhalb eines Wimpernschlages in den Karnickelhimmel gesaust, wo immer Frühling ist und die Rinde der Bergkiefern saftig und aromatisch.
Ich befestige das leblose Tier an einem kurzen Strick und hänge ihn über meine Schulter. Dort baumelt schon ein Winterrebhuhn und eine Kaltaube. Sie zu rupfen und auszunehmen, wird das Letzte sein, das ich in dem Haus, in dem ich mit meinen Eltern und meinem Bruder Nurio gelebt habe, tun werde.
Ich bin früh losgegangen und durch den Wald fast bis zum Gipfel des Wargels hinauf gestiegen. Er ist kein sehr hoher Berg; das Dorf liegt im Randgebirge. Die richtig hohen Gipfel sind viel weiter weg. Dort will ich hin.
Zwischen den dicht stehenden Tannen liegt der Schnee nicht so hoch; sie wachsen bis weit den Berg hinauf, so bin ich gut vorangekommen. Das Huhn habe ich als Erstes erwischt, gleich danach die Kaltaube. Für Vögel habe ich ein zweites Lasso. Sein Seil ist dünner, dafür ist es länger und etwas schneller. Das muss es sein, denn die Vögel sind auch im Winter schnell.
Jetzt hole ich die Stöcke und lasse mich ein Stück den Berg hinabgleiten. Der Schnee knirscht unter meinen Skiern.
Wenn ich es wage, die vor mir liegende, freie Fläche zu überqueren, kann ich es ohne Anhalten zurück zum Dorf schaffen. Mein Vater hätte es verboten. Aber mein Vater ist tot. Er ist vor sieben Tagen gestorben.
Mit ein paar kräftigen Stößen sause ich mitten ins weißverschneite Gelände hinein. Der kalte Wind trägt den Duft des Wintergebirges zu mir. Es riecht nach Nadelwäldern und ein wenig nach dem Rauch, der aus den wenigen Kaminen des Dorfes steigt.
Ein anhaltendes, lauter werdendes Donnern schreckt mich auf. Das muss eine Lawine sein. Sie hört sich an, als käme sie direkt auf mich zu. Ich muss so schnell wie möglich hier weg!
Es gibt keine andere Möglichkeit, als seitlich auszuweichen, aber als ich meine Stöcke kräftig in den Schnee stoße, gibt es einen lauten Knall direkt unter meinen Skiern, und der pulvrige Schnee fängt an zu rutschen. Verdammt, ich habe ein Schneebrett ausgelöst!
Das Donnern hinter mir wird stärker. Längst habe ich die Kontrolle über meine Richtung verloren und rase direkt auf die Zakaskluft zu.
Nur nicht da hinein!
Da überschlage ich mich und schliddere irgendwohin und wirble durch die Luft und denke, jetzt ist es vorbei, denn vor mir tauchen plötzlich die beiden eng stehenden Felsen auf, die den Eingang zur Kluft markieren, und zwischen den beiden kann ich doch unmöglich durchpassen!
Aber ich passe durch und mit mir eine Menge Schnee, der mich einfach mitreißt.
Und dann knirscht es, und ich weiß nicht, ob ein Ski bricht oder ein Knochen.
Ich bin zum Stillstand gekommen, aber ich habe keine Ahnung, wo oben und unten ist, weil überall Schnee ist und mein Gleichgewichtssinn nicht mehr funktioniert. Das Donnern der Lawine hört sich jetzt an wie hinter einer Mauer. Erst als es verklingt, merke ich, wie tief ich in den Schneemassen stecke.
Es fühlt sich an, als würde ich auf dem Rücken liegen, aber es könnte genauso gut auf dem Bauch sein. Ich schiebe Schnee vor meinem Gesicht weg, immerhin kann ich die Arme bewegen. Ein Sichtfenster entsteht und tatsächlich: Ich schaue in blauen Himmel. Ich muss ordentlich strampeln, lange buddeln und mich umherwälzen, bis ich wieder auf den Beinen bin und festen Boden spüre.
Hastig grabe ich nach den Lassos. Sie sind noch da, genau wie meine Beute. Ein Ski ist der Länge nach gespalten. Vielleicht kann ich ihn noch nutzen, wenn ich ein Stück Leder darum binde. Ich löse die Verschnürung meines Wollhemdes und wickle sie um die beiden Hälften, erst da merke ich, dass ich meine Handschuhe verloren habe. Ich grabe weiter und finde wenigstens einen wieder, wer weiß, wo der andere abgeblieben ist.
Die Frage, ob ich es wagen kann, einfach auf der zum Stillstand gekommenen Lawine weiterzufahren erübrigt sich. Der Spalt zwischen den Felsen ist bis weit über mir mit verdichtetem Schnee verstopft. Er sitzt so fest, dass ich nicht einmal eine kleine Mulde hinein scharren kann. Ich bin in die Zakaskluft geraten und mein Rückweg ist versperrt.
»Du gehst nicht in die Zakaskluft!«, ist einer der Sätze, die die Kinder in unserem Dorf wohl am häufigsten zu hören bekommen haben, als sie noch umhergestreunt sind. Und natürlich bin ich trotzdem mit Nurio hier gewesen. Mehr als einmal. Wir standen zwischen den Felsen, die den Eingang zur Kluft markieren, und hörten, wie sich das Echo von niederprasselndem Geröll vervielfachte. Wir lauschten dem tiefen Poltern der Felsbrocken, die sich von Zeit zu Zeit lösten und in die Schlucht stürzten. Wir stellten uns Gowum vor, den riesigen Berggeist, wie er breitbeinig über der Schlucht steht, Steine aus den Bergen reißt und in die Kluft wirft. Jetzt ist Nurio tot und es war nicht Gowum, der ihn mit einem Felsbrocken getötet hat, denn Gowum gibt es nicht. Aber die Krankheit gibt es, und Nurio war einer der Ersten, der an ihr gestorben ist. Er war mein einziger, mein großer Bruder.
Ich binde das Karnickel fest, das Rebhuhn und die Taube. Ich überprüfe meine Lassos. Auf meinen Skiern schiebe ich mich weiter in die Kluft hinein und hoffe, dass die Erschütterung der Lawine bereits alles gelöst hat, was es heute von den Bergwänden zu lösen gab.
Von ganz weit oben höre ich ein Klackern. Ich blicke nach oben und – klack-klack-klack – hüpft ein einzelner, schwarzer, vielleicht faustgroßer Stein in immer größer werdenden Sprüngen auf mich zu. Da ist kein Busch, kein Baum, nichts, das ihn aufhalten könnte. Als er direkt vor meinen Füßen auftrifft und im Schnee versinkt, weiß ich nicht, ob ich das als Warnung oder Beruhigung ansehen soll. Aber ich habe keine andere Wahl, als vorwärts zu stapfen und so stapfe ich vorwärts, Schritt für Schritt durch die Zakaskluft und immer auf der Hut vor allem, was da auf mich drauffallen könnte.
Und schon höre ich wieder das Prasseln, das einen Steinschlag ankündigt. Ich sehe nicht nach oben. Ich höre, dass das Geröll von links kommt, gehe in die Hocke und drücke meinen Körper gegen die linke Seite der Kluft, schütze meinen Kopf mit den Armen. Die kleinen Steinchen springen über mich hinweg und prallen auf der gegenüberliegenden Seite auf. Ein paar davon treffen meinen Rücken und die ungeschützte Hand. Es tut weh, aber sie sind nicht groß genug für ernsthafte Verletzungen. Jetzt traue ich mich, nach oben zu schauen.
Es muss die Hauptsonne sein, die da über den Rand der Kluft schaut und ein paar Strahlen zu mir herunterschickt. Ich nehme es als Ermutigung.
Mit meinen Skiern komme ich zuerst gut voran, aber bald sinke ich so tief in frischen Pulverschnee, dass jeder Schritt eine Plage ist. Trotz der Kälte gerate ich ins Schwitzen.
Solange meine Mutter lebte, machte sie sich große Sorgen, wenn ich nicht spätestens zur Sonnendopplung zurück war. Egal, ob ich draußen spielte oder jagte: Wenn sich die beiden Sonnen am Abend überlagerten, musste ich daheim sein.
Gespielt habe ich schon lange mehr, dafür umso mehr gejagt, denn unsere letzten beiden Hühner hatte meine Mutter ja schon geschlachtet, und die Ziege war vor Hunger gestorben.
Oft brauchte es den ganzen Tag, bis ich etwas fand, aber rechtzeitig Zuhause war ich immer.
