Der Raub der schönen Madonna - Rüdiger Schneider - E-Book

Der Raub der schönen Madonna E-Book

Rüdiger Schneider

0,0

Beschreibung

Eine wertvolle Madonna von Tilmann Riemenschneider wird aus einem Schloss geraubt. Der Versicherungsdetektiv Jan Aandekerk macht sich auf die Suche nach dem Täter und erlebt dabei manche nicht nur fromme Überraschung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 189

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Personen und Handlung sind frei erfunden, Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit Namen rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

1

Unmittelbar am Rhein, in Koblenz am Konrad-Adenauer-Ufer, liegt das Preußische Regierungsgebäude. Es trägt auch jetzt noch diesen Namen. Der kastellartige, mit Tuffstein verkleidete Bau, den Kaiser Wilhelm II. selbst noch geplant hatte, beherbergt heute das Amt für Ausrüstung der Bundeswehr, das Oberlandesgericht Koblenz und im Mittelpavillon die ‚Art-Securitas‘, die sich auf die Versicherung wertvoller Kunstwerke spezialisiert hat. Vorsitzender des Vorstands ist Peter Sommer, der sich um jeden Fall persönlich kümmert. Vor zwanzig Jahren ist ihm der Coup gelungen, den niederländischen Detektiv Jan Aandekerk für das Unternehmen zu engagieren und ihn vertraglich anzubinden. Aandekerk hatte in den Niederlanden unter anderem Rembrandts ‚Nachtwache‘, ein Gemälde, das aus dem Amsterdamer Rijksmuseum entwendet worden war, aufgespürt und dem Museum zurückgegeben. In den zwanzig Jahren bei der ‚Art-Securitas‘ hatte Aandekerk genau 49 Fälle geraubter Kunst aufgeklärt und der Versicherung so eine höhere zweistellige Millionensumme erspart.

Am 29. Dezember, einem Donnerstagnachmittag lässt Sommer den Detektiv zu sich ins Büro kommen und wir werden Zeugen des folgenden Gesprächs. Die Beiden sitzen sich bei einem Kaffee an Sommers Schreibtisch gegenüber und Peter Sommer schiebt Aandekerk ein großformatiges Foto zu.

„Das hier ist Tilmann Riemenschneiders ‚Traubenmadonna‘, 16. Jahrhundert, die einzige polychrome Skulptur des Würzburger Meisters. Sie ist bzw. war im Privatbesitz der Freifrau von Graefe. Versicherungssumme 280 000 Euro. Gestern Abend ist die Madonna aus dem Schloss geraubt worden. Jan, das ist jetzt dein neuer Fall.“

„Tu mir das bitte nicht an! Ich wollte für ein paar Wochen nach Spanien. Endlich wieder Sonne. Du kennst ja meine Einstellung zum deutschen Winter. Der Flug ist schon gebucht.“

„Geht nicht. Den Flug ersetz ich dir. Klärst du den Raub auf, hast du die goldene Fünfzig erreicht. Du bekommst eine besondere Prämie. Denke daran, du bist 64, könntest in einem Jahr in Rente gehen. Das hier ist eine besondere Chance. Du wirst wahrscheinlich nicht viel herumreisen müssen. Die Freifrau wohnt in Sinzig. Das sind nur ein paar Kilometer von deinem Wohnort.“

Jan Aandekerk lehnt sich in dem Bürosessel zurück, legt die Stirn in Falten, blickt an die Decke. Bilder von Málaga tauchen auf. Die Sonne, das Meer, die Ausflüge mit Isabella und ihrem Jeep. In diesem Winter also nicht?

„Na gut“, sagt er nach einer Weile. „Ich mache es. Aber wenn der Fall gelöst ist, bin ich für drei Monate weg. Telefonnummer, Adresse der Freifrau?“

„Gerne. Sie erwartet dich schon. Morgen. Du musst nur noch die Uhrzeit angeben. Und sieh dir auch die Sicherungseinrichtung an, ob sie wirklich den vereinbarten Vorschriften entspricht. Sonst zahlen wir nicht.“

2

„Die Madonna gehört zu den sogenannten ‚Schönen Madonnen‘ des Mittelalters, hatte ihm Sommer erklärt.

