Der Rand der Welt: Im magischen Kreis - Linda Beller - E-Book
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Der Rand der Welt: Im magischen Kreis E-Book

Linda Beller

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Beschreibung

Wenn jeder Ort, zu dem du fliehst, zur Gefahr wird – wohin gehst du dann? Melindis hat die Silen und damit ihr eigenes Volk bestohlen. Sie flieht mit ihren neuen Freunden durch eine Pforte in die Berge. Doch bald befindet sie sich völlig allein in Gefangenschaft von feindseligen und machtgierigen Bergbewohnern. Nur wenn sie eine Aufgabe erfüllt, welche die Vernichtung der Silen bedeutet, hat sie eine Chance, ihren Peinigern zu entkommen. Zur gleichen Zeit braut sich jenseits des Randes der Welt ein magisches Ereignis zusammen, das erneut alles ins Wanken bringen wird, was Melindis jetzt noch Halt gibt. Die Prinzessin hat gelernt zu kämpfen. Jetzt muss sie lernen, dass sie es alleine nicht schafft.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Karin Koch

Kraichtalstr. 7/1

75015 Bretten

instagram: @linda_beller_

Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de

Lektorat – Korrektorat: Susanne Rauchhaus – susannerauchhaus.com

Buchsatz: XS Werbeagentur – xs-werbeagentur.de

1. Auflage 2024

Veröffentlicht über tolino media

GEFLOHEN

Das Dorf am Rande des Gebirges war noch nicht lange verlassen. Vor manchen Häusern blühten Herbstblumen, über mancher Tür hingen Kräuter zum Trocknen, irgendwo meckerte anhaltend und erbärmlich eine Ziege, und ein paar magere Hühner scharrten in der Erde. Sie würden den Winter ohne ihre Besitzer und Beschützer nicht überleben. Ein Wunder, dass sie noch nicht von Bergfüchsen geholt worden waren.

Melindis stapfte hinter Tio einen breiten, gepflasterten Weg hinauf, beide folgten Uson, der unruhig und mutlos durch das Dorf streifte. Melindis war barfuß. Für die Kletterei zur Pforte in der Höhle war das günstig gewesen, für die Passage durch die Zakaskluft mit all den spitzen Steinen eher nicht. Ihre Fußsohlen brannten noch immer.

Der Weg war gesäumt von einstöckigen Steinhäusern die irgendwie vorwurfsvoll ihre Leere präsentierten. Melindis wurde das Gefühl nicht los, dass Uson lieber alleine gewesen wäre. Sie blieb stehen und sah über die Dächer hinweg in den Himmel. Die Nebensonne schickte ihr letztes Licht in den Abend, die Wipfel der hohen Kiefern am Ortsrand leuchteten golden, auch die schneebedeckten Gipfel der Berge dahinter hatte die untergehende Sonne orange gefärbt. Wäre die Stimmung in diesem Ort nicht so trostlos, könnte er richtig hübsch sein, dachte Melindis.

Als der Dorchon schon kurz nach dem Start auf einer Wiese vor diesem Dorf gelandet war, hatte Melindis zuerst geglaubt, Uson hätte sich vertan. Sie wollten doch zu den Wyk ins Hochgebirge, um der verletzten Enna das Heilpulver Tarduss zu bringen! Jetzt würden sie über Nacht hierbleiben, und sie wusste nicht einmal, weshalb.

Melindis beeilte sich, die anderen einzuholen.

„Wonach suchst du, Uson?“, fragte sie, aber er blieb ihr die Antwort schuldig, bog in einen engen Spalt zwischen zwei Häusern ein und war verschwunden.

„Er ist hier geboren“, sagte Tio. „Jetzt ist niemand mehr da. Alle sind an der Krankheit gestorben oder weggezogen. Auch seine Eltern.“

„Seine Eltern“, wiederholte Melindis. Noch immer war ihr der Gedanke fremd, dass man Eltern haben konnte. Eine Mutter und einen Vater. Und erst recht war der Gedanke, dass auch sie selbst das Kind eines Mannes und einer Frau war, seltsam und beunruhigend.

„Wo sind seine Eltern jetzt?“

„Sie sind tot.“

Melindis erschrak. Auch daran, dass man hier und anscheinend überall außer im Silenreich so offen über Krankheit und Tod sprach, konnte sie sich einfach nicht gewöhnen.

„Als er zu den Bergwyk gegangen ist, lebten noch Leute hier. Wenn sich niemand darum kümmert, wird alles zerfallen. Lass ihn am besten in Ruhe“, sagte Tio und setzte sich auf eine Bank, die vor einem der größeren Häuser stand. Eine wuchtige Kastanie überragte das Schieferdach, die ersten Blätter fielen.

„Das wusste ich alles nicht“, sagte Melindis. „Ihr erzählt mir ja nie etwas. Ihr schmiedet Pläne, und ich weiß nichts davon. Ich soll euch helfen, und ich will euch helfen, aber ihr müsst mich einweihen in das, was ihr plant.“

„Wir schmieden gar nichts. Und du kennst Uson. Er plant nicht. Er wartet auf den richtigen Moment.“

„Ich bin nicht Uson. Ich möchte wenigstens ungefähr wissen, wie es weitergeht.“

„Da musst du jetzt wohl einfach abwarten“, sagte Tio leichthin. „Mir passt es auch nicht, dass wir hier übernachten, aber wir hätten die Wyksiedlung heute sowieso nicht mehr erreicht.“

„Wir hätten noch ein großes Stück schaffen können, bevor es dunkel wird. Dann wären wir früher bei Enna gewesen.“

Tios Stimmung schlug urplötzlich um. „Melindis, was ist, wenn sie es nicht geschafft hat?“

Keine Sorge, deine Schwester ist zäh. “, sagte sie ohne rechte Überzeugung. Enna war so schwach gewesen, als Melindis sie zuletzt gesehen hatte. Dass sie den schweren Sturz vom Dorchon überhaupt überleben konnte, war nur Melindis‘ letztem Rest Tarduss zu verdanken. Und nur wenn Enna mehr davon bekam, würde sie wieder ganz gesund werden.

Uson kam mit zwei toten Hühnern zurück. Er stieg die Steintreppe hinauf und öffnete die unverschlossene Tür.

„Wir schlafen hier.“

Zuerst dachte Melindis, dass dieses schöne Gebäude sein früheres Zuhause wäre, aber die Art wie er sich darin bewegte, deutete darauf hin, dass er sich nicht auskannte. Er öffnete Zimmer- und Schranktüren, stieg in den Keller und brachte Melindis schließlich ein Paar Schuhe. Dann wies er ihnen ihre Betten zu und ging nochmal nach draußen, um nach dem Dorchon zu sehen. Tio schichtete Holz in den Küchenherd, und als Uson endlich zurückkam, war die Herdplatte schon heiß genug, um aus den beiden Hühnern, die Tio abgeflammt und zerteilt hatte, eine Suppe zu kochen.

Uson warf ein Bündel Kräuter in den Topf. Sie waren reichlich verschrumpelt.

„Meine Mutter hat sie gesammelt“, sagte er leise. Keiner traute sich zu fragen, wo er die Kräuter gefunden hatte.

Melindis lag alleine in einem fremden Bett. Wer hier wohl gewohnt hatte? Es musste eine reiche Familie gewesen sein, die Matratze war weich, die Daunendecke bauschte sich über sie und wärmte schön. Sie hörte kurz die Stimmen von Uson und Tio im Nebenzimmer, dann wurde es still. Die beiden schliefen sicher selig, während sie sich hin- und herwarf und keine Ruhe fand. Sie zwang sich, stillzuliegen und lauschte den Geräuschen des Gebälks über ihr. In der nächtlichen Kälte zog es sich knarrend zusammen, als würde es sich über den nahenden Winter beklagen. Melindis drehte sich auf den Bauch, versuchte, nicht über das nachzudenken, was vor ihr lag, und erst recht nicht darüber, was sie hinter sich gelassen hatte. Doch schließlich ergab sie sich ihren hartnäckigen Erinnerungen. Das Bild der versteinerten Königin und der entgeisterte Blick ihrer Schwester Lovella, als Melindis auch sie mit ihrem Zauberstab erstarren ließ, drängten in ihre Gedanken. Aber Lovella war genauso wenig ihre Schwester, wie die Königin ihre Mutter war. So lange hatte Melindis mit einer Lüge gelebt. Auch deshalb war sie aus dem königlichen Schloss geflohen, war mit Uson und Tio durch die Pforte ins Matland gegangen, ohne Plan, ohne Ziel, nur mit der Gewissheit, dass sie nicht mehr ins Silenreich gehörte.

Aber wohin gehörte sie jetzt?

„Du gehörst zu uns“, hatte Tio gesagt. Doch das Gefühl, von den beiden ausgeschlossen zu werden, wollte einfach nicht weichen. Melindis drehte sich auf die Seite und zog die Decke über den Kopf.

Endlich schlief sie ein, einen seltsamen Geschmack im Mund. Die Kräuter von Usons Mutter waren bitter gewesen.

Am Morgen löffelte sie den Rest der kalten Suppe, es lohnte sich nicht, nochmal Feuer im Ofen zu machen, sie würden gleich aufbrechen.

„Wie wollt ihr deine Eltern befreien, Tio?“, fragte Melindis. „Wir müssen damit rechnen, dass die Wyk uns gefangen nehmen, sobald wir dort auftauchen.“

„Wir bringen Tarduss. Sie werden erst einmal dankbar sein“, sagte Uson, und Tio nickte.