Heute wird es sicher schon dunkel sein, bis ich das leere Haus erreiche, denn ich habe vielleicht die Hälfte der Kluft geschafft und bin so außer Atem, dass ich stehenbleiben muss. Dass ich sehr lange nicht mehr richtig gegessen habe, merke ich in solch anstrengenden Momenten ganz besonders. Wenn es etwas gab, schob ich meinen Eltern immer heimlich die größten Brocken zu.
Es hat nicht geholfen, denn gestern ist auch meine Mutter gestorben.
Ich kämpfe mich weiter. Erst jetzt bemerke ich, dass die Stöcke fehlen. Mit ihnen könnte ich mich durch die leicht abfallende Kluft besser vorwärts bewegen. Immer öfter bleibe ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen.
Manchmal suche ich nach Anzeichen der Krankheit an mir. Wenn ich schnell außer Atem komme, zum Beispiel.
Man sagt, dass keiner die Krankheit zweimal bekommen kann, aber wer weiß das schon sicher? Ich hatte sie schon und ich habe sie überlebt. Alle, die ich kenne, sind daran gestorben, und deshalb bin ich inzwischen der Einzige im Dorf, der nicht krank ist, aber ich träume jede Nacht, dass ich kurzatmig bin, denn damit fängt immer alles an. Zuerst die Kurzatmigkeit und dann die Ohrenschmerzen und der Eiter in den Augen. Dann verschwinden die Schmerzen, und das Fieber und die roten, geschwollenen Wangen kommen und gehen nicht mehr weg, genau wie der Eiter. Aber man fühlt sich wieder gut, trotz Fieber. Fast normal fühlt man sich, bis auf einmal die Schwäche kommt. Ganz langsam wird man schwächer, man atmet wieder kürzer und muss sich dauernd hinsetzen. Das geht sehr lange so, bis man fast nur noch liegen kann.
Meine Eltern konnten in den letzten Tagen fast nur noch liegen. Natürlich habe ich gehofft, dass das genauso aufhört, wie es bei mir aufgehört hat, und es ihnen wieder besser geht, wie es mir wieder besser ging.
Ich gehe weiter. Stapfe durch den Schnee und weiche dem Geröll aus, das sich von Zeit zu Zeit in den Schnee stürzt. Erschöpft erreiche ich das Ende der Kluft. Doch bevor sie in die Steilwand mündet, verengt sie sich wieder. Ich muss mich seitlich stellen, um durch die Spalte zu passen.
Der kleine Absatz, den ich als nächstes ansteuere, hängt wie ein Balkon über dem Steilhang. Zwei uralte Bäume stehen dort einander gegenüber. Wie schweigsame Wyk, die sich schon lange alles erzählt haben und nur noch den Geräuschen der Berge lauschen, krallen sie sich mit müden Wurzeln in die Erde. In ihren kahlen Ästen nisten nicht einmal Vögel. Ich kenne niemanden, der jemals zu ihnen hinaufgestiegen wäre oder sich durch die Zakaskluft zu ihnen herangewagt hätte.
Wenn es mir gelingt, meine Lassos irgendwo auf diesem Absatz sicher zu befestigen, kann ich mich vielleicht abseilen. Es ist gefährlich, aber es ist meine einzige Chance, wieder in wegsames Gelände zu kommen.
Vorsichtig schiebe ich mich auf einem nicht mehr als fußbreiten Sims entlang. Unter mir droht der Steilhang, über mir nähern sich die beiden Sonnen einander an.
Mir ist, als würden die beiden Bäume mich beobachten und sich über mich wundern, als ich schließlich ratlos vor ihnen stehe und nicht weiß, wie ich bloß den Abstieg hinkriegen soll. Ich nehme die beiden Lassos ab und verliere den letzten Handschuh, als ich ihn mir unter den Gürtel stecken will. Er stürzt in die Tiefe, überschlägt sich ein paarmal und landet weich im Schnee.
Ein kleiner, schwarzer Punkt in einer weißen, weißen Fläche tief unter mir. Wäre ich so leicht wie er, würde ich mich ihm hinterherstürzen. Stattdessen werde ich mich abseilen müssen.
Als ich den Blick wieder hebe, bemerke ich, wie weit ich von hier aus schauen kann. Das Gelände flacht allmählich ab und geht dann unvermittelt in die Wüste über. Vermutlich gibt es keinen zweiten Ort, von dem aus man bis in die Wüste sehen kann, kein Tal, das sich so weit öffnet.
Mir wird auf einmal schwindelig, als ich die beiden alten Bäume umrunde. Sie stehen ungefähr zehn Schritte auseinander, Erwachsenen-Schritte, keine kleinen Uson-Schritte.
Ihre auch im Sommer fast blattlosen Kronen berühren sich und bilden ein Tor. Ich ziehe die Skier aus und gehe mit dem ersten Lasso um den Baum, schiebe das eine Ende durch die Schlaufe. Hoffentlich reicht es bis nach unten. Dann binde ich mit klammen Fingern das zweite, dünnere Lasso an das erste.
Es war Nurio, der mir die festen, zuverlässigen Knoten gezeigt hat. Er hat mir so vieles gezeigt.
Nacheinander werfe ich meine Beute hinab. Das Karnickel versinkt im Schnee. Die beiden Vögel sind so leicht, dass sie neben dem Handschuh liegenbleiben. Vorsichtig lasse ich die Lassos den Steilhang hinunter. Er ist so steil, dass an manchen Stellen kein Schnee zu liegen kam. Das Seil landet auf einem kleinen, zwei Fuß breiten Absatz. Es windet sich wie eine Schlange, als ich heftig daran rüttle, aber es will sich einfach nicht weiter hinab senken. Ich habe keine Ahnung, wie weit es noch bis ganz unten ist, und ob es überhaupt bis dahin reichen wird.
Meine Skier lasse ich nacheinander den Hang hinuntersausen. Es bekommt ihnen nicht gut. Der mit dem Riss zersplittert vollends, als er im Fallen hart gegen einen kahlen Felsen schlägt. Der andere kommt heil unten an. Aber er bleibt nicht stehen. Unbeirrt und unaufhaltsam setzt er seinen Weg fort, bis ich ihn nicht mehr sehe. Würde ich hier bleiben, würde ich im Frühling nach ihm suchen. Aber ich bleibe nicht.
Wenigstens der Baumstamm, um den ich mein Lasso gewunden habe, strahlt so etwas wie Verlässlichkeit aus. Mit meinen blaugefrorenen Händen berühre ich ihn. Was ich spüre, scheint kein Holz mehr zu sein. Wie versteinert fühlt sich seine rissige, an manchen Stellen halb abgeplatzte Rinde an. Dieser Baum und sein schweigsamer Nachbar stehen schon so lange hier. Schon Jahrhunderte stehen sie da, trotzen den Jahreszeiten und dem Wetter. Störrisch und knorrig lassen sie die Zeit an sich nagen, als gäbe es keine Zeit mehr für sie, als könne sie ihnen nichts anhaben.
Auf einmal bin ich beinahe froh, dass ich hier sein darf, dass dieses greise, fast versteinerte Wesen sich von mir berühren lässt. Und ich mich von ihm.
Ich will nach dem Lasso greifen und es um meinen Bauch wickeln, als sich das Licht verändert. Irgendwo hinter den schwarzen Gipfeln haben sich die Umrisse der beiden Sonnen berührt und schieben sich jetzt langsam übereinander.
Nelly, in die Nurio verknallt war, behauptete, die Sonnendopplung sei etwas Magisches. Sie selbst spürte dann immer etwas, aber wenn ich nachfragte, was es ist, fand sie keine Worte dafür. Nurio hat sie immer völlig verliebt angeglotzt, wenn sie von diesem magischen Moment gesprochen hat. Ich fand das ziemlich peinlich. Und das nicht nur, weil ich schon damals wusste, dass ich mich niemals in ein Mädchen verlieben werde.
Ich glaube, dass Nelly sich entweder vor Nurio wichtigmachen wollte oder sich da einfach etwas eingebildet hat.
Das, was sich da jetzt zwischen den beiden Bäumen ereignet, ist bestimmt auch nur eine Einbildung. Ich lasse das Lasso wieder los und stelle mich, drei Schritte von den Bäumen entfernt, genau in die Mitte zwischen ihre beiden Stämme. So kann ich besser sehen, was dort vor sich geht. Oder was ich mir einbilde.