„Mittelalter? 16. Jahrhundert? Da ist das Mittelalter seit hundert Jahren vorbei.“

„Trotzdem. Die Madonna gehört dazu. Sie hat auch an einigen Ausstellungen zu dem Thema teilgenommen. Die zeitliche Einteilung ist uninteressant. Es kommt auf Stil und Schönheit an.“

Ja, schön ist sie, dachte Aandekerk. Anmutig mit dem für Riemenschneider typischen Faltenwurf des Gewandes. Eine Pietà mit dem Gekreuzigten und dem schmerzhaften Ausdruck im Marienantlitz wäre so schnell nicht geraubt worden. Da doch eher eine Frau mit einem fröhlichen, mit einer Traubendolde spielenden Jesuskind. Klar, dass Riemenschneider diese besondere Skulptur farbig, polychrom gestaltet hat. Bei den zahlreichen anderen Arbeiten hat er es bei dem Eindruck des farblosen Holzes belassen.

Am Abend rief er Isabella an. „Lo siento. Tengo que posponer el vuelo.“ Tut mir leid. Ich muss den Flug verschieben. „Una nueva causa penal.“ Ein neuer Fall.

Sie zeigte sich enttäuscht. „Qué pena!“ Wie schade! Dann legte sie einfach auf.

Jan Aandekerk zuckte mit den Schultern. Musste ja so kommen. Eine komplizierte Urlaubsliebe. Liebe? Eine Affäre. Sie war 28 Jahre jünger als er, arbeitete als Model für Sommerkleider, hatte bestimmt, wenn er in Deutschland war, andere Bekanntschaften. In Spanien war er der großzügige Daddy. ‚Sugardaddy‘ nannte man so etwas. Sie hatten sich beim Poolbillard kennengelernt. Irgendwie war er trotz des Altersunterschiedes für sie interessant gewesen. Sie für ihn auch. Es gab nicht nur schöne, mittelalterliche Madonnen. Manche waren in der Neuzeit lebendig. Isabella gehörte dazu. Vielleicht würde sich ihre Verstimmung beim nächsten Besuch in Málaga wieder ausbügeln lassen. Isabella reagierte spontan, war oft launisch. Er erinnerte sich daran, wie er das erste Mal in ihrer Wohnung gewesen war. Sie hockte in einem gelben Sommerkleid wie ein Buddha auf ihrem schwarzen Ledersofa, den Saum des Kleides hoch über die Knie gezogen, die langen blonden Haare bis über die Schulter fallend, die Hände vor dem Schoß gefaltet. Der weite Ausschnitt ließ süße Brüste erahnen. Er stand da am offenen Fenster und dachte: Was wird bloß daraus? Geht das überhaupt?

Nun ja, dann jetzt eben alleine. Wäre sowieso nicht lange gutgegangen. Man hat uns ja in Málaga immer für Vater und Tochter gehalten. Aber schön war es gewesen. Das Auge bleibt jung. Am Tag und in der Nacht. Jetzt hast du eine andere Schöne aufzuspüren. Im Art-Loss-Register ist sie schon verzeichnet. Bei keiner Auktion wird sie erscheinen. Kein Kunsthändler wird sie erwerben wollen. Antike gestohlene Goldmünzen kann man umschmelzen und das Gold verkaufen, Diamanten aus einer geraubten Krone herausbrechen. Der Madonna aus Holz wird nichts passieren. Irgendein Liebhaber hat sie gestohlen oder den Diebstahl in Auftrag gegeben. Oder, wie es meist bei geraubten Kunstwerken der Fall war, sie wurden der Versicherung angeboten. Zu einem Preis, der erheblich unter der Versicherungssumme lag. So schlug man aus dem Raub Kapital. Jetzt aber musste er zunächst die genauen Umstände des Diebstahls erfahren. Ein Besuch bei der Freifrau von Graefe war fällig.

3

‚Freifrau‘ – Was war das überhaupt? Sicher, ein Adelstitel. Das ‚Wohlgeboren‘ konnte man im 21. Jahrhundert bei der Anrede weglassen. Franziska Freifrau von Graefe hieß sie. Er informierte sich über das Sinziger Schloss. Einen Teil hatte sie dem Heimatmuseum überlassen, ebenso auch einen Konzertsaal, wohnte selbst im südlichen Flügel.

Wie zog man sich bei einem Besuch an? So wie er sonst herumlief bestimmt nicht. Mit Marokkohemd, bequemer Fischerhose, im Winter mit einer Nepaljacke. Und an den Füßen rote Schuhe. Ein gut bürgerlicher Eindruck würde in diesem Fall ein vertrauliches Gespräch fördern.