„Und wenn sie lange genug dankbar waren, was kommt dann? Wird Tio wieder Fußfesseln bekommen? Oder ich oder du? Und was geschieht mit dem Tarduss? Werden es die Wyk allen zur Verfügung stellen? Werden die Kranken es bekommen, ich meine alle Kranken? Auch die Matländer?“

„Wir werden sehen“, sagte Uson und fing an, einen Beutel mit dem Heilpulver an seinem langen Gürtel zu befestigen.

„Wo sind die beiden anderen Beutel?“ fragte Melindis.

„An einem sicheren Ort“, antwortete Uson.

„Moment mal! Ich war diejenige, die das Tarduss aus dem Schloss geholt hat. Ich habe es den Silen gestohlen. Ich möchte wissen, wo die Beutel sind und was du damit vorhast.“

„Uson weiß, was er tut“, sagte Tio.

„Ja, schön, Tio, aber ich weiß nicht, was er tut, und im Gegensatz zu dir will ich es wissen.“

Mit einer aufreizenden Gründlichkeit legte sich Uson den Gürtel über die linke Schulter und befestigte ihn unterhalb der rechten, bevor er antwortete.

„Es gibt Wyk, deren Entscheidungen ich nicht traue. Wir werden dafür sorgen, dass alle etwas vom Tarduss haben, auch die Matländer.“

„Genau“, sagte Tio.

„Du wusstest, was er vorhat?“ Melindis spürte Wut in sich aufsteigen.

„Er wusste es nicht, aber er will es gerecht verteilen, genau wie du, Melindis“, entgegnete Uson.

„Genau“, sagte Tio schon wieder.

„Und wie willst du es verteilen, Uson? Setzt du dich auf deinen tollen Dorchon und streust es großzügig übers Land, oder was?“

„Blödsinn“, sagte Tio.

„Wir werden sehen“, meinte Uson, was Melindis so zur Weißglut brachte, dass sie aufstand und türenknallend die Küche verließ. Sie setzte sich auf die Treppenstufen vor dem Haus, und als die beiden endlich herauskamen, stellte sie sich ihnen in den Weg.

„Man kann Tarduss nicht einfach irgendwo in einem Beutel aufbewahren. Das hat Enna gemacht. Dann haben Mäuse Löcher reingefressen, mein ganzer Vorrat war verloren!“, rief sie wütend.

„Und wo muss es dann hinein?“, wollte Uson wissen und richtete seine strahlenden, hellgrünblauen Augen direkt auf sie.

„In Metalldosen, in dunkle Glasflaschen, am besten in Tonkrüge! Nicht in blöde Stofftaschen!“

„Das ist ein wichtiger Hinweis“, sagte Uson. Ohne ein weiteres Wort lief der viel zu kleine Junge die Gasse hinauf, wieder kamen sie ihm kaum hinterher. Er blieb vor einem Haus am Rand des Ortes stehen. Offenbar war es schon längere Zeit nicht mehr bewohnt. Er holte einen Spaten aus einem baufälligen Schuppen und ging in einen Bereich hinter dem Haus, der früher wohl der Garten gewesen war. Jetzt wucherte nichts als Unkraut und Disteln. Hier kannte er sich eindeutig sehr gut aus. War das sein Elternhaus? Sie fragte nicht. Er stieß den Spaten in eine Stelle im Boden, die erst kurz zuvor umgegraben worden war.

„Geht und sucht nach Tonkrügen in den Häusern“, sagte er.

Also taten sie einmal mehr, was er von ihnen verlangt hatte, einfach weil er es sagte.

„Er ist so ...“, fing Melindis an, während sie über das Kopfsteinpflaster liefen.

„Lass gut sein, Melindis“, sagte Tio und ging in das erste Haus. Melindis sah ihm nach. Er hatte sie einfach unterbrochen. Er wollte nicht einmal wissen, was sie zu sagen hatte!

Wutschnaubend trat sie gegen die Eingangstür des nächsten Gebäudes. Die Tür hatte offenbar ihre besten Tage gesehen; ihr Rahmen zersplitterte, und als sie plötzlich aufging, stürzte Melindis in den Flur hinein und landete auf Händen und Knien. Ein langer Holzsplitter bohrte sich in ihre Handfläche. Automatisch tastete sie nach ihrem Brustbeutel. Sie hatte ihn reichlich mit Tarduss gefüllt. Melindis ließ ihn stecken, zog stattdessen den Splitter heraus und leckte den Blutstropfen ab, der aus der winzigen Wunde quoll.

Im Keller fand sie einen großen Tonkrug mit Deckel. Er war leer, aber so schwer, dass sie ihn kaum tragen konnte. Sie presste ihn mit beiden Händen an den Bauch und keuchte zu Uson hinauf. Ein blutiger Handabdruck zierte den Krug, als sie ihn abstellte.

„Du musst deine Wunde säubern“, sagte Uson. „Sonst entzündet sie sich.“ Also wusch sie ihre Hand in einem Bach, der mitten durch das Dorf floss, drückte fest und lange auf die Stelle, aus der das Blut rann und spürte, wie sie ruhiger wurde. Bald würde sie wieder auf den Dorchon steigen. Sie freute sich auf den Flug, erwartete jeden Moment das Rauschen der riesigen Schwingen, während sie zu den beiden zurückging, doch am Himmel zeigten sich nur ein paar Wolken.

„Wo ist dein Dorchon abgeblieben?“

„Wir müssen später zu Fuß weiter“, sagte Uson. Melindis seufzte enttäuscht.

„Wo ist denn nun dein Dorchon?“, wollte Melindis wissen, während sie sich Schritt für Schritt durch die herbstliche Bergwelt aufwärts kämpfte. Die Schuhe waren ein wenig zu groß, aber mit den kratzigen Wollsocken, die darin gesteckt hatten, würden ihre Füße wenigstens schön warm bleiben.

„Sie hat noch andere Verpflichtungen“, antwortete Uson und beließ es bei dieser Andeutung. Sie würde ihm nichts weiter entlocken, das wusste Melindis nur zu gut. Sie blieb stehen und schaute von der Anhöhe, die sie gerade erklommen hatten, ins Tal hinab. Rotgoldener Wald breitete sich vor ihr aus, am Rand des Pfades blühten lila Astern und niedrige Rosenbüsche mit winzigen weißen Blüten, die herrlich dufteten. Sie wandte sich ab und stapfte weiter steil aufwärts. Im Laufe des Tages sammelte sie Blaubeeren und Haselnüsse, sie waren eine willkommene Ergänzung zu dem dicken Ruhmeltier, das Uson vor ihren Augen mit einem Lasso fing.

„Das hat mir mein Vater beigebracht“, sagte er, als er Melindis‘ bewundernden Blick einfing. Er tötete das Tier und zerlegte es in kleine Stücke, die sie über dem Feuer rösteten. Sie trieften vor Fett, schmeckten scheußlich, machten aber wunderbar satt.

Anderthalb Tage wanderten sie durch die Berge, übernachteten im Wald. Wenn ihr Feuer erloschen war, wurde es bitterkalt. Melindis wachte jedes Mal auf, wenn der Morgen graute, weil sie so fror. Endlich tauchte der Dochon auf. Als wäre nichts gewesen, segelte er seelenruhig über sie hinweg und landete auf einer Lichtung.

„Wo hat er denn nun gesteckt?“, fragte Melindis, aber Uson zuckte nur mit den Schultern.

„Sie ist ein Weibchen. Sie heißt Yllia.“

„Das hast du nie erzählt“, sagte Tio.

„Es gibt nur eine Person außer euch, die es weiß.“

„Und wer ist das?“, wollte Tio wissen, als würde er darauf je eine Antwort bekommen. Doch Uson war anscheinend in Plauderlaune.

„Elva. Ich habe eine Zeitlang bei ihr gewohnt, weiter oben in den Bergen. Da waren meine Eltern gerade gestorben.“

Obwohl sich Melindis auf Usons Rat hin eine warme Felljacke aus einem der verlassenen Häuser geholt hatte, fror sie erbärmlich auf dem Flug, der sie immer weiter ins Hochgebirge hineinbrachte.

Es war Abend, als sie durch die weite Schlucht glitten und dann endlich das Wykdorf erreichten. Wie friedlich es da unter ihnen im Wald verstreut lag! Die Lichtung war von Fackeln beleuchtet, in den Baumhäusern brannte Licht, Melindis hörte mehrstimmiges Singen. Sie freute sich darauf, wieder in einem Baumhaus zu übernachten, in eine warme Felldecke gekuschelt, vom leisen Rascheln der Blätter in den Schlaf geleitet.

Sie landeten genau an der Stelle von der sie losgeflogen waren. Kaum standen alle drei wieder auf sicherem Boden, breitete Yllia die Schwingen aus und flog in den Talkessel hinein.

Melindis konnte es kaum erwarten, Enna zu sehen. Auf einmal war sie ganz sicher, dass dieses robuste und lebhafte Mädchen am Leben war und sehnsüchtig auf sie wartete.

Sie überquerten die Lichtung. Jemand stand da, als erwartete er sie. Es war Holb. Im Schein einer Fackel richte er seinen gespannten Pfeil auf sie. Und nicht nur er empfing sie auf diese unfreundliche Art. Immer mehr Wyk tauchten auf und bedrohten sie mit ihren tödlichen Waffen.

„Wir haben Tarduss!“, rief Uson. Er nahm den Beutel ab und hielt ihn in die Höhe.