Es sieht aus, als würden schlangenartige, sich windende Luftschlieren an den Ästen hängen. Ihnen zuzusehen lässt mich taumeln.
Ich fange mich wieder, blinzle ein paarmal, aber sie gehen nicht weg, und dahinter sehe ich so etwas wie eine dunkle Höhle. Ein kreisrundes Loch befindet sich weit oben in dieser Höhle. Es gibt den Blick auf einen blauen Himmel frei, vielleicht schwebt da gerade eine kleine Wolke vorbei.
Ich taumle. Das kann nicht sein.
Vielleicht bin ich ja auch schon tot. In Wirklichkeit bin ich vielleicht so tief in die Lawine geraten, dass auch ich gestorben bin, und wenn ich jetzt durch die Schlieren gehe, bin ich im Jenseits.
Ich muss nur noch durch das kreisrunde Loch da oben in der Höhle klettern und dann wartet dahinter Nurio auf mich und meine Eltern, und wir alle sind wieder vereint.
Ich spüre, wie mir Tränen die Wangen hinunter laufen. Ich lecke die salzigen Tropfen mit der Zunge auf. Es sind die ersten Tränen, seit meine Eltern gestorben sind. Rasch schlucke ich sie hinunter, denn ich habe mir vorgenommen, nicht zu weinen.
Als Nurio gestorben ist, habe ich tagelang geweint und fast nicht mehr in die Welt zurück gefunden. Meine Mutter hat mich die ganze Zeit gehalten, und mein Vater hat mir so lange vorgesungen, bis ich mich wieder in mein Leben einsortiert hatte.
Jetzt ist niemand mehr da, der mir Halt gibt. Ich muss mich alleine aufrecht halten, darf nicht weinen, weil ich sonst wieder aus der Welt falle, und ich weiß nicht, wie lange ich das noch kann.
Wie hält man sich selbst am Leben ohne jemanden, den man lieben darf?
Aber jetzt werde ich durch diesen Schleier gehen. Ich werde alle wiederfinden, die ich verloren habe, alle, die ich so sehr liebe und vermisse. Ich mache ein paar Schritte vorwärts, zwischen den Baumstämmen hindurch, hinein in die Höhle.
Den Tod habe ich mir immer anders vorgestellt. Mehr wie ein Schmerz, durch den man hindurchmuss, und dann so ein Schwebezustand, in dem die Zeit verschwindet. Auf keinen Fall so, wie die kugelrunde, schwarze Höhle, in der ich jetzt stehe und die Wand betaste. Sie ist so fest. Und gleichzeitig so glatt, als wäre sie poliert.
Über mir strahlt dieser blauer Himmel durch die kreisrunde Öffnung. Ich nehme Anlauf und renne die nach außen gewölbte Schräge hinauf. Mit beiden Händen erwische ich die Kante und ziehe mich nach oben. Ich schwinge ein Bein über den Rand und blicke in einen Abgrund. Er ist noch tiefer als der Steilhang, dem ich gerade entkommen bin, und ich habe kein Lasso.
Ich sitze rittlings auf der Kante, ein Bein ragt in die Höhle hinein, das andere baumelt über der Tiefe, und gucke in die Ferne. Bis zum Horizont breitet sich ein dichter Wald aus. Es riecht seltsam. Es riecht nach lauter Dingen, die ich nicht kenne. Ich kann nicht einmal sagen, ob es gute oder üble Gerüche sind. Sie sind hauptsächlich fremd. Außerdem ist mir heiß. Die erbarmungslose Hitze der Wüste kenne ich, aber die drückende Schwüle, die mich jetzt umgibt, ist kaum auszuhalten. Ich frage mich, ob das wirklich das Jenseits sein kann.
Bin ich etwa doch noch am Leben? Und wenn ja, was passiert da gerade?
Jäh schwinge ich mein Bein in die Höhle zurück. Wenn ich noch am Leben bin, sollte ich mich nicht allein in ein völlig fremdes Gebiet wagen. Was würde ich dort finden? Ist es überhaupt von dieser Welt? Und wenn nicht, was für eine Welt ist das?
Der Rand der Welt liegt ja eigentlich weit hinter der Wüste, und was sich dahinter befindet, weiß niemand, denn wer sich ihm nähert, wird von einer unerklärlichen Übelkeit befallen, die ihn dazu zwingt, sich für immer abzuwenden.
Was ist es dann, was ich hier sehe?
Eine ganze Weile bleibe ich auf der scharfen Kante der Höhle sitzen und überlege. Ich wollte zu den Bergwyk hinaufwandern. In eine ungewisse Zukunft bei einem unbekannten Teil meiner fernen Verwandtschaft. Es ist gefährlich, im Winter im Hochgebirge unterwegs zu sein.
Es ist gefährlich, sich in eine fremde Welt zu begeben.
Diese fremde Welt liegt jetzt direkt vor mir.
Das Wykgebirge ist weit entfernt.
Ich drehe mich wieder dem Abgrund zu und lasse beide Beine hinab baumeln.
An der Steilwand befinden sich genügend kleine Absätze und Kerben. Ich denke, ich kann es wagen.
Der Weg durch die Zakaskluft ist gefährlicher als dieser fast senkrechte Abstieg. Man könnte denken, dass die Einbuchtungen, in denen meine Füße Halt finden, in den Fels gehauen wurden, und nach etwa zwei Dritteln der Strecke zeigt sich ein Pfad. Er windet sich in engen Kurven bis zum Waldboden.
Ich bin zu warm angezogen. Obwohl auch hier offenbar schon der Abend hereinbricht, hat sich die Luft noch kein bisschen abgekühlt. Meine Jacke stecke ich in den Rückenbeutel, aber in den Fellschuhen schwitze ich immer noch. Der Winter im Vorgebirge ist kurz, und die Zeit, in der ich mich barfuß durch das Gebirge bewege, lang. Meine Fußsohlen sind das ganze Jahr über von einer dicken Hornhaut überzogen. Also ziehe ich auch die Schuhe aus und binde sie außen an den Beutel. Es ist schön, den weichen Boden unter meinen Füßen zu spüren.
Ich folge dem seltsamen, modrigen Geruch und präge mir leise singend den Weg ein. Nicht lange und ich erreiche ein Gebiet, dessen Untergrund feucht und schwammig ist. Es riecht unverkennbar nach Ausscheidungen. Ich frage mich, was die unbekannten Wesen in dieser Gegend essen müssen, damit ihre Kacke dermaßen grässlich stinkt.
Wenn auf der anderen Seite der Höhle im Frühjahr der Schnee geschmolzen ist, wird die Erde matschig, aber darunter liegt immer noch ihr felsiges Fundament. Hier fühlt es sich an, als würde der Matsch bis sehr weit in die Tiefe reichen, und es gibt Bereiche, in denen ich Angst habe, in diesem übel riechenden Schmodder zu versinken. Ich suche festeren Untergrund, setze mich auf einen moosbewachsenen, umgestürzten Baumstamm und nehme einen Schluck aus dem Trinkbeutel, der, gut befestigt am Gürtel, meinen Sturz überstanden hat.
Hier stehen die Bäume in großem Abstand zueinander. Ihre Rinde ist von tiefen, senkrechten Kerben durchzogen und es sind fast ausschließlich Laubbäume. Auf der feuchten Erde wachsen vereinzelt wunderschöne, violette Blumen. Direkt neben meinem Sitzplatz steht ein besonders prachtvolles Exemplar. Seine dunkelgrünen Blätter werden am Stiel entlang nach oben hin immer kleiner. Sie legen sich wie ein Kranz um die drei herrlichen Blüten, die in einem perfekten Dreieck zueinander stehen. Die sich überlappenden Blütenblätter sehen aus wie lang gezogene Herzen. Ihr leuchtendes Violett wird zur Mitte hin heller. Lange, gelbe Staubblätter neigen sich dem Griffel in der Mitte zu. Auf ihm scheint so etwas wie eine Krone zu sitzen; sie leuchtet und glitzert in einem durchscheinenden Rosa. Noch nie habe ich eine schönere Blume gesehen.
Da höre ich ein seltsames Geräusch. Rasch werfe ich mich hinter den Baumstamm. Ein Flirren und Surren kommt näher. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf und sehe eine große, dunkle Gestalt tief zwischen den Bäumen fliegen. Es ist das größte Flugwesen, das ich je gesehen habe. Nur ein Dorchon ist größer. Viel größer, natürlich. Und je näher diese Gestalt mir kommt, desto deutlicher ist zu sehen, dass es eine alte Frau ist, die da wie eine Libelle umherflirrt. Sie trägt ein Gewand in einer Farbe, die ich nicht kenne. Es ist ein sehr dunkles Violett, manchmal schimmert es fast schwarz.