Jan Aandekerk stand vor dem Spiegel, betrachtete sich. Ungewohnt. Weißes Hemd, Jackett, Jeanshose. Braune Lederschuhe an den Füßen. Rasieren? Nein. Es blieb bei dem Dreitagebart. Er wollte sowieso nicht sein Gesicht täglich mit dem Rasiermesser quälen. Auch nicht für den Besuch bei einer Adligen. Die Haare musste er nicht kämmen. Da gab es keine mehr. Bei einer stattlichen Größe von 1.95 konnten ihm nur Wenige auf den blanken Kopf gucken. Außerdem war Glatze seit langem modern, seit die ersten Fußballspieler sich absichtlich hatten kahlscheren lassen. Und auch Hollywood ging mit guten Beispielen voran. Isabella hatte seine ‚Frisur‘ gefallen. Es war angenehm, wenn sie ihm mit ihren Händen oben über den Kopf strich. Er hätte bei ihr schnurren können wie eine Katze.

Peter Sommer hatte ihm die Umstände des Raubs schon angedeutet. „Glasscheibe am ebenerdigen romanischen Fenster neben dem Eingangsportal ausgeschnitten. Eingestiegen, in den Salon gegangen, die Überwachungskamera mit Bauschaum besprüht, die Madonna vom Magnetsensor gehoben. Ehe die Polizei da war, ist der Täter oder die Täterin verschwunden. Das hat nur ein paar Minuten gedauert. Die Freifrau war an diesem Abend nicht zu Hause. Ihre Tochter hielt sich in einem der oberen Räume auf und hat erst etwas bemerkt, als der Alarm losging. Taucht die Skulptur nicht wieder auf, müssen wir zahlen. Vorausgesetzt, die Freifrau hat die Sicherheitsbestimmungen eingehalten.“

Am Freitagmorgen fuhr er von Bad Breisig, wo er wohnte, die paar Kilometer nach Sinzig, ärgerte sich endlich nicht mehr über den Stau auf der B 9, wo sie Flüsterasphalt installiert hatten. Mitten durch den Ort führte die Bundesstraße, zerschnitt ihn in zwei Teile. Einen schönen am Rhein und einen weniger schönen links der Straße. Auch mit ihren Parkautomaten, die sie an jedem freien Flecken aufstellte, selbst sogar bei Edeka, erregte die Gemeinde seinen Unmut. Wie war er bloß in diesen Ort gekommen? Die Entfernung nach Koblenz war mit 30 Kilometern erträglich. Sicher, das Rheinpanorama war ansehnlich. Vielleicht auch noch der Kurpark mit dem Biergarten. Aber da war er selten. Der Anblick eines Rollators erinnerte zu sehr an die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Attraktive Wandertouren waren auch möglich. Die ‚Himmelsleiter‘ zum Beispiel. Bergauf, bergab. Aber Aandekerk war kein Wandervogel. Als Holländer im Flachland sowieso nicht.

Wie war er nach Bad Breisig gekommen? Wie wohl! Es hatte ihn eines Abends in die Weinstube zum singenden Wirt verschlagen. Enge Tanzgelegenheit. Und da war da eine süße Blonde, etwa in seinem Alter. Er erinnerte sich noch genau an den ersten Song, zu dem sie getanzt hatten. ‚Sweet about me‘. Von einer Australierin, Gabriella Cilmi. Diese immer wiederkehrende Zeile der Lyrics. ‚Hanging by a string this time.‘ Aus solch einem Anlass war er auch in den Niederlanden öfter umgezogen. Frauen waren magnetisch.

Am Abend vorher hatte er die Freifrau angerufen, seinen Besuch angekündigt, eine Zeit vereinbart. Ihre Stimme war angenehm, sympathisch. Nicht der krächzende, leicht gebrochene Klang älterer Damen, wenn die erotische Attraktion verschwunden war. Wie sie wohl aussah, sich verhielt? Eine Adlige, die mit den normal Bürgerlichen etwas hochmütig und herablassend umging? Naja, das würde er bald sehen.

4

„Fahren Sie durch den Park zur Südseite“, hatte die Freifrau gesagt. „Dort können Sie vor dem Haus parken.“

‚Haus‘? Adliges Understatement? Es ist eher eine neugotische Villa, dachte Aandekerk, als er in der Barbarossastraße angekommen und durch den kleinen Park gefahren war. Hübsch sah es aus mit dem weit ausladenden, runden Wohnturm. An der Nordseite überragte ein Turm mit Wetterfahne das Gebäude. Das Eingangsportal wurde umrahmt von zwei hohen, viergeteilten gotischen Fenstern, deren Basis bis fast an den Boden reichte. Im rechten war im unteren Teil ein Viertel der Glasscheibe herausgeschnitten, die Öffnung mit einer Holzplatte hilfsweise zugedeckt. Hier also war man eingestiegen und zum Salon mit der Madonna gelangt. Die zweiflüglige verglaste Eingangstür unter dem Vordach war neu, modern, fügte sich aber stilvoll in das Ensemble. Modern waren auch die messingfarbene Klingel und das Auge der Kamera, mit der man vom Wohnbereich aus beobachten konnte, wer da stand. An der Fassade des Runderkers entdeckte er das Schild für Denkmalschutz, die blaue Raute mit einem auf dem Kopf stehenden blauen Dreieck.