„Bring ihn her!“, rief Holb. Uson machte ein paar zögerliche Schritte. Da rannte ein Wyk auf ihn zu, packte ihn und warf ihn zu Boden. Ein weiterer Wyk holte schwere Ketten aus seinem Gürtel und legte Uson Hand- und Fußfesseln an. Das Klirren war ein unerträgliches Geräusch!

Melindis sah Tio an, er stand wie versteinert. Sie warf einen Blick zum Waldrand, er war nur wenige Schritte entfernt. Mehrere Pfeile waren auf sie gerichtet, aber keiner der Schützen schaute sie an. Alle blickten auf den gefesselten Uson. Blitzschnell drehte Melindis sich um und lief in das Dunkel des Waldes hinein. Jemand folgte ihr. Sie rannte so schnell wie noch nie in ihrem Leben, ihr Atem raste, ihre Ohren rauschten, da fuhr ein stechender Schmerz durch ihr rechtes Bein. Im Laufen tastete sie nach hinten. In ihrem Oberschenkel steckte ein Pfeil. Das Bein knickte ein.

Sie stolperte.

Sie fiel.

Sie lag am Boden.

Oben im Baumhaus angekommen, hatte Holb Melindis nicht nur Hand- und Fußfesseln angelegt, sondern sie zusätzlich an der Wand festgekettet. Immerhin war er so umsichtig gewesen, ihre Wunde mit Tarduss zu behandeln, bevor er ging. Die Kette war so kurz, dass sie nur sitzen konnte. An die Bretterwand gelehnt, dachte sie zornig, enttäuscht und selbstgerecht an Uson und Tio. Sie hatte die beiden gewarnt. Aber Uson hörte ja auf niemanden, und Tio hörte nur noch auf seinen viel zu kleinen Freund.

Sie war allein in diesem hoch gelegenen Baumhaus, dessen Leiter Holb entfernt hatte. An ihren Zauberstab kam sie nicht heran, so sehr sie es auch versuchte. Sie kauerte auf dem Boden und vermisste Krötel. Zum ersten Mal, seit Melindis das Silenreich verlassen hatte, fehlte ihr die kluge Unke. Sie hätte gewusst, was zu tun wäre, vielleicht. Ganz bestimmt hätte sie irgendetwas Ironisches gesagt und sich darüber beschwert, dass sie schon wieder nicht auf dem Erdboden sein konnte. Melindis zerrte an den Ketten, natürlich vergebens. Es war alles so furchtbar schiefgelaufen, seit sie beschlossen hatte, keine Prinzessin mehr zu sein. Wütend schlug sie mit dem dicken Metallring, der sich um ihre Hände schloss, auf den Boden. Sie drosch auf das Holz, nochmal und nochmal und nochmal, und zählte dabei die Schläge. Bei einhundertvier hörte sie, wie die Leiter an die Brüstung gelehnt wurde. Jemand stieg hinauf, die Tür wurde geöffnet.

„Hör auf damit“, sagte eine Frau, die sie nie zuvor gesehen hatte. Ihre Augen leuchteten genau wie Usons in diesem unglaublichen Hellgrünblau, ihre langen, rotblonden Haare waren zu einem Zopf geflochten, der sich um ihren Kopf wand. Sie sah Melindis freundlich an, aber die hämmerte und hämmerte und warf ihr böse Blicke zu.

„Damit wirst du nichts erreichen“, sagte die Frau.

„Immerhin habe ich erreicht, dass du gekommen bist“, entgegnete Melindis. „Ich möchte wissen, wie es Enna geht. Und Tio und Uson. Vorher höre ich nicht auf.“ Erneut hob sie ihre gefesselten Hände zum Schlag.

„Wenn es weiter nichts ist“, sagte die Frau gelassen. „Enna geht es durch euer Tarduss jetzt besser. Es war höchste Zeit, dass sie es bekommen hat. Fast hätte sie es nicht geschafft. Und den Jungs geht es nicht anders als dir.“

„Sie sind gefangen, gefesselt, angekettet“, sagte Melindis bitter.

„Was habt ihr euch nur gedacht, als ihr Tio mitgenommen habt?“, fragte die Rotblonde.

„Tio war euer Gefangener! Niemand will in Ketten leben, oder?“

Darauf bekam Melindis keine Antwort. „Was wird jetzt?“, fragte sie.

„Das werden wir sehen“, antwortete die Frau.

Kurz darauf brachte die Frau Essen. Sie nahm Melindis die Handfesseln ab, als jemand von unten rief.

„Anne? Du solltest mal kurz kommen! Unner schreit nach dir!“

„Gleich!“, rief die Frau. Sie machte sich daran, Melindis wieder anzuketten.

„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Melindis. „Ich bin sehr, sehr hungrig, hier steht das Essen direkt vor meiner Nase und ich komme nicht ran. Ich bin mit den Füßen immer noch an die Wand gekettet. Ich kann doch gar nicht weg.“

Anne warf ihr einen skeptischen Blick zu, schob ihr das Essen hin und verließ das Baumhaus, ohne ihre Hände erneut zu fesseln.

Endlich konnte Melindis den Stab aus der Hose ziehen. Wieder einmal war sie unendlich dankbar dafür, dass Trine ihr diese umwandelte Hose genäht hatte. Holb hatte ihr befohlen, alle Taschen zu leeren, bevor er sie fesselte, doch die geheime Öffnung für den Zauberstab blieb für ihn unsichtbar. Melindis steckte den Stab unter den Hosenbund und machte sich über das Essen her. Beim letzten Mal hatte man ihr ein Betäubungsmittel in die Suppe gegeben, aber ihr Hunger war zu groß, das Risiko ging sie ein. Diesmal konnte es ihr egal sein, falls sie jetzt gleich einschlief. Wenn sie dann wieder aufwachte, würde es Nacht sein.

Sie schlief nicht. Nachdem Anne zurückgekommen war und ihre Hände erneut angekettet hatte, saß Melindis lange da und versuchte, nicht zu denken. Es erwies sich als unmöglich. Erst als alle Lichter erloschen, alle Gesänge verklungen und alle Rufe verstummt waren und draußen wie drinnen tiefste, finsterste Nacht hereinbrach, traute sie sich, den Zauberstab aus dem Hosenbund zu ziehen. Ihre Glieder taten weh vom langen Sitzen. Sie löste die Ketten und das Schloss an der Tür und reckte sich ausgiebig. Um diese Zeit würde niemand mehr kommen, um sie zu kontrollieren. Sie schob den Stab zurück in seine Tasche und öffnete leise die Tür.

Noch nie war sie in solcher Dunkelheit geklettert, doch sie hatte keine Angst. Schon beim Aufstieg war ihr der junge Baum aufgefallen. Er stand direkt vor der Brüstung des Baumhauses. An seinen biegsamen Ästen hangelte sie sich jetzt nach unten. Sie musste die große Lichtung finden, von dort aus war es leichter, sich zu orientieren. Sie blieb stehen, überall knackte und raschelte es. Wenn sie nur ein bisschen Licht hätte …

Sie fummelte den Zauberstab wieder aus seiner engen Tasche und versuchte, ihn zum Leuchten zu bringen. Aber wie? Trine hatte es ihr nie gezeigt. Melindis probierte ein paar Bewegungen aus, die sie bereits kannte, und wandelte sie leicht ab. Als sie fast schon aufgeben wollte, glomm der Stab schwach auf. Im selben Moment knackte und raschelte es neben ihr im Unterholz. Erschrocken fuhr sie herum – und gleichzeitig erlosch der Stab wieder. Verdammt! Mit zitternden Händen wiederholte Melindis ihre letzte Bewegung mit dem Zauberstab, und er leuchtete! Sie richtete den Lichtkreis auf den Boden und konnte gerade noch sehen, wie ein erschrockenes Kaninchen davonhoppelte. Melindis war unendlich stolz. Diesen Zauber hatte sie ganz allein herausgefunden.

Auf ihrer Suche irrte sie endlos zwischen herabhängenden Strickleitern umher, stieß sich an Holzleitern, ging wieder zurück zur Lichtung, schlug eine neue Richtung in den Wald hinein ein, suchte nach bekannten Stellen. Wie sollte sie nur das Baumhaus finden, in dem Enna mit ihren Eltern lebte? Mutlos lehnte sie sich an einen Baumstamm und versuchte, sich den Weg in Erinnerung zu rufen. Sie konnte nicht warten, bis es heller wurde, es musste jetzt gelingen, oder es gelang gar nicht mehr. Von Baumstamm zu Baumstamm schlich sie, blieb stehen, horchte, schlich weiter. Plötzlich stieß sie hart gegen eine Art Brett. Es kippte krachend um, sie kippte mit ihm, und spürte, als sie quer darüber lag, dass es eine Trage war. Es war die Trage, mit der die schwer verletzte Enna auf das Baumhaus befördert worden war!

Hastig löschte Melindis das Licht ihres Zauberstabs. Gerade noch rechtzeitig, denn über ihr wurde jetzt eine Tür geöffnet. Jemand trat auf den Balkon.

„Was ist da los?“

Das war Olve, Ennas Vater!

„Hier ist Melindis!“, rief Melindis so leise, wie es nur ging. Hatte er sie überhaupt gehört?

Noch eine Tür wurde quietschend geöffnet.

„Alles in Ordnung, Olve?“, hörte Melindis eine fremde Männerstimme.

„Denke schon. Das war wieder dieses Wildschwein. Wird Zeit, dass es mal jemand erlegt!“

„Ich kümmer mich drum!“

„Alles klar Henner. Gute Nacht!“

Zwei Türen wurden geschlossen. Melindis wartete. Da hörte sie ein zischendes Geräusch von oben. Sie ließ den Stab kurz aufleuchten. Eine Strickleiter baumelte direkt vor ihrer Nase. Ohne zu zögern kletterte sie hinauf. Oben stand Olve. Wortlos nahm er sie in die Arme und führte sie ins Innere des Baumhauses.