Ich ziehe mich wieder hinter den Baumstamm zurück und kneife mich sehr fest in den Handrücken. Es tut verdammt weh. Ich muss also noch am Leben sein, in einer sehr, sehr fremden Welt, denn da fliegt wirklich eine alte Frau im Wald herum. Ich schau nochmal nach.
Mit einem langen Pinsel fliegt sie von Blume zu Blume. Sie wischt den Blütenstaub von den schönen, violetten Blüten und sammelt ihn in einem kleinen Holzgefäß. Wieder hinter dem Baumstamm versteckt, höre ich, wie sie immer näher kommt und drücke mich tief in das feuchte Laub am Boden. Atme ich zu laut?
Ein Geräusch, das nach Flattern klingt, sagt mir, dass sie jetzt direkt über mir in der Luft steht. Ich schaue nicht nach, aber ich höre, wie sie leise auflacht.
»Na, komm schon, ich sehe dich doch«, sagt die Frau mit einer alten, gütigen Stimme. Da drehe ich mich endlich um und setze mich auf. Sie fliegt zu mir herunter und stellt sich vor mich hin. Ihre silbernen Schuhe sehen ungeheuer elegant aus. Wie für ein Fest. Bestimmt hatte sie eigentlich nicht vor, mit ihnen heute den Waldboden zu berühren.
»Wen haben wir denn da?«, fragt sie mit amüsierter Neugierde.
Mir hat es die Sprache verschlagen. Kein Wort kriege ich raus.
Nicht einmal ansehen kann ich sie. Beschämt schlage ich die Augen nieder. Dabei gibt es doch gar nichts, wofür ich mich schämen müsste.
»Dreh dich mal um«, bittet sie und mir fällt nichts Besseres ein, als ihr tatsächlich den Rücken zuzuwenden.
»Ein dünnes Dingelchen mit unglaublich grünen Augen. Oder sind sie blau? Keine Flügel. Und du trägst die verbotenen Farben. Woher kommst du?«
Es wird langsam Zeit, dass ich etwas sage. Aber auf ihre Frage fällt mir keine rechte Antwort ein. Woher komme ich denn? Aber vor allem: Wo bin ich hier?
»Was sind die verbotenen Farben?«, frage ich die alte Frau, um irgendetwas von mir zu geben.
»Du weißt es wirklich nicht«, stellt sie erstaunt fest. Sie setzt ihren Rückenbeutel ab. Er hat praktische Träger, die vorn mit einem Knopf geschlossen sind, damit man sie um die Flügelansätze befestigen kann.
Sorgfältig verstaut sie Pinsel und Holzkästchen und holt ein Bündel aus lila Tuch heraus. Als sie ein knusprig braunes Brötchen auswickelt, kann ich nicht anders, als es sehnsüchtig anzustarren.
Sie bricht ein großes Stück ab und hält es mir hin. Der Duft nach im Fett gebackenem Sauerteig und Kräutern lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Nimm. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen«, sagt die Frau. Und endlich erlaube ich mir, ihre Gabe anzunehmen.
Ich versuche, nicht gierig zu wirken, als ich hineinbeiße, aber ich glaube, ich verdrehe die Augen vor Genuss, während ich so langsam wie möglich kaue. Also kneife ich die Augen zu und labe mich an einer Mahlzeit, wie ich sie nie zuvor geschmeckt habe. Die fremden Kräuter, das feinste, reinste Mehl und das nach Sommer duftende Fett passen einfach wunderbar zusammen. Meine Mutter war die beste Köchin im Dorf, aber so etwas hat sie nicht hingekriegt, denn solche Zutaten standen ihr nicht zur Verfügung.
Vielleicht bin ich ja doch im Jenseits. Die alte Frau ist ein Jenseitswesen und wird mich gleich zu Nurio führen, zu meinem großen Bruder und zu Vater und Mutter.
Ich höre, wie sie wieder leise lacht, öffne die Augen und sehe sie unsicher an.
»Du bist aus Versehen durch eine dieser neuen Lücken im Rand der Welt gekommen, oder?«, fragt sie.
»Der Rand der Welt liegt weit hinterm Meer«, sage ich.
»Der Rand der Welt liegt gleich um die Ecke«, sagt die Frau und lacht. »Woher bist du dann gekommen?«
»Ich bin durch eine Höhle gekommen«, sage ich.
»Durch eine Höhle«, wiederholt sie und sieht mich forschend an. »Weißt du denn, wo du hier bist?«
»Nicht wirklich«, antworte ich. Ich habe das beste Brötchen der Welt gegessen und hätte gerne mehr davon, egal woher es kommt. Irgendwie bemerkt das die alte Frau und gibt mir beiläufig die andere Hälfte. Ich stecke sie mitsamt dem Tuch in meine Hosentasche.
»Zeig mir die Höhle. Auf dem Weg erzähle ich dir, wo wir hier sind.«
Ich zögere. Warum habe ich nur von der Höhle erzählt? Etwas in mir weiß, dass es verkehrt ist, ihr den Weg zu zeigen. Sie bemerkt mein Zaudern und holt in aller Ruhe einen hübschen Stab aus Lindenholz aus einer Tasche in den Falten ihres Rockes. Der Stab ist sorgfältig geölt und an seiner Spitze befindet sich eine Kappe aus einem hornähnlichen Material. Es könnte auch Knochen sein. Sie richtet den Stab wortlos auf mich; ihre zuvor liebenswürdige Miene verhärtet sich.
Ich will aufspringen, davonlaufen, aber sie hält mich mit ihrem Stab davon ab. Sie berührt mich nicht einmal und zwingt mich dennoch, aufzustehen und mich auf den Weg zu machen. Alles in mir sträubt sich, ich wehre mich so sehr, dass mir der Schweiß in Strömen den Rücken hinunterläuft. Und doch setze ich einen Fuß vor den anderen, bis wir wieder im dichten Wald sind. Die alte Frau fliegt jetzt hinter mir, ich höre das Schwirren ihrer Flügel. Ich kann mich nicht einmal umdrehen und sie böse anschauen.
Tränen der Verzweiflung laufen mir die Wangen hinunter, als ich sie auf den engen, gewundenen Pfad an der Felswand führe. Ich fühle mich, als hätte jemand in mein Inneres gegriffen und alles aus mir herausgeholt, was meinen Willen nährt. Da ist nur noch mein nutzloser Körper, und dieser Körper tut, was der Wille der Frau ist; er wurde ausgeleert und mit ihren Absichten gefüllt.
Auf einmal bin ich wütend, so wütend wie nie zuvor in meinem Leben. Mir wurde alles genommen. Mit meiner Mutter wurde mir die letzte Person genommen, die ich lieben konnte. Und jetzt ist mir mein Leib und mein Geist genommen.
Aber meine Wut nützt mir gar nichts. Als wäre ich gestorben, klettert etwas, das einmal ich war, die Steilwand hinauf, steigt durch das kreisrunde Loch, rutscht die Schräge hinunter und geht durch die Schlieren.
Ich weiß nicht, ob die fliegende Frau mir gefolgt ist.
Jetzt stehe ich zwischen den beiden alten Bäumen und mache einen Schritt vorwärts.
Als wäre ich an Schnüren aufgehängt gewesen, als hätte diese Schnüre jemand abgeschnitten, sacke ich in mich zusammen.
Wie ein Häufchen weggeworfener Lumpen liege ich da und spüre, wie sich mein Körper allmählich und endlich wieder mit mir selbst füllt.
Keine Ahnung, warum ich jetzt in meine Hosentasche greife, das lila Tuch heraushole und das Brötchen auswickle. Ich drücke meine Nase in sein weiches Inneres und sauge den unfassbar köstlichen Duft ein. Da bin ich wieder ganz in meinen Körper zurückgekehrt.
Während ich in das Brötchen beiße, stehe ich auf und drehe mich um.
Da steht die alte, dunkel gekleidete Frau hinter den Luftschlieren. Sie kann nicht hindurchgehen. Mit ausgestreckten Armen drückt sie wie gegen eine durchsichtige Wand. Sie holt eine glitzernde Substanz aus einem Grasbeutel, der an ihrem Gürtel hängt, und wirft sie gegen die Schlieren. Es nützt nichts. Sie hebt ihren Stab und zeichnet eine komplizierte Schleife in die Luft. Auch diesmal klappt es nicht. Mit Genugtuung beobachte ich ihre vielen vergeblichen Versuche, auf meine Seite zu kommen.