Ennas Mutter war dabei eine kleine Kerze zu entzünden, die schwach den Raum erhellte. Im nächsten Moment erkannte Melindis die Gestalt, die auf dem Bett saß und ihr die Arme entgegenreckte.

„Enna!“, flüsterte Melindis und stürzte auf das Mädchen zu, mit dem sie so viel verband, und um das sie sich so sehr gesorgt hatte. Zu gern hätte sie Enna herzlich umarmt, aber sie sah so zerbrechlich aus! Schließlich reichte sie ihr nur beide Hände und drückte sie fest. Dabei bemerkte sie die Kette, die an ihren Gelenken klirrte.

„An diese blöden Dinger werde ich mich nie gewöhnen“, sagte Enna mit einem schiefen Lächeln.

„Einen ganz kleinen Moment“, sagte Melindis. Sie zog den Zauberstab und öffnete zuerst Ennas Hand- und Fußfesseln, dann auch die ihrer Eltern.

„Heiliger Holberdreck, darauf warte ich seit ewigen Zeiten“, rief Ennas Mutter und hielt sich erschrocken den Mund zu. Mit angehaltenem Atem horchten alle in die Stille hinein. Doch nichts rührte sich.

„Wenn wir hier weg wollen, muss das jetzt geschehen. Ich meine sofort!“, flüsterte Melindis. „Und wir müssen Tio und Uson befreien, bevor es hell wird. Wisst ihr, wo sie sind?“

Olve nickte.

„Und du, Enna, kannst du laufen?“

„Es wird gehen. Es muss gehen“, sagte Enna energisch.

„Dann lasst uns abhauen“, sagte Melindis.

In aller Hast stopften Olve und seine Frau ein paar Sachen in zwei Beutel, aber bevor Ennas Mutter die Kerze ausblies, warf sie noch einen langen Rundumblick in den Raum. „Es war doch auch schön hier“, sagte sie leise.

Enna und ihre Mutter machten sich eilig und leise zugleich auf den Weg zum Startplatz des Dorchon. Olve führte Melindis zu dem winzigen Baumhaus, in dem Tio gefangen war. Es gab weder Leiter, noch Strickleiter: Melindis kletterte den Stamm hinauf, sie fand gerade genug Halt in der Borke des Baumes. Ihre Hände brannten, als sie endlich oben war. Die Tür war von außen verriegelt und mit einem starken Schloss gesichert. Drinnen schnarchte Tio; es hörte sich an wie ein knarrender Baum im Sturm. Sie musste Tio ein paarmal heftig schütteln, bis er endlich aufwachte, dann hielt sie ihm sofort den Mund zu.

„Komm mit“, flüsterte sie, während sich die Fesseln von seinen Gelenken lösten und klirrend zu Boden glitten. Schweigend kletterten sie hinab, schweigend folgten sie Olve, der sie zielsicher zu dem Baumhaus führte, in dem Uson gefangengehalten wurde. Es lag etwas abgelegen und sehr, sehr hoch in den Ästen. Melindis leuchtete den Baumstamm ab. Die Rinde war so glatt, zu klettern wäre hier komplett leichtsinnig Sie schloss die Augen und atmete tief ein.

„Muss er überhaupt mit uns gehen?“, fragte sie.

„Melindis?“, flüsterte Tio. Sein Entsetzen war fast greifbar.

„Ich meine: Will er es überhaupt? Er ist doch Wyk ...“

„Er ist ein Gefangener der Wyk!“, flüsterte Tio eindringlich.

„Ja, schon gut“, sagte Melindis.

„Aber hier ist keine Leiter, die hoch genug wäre. Wie kriegen wir ihn da runter?“, fragte Olve.

„Lasst mich mal was versuchen“, sagte Melindis. Sie richtete den Zauberstab nach oben.

„Es muss klappen, Melindis!“, flüsterte Tio.

„Dann musst du still sein“, erwiderte sie. Sie löschte den Lichtschein des Zauberstabes, zielte lange aufwärts, sehr lange, nichts geschah. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Tio würde ewig sauer auf sie sein, wenn sie bereit war, seinen Freund zurückzulassen. Aber sie hatte auch Angst. Was sie vorhatte, war extrem riskant.

Sie ließ ihren Arm sinken.

„Melindis ...“, hörte sie Tio.

„Sei still!“, sagte sie.

„Wenn du es nicht hinkriegst ...“

„Halt jetzt endlich die Klappe!“, zischte Melindis. „Geht weg. Lasst mich in Ruhe!“

Sie hörte, wie sich die beiden entfernten. Jetzt war sie alleine. Nur sie und der Zauberstab und ihre Aufgabe. Und Uson, viel zu weit entfernt. Da hörte sie ein Geräusch von oben. Sie ließ den Zauberstab aufleuchten. Uson schaute auf sie herab. Seine Fesseln hatten sich also doch gelöst! Jetzt durfte sie nicht zaudern und nicht zweifeln. Sie hatte Trine auf das niedrige Dach des windschiefen Waldhauses befördert. Sie hatte den Beutel mit Tarduss über den Fluss schweben lassen. Und jetzt ließ sie Uson schweben. Aber das hier war dreimal so hoch und tausendmal schwerer. Sie hatte es geahnt. Sie hatte gewusst, dass Magie, die an Uson ausgeführt wurde, mehr Kraft benötigen würde, als bei jeder anderen Person. Es fühlte sich an, als würde sie ihn eigenhändig nach unten tragen, oder vielmehr, als müsste sie mit aller Kraft seinen Fall abbremsen. Ihr Körper krümmte sich nach vorn. Auf keinen Fall durfte sie aufhören, auf Uson zu zielen. Sie musste sich setzen, ihr Atem ging stoßweise, ihr erhobener Arm zitterte. Uson sank unaufhörlich abwärts. Endlich stand er auf dem Waldboden, Melindis war völlig erschöpft. Sie spürte, wie sie hochgezogen, wie sie vorwärts gezerrt wurde, hörte Tio. „Kannst du Yllia herbei holen, Uson?“

„Sie kommt“, sagte er.

„Lauf!“, rief Olve, aber Melindis konnte nicht mehr. Dieser Schwebezauber hatte sie ihre ganze Kraft gekostet. Sie knickte in der Mitte ein, stützte sich zuerst mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und fiel dann auf die Knie. Sie fühlte sich, als wolle eine unbekannte Macht Energie aus ihr saugen. Nicht einmal zu dritt schafften es Tio, Olve und Uson sie wieder aufzurichten.

„Geht, flieht! Ich komme zurecht. Ich habe meinen Zauberstab. Ich werde euch finden, irgendwann.“

„Auf keinen Fall! Du kommst mit uns!“, flehte Olve.

„Es geht nicht. Glaub es mir. Ich bin völlig leer.“

„Du musst ...“, fing Uson an. Da nahm Melindis alles an Kraft zusammen, was noch in ihr war, und legte sie in ihre Stimme. „Uson, dieses eine Mal tust du jetzt, was ich sage. Dieses eine Mal! Lauft!“, rief sie, und in diesem Augenblick hörten sie Schritte.

„Wir werden uns wiedersehen, ich verspreche es“, keuchte Melindis. Und endlich setzten sich Tio, sein Vater und Uson in Bewegung. Melindis schob den Zauberstab in seine Tasche. Tio rief: „Danke, Melindis!“, aber seine Stimme war, als würde jemand in ein Kissen hinein rufen, ganz dumpf, ganz weit weg, wie in einem Traum.

GEFANGEN

Wie sie zum Baumhaus gekommen war, wusste sie nicht. War sie getragen worden? Geschleift? Gerollt? Daran, dass sie eine Treppe hinaufgestiegen war, erinnerte sie sich dumpf. Anne hatte sie geschoben und ein Mann von oben an ihr gezogen, dann war sie auf ein Bett gesunken, und darauf lag sie jetzt. Irgendetwas fühlte sich verkehrt an. Zwei Kinder saßen vor ihr auf dem Boden und bestaunten sie mit großen Augen.

„Einmal hat Uson hier gewohnt“, sagte der Junge, der vielleicht drei war.

„Pssst! Die soll doch schlafen, Unner!“, sagte das Mädchen.

„Aber sie hat doch jetzt die Augen wieder auf!“

„Wo ist Uson jetzt?“, fragte Melindis. Sie wollte sich aufrichten, doch sie war mit vier breiten Ledergurten an das Bett gebunden. Verzweifelt versuchte sie, wenigstens ihre Arme zu befreien, aber die Gurte waren so eng, sie konnte sich keinen Millimeter rühren. „Verdammter Doppeldreck!“, sagte sie.

„Verdammt sagt man nicht“, belehrte sie Unner. „Uson ist davongeflogen. Mit seinem Dorchon.“

„Und was ist mit Tio, Enna und ihren Eltern?“, fragte Melindis.

„Die sind böse. Bestimmt ist das Mädchen wieder abgestürzt, wie schonmal“, sagte der Junge und ahmte mit seinen Händen einen Absturz nach. „Piiiiiiuuuuuutschschsch!“, rief er.

„Uson ist auch böse“, sagte das Mädchen mit finsterer Miene. Sie war vielleicht fünf oder sechs.

„Gar nicht, Lelle!“, rief Unner empört. „Uson ist mein Freund!“

„Er hat uns alle verraten“, entgegnete Lelle traurig.

„Man wird sie finden. Und dann werden sie bestraft werden“, hörte Melindis die Stimme von Anne. Sie kam eine Treppe herunter, die mitten im Baumhaus in ein zweites Geschoss führte. „Geht nach draußen. Ich muss mit Melindis reden.“

„Ich hab auch mit ihr geredet. Sie ist sauer, weil sie gefesselt ist“, berichtete Unner.

„Sie ist auch böse“, flüsterte Lelle, da schob Anne beide hinaus. Dann stellte sie sich direkt über Melindis und sah sie eindringlich an.

„Mir ist ein Rätsel, wie euch das gelingen konnte. Ich nehme an, dass Olve dahinter steckt. Er ist ein kluger und besonnener Mann. Er muss es gut geplant haben. Du wirst uns alles erzählen“, sagte sie und machte sich daran, die Gurte zu lösen. Melindis war froh, dass Anne glaubte, Olve sei für die Flucht verantwortlich. Je weniger Verdacht auf sie selbst fiel, desto besser.

Die Nebensonne schickte ein schwaches Abendlicht durch die Zweige, als Anne Melindis über mehrere Hängebrücken, Leitern und Pfade durch das Wykdorf führte. Sie bewegten sich nur langsam vorwärts, die Kette zwischen Melindis‘ Fußfesseln war kurz, ihre Schritte ebenso, und ihre Hände steckten diesmal in viel zu engen Fesseln. Alle Wyk, die ihnen begegneten, sahen zur Seite. Nur Rouscha, die auf ihrem Balkon saß und das Seil ihres Bogens wachste, bedachte Melindis mit einem halb abfälligen, halb triumphierenden Blick, und als sich Melindis auf der Hängebrücke noch einmal umdrehte, war Rouscha aufgestanden und ihnen ein Stück gefolgt.

„Bleib, wo du bist, Rouscha!“, rief Anne.

Der Umriss des Baumhauses, das sie schließlich erreichten, war von unten gerade noch zu erkennen. Er bildete einen perfekten Kreis. Sie stiegen eine Treppe hinauf. Auf dem Balkon nahm ihr Anne die Fesseln ab. Sogar die Fußfesseln entfernte sie. „Zieh dich aus!“, sagte Anne.

„Was? Wieso?“

„Zieh dich aus, Melindis!“

„Ich ziehe mich nicht aus.“

„Rhena? Komm mal bitte raus“, rief Anne laut. Die Tür wurde geöffnet. Eine kleine, stämmige Frau streckte den Kopf heraus.

„Was?“

„Sie will sich nicht ausziehen.“

Bevor Melindis auch nur Atem holen konnte, packte Rhena sie an den Händen und drückte ihr die Arme hinter dem Rücken zusammen.

„Rhena, es geht doch auch ohne …“, flehte Anne, aber Rhena unterbrach sie: „Das sind die Regeln.“

Mit einer einzigen Handbewegung riss Rhena Melindis‘ Hemd entzwei und warf es über die Brüstung. Melindis wollte schützend die Hand auf ihren Beutel legen, doch er war gar nicht da, wann hatte man ihn ihr abgenommen? Wie konnten sie ihn trotz seiner Umwandlung finden? Sie wehrte sich nicht, als Rhena das Hemd durch eine kratzige, viel zu kurze Kutte ersetzte, sie fing erst an zu kämpfen, als diese kleine, bärenstarke Frau an Melindis‘ Hose zerrte.

„Nicht! Das dürft ihr doch nicht!“, rief Melindis und packte Rhenas Handgelenke. Aber sie hatte keine Chance gegen deren rücksichtslose Kraft. Das letzte, was Melindis sah, bevor sie in das Baumhaus gestoßen wurde, war die Hose, die halb umgestülpt über ihren Schuhen lag.

Es war stockdunkel im Baumhaus. Man musste noch die kleinste Ritze verschlossen haben, kein Lichtstrahl drang herein, hier war nur Schwärze und Finsternis.

„Was ist euer Plan?“, hörte Melindis eine Männerstimme. War sie gemeint? Musste sie antworten? Wieder legte sie ihre Hand auf die Stelle, an der sonst der Brustbeutel baumelte, als wolle sie sich selbst schützen.

„Euer Plan? Was habt ihr vor?“, wiederholte der Mann.

„Es …, es gibt doch gar …, gar keinen Plan“, stotterte Melindis.

„Wohin sind sie geflohen?“, fragte eine Frau. Ihre Stimme hörte sich an, als wäre die Frau schon sehr alt. Melindis drehte sich in ihre Richtung. „Antworte!“, rief die alte Frau.

„Ich weiß es nicht!“

„Wie konntet ihr entkommen?“, das war wieder der Mann von vorhin. Melindis zögerte.

„Wie konntet ihr entkommen?“, fragte wieder die alte Frau.

„Wie konntet ihr entkommen?“, rief eine Männerstimme sehr nah rechts von Melindis.

„Wie konntet ihr entkommen?“, wiederholte eine Frau links von ihr, und plötzlich kam es von allen Seiten: „Wie konntet ihr entkommen?“

Es wurden immer mehr Stimmen, sie murmelten, sie zischten, sie brummten. Immer leiser wurden sie, bis nur noch ein Flüstern zu hören waren, und gerade, als Melindis hoffte, sie würden endlich verstummen, schwollen sie erneut an. „Wie konntet ihr entkommen?“

Es gellte und kreischte im ganzen Raum, es schrillte und dröhnte in Melindis‘ Ohren, sie spürte es in ihrem ganzen Körper. Er fing an zu vibrieren, ihre Hände zitterten, die Zähne schlugen aufeinander. Endlich schaffte sie es, die Arme anzuheben, um sich die Ohren zuzuhalten, da wurden sie von hinten gepackt, nach unten gedrückt und festgehalten.

Jetzt war es ganz still. Still und stockdunkel. Und wären nicht die fremden Hände gewesen, die ihre Knochen wie Schraubstöcke umklammerten, hätte Melindis geglaubt, sie wäre plötzlich allein im Raum.

„Antworte!“, befahl eine tiefe, laute Männerstimme hinter ihr. Sie blieb stumm, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Da fing es wieder an: „Wie konntet ihr entkommen?“, aus tausend Stimmen gerufen.

Schon setzte auch das Zittern wieder ein. Es wurde stärker, je lauter und vielfacher die Stimmen um sie herum schwirrten und in sie hineindrangen. Sie spürte, wie sie wegdriftete. Es fühlte sich an, als würde ihre Seele aus ihrem Körper fliehen. Sie holte tief Luft und schrie:

“Jemand hatte einen Schlüssel!“ Augenblicklich wurde es leise. Ihre Hände wurden losgelassen.

„Wer?“

Sie schwieg und umfasste ihren schmerzenden Arm. Da hörte auch das Zittern auf.

„Wer?“

„Ich kenne ihn nicht!“

„Du lügst!“

„Henner!“, rief sie.

„Er hieß Henner!“

Sie bereute es im selben Moment. Der Name war ihr nur eingefallen, weil sie ihn vor Kurzem zum ersten Mal gehört hatte. Was, wenn Olves Nachbar jetzt bestraft wurde?

„Gut“, sagte die alte Frau. „Es gibt ein paar Henners im Dorf. Wir werden sie befragen. Wo sind die anderen?“

„Das weiß ich nicht, wirklich nicht!“

„Wo wolltet ihr hin?“

„Ich weiß nicht. Mir hat niemand etwas gesagt. Ich bin einfach mitgelaufen!“

„Das ist nicht wahr!“, hörte Melindis eine Männerstimme. Und dann hörte sie nichts mehr. Auf einmal war es wieder so schrecklich still. Melindis lauschte verängstigt. War da ein Atmen? Bewegte sich jemand? Waren alle weg? Wann waren sie gegangen? War sie selbst überhaupt noch hier? Sie fing wieder an zu zittern. Die Stille hielt an, und es war so finster, und es dauerte so lange, und je länger diese beängstigende Abwesenheit von irgendeinem Lebenszeichen anhielt, desto verwirrter wurde Melindis. Nur der Schmerz in ihren Armen erinnerte sie daran, dass es sie selbst noch gab.

„Hallo?“, sagte sie endlich, und als noch immer nichts geschah, zerfiel um sie herum die Welt. Zuerst verschwand die Zeit, dann verschwand sie selbst.

Da traf sie ein eiskalter Schwall Wasser. Sie war klatschnass, aber die Welt war zurückgekehrt, und mit ihr die Zeit. Sie spürte ihr Herzklopfen und hörte ihren eigenen Atem.

Rhena schob sie wieder nach draußen, rieb sie mit einem Tuch trocken, wickelte sie darin ein und zog ihr einen neuen, trockenen Kittel über den Kopf. Dann führte sie Melindis zurück in das Baumhaus, aus dem sie geflohen war, fesselte ihr die Hände auf dem Rücken, kettete sie an und prüfte doppelt und dreifach die Verschlüsse, bevor sie wortlos ging.

Melindis hockte auf dem Boden und betrachtete ihre nackten Zehen. Ihre Hose fehlte. Und mit ihr der Zauberstab.

Sie musste eingeschlafen sein.

„Es ist doch nicht zu glauben, dass du trotz alledem selig schlummerst“, hörte Melindis Krötels Stimme. Ihr Fittich saß direkt vor ihr. Sie legte die Hand auf den Boden, da hopste die Unke in ihre Handfläche. Wie kühl der Bauch war, wie weich und verletzlich. Und was für eine Wohltat es war, endlich ihren Fittich wiederzuhaben. Jemand stieg die Leiter hinauf, bald würde die Tür aufgehen. Sie musste Krötel schützen!