Es ist schon fast dunkel, es wird Zeit, zu gehen. Falls die Frau es irgendwann doch noch schafft, will ich nicht dabei sein. Sie bemerkt, dass ich aufbreche. Mit einem um Verzeihung bittenden Gesichtsausdruck hebt sie die Handflächen nach oben.
»Es tut mir leid«, lese ich von ihren Lippen ab.
Keine Ahnung, was genau ihr leidtut. Dass sie den Durchgang nicht schafft, oder dass sie mich gezwungen hat, etwas zu tun, das ich nicht wollte, oder dass sie mir nun doch nicht erzählt hat, wo ich war? Es ist egal. Ich lege das Lasso, das um den Baumstamm geschlungen ist, um meinen Leib und seile mich ab.
Keuchend und schwitzend hangle ich mich den Steilhang hinunter. Ich greife in eine Vertiefung im Gestein, ein Stück Fels bricht ab, ich verliere den Halt, hole mir blutige Schrammen, als ich nach unten sause und nach allem fasse, was meinen Sturz aufzuhalten verspricht. Das Seil wird meinen Sturz aufhalten, aber der ungebremste Ruck am Ende kann mir die Rippen brechen.
Endlich kriege ich etwas zu fassen, ein zähes, Gewächs, das seine Wurzeln in Steinrisse geschoben hat und sich jetzt von mir umklammern lässt. Mein linker Fuß findet eine Einbuchtung.
Als ich nach unten schaue, sehe ich, dass der sichere Boden noch immer mindestens eine Baumhöhe entfernt ist. Aber ich kann mich einen Moment sammeln und mir ins Bewusstsein rufen, dass immer nur der nächste Schritt zählt, und dann der nächste und der nächste.
Gewissenhaft suche ich nach Halt für meine Füße. Umsichtig lasse ich das Seil durch meine Hände gleiten. Als es zu Ende ist, löse ich den Knoten und lasse mich einfach in den tiefen Schnee fallen. Erstaunlich weich lande ich genau neben meinem Handschuh.
Sorgfältig hänge ich mir meine Beute um und ziehe den Handschuh an. Ich sehe nicht zurück, als ich mich auf den langen Weg in die kleine Siedlung im Randgebirge mache. Es sieht ganz danach aus, als wäre ich tatsächlich noch am Leben.
Wäre es nicht eine sternklare Nacht, hätte ich vielleicht nicht zurück gefunden. Weiße Rauchsäulen steigen aus den Kaminen der wenigen noch bewohnten Häuser. Gewohnheitsmäßig stampfe ich ein paarmal mit den Füßen auf, um den Schnee von den Schuhen abzuschütteln, bevor ich in das Gebäude eintrete, das einmal mein Zuhause war. Nun ist es für mich nur noch dieses leere Haus, in dem ich die Nacht alleine verbringen werde.
Würde sie noch leben, hätte meine Mutter die Ofentür offen gelassen. Das Feuer, das darin brennen würde, wärmte nicht nur die Stube, es erhellte sie auch ein wenig.
»Ich habe so gewartet«, hätte meine Mutter gesagt. Sie wäre auf dem einzigen Sessel gesessen und hätte ihre dünnen Hände geknetet.
»Tut mir leid«, hätte ich erwidert und die drei erbeuteten Tiere vor sie hingelegt.
Jetzt ist es dunkel in der Stube und es dauert ewig, bis ich erst das Holz im Herd mit den Feuersteinen und dann die Talglampe zum Brennen gebracht habe.
Im Schein der Lampe und ein paar alten Leuchthölzern rupfe ich die Vögel und weide das Karnickel aus. Ich gebe Salz und ein paar Kräuter in einen Topf mit Wasser und lege die Kaltaube dazu. Das Brötchen der alten Frau hinter der Höhle war köstlich. Die Suppe wird nicht schmecken, aber sie wird mich für kurze Zeit satt machen.
Auf dem Tisch steht noch immer meine Schüssel. Sie hat außen eine außergewöhnliche, hellblaue Lackierung. Ich habe sie, seit ich denken kann. Noch nie hat es jemand gewagt, sie statt meiner zu benutzen.
Wenn meine Mutter Suppe gekocht hat, habe ich sie bis zum Rand gefüllt und ohne Löffel daraus geschlürft. Meine Mutter konnte die besten Suppen der Welt zubereiten, selbst wenn nichts darin war, als geröstete Bucheckern und getrocknete Wildkräuter.
Wenn ich gehe, werde ich die Schüssel hier lassen.
Ich trete noch einmal hinaus und hänge die beiden anderen Tiere an den Haken vor der Tür.
Das breite Bett, in dem Nurio und ich geschlafen haben, ist kalt, als ich hineinkrieche, und das Bett meiner Eltern ist leer.
Das Feuer im Ofen ist längst niedergebrannt, als ich aufwache. Ich friere sehr und bin schon wieder hungrig, aber ich werde es nicht noch einmal entfachen. Noch bevor die Nebensonne aufgegangen ist, möchte ich das Haus verlassen. Ich kann hier nicht bleiben, denn ich würde immer daran erinnert werden, wer alles fehlt.
Ich kann auch nicht ins Abrigum, denn in der riesigen Hauptstadt der Matländer sind wir Wyk nicht willkommen. Nicht nur dort sind wir schon lange geächtet. Trotzdem war es Nurios großer Traum, einmal ins Abrigum zu reisen, dabei hat auch er niemanden aus dem Dorf gekannt, der je dort gewesen war. Nur ein paar reisende Händler pendeln noch immer zwischen dem Gebirge und der Stadt hin und her. Sie sind nirgendwo mehr gerne gesehen, denn sie könnten die Krankheit bringen oder forttragen. Ihre Waren legen sie erst dann an bestimmten Stellen ab, wenn dort andere Gegenstände wie Felle, getrocknetes Fleisch und Flechtwerk zum Tausch liegen. Meine Mutter hat oft Würzmischungen und Heilkräuter gegen Metallwaren getauscht. Messer, Pfeilspitzen und metallene Vorratsbehältnisse sind im Gebirge so begehrt wie Kräutersalben und Wildfleisch im Abrigum.
Früher war es ein Fest, wenn die Händler anreisten. Heute ist es ein rasches Hinlegen und Wegnehmen, wenn überhaupt noch einer kommt.
Ich könnte auch wieder durch die Luftschlieren in das Gebiet hinter der Höhle gehen. Dort hätte ich es wenigstens warm. Aber ich fürchte mich vor der geflügelten Frau mit ihrem magischen Holzstöckchen. Sie ist zu mächtig für mich kleinen Kerl.
»Unglaublich blaue Augen«, hat sie zu mir gesagt, genau wie Nurio, als wir einmal zusammen eine Nacht im Wald verbrachten. Es war Sommer, die Nacht mild und die Sterne hell.
»Ist dir aufgefallen, dass du anders aussiehst, als alle hier im Dorf? Niemand hier hat Augen wie du. Sie sind so hell und so blaugrün wie die Augen der Höchsten des Inneren Kreises«, meinte Nurio damals.
»Wer soll das sein, die Höchsten des Inneren Kreises?«, fragte ich.
»Es sind die Anführer der Bergwyk, die tief im Gebirge leben. Das sind mächtige Leute. Sie alle haben blaugrüne Augen, genau wie du. Mutter hat erzählt, dass ihre Urgroßmutter eine Bergwyk war. Bestimmt hast du das von ihr geerbt. Du könntest also auch ein Anführer werden. Wenn du alt genug bist, um den Weg zu schaffen, gehen wir zu den Bergwyk und finden es heraus.«
Damals wollte ich nichts Besonderes sein, kein Anführer werden. Schon gar keiner, der nur deshalb ausgewählt wird, weil seine Augen eine bestimmte Farbe haben. Damals wollte ich einfach nur mit Nurio durch die Wälder streifen und mir seine Geschichten anhören. Jetzt aber weist mir die Farbe meiner Augen meinen Weg. Noch immer möchte ich kein Anführer sein. Ich möchte einfach irgendwohin gehören, und in mein Dorf mit all seinen sterbenden Bewohnern gehöre ich nicht mehr. Aber vielleicht gehöre ich zu den Bergwyk.