Das Türschloss wurde geöffnet, und Melindis erwachte. Sie hatte von Krötel nur geträumt. Ihr Fittich war nicht bei ihr.

Es war hell, draußen und drinnen, und es war kalt; vermutlich war es früher Morgen. Sie saß ganz verdreht auf dem Boden, ihr Nacken schmerzte und beide Arme taten so weh. Die Tür ging auf, und Anne kam herein. Aus einem Korb holte sie eine Schüssel mit heißem Brei. Da nahm ihr Anne die Handfesseln ab und legte ein warmes Tuch um ihre Schultern. Sie goss Tee in einen Becher und sofort roch es intensiv nach Kräutern. Der Durst kam so plötzlich und war so überwältigend, dass sich Melindis die Zunge verbrannte, als sie den ganzen Becher in einem Zug leer trank. Auch ihre Kehle brannte wie Feuer.

„Ich habe gehört, was sie mit dir gemacht haben“, sagte Anne.

„Du warst es die mich zu ihnen gebracht hat“, entgegnete Melindis.

„Es tut mir leid. Ich ahnte nicht, wie weit sie gehen würden. Sie haben dich verhört wie eine Erwachsene. Das ist nicht richtig. Was ist mit deinen Armen? Sie sind ganz blau.“

„Jemand hat sie ganz arg fest gehalten.“

„Wer?“

„Ich konnte doch gar nichts sehen.“

„Stimmt.“

Anne holte eine Salbe aus dem Korb und strich sie über die blauen Flecken.

„Sebinah hat sie hergestellt, Tios‘ und Ennas Mutter. Sie ist eine gute Heilerin, sie hat vielen hier geholfen. Wo sie wohl sein mag?“

„Ihr braucht sie jetzt nicht mehr. Ihr habt ja jetzt das Tarduss“, sagte Melindis mit einem bitteren Unterton. Sie spürte, wie wohltuend sich die Salbe auswirkte. Aber der Schmerz ließ längst nicht so gut nach wie durch Tarduss.

Anne sah sie forschend an. „Wenn du uns sagst, wo sie sind, lassen wir dich frei“, sagte sie sanft.

„Ich weiß nicht, wo sie sind.“

„Vielleicht fällt es dir noch ein. Ich befürchte, dass du sonst noch einmal befragt werden musst.“

Melindis sah diese schöne Frau mit ihren unglaublich leuchtenden Augen entsetzt an. „Ich weiß es doch nicht! Ich weiß es wirklich nicht! Und ich kann das nicht noch einmal durchhalten ...“

Anne setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie sagte lange nichts, wiegte Melindis liebevoll, sie roch so gut.

„Iss den Brei, Melindis. Er wird dir guttun.“

Bis Anne das nächste Mal wiederkam, hatte Melindis nachgedacht.

„Olve und Sebinah haben die Bücher für euch gelesen, richtig?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig.

„Ja, richtig“, antwortete Anne.

„Ich kann auch lesen. Ich könnte ihr Werk fortsetzen. Ich kann euch also nützlich sein“, sagte Melindis und bemühte sich so sehr, stark und überzeugend zu wirken.

„Das ist wahr. Du könntest uns nützlich sein. Aber am wichtigsten wäre es, zu wissen, wo sich Uson und alle anderen aufhalten und was sie vorhaben.“

„Anne, ich weiß es doch nicht!“

„Und wenn du es wüsstest, würdest du es uns freiwillig sagen?“

Melindis zögerte.

„Siehst du, genau das ist der Grund, weshalb du befragt wurdest und womöglich weiter befragt werden wirst.“

„Nein, nein, bitte nein! Nicht noch einmal! Bitte! Ich weiß alles über Tarduss! Ich habe eine Prüfung abgelegt, und könnte euch so viel erzählen …“

„Melindis, das kannst du uns ja alles beibringen. Es wäre schön, wenn du das machen würdest. Aber zuerst musst du uns die anderen Fragen beantworten.“

„Ich kann sie euch nicht beantworten. Ich weiß nichts. Ich kann nicht noch einmal in diesen Raum gehen“, flüsterte Melindis.

Melindis musste eingedöst sein. Sie wachte davon auf, dass jemand ihre Fesseln löste. Rhena stand über ihr und zog sie mit einem Ruck an beiden Armen hoch. Melindis versuchte sich zu wehren, aber sie gab schnell auf, denn Rhena hatte einen kräftigen, unerbittlichen Griff und fasste genau um die Stellen mit den blauen Flecken. Wieder ging es hinauf und hinab durch das Dorf. Immer, wenn Melindis nicht schnell genug war, packte sie Rhena an den Armen. Sie schien genau zu wissen, wo es am meisten wehtat.

Schließlich stiegen sie die Leiter zum kreisrunden Baumhaus hinauf. Melindis wurde in den schwarzen Raum geschoben. Die Tür fiel krachend zu, der helle Tag wurde einfach ausgesperrt. Im selben Augenblick ging auch in Melindis das Licht aus. Sie hörte, dass sie etwas gefragt wurde, sie hörte, wie sich die Stimmen wieder vervielfachten und dann lauter und leiser wurden, aber diesmal drangen sie nicht bis in ihr Inneres, denn da war ja auch nur schwarz und kalt und für nichts sonst Platz. Sie legte sanft die Hand um die Stelle am rechten Arm, die jetzt am meisten schmerzte.

Sehr lange stand sie so da und sagte nichts, während um sie herum bestimmt ganz viel gefragt und gesagt, gerufen und geflüstert wurde, oder auch nicht denn das einzige, was sie noch wahrnahm, waren ihre Finger auf ihrer Haut.

Plötzlich ging die Tür auf. Licht fiel in den Raum und irgendwie auch in Melindis hinein. Doch bevor sie auch nur eines der Gesichter erkennen konnte, wurde sie an ihrer Schulter vorwärts gestoßen.

„Raus mit dir!“

Der Stoß kam so unerwartet, dass sie stolperte. Sie konnte sich nicht mehr auffangen und knallte mit ihrer linken Seite hart auf die Türschwelle. Etwas knackte. Und sofort breitete sich ein dunkler, bohrender Schmerz auf der linken Seite ihres Brustkorbes aus. Sie konnte nur noch ganz flach atmen.

Auf einmal kniete Anne neben ihr. Sie wollte Melindis aufhelfen, aber Melindis hob abwehrend die rechte Hand und rappelte sich vorsichtig auf.

Anne dirigierte Melindis durch das Auf und ab ihres Rückweges. Jeden Schritt, jede Bewegung und jedes Atemholen musste Melindis sorgfältig abwägen. Jedes Zuviel und Zuweit führte dazu, dass ihr Brustkorb wie mit einem langen Stab durchbohrt wurde. Es war schlimmer als die gebrochene Schulter. Es war viel schlimmer, und es steigerte sich mit jedem Atemzug.

„Was ist? Hast du dir so sehr beim Fallen weh getan?“, fragte Anne, als Melindis wieder einmal stehenblieb.

„Ich bin nicht gefallen. Jemand hat mich gestoßen. Dann hat es so geknackt“, flüsterte Melindis.

„Jemand hat dich zu Boden gestoßen?“

Melindis wollte weiter in die Richtung gehen, die sie eingeschlagen hatten, aber Anne bedeutete ihr, umzukehren.

„Ich gehe nicht zurück, Anne. Bitte, lass mich nicht dahin zurückgehen!“

„Wir gehen zu mir. Es reicht jetzt. Die haben dir die Rippe gebrochen. Du wirst nicht mehr dort hingehen. Jedenfalls vorerst nicht.“

Dieser Schmerz verging nicht. Und er sorgte dafür, dass Melindis am liebsten ihren Körper verlassen und sich einen unversehrten gesucht hätte. Einen, in dem alles noch heil war, auch die Seele. Melindis‘ Rippe war gebrochen, hatte Anne gesagt, und ihr Vertrauen in diese Welt war zerstört. Nicht, dass ihr das alles angetan worden war, sondern dass es Personen gab, die bereit und fähig waren, jemanden so zu behandeln, quälte sie immer wieder. Niemals hätte eine Sile eine andere so heftig zu Boden gestoßen, dass sie sich verletzte, denn der Körper war heilig im Silenreich. Melindis fühlte sich, als hätte sie das Paradies verlassen und wäre direkt in der Hölle gelandet. Immer wieder wurde sie von der Erinnerung an diesen Schreckensraum überfallen, wie sie dastand: Schutzlos, verwirrt, verlassen.

Anne hatte sie zu sich nach Hause gebracht. Melindis saß stundenlang aufrecht im Bett, vielleicht tagelang; es kam vor, dass sie komplett ihr Zeitgefühl verlor. Reglos lehnte sie an der Wand, gestützt von einem großen, mit Heu gefüllten Kissen und sehnte sich nach der heilenden Kraft von Tarduss.

„Wo ist mein Brustbeutel?“, fragte sie Anne.

„Ich musste ihn abgeben“, antwortete diese.

„Wie hast du ihn gefunden?“

„Du hattest ihn in der Hand, als du zum ersten Mal hierher gebracht wurdest, warum?“

Es klopfte, und ohne ein „Herein“ abzuwarten betrat Rhena das Baumhaus.

„Ich nehme sie mit. Sie muss angekettet werden! Sie ist schon einmal geflohen“, sagte Rhena, aber Anne weigerte sich.