Im Schuppen finde ich noch Lassos und einen Wetzstein für mein Messer. Zusammen mit den beiden Feuersteinen und meinen Fellsachen stopfe ich alles in den Rückenbeutel. Rasch, und ohne mich noch einmal umzublicken, entferne ich mich.
Nur ein einziger Pfad führt vom Dorf aus ins Gebirge hinein, und der wurde schon lange nicht mehr begangen. Im Sommer ist er bestimmt überwuchert, aber der Sommer ist noch weit.
Ich gehe schon einen ganzen und einen halben Tag, lasse das Dorf und mein altes Leben Schritt für Schritt hinter mir und schwanke zwischen Hoffen und Bangen. Der Weg zu den Bergwyk ist ja eigentlich genauso vergebens wie der zum Abrigum, denn auch dort wird ein gewöhnlicher Wyk zurückgewiesen. Zu oft wurden sie verraten, zu oft versuchten Spione, den Kampf der Bergwyk zu schwächen, den Kampf für Bücher und Schrift und das Lesen.
Ich habe keine Ahnung, weshalb Lesen und Schreiben so wichtig sein sollen und wie ein Buch überhaupt aussieht. Schließlich gibt es ja die vielen Lieder, in deren Texten alles vorhanden ist, was man wissen muss, und die das Gedächtnis besser trainieren als jede Schrift.
Singend habe ich Wichtiges und Interessantes und Nützliches erfahren: Den Lauf der Sonnen und die Kunst des Rechnens, Pflanzenkunde und Wissenswertes über die Jagd, die Kräfte der Körper und die Richtung der fließenden Gewässer. Wozu also Worte aufschreiben, wenn man sie genauso gut singen kann?
Es heißt auch, sie seien gesund geblieben, die Bergwyk. Es heißt, sie hätten ein Pulver, das sie vor der Krankheit schützt.
Der Weg ist noch weit, bestimmt werde ich mehr als zwanzig Tage unterwegs sein. Bisher ist mir nichts Jagbares über den Weg gelaufen, Aber noch ist das Karnickel außen am Rückenbeutel befestigt. Das Winterrebhuhn habe ich gestern Abend auf einem heißen Stein im Feuer gebraten. Die Glut hat mich lange gewärmt und mir zu ein wenig Schlaf verholfen. Ich hoffe, ich finde auch weiter oben noch genug trockenes Holz, denn der Schnee wird immer höher liegen, je weiter ich aufwärts stapfe.
Wenn ich es schaffe, nicht nachzudenken, fällt es leichter zu gehen. Es geht nur ein wenig bergan, ich fühle mich noch kräftig, aber der Hunger fängt schon wieder an zu nagen, und die bleibende Erinnerung an den köstlichen Duft des Brötchens, das mir die Libellenfrau geschenkt hat, macht leider nicht satt. Wenn mein Magen nicht wegen totaler Nutzlosigkeit schon lange aufgehört hätte zu knurren, wäre es jetzt ziemlich laut im Wald.
Moment, knurrt er etwa doch? Oder kommt das komische Geräusch aus diesen Büschen da drüben? Ist es ein Bergwolf?
Augenblicklich bleibe ich stehen.
Zwar wäre ich ein mageres Mahl für dieses Raubtier, aber ich glaube, wenn es im Winter um eine Beute geht, sind sie nicht wählerisch.
Es ist kein Knurren. Das Tier hinter den Büschen klagt. Es hört sich herzzerreißend an. Kann ich es wagen …?
Ich wage es. Verlasse meinen Weg und schaue vorsichtig zwischen den stacheligen Zweigen hindurch.
Da steht ein Dorchon.
Er hat sich den Flügel ausgerenkt, das sehe ich gleich. Er ist noch ganz jung und doch zwanzigmal so groß wie ein Erwachsener.
Es ist ein schönes, kräftiges Tier. Seine handtellergroßen Schuppen glänzen hellgrün-gelblich. Sie werden sich immer dunkler färben, je älter er wird. Falls er das hier überlebt. Einer seiner Flügel klemmt in der sehr engen Astgabel eines Ahornbaumes. Vermutlich hat er beim Versuch, sich daraus zu befreien, sich das Gelenk ausgekugelt.
Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, ausgerechnet in diesen Dornenbüschen zu landen und sich im einzigen Baum, in dem das überhaupt auf diese blöde Art möglich ist, zu verfangen. Ganz schräg hängt er da, den Boden berührt er nur mit zwei seiner vier Beine. Als er mich entdeckt, flattert er ein paarmal kraftlos mit dem anderen Flügel. Sein flehentlicher Blick trifft mich bis ins Mark.
Normalerweise schauen einen Dorchon nicht in die Augen. Doch dieser hier wendet sich nicht einmal ab, als ich mich vorsichtig nähere. Entweder hat er keine Angst vor mir, weil er gezähmt ist, oder weil ich so winzig bin. Ich hoffe, dass er keine Angst hat, ein furchtsamer Dorchon ist lebensgefährlich. Auch mit einem ausgekugelten Gelenk könnte er mich zertrampeln, sobald er befreit wäre. Und befreien muss ich ihn, sonst verhungert er elend.
Einen Dorchon lässt man nicht sterben.
Wie kommt er überhaupt in dieses Gebiet? Alle Dorchon wurden doch schon lange vor meiner Geburt aus dem Gebirge entfernt. Es ist streng verboten, sie zu halten. Jetzt leben sie angekettet in riesigen Gruben vor den Toren des Abrigum und werden nur noch als Transporttiere benutzt.
Wieder zerrt das arme, dumme Tier an seinem Flügel. Der Klagelaut, den es ausstößt, ist erbarmungswürdig. Vorsichtig gehe ich noch näher heran.
»Alles gut, Kleiner«, sage ich beruhigend.
Also, dieses Tier ist ja alles andere als klein. So halb aufgerichtet überragt es mich um ein Vielfaches. Ich fange an zu singen. Und singend erinnere ich mich, was zu tun ist, denn noch immer werden die alten Dorchonlieder gesungen und die Geschichten über diese prächtigen, echsenartigen Flieger erzählt, und deshalb weiß ich auch, dass junge Dorchon leider dazu neigen, sich den Flügel auszukugeln. Die letzte Generation, die noch im Gebirge leben durfte, ist eigentlich überzüchtet. Die Flügel heutiger Dorchon sind sehr groß, damit sie lange Strecken ohne Flügelschlag segeln können. So wird der Flug auf ihnen angenehmer. Aber die Flügel wachsen viel zu schnell für die kleinen Gelenkpfannen junger Tiere.
»Pass auf. Ich muss da jetzt um dich rumgehen. Erst muss ich den Flügel aus diesem Baum rausholen, und dafür muss ich da hoch«, sage ich halb zu ihm und halb zu mir selbst und hangle mich am Stamm bis zu der verhängnisvollen Astgabel hinauf.
Der junge Dorchon beäugt mich die ganze Zeit, ohne mir in die Augen zu blicken, bleibt aber ansonsten ruhig. Gut so! Würde er jetzt hier weiter rumhampeln, ginge gar nichts.
Großer heiliger Schnodd, es wird auch so nicht viel gehen! Wie soll ich denn jetzt diese riesige Schwinge aus ihrer Einklemmung kriegen? Warum bin ich nur so klein und leicht? Wäre ich größer und stärker, könnte ich versuchen, den Flügel irgendwie rauszuhebeln.
Ja, klar, das ist es! Ich brauche einen Hebel!
Ich springe vom Baum und lande mitten in den Dornen. Der Dorchon macht erschrocken einen Satz und jault jämmerlich auf.
»Mist, Entschuldigung!«, sage ich und befreie mich erst einmal selbst aus dem dornigen Gesträuch. Ich suche lange nach einem passenden jungen Baum und brauche noch länger, bis ich ihn aus dem Boden gezogen habe. Jede einzelne Wurzel muss ich ausgraben und mit Vaters Messer durchtrennen. Genauso mühsam entferne ich die Zweige und stelle fest, dass er trotzdem zu schwer ist, um mit ihm wieder auf den Baum zu klettern. Also stelle ich ihn an den Baumstamm, binde mein Lasso um ihn und steige hoch. Erst dann ziehe ich den jungen Baum zu mir heran. Meine Beine umklammern den Stamm, die Füße stützen sich auf dünne Äste, jetzt ist es gut, dass ich so leicht bin.
»Ich kriege das hin«, sage ich zu mir selbst und hole tief Luft. Das hier muss auf Anhieb gelingen.