„Ihr wurde mindestens eine Rippe gebrochen. Sie kann sich nicht bewegen. Sie bleibt hier!“

„Das werden wir ja sehen“, sagte Rhena und ging.

Nicht lange darauf klopfte es. Bevor Anne hereinbitten konnte wurde die Tür geöffnet.

„Girio?“, sagte Anne überrascht. Respektvoll erhob sie sich und deutete so etwas wie eine Verbeugung an. Der alte Mann, der Melindis vor so vielen Wochen losgeschickt hatte, um Tarduss aus dem Silenreich zu stehlen, stand mitten im Raum und starrte Melindis mit eisblauen Augen an.

„Bleib sitzen, Anne. Ich komme wegen ihr.“ Melindis, brach sofort der Schweiß aus. Ihr Körper produzierte auf einen Schlag so viel davon, dass er von ihrer Stirn über die Nase rann und vom Nacken über den ganzen Rücken. Sie hatte Angst vor diesem alten Mann.

„Heb deine Arme“, sagte Girio.

„Das kann sie nicht“, sagte Anne.

„Sie soll die Arme heben. Heb sie hoch, Mädchen!“

Melindis wusste, wie weh das gleich tun würde. Sie atmete so schnell und flach, wie es ihr möglich war. Es gelang ihr, den linken Arm bis fast in Schulterhöhe zu bringen. Der rechte hob sich nur wenige Zentimeter. Girio trat zu ihr und nahm ihren schmerzenden Arm und zog an ihm, bis Melindis schrie.

„Girio, bitte“, hörte sie Anne.

„Ich sehe schon“, sagte Girio. „Hier, nimm das.“

Er befeuchtete seinen Zeigefinger mit der Zunge und stippte ihn in ein Holzkästchen. Dann hielt er ihn Melindis hin, die das Tarduss verwundert von seinem rauen Finger ableckte. Das alles fühlte sich sehr seltsam an, aber gleich darauf spürte sie, wie sich der Schmerz ein wenig aus ihrem Körper zurückzog. Plötzlich konnte sie tiefer atmen.

„Heb den Arm!“

Melindis tat, wie ihr geheißen. Es ging schon wesentlich besser. Noch einmal bekam sie eine kleine Dosis Tarduss von seinem Finger.

„Jetzt nochmal. Arme hoch!“

Melindis atmete tief ein, ihre Arme ließen sich bis Schulterhöhe heben.

„Erstaunlich“, sagte Girio. „Berichte mir, wie es sich entwickelt, Anne.“

Lelle und Unner saßen mit Melindis am Küchentisch und sangen für sie:

„Kannst du den Arm nicht heben,

nicht atmen, und dein Leben

ist lauter Pein,

wenn du allein

dich drehst und gehst und stehst,

dann merk dir diesen Knochen,

denn er ist wohl gebrochen“, sang Lelle, und Unner fiel eifrig ein:

„Sag‘s frei von der Lippe:

Es ist die Rippe.“

„Tolles Lied!“, sagte Melindis.

„Manchmal fallen Leute vom Baumhaus. Oder von der Leiter oder so. Dann muss man wissen, welcher Knochen gebrochen ist“, erklärte Lelle.

„Das ist schlau“, sagte Melindis und knackte ein paar Nüsse. Die Kette zwischen ihren Handschellen war gerade lang genug dafür.

„Papa hat mir das Lied beigebracht“, sagte Lelle.

„Er ist tot.“ Unner pulte einen Walnusskern aus der Schale und steckte ihn in den Mund.

„Oh, das ist schlimm“, sagte Melindis und hoffte, damit wäre das Thema erledigt, aber Lelle sagte: „Matländer haben ihn getötet. Ich hasse Matländer.“ Sie hob ihren extrakleinen Holzhammer und drosch mehrmals auf eine kleine Haselnuss ein.

„Jetzt ist sie ganz zermatscht“, beschwerte sich Unner.

Ab und zu atmete Melindis tief durch, einfach so, und weil es großartig war zu atmen, ohne, dass sie das Gefühl hatte, ein Messer würde ihr zwischen die Rippen gestoßen. Es hatte drei Tage gedauert, bis die Rippe verheilt war, Melindis rechnete jetzt jeden Augenblick damit, dass Girio oder Rhena erschien, um sie wieder abzuführen.

Sie hatte Anne darum gebeten, nach ihrer Hose zu suchen.

„Ich mag keine Kittel“, hatte sie behauptet. „Und diese Hose bedeutet mir wirklich sehr viel.“ Das war nun nicht gelogen. „Ich werde sehen, was ich machen kann“, hatte Anne gesagt, aber Melindis befürchtete, dass es ihr nicht wichtig genug war.

Noch am selben Tag erschien Girio erneut.

„Du wirst den Rest des Buches lesen, und uns berichten, was darin steht“, sagte er ohne Umschweife.

„Werde ich noch einmal befragt?“

„Vorerst nicht.“

Er brachte sie in das Baumhaus, in dem Tio mit seiner Familie gelebt hatte. Holb wartete schon auf sie. Er kettete Melindis mit den Beinen an einen Stuhl, der fest mit dem Boden verschraubt war. Auch ihre Hände wurden angekettet. Das Buch lag vor ihr auf dem Tisch. Es war so dick wie Holbs Faust. Melindis konnte umblättern, sie konnte schreiben, sie konnte aus einem Becher trinken. Mehr ging nicht. Girio setzte sich neben Melindis. Er legte ein paar beschriebene Blätter auf den Tisch.

„Zunächst werden wir das Lesen üben. Es ist höchst kompliziert. Ich bin erst in der Vorstufe.“

Verwirrt betrachtete Melindis die Schrift, las die Worte auf Girios Blättern. Sie ergaben keinen Sinn. Auch dass es eine Vorstufe zum Lesen geben sollte, kam ihr komisch vor. Auf keinen Fall aber durfte sie sich etwas anmerken lassen.

„Vielleicht könnt Ihr mir erst einmal vorlesen, was da steht?“, schlug sie vor.

„Hengus berai vedergon ant ralut“, las er mit Mühe. Es war genau das, was auch auf dem Blatt stand. War das eine fremde Sprache?

„Äh, ja, sehr gut“, sagte Melindis. „Einen Moment, bitte.“

Sie schlug das Buch in der Mitte auf, blätterte darin. Mit gestochen scharfer Schrift war Seite um Seite mit Worten gefüllt, die sie lesen und verstehen konnte. In ihrer Sprache. Was war hier los?

„Vielleicht noch zwei oder drei Sätze von den Blättern?“ Sie wollte Zeit gewinnen. Girio fing stockend an, Wort für Wort vorzulesen, unterbrach sich aber bald.

„Olve und Sebinah haben sich lange geweigert, uns das Lesen beizubringen. Erst als ihr Junge da war, fingen wir damit an. Wir hätten alle zusammen freigelassen, sobald sie ihre Aufgabe erfüllt hatten. Leider ist Tio mit euch geflohen. Ihr habt unser Vertrauen missbraucht. Das war ein großer Fehler.“

Melindis sah das anders. Aber sie schwieg besser zu diesem Thema.

„Lass uns fortfahren. Ich bin leider nicht der Schnellste …“, sagte Girio schließlich.

„Na, doch, das geht doch schon ganz prima“, behauptete Melindis.

Wie ein eifriger Schüler beugte sich der alte Mann nun über die losen Blätter, und während er diesen Unsinn vorlas, begann Melindis zu begreifen, was hier vor sich ging. Wer auch immer ihm das Lesen beigebracht hatte, war darauf bedacht gewesen, dass er keine Buchstaben, sondern ganze Worte lernte. Und so las Girio auch. Er merkte sich das Aussehen der Worte, einzelne Buchstaben kannte er nicht. Tios Eltern hatten offenbar nicht gewollt, dass Girio wirklich lesen konnte, und sie hatten auch dafür gesorgt, dass er nicht wusste, was in dem Buch stand. Und warum das so war, wollte Melindis unbedingt herausfinden.

DAS DREIZEHNTE BUCH

Früh an jedem Morgen kam Holb, löste die Ketten, mit denen Melindis ans Bett gefesselt war, und befestigte sie am Stuhl. Schon während sie den Frühstücksbrei löffelte, blätterte Melindis im Buch, las die Notizen und verstand mehr und mehr.

Das Erste, das Melindis herausfand, war, dass dieses Buch gar nicht ungelesen geblieben war. Sebinah und Olve hatten offenbar schon ausgiebig damit gearbeitet und an den Enden der Kapitel Notizen hinzugefügt. Sie waren in einer anderen Schrift verfasst, eine andere Tinte war verwendet worden, alles sah frisch geschrieben aus.

Nachmittags kam Girio. Trotz seines hohen Alters ging eine ungeheure Strenge und Unerbittlichkeit von ihm aus. Doch Melindis wusste jetzt, was zu tun war. Sie beschäftigte ihn mit Fantasiewörtern, die sie in winziger Schrift auf die wenigen Blätter, die ihr zu Verfügung standen, kritzelte. Sie erfand komplizierte Konstrukte, las sie vor und ließ sie ihn so lange wiederholen, bis er alles auswendig konnte. Sie gab die geduldige Lehrerin und amüsierte sich insgeheim über seinen arglosen Eifer. Es war Balsam für ihre Seele, sich ihm überlegen zu fühlen. Sie hoffte nur, dass er diese fragwürdige Methode nicht anzweifeln würde, bevor sie alles wusste, was Tios Eltern im Buch an Erkenntnissen hinterlassen hatte. Die knappen Zusammenfassungen der elend langen Kapitel waren extrem hilfreich. Schon nach kurzer Zeit war Melindis so mit der Hälfte des dicken Buches durch.

Außer Girio bekam sie nur Holb zu sehen. Er blieb schweigend im Raum, wenn Girio übte, schweigend kettete er später Melindis ab, und an einer anderen Stelle wieder an, stellte das Essen hin, nahm die Schüssel weg und führte Melindis zur Toilette, wenn sie musste. Dort wartete er mit gespanntem Bogenseil. Zielte er die ganze Zeit auf das ausgeschnittene Herz in der Tür des Toilettenhäuschens? Lauschte er dem Plätschern darin, oder den munteren Waldvögeln oder dem Gesang und Gelächter im Dorf? Sie hatte ihn mit dem Zauberstab erstarren lassen, als er auf sie schießen wollte, vor langer Zeit. Holb ließ sich nicht anmerken, was er darüber dachte. Während einer dieser Besuche in dem Häuschen mit dem netten Herzen wurde ihr klar, dass Holb niemandem von ihrem Zauberstab erzählt haben konnte. Spätestens im schwarzen Raum wäre sie danach gefragt worden. War es ihm peinlich? Hatte er gar nicht mitbekommen, womit sie ihn außer Gefecht gesetzt hatte?

Als die Nächte kälter wurden, brachte er eine schwarze Metallkugel, die vermutlich mit Glut gefüllt war. Sie verströmte eine wohlige Wärme und sorgte dafür, dass sie nicht frierend und von kreisenden Gedanken gequält wach lag.

Melindis vermisste Anne und die Kinder. Sie waren der einzige Lichtblick seit ihrer Rückkehr gewesen. Sie waren die einzigen Wyk, die sie wirklich mochte. Sie hoffte inständig, dass Anne sie nur deshalb nicht besuchte, weil es ihr verboten war. Und sie hoffte, dass Anne doch noch irgendwann nach der umwandelten Hose suchen würde.

„Ich denke, ich wäre soweit, die richtigen Wörter zu lesen“, sagte Girio nach zwölf Tagen fleißigen Lernens. Es war kein Vorschlag. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er jetzt genug hatte von den Quatschworten. Er wollte endlich selbst herausfinden, was in dem Buch stand.

Melindis erschrak. Nach allem, was sie selbst bisher gelesen hatte, durfte genau das auf keinen Fall passieren.

„Äh, also, wenn das so ist ...“

Sie überlegte fieberhaft.

„Also in dieser Phase kommt dann jedenfalls erst das Schreiben dran. Beim Schreiben lernt man die letzten Lektionen des Lesens. Habt ihr Blätter und Tinte?“

„Es ist alles seit langer Zeit vorbereitet.“ Girio holte ein Fläschen mit dunkler Flüssigkeit, Rabenfedern und ein paar grobe Blätter aus seinem Beutel.

„Olve und Sebinah haben uns gelehrt, aus Ruß, Harz und Essig Tinte herzustellen. Um brauchbares Papier zu fertigen, mussten sie sehr lange experimentieren. Nessel und alte Lumpen haben sich als nützlich erwiesen. Es sind geschickte und kluge Leute, und es ist nicht zu begreifen, warum sie uns verlassen haben. Sie wurden stets reich belohnt, hatten dieses luxuriöse Baumhaus und das beste Essen. Ihre Kinder wurden unter großen Gefahren hierher gebracht. Sie alle hatten es gut. Warum sind sie geflohen, Melindis?“

Melindis widerstand der Versuchung, mit ihren Ketten zu rasseln, um ihn auf das Offensichtliche aufmerksam zu machen.. Aber sie schaffte es, nur mit den Schultern zu zucken, und überraschenderweise ließ Girio das gelten.

Er kleckste wie ein kleines Kind. Mit Genugtuung stellte Melindis fest, dass er ewig brauchen würde, um vernünftige Wörter zu schreiben. Während er die kostbaren Blätter verdarb, las sie im Buch. Immer wieder kehrte Melindis zum Anfang zurück, las die ersten Seiten.

Band 13: Wie die Teilung vonstatten ging,

stand in großen Buchstaben auf dem ersten Blatt.

Und klein darunter:

Und wie sie aufgelöst werden kann.

Auf dem nächsten Blatt gab es ein langes Vorwort:

Nachdem nun in Band 1 - 12 ausführlich dargelegt wurde, wie es zur Teilung der Welt gekommen ist, stellen wir hier dar, auf welche Art und Weise diese bewerkstelligt wurde und wie sie wieder aufgehoben werden kann. Das Verfahren für die Teilung ist höchst komplex. Es bedurfte nicht nur einer großen Menge an Tarduss, sondern ebenso ausgefeilter Vorbereitungen, denn die Teilung musste überall gleichzeitig und vollständig stattfinden. Dass dieses grandiose Werk gelungen ist, belegt erneut die geistige und moralische Überlegenheit der Silen.

Und hier hielt Melindis immer wieder inne. Die geistige und moralische Überlegenheit der Silen: Gab es sie wirklich? Silen hätten niemals jemanden gefoltert, sie töteten nicht, um etwas zu erreichen, sie strebten Reinheit und Würde an. Einerseits. Andererseits sperrten sie alte Frauen in Keller und demütigten sie, indem sie sie zu Dienerinnen machten. Sie nahmen Müttern und Vätern ihre Mädchen weg. Ihr ganzes Dasein gründete so auf einer grausamen Lüge. Sie waren nicht überlegen. Sie waren nur anders böse und anders gut als die Wyk.

Und dennoch: Melindis wollte nicht, dass es die Wyk waren, die das Wissen und damit die Macht über die Teilung der Welt und deren Auflösung erhielten. Nach allem, was sie verstanden hatte, ging es den Anführern der Wyk einzig darum, wieder an die Macht zu kommen. Sie wollten ihre frühere Stärke zurückhaben. Sie wollten haben, was man ihnen genommen hatte, das konnte Melindis nachempfinden. Aber was, wenn sie wirklich die Macht zurückerlangen würden? Was, wenn sie auf die Idee kamen, die Teilung aufzulösen? Sie hatte ziemliche Zweifel, dass die Wyk gerecht und gnädig und frei von Rachegelüsten gegenüber den Matländern wären. Selbst Uson misstraute dem Inneren Kreis. Uson, der selbst ein Wyk war, hatte vorsorglich Tarduss zurückgehalten. Uson blieb immer ein wenig rätselhaft. Aber während die Wykführer das Tarduss nur für ihre eigenen Zwecke haben wollten, waren seine Beweggründe selbstlos und gütig, das musste sie trotz ihrer ersten Zweifel ihm gegenüber inzwischen eingestehen. Ihm hätte sie sämtliches Tarduss in allen drei Welten bedenkenlos anvertraut. Ihre Gedanken schweiften ab. Wohin Uson Yllia nach der Flucht wohl gelenkt hatte? Bestimmt waren sie in sein Dorf geflogen und hatten nach dem Tarduss gesehen. Und dann?

„Du bist schon weit gekommen mit deiner Lektüre, wie ich sehe.“

Girio hatte Melindis jäh aus ihren Überlegungen gerissen.

„Ja? Ja, doch, ja, bin ich“, stammelte sie.

„Wir erwarten morgen deinen Bericht.“

„Bericht?“

„Hat man dir nicht gesagt, dass du eine Zusammenfassung erstellen musst?“

„Also, nein. Nein, das weiß ich nicht ...“

„Du wirst dem Inneren Kreis berichten, was du bisher aus dem Buch erfahren hast. Wir erwarten nichts weniger als das Verfahren zur Auflösung des Randes der Welt. Es ist das letzte Buch. Die Information darüber muss darin erhalten sein.“

„Bis morgen kann ich das aber nicht schaffen.“

Girio sah sie mit seinen hellen Augen an, als wolle er sie auf der Stelle erstarren lassen, ganz ohne Zauberstab, und irgendwie gelang ihm das auch. Melindis’ Inneres gefror zu Eis.

„Nun, es ist ja noch eine Weile hell, und bis morgen Nachmittag sollte genügend Zeit dafür sein“, sagte er und schüttelte seine Hand aus.

„Nicht wahr, Schreiben ist anstrengend“, sagte Melindis, um ihre Angst zu überspielen, aber ihre Lippen waren so kalt und ihre Kiefer wie zusammengeschraubt. Girio schien nichts zu merken.

Erst als er gegangen war, ließ sie das Zittern zu, das bald ihren ganzen Körper erfasste. Eine Zusammenfassung! Auf keinen Fall durfte der Innere Kreis die Wahrheit erfahren. Sie musste irgendetwas Glaubhaftes erfinden. Wenn sie nichts Überzeugendes vortrug, würde man sie dann wieder foltern?

Ganz bestimmt würde man das …

Sie ballte die Hände zu Fäusten, atmete tief, schüttelte sich, soweit es die Ketten zuließen, trommelte mit den Händen und stampfte mit den Füßen, bis das Zittern aufhörte und nur noch kalte, stumme Panik übrig blieb. Sie musste sich irgendetwas aus den Fingern saugen, irgendeine Theorie.

Hastig nahm sie ein Blatt Papier, tauchte die Feder in die Tinte, schrieb ZUSAMMENFASSUNG, und dann rollte sie die Feder zwischen Daumen und Zeigefinger, bis ihre Haut brannte.

Holb kam, brachte Essen und eine Lampe. Sie ignorierte beides, doch kurz darauf war sie froh um das Licht.

In diesem dreizehnten Band ist zu lesen, wie die Teilung der Welt gemacht wurde und wie sie aufgehoben wird