Mit einer Hand halte ich mich an einem Ast fest, mit der anderen schiebe ich das lange Holz unter dem Flügel Stück für Stück in die Astgabel hinein. Nicht zu weit, denn ich bin ein schlechtes Gegengewicht und brauche einen langen Hebel. Vielleicht hätte ich mir die Taschen mit Steinen füllen sollen. Zu spät! Es muss jetzt geschehen!
Der Dorchon guckt nicht hin, und ich gucke auch nicht hin, als ich den Baum loslasse, mit beiden Händen das Ende des Astes greife und springe. Im Fallen spüre ich den Widerstand des Flügels. Für einen Moment hänge ich waagerecht, und dann merke ich, dass etwas nachgibt, der Ast kippt abwärts. Ich falle zwischen Dornenzweigen hindurch. Der Flügel wurde rausgehebelt!
Ich reiße mir die Hände und die Wangen blutig, als ich mich aus den Zweigen schäle. Das riesige Tier hockt halb erschrocken, halb verdattert auf allen vieren und regt sich nicht. So ist noch deutlicher zu erkennen, dass sein linker Flügel nicht dort sitzt, wo er soll. Er steht in einem ganz komischen Winkel ab. Meine Arbeit ist noch nicht zu Ende.
Leise singe ich das Richtelied. Ich mag seine zackige Melodie, die so gut zu dem Text mit den kurzen Sätzen passt. Es hat nur sechs Zeilen, denn es soll ja schnell gehen, wenn man einem jungen Dorchon den Flügel einrenkt. Da braucht es keine blumigen Umschreibungen und melodischen Schnörkel.
Spreiz leicht ab die Schwinge,
greif nah am Gelenk
den Knochen und renk‘
zum Hinterbein quer,
schieb nicht gar so sehr.
Auf dass es gelinge!
»Also gut«, sage ich. Jetzt muss ich auf den Rücken des Dorchon rauf. Irgendwie. Darüber gibt es keine Hinweise im Richtelied. Da muss ich mir selber was ausdenken. Aber ich denke nicht lange nach, nehme Anlauf und mache einen Riesensatz. Ich lande genau dort, wo ich wollte: Auf seinem angewinkelten linken hinteren Knie.
Doch bevor ich noch weiter hinaufspringen kann, bäumt sich der Dorchon auf. Fauchend richtet er sich zu seiner vollen Größe auf. Ich werde mitten ins Gestrüpp geschleudert, was den Vorteil hat, dass ich nicht so hart lande und den Nachteil, dass ich zum dritten Mal bis aufs Blut zerkratzt werde.
Die Erde bebt, als die Vorderbeine des Tieres auf den Boden donnern. Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht unter ihnen gelandet bin.
Noch einmal reckt er sich, aber diesmal landet er mit Bedacht und geht sofort wieder in die Hocke. Er kauert sich regelrecht zusammen. Er hat Schmerzen. Aber er regt sich nicht. Wartet er darauf, dass ich es noch einmal versuche?
Blut tropft von meiner Stirn, als ich losrenne. Wieder springe ich auf sein Knie und von dort sofort auf den Rücken; seine unteren Schuppen nutze ich als Treppenstufen, während mir die oberen als Griffe dienen.
Der Dorchon hält still.
Gut. Ich befinde mich genau dort, wo ich sein soll: Direkt hinter seinem ausgerenkten Gelenk. Er schnaubt leise, hebt den Kopf, dreht ihn nach hinten und sieht mich an. Sein Blick jagt mir Schauer über den Rücken.
Dorchon soll man nicht lange in die Augen sehen, es macht sie verlegen. Und aus Verlegenheit kann Unsicherheit entstehen, und aus Unsicherheit passieren die blödesten Sachen. Zum Beispiel, dass man jemanden, der einem eigentlich helfen will, mit zwei Reihen furchterregend spitzer und langer Zähne zerfleischt.
Es passiert aber gar nichts, während wir uns anschauen, und obwohl wir uns sehr lange anschauen. Die grüne Iris des jungen Tieres funkelt, goldene Sprenkel blitzen darin auf, seine Pupillen verengen sich und werden zu Schlitzen, und dann plötzlich wieder ganz weit.
»Ja, also, ich muss dir nochmal wehtun, leider«, sage ich und fühle mich angesichts dieser Wahnsinnsaugen jetzt selbst ein wenig verlegen. Dabei sollte ich doch mutig sein und unerschrocken und auf keinen Fall zaghaft, wenn ich, wie ich es jetzt tu, zuerst den Flügel des Tieres, soweit es seine Schmerzen zulassen, abspreize. Stück für Stück, nicht zu weit. Ich rechne fest damit, dass er sich wehrt, aber er bleibt geduldig und ruhig. Der Knochen, der aus dem Gelenk gerutscht ist, ist nicht sehr viel länger als ich. Der Bereich darum herum ist frei von Schuppen, und das ist gut, denn so packe ich ihn nun mit beiden Händen ganz dicht am Körper und ziehe ihn exakt in Richtung des rechten Hinterbeines, so wie es im Lied beschrieben ist.
Naja, eigentlich habe ich keine Ahnung, wohin genau ich gerade den Flügelknochen zerre, ich reiße einfach irgendwie daran, mit aller Kraft, in eine ungefähre Richtung. Meine Beine stemme ich gegen Schuppen und mein ganzes, mickriges Gewicht verlagere ich nach hinten. Gleich kann ich nicht mehr, und was macht eigentlich der Dorchon, warum hält er so still, während meine Muskeln zum Zerreißen gespannt sind?
Ich keuche, gleich rutschen meine Hände ab. Panisch umfasse ich den Knochen noch ein wenig weiter körperwärts.
Da macht es Plopp! Und der Flügel sitzt wieder da, wo er sein soll.
Ein Schnauben leitet das erneute Aufbäumen des Dorchon ein; diesmal bin ich gewappnet. Es nützt aber leider nichts. So fest kann ich mich gar nicht halten, dass ich nicht doch schon wieder abstürze. Während sich das junge Tier höher und höher aufrichtet rutsche ich weiter und weiter über wunderhübsche, schillernde Schuppen in Richtung seines langen Schweifes und purzle in die Dornen.
Ich will mich aufrappeln, aber ein Luftstoß katapultiert mich zurück ins Gebüsch. Aufrecht stehend schwingt der Dorchon elegant und majestätisch zugleich seine Flügel vor und zurück.
Ich bin stolz und glücklich. Das hat er mir zu verdanken!
Doch das blöde, undankbare Vieh dreht sich nicht einmal um, nachdem es auf allen vieren gelandet ist und dann mit federnden Schritten in Richtung Waldrand trabt.
»He!«, schreie ich, wühle mich aus dem garstigen Gestrüpp und laufe ihm hinterher.
»He! Warte doch mal!«
Ich bin total entkräftet und bis aufs Blut zerkratzt, aber das alles interessiert dieses schnöde Ungetüm offenbar nicht. Schnaufend renne ich ihm hinterher. Ich muss sehen, ob er fliegen kann, und dass er es gleich versuchen wird, daran habe ich keine Zweifel.
Der Wald lichtet sich, bald erreicht der Dorchon eine freie Fläche. Ich renne hinterher, immer noch nach Luft japsend, und bald kann ich nicht mehr weiter. Die Hände auf die Knie gestützt ringe ich um Atem. Mein Herz pocht von innen gegen den Brustkorb, als wolle es herausspringen, alle meine Muskeln brennen wie Feuer, aber ich laufe wieder los. Gerade rechtzeitig erreiche ich die Lichtung. Der Dorchon hat bereits die Flügel ausgebreitet, seine Füße berühren gerade noch den Boden, gleich wird er abheben. Ich sprinte mitten in die große Wiese hinein.
Noch nie habe ich einen Dorchon fliegen sehen. Ich habe überhaupt noch nie einen Dorchon gesehen, kenne diese unglaublichen Tiere nur von Liedern und Geschichten und von den Beschreibungen meines Vaters. Dessen Vater hat lange einen Dorchon besessen; bis er ihm weggenommen und fortgeschafft wurde.
»Du müsstest sie fliegen sehen«, hat mein Vater gesagt. »Die Welt steht still, wenn sie fliegen.«
Die Welt steht zwar nicht still, aber jetzt vergesse ich zu atmen, und das kommt fast auf das Gleiche hinaus. Es braucht nur zwei Flügelschläge, bis das schwere Tier sich über die Baumwipfel erhoben hat. Bestimmt würden die hellen Schuppen im Licht der Sonnen glitzern, wenn sie denn scheinen würden, aber der Anblick des Dorchon, der jetzt einen großen Bogen fliegt, ist auch an einem trüben Tag wie diesem sensationell.
Er fliegt in meine Richtung, er segelt dahin, sein langer Schweif bewegt sich in geschmeidigen Wellenlinien durch die Luft.
Jetzt senkt er sich wieder in die Lichtung hinein. Er kommt direkt auf mich zu. Noch tiefer und noch tiefer, ich spüre schon den anbrausenden Luftzug. Nicht nur in meinen Ohren rauscht es, ich bin berauscht von der Anmut seines Fluges, er ist jetzt so dicht über mir, dass ich die kleinen, weichen Schuppen an seiner Unterseite zählen könnte.
Ich strecke die Arme aus. Da lässt er seinen Schweif herunter bis ich ihn erreichen kann. Ich berühre den Schweif an seiner glatten Unterseite, lasse ihn durch meine Hände gleiten. Wie kühl er sich anfühlt, wie schnell alles vorbei ist!
Ein kleiner Schlag mit den großen Flügeln, schon ist er wieder über den Bäumen, noch ein Schlag und er verschwindet hinter ihnen.
Wie lange ich dasitze und einfach nur in den grauen Himmel starre, weiß ich nicht. Es ist ohnehin vergebens, denn der Dorchon kommt nicht zurück.
Ich habe das Schneekarnickel verloren. Erst am Abend, als ich es braten wollte, bemerkte ich, dass es nicht mehr am Rückenbeutel hing. Ich war wütend auf mich und hungrig. Wenigstens konnte ich eine Weile schlafen, bis mir das Holz ausging und ich zu sehr fror.
Jetzt ist wieder Abend. Ich liege in einer alten, seit langem unbewohnten Hütte, der jetzt eine Wand fehlt. Aus deren Brettern habe ich Feuer gemacht, die Wärme der Glut strahlt noch immer zu mir herüber. Aber bald wird wieder die Kälte hereinziehen.
Den ganzen gestrigen Tag und die halbe Nacht hat die Erinnerung an meine Begegnung mit dem Dorchon meinen Hunger verdrängt. Jetzt kehrt er mit aller Macht zurück.
Auf dem gesamten Weg vom Dorf bis hier herauf habe ich nicht ein einziges Tier gesehen, das ich hätte jagen können. Ab und zu huschte in der Ferne etwas vorüber, aber nie nah genug, um auch nur das Lasso von der Schulter zu nehmen.
Am Vormittag gab es einen eiskalten Bach von dem ich getrunken und aus dem ich meinen Beutel gefüllt habe. Kurz darauf lagen ein paar wurmstichige Walnüsse unter einer in den Fels gehauenen Bank. Ich fand vertrocknete Brombeeren, als ich am verschneiten Strauch rüttelte und schließlich eine Menge Lenkwurz, dessen Wurzeln schon im sehr frühen Frühjahr essbar sind und eigentlich richtig gut schmecken. Im Winter sind sie bitter und so mager, dass sie den Bauch nur eine kurze Zeit beschäftigen. Mehr als eine Handvoll habe ich mir gleich gegönnt, der Rest liegt in meinem Beutel. Für Notfälle.
Ist es ein Notfall, wenn der Hunger so stark ist, dass einem schwindelig ist, auch wenn man flach auf Laub und unter Kiefernzweigen liegt? Darf man den Notvorrat aufbrauchen, wenn man nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Hunger zittert? Ist es erlaubt, den letzten Rest dessen zu verspeisen, das eigentlich für das Gebiet vorgesehen war, in dem es keine Wurzeln und Nüsse und Eckern gibt?
Wie tief im Gebirge die Bergwyk leben wusste auch Nurio nicht. Und ich habe keine Ahnung, wie dort der Bewuchs ist. Gibt es nicht vielleicht doch irgendwelche essbaren Pflanzen? Aber wie soll ich es überhaupt bis dahin schaffen, wenn ich vorher verhungert bin?
Im Nu habe ich die bitteren Wurzeln aus dem Beutel geholt und in meinen Mund gestopft. .
Kurz bevor die Hauptsonne aufgeht, ist es am kältesten. Besonders lange habe ich nicht schlafen können; benommen mache ich mich wieder auf meinen Weg. Ich gehe schnell, um die Kälte zu vertreiben, aber es wird Mittag, bis mir einigermaßen warm wird. Ich ärgere mich über mich selbst. Hätte ich doch wenigstens eine kleine Menge Lenkwurz aufgehoben!
Ich passiere ein paar völlig verfallene Hütten und wärme mich an einem Feuer aus den herumliegenden Brettern. Eine Zeitlang schlafe ich sogar ein.
Danach geht es deutlich aufwärts, und je höher ich komme, desto mehr Schnee gibt es. Nicht lange und ich erreiche die Gegend, in der viele Bäume abgeholzt wurden und es einige freie Flächen gibt. Es knirscht unter meinen Füßen, der Schnee ist ganz frisch. Ich bin froh über meine Fellsachen. Sie haben in den kalten Nächten das Schlimmste verhindert.
Mein Bauch schmerzt. Vielleicht ist ja so viel Lenkwurz auf leeren Magen doch nicht das Richtige. In nächster Zeit wird er aber weder Bekömmliches noch Sättigendes kriegen, wenn ich nicht bald etwas fange, denn hier wächst überhaupt nichts Essbares mehr.
Warum habe ich nicht gewartet, bis der Schnee auch hier oben geschmolzen ist, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe? Warum habe ich nicht den Sommer abgewartet? Wütend auf mich selbst stapfe ich den Pfad entlang. Ich stelle mir vor, wie ich alleine in unserem Haus herumwerkle, den Ofen befeuere und nützliche Dinge für die Wanderung zu den Bergwyk vorbereite, und da weiß ich wieder, warum ich nicht dort bleiben konnte, denn ein Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, der stärker ist als jeder Hunger.
Ich wäre allein in diesem Haus.
Von wenigen flachen Stellen abgesehen, geht es immer weiter aufwärts. Woher mir auf einmal die tröstliche Melodie des kleinen Zeitenliedes in den Sinn kommt, weiß ich nicht.
Kommt der Abend,
sitzt ein Vogel
leicht auf einem Baum.
Singt sein Lied
und füllt sogleich
meines Herzens Raum …
Es war das Lieblingslied meines Vaters.
In den Tagen, bevor er gestorben ist, saßen meine Mutter und ich oft an seinem Bett und haben abwechselnd seine Hand gehalten und gesungen. Manchmal hat er eingestimmt, meist war er zu schwach.
Zum Lächeln war er nie zu schwach. Lächelnd hat er zugeschaut, wie ich das Feuerholz hereintrug und die Asche hinaus. Er lächelte, wenn meine Mutter den Tisch abwischte und sich die Brösel in den Mund steckte. Er lächelte, während ich den Teig knetete und mir die Finger verbrannte, weil ich das Brot zu früh aus dem Ofen holte. Er lächelte im Schlaf und wenn ihm meine Mutter die gelbe Kruste aus den Augenwinkeln wischte. Und wir lächelten zurück.
Als der letzte Wintersturm über das kleine Dorf fegte, hat er zum letzten Mal gelächelt.
»Ich liebe euch so sehr«, sagte er lächelnd und dann ist er gestorben. Er legte seinen Kopf sacht auf das Kissen und verschwand ins Jenseits. Sein dünner, schwacher Körper lag noch da, aber er selbst war vielleicht schon die Berge hinauf und in den Himmel geflogen und hat Nurio gefunden. Dort sind jetzt alle und warten auf mich.
Wie alle, wie die vielen, vielen, die gestorben sind in meinem Dorf, wurde der Leichnam meines Vaters verbrannt.
Meine Mutter hat seinen mageren Körper in ein schönes, weißes Tuch gewickelt. Es war zu kurz, unten schauten seine nackten, grauen Füße heraus.
Hirgo und Dolm kamen und hievten ihn auf die Karre, sie schafften es kaum, obwohl er so leicht war. Sie waren längst selbst krank, wischten sich Eiter und Tränen aus den Augen und murmelten Beileidsworte.
Fast wehte der Wind das Tuch vom Leichnam meines Vaters. Ich werde nie vergessen, wie Mutter ihn angeschaut hat, als sie es wieder um ihn wand und befestigte. Ihr Blick war voller Liebe und voller Schmerz zugleich.