Er war pünktlich. Zehn Uhr hatten sie verabredet. Und so dauerte es nur einen kurzen Moment, als er ihre Stimme hörte. „Herr Aandekerk?“

„Ja. Von der ‚Securitas‘. Er hielt seinen Ausweis vor die Kamera. Der Summer ertönte. Er drückte den Flügel der Tür auf, trat ein, ging eine Treppe mit ein paar Stufen hoch. Sie stand oben vor dem Eingang zu ihrer Wohnung, erwartete ihn.

Jan Aandekerk war überrascht. Er hatte sich die Freifrau vorgestellt wie die Miss Marple aus den Romanen der Agatha Christie. Eine etwas schrullige, ältere weißhaarige Frau mit listigen, forschenden Augen und dem typisch englischen Humor. Er war überrascht, eine große, schlanke Frau mit kastanienbraunem, kurzgeschnittenem Haar zu sehen, das sich in einer anmutigen Welle um ein schönes Gesicht schmiegte. Von Peter Sommer kannte er die Personalien. 72 war sie. Vom ersten Eindruck her konnte man davon mindestens zehn Jahre abziehen. Der Detektiv empfand sie als eine attraktive, reife Frau. Nicht minder attraktiv als die 41 Jahre jüngere, flippige Isabell.

Ein paar Meter vor ihr zog er etwas Weißes aus der Tasche seines Jacketts, hielt es ihr entgegen. FFP2, fragte: „Maske?“

„Ach was!“ antwortete sie. „Lassen Sie diesen Unsinn! Es reicht mir, wenn ich Post von Karl bekomme und er mich zum Impfen auffordert. So wird die Menschheit nur verrückt gemacht. Ich möchte sehen, mit wem ich spreche. Und Sie wollen sicher zunächst sehen, wo die Madonna stand. Kommen Sie, ich führe Sie in den Salon. Danach können Sie mich bei einer Tasse Kaffee ausfragen.“

5

Durch einen kurzen mit einem roten Orientteppich ausgelegten Flur führte sie ihn zu einer offen stehenden Doppelflügeltür.

„Mein Blauer Salon“, sagte sie. „Nun ja, eher ein etwas intimeres Gesellschaftszimmer.“

Mit einem kurzen Blick überflog er den Raum. Edles Holzparkett, wahrscheinlich Esche, Kamin, ein weiterer Orientteppich, darauf zwei einander gegenüberstehende Couchgarnituren in Rot, in der Stellmitte ein viktorianischer Palisandertisch. Die Wände waren in einem matten Taubenblau gehalten mit ein paar goldumrahmten Ahnenportraits. Die Freifrau zeigte auf eine Nische mit einem kleinen, gotischen Fenster.

„Dort stand mein Schätzchen. Wissen Sie, es kommt mir gar nicht so sehr auf den finanziellen Ersatz an. Der ideelle Wert ist unersetzbar. Der Großvater hat die Madonna um 1900 erstanden. Er hat Tilmann Riemenschneider verehrt, und als das Würzburger Museum, in dem die Figur ausgestellt war, für Restaurierungsarbeiten Geld brauchte, hat er die Madonna für 40 000 Goldmark erstanden. Das entspricht den 280 000 Euro, die in der Expertise angegeben sind. Die Madonna hat unser Haus durch zwei Weltkriege hindurch geschützt. Darin, Herr Aandekerk, besteht ihr eigentlicher Wert. So, sehen Sie sich jetzt in Ruhe um. Ich bereite uns einen Kaffee. Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht gefragt, ob Sie überhaupt einen Kaffee wollen.“

„Doch. Sehr gerne. Danke.“

„Gut. Dann lasse ich Sie jetzt alleine.“

Jan Aandekerk ging zu der Fensternische, die in Kopfhöhe in die südliche Wand eingebracht war, betrachtete den verlassenen Magnetsensor. Es war ein neueres MS-PV-Modell, klein, diskret, mit eingebautem Funkkontakt zur Sinziger Polizeiwache. Von daher gab es an der Sicherung nichts zu beanstanden. Beim Abschluss des Kontrakts mit der Securitas, wie ihm Sommer erzählt hatte, hatten sie auf die Bedingung einer Vitrine mit Panzerglas verzichtet. So etwas machte man bei der Mona Lisa im Pariser Louvre. Aber nicht bei einer Madonna, deren Wert mit ‚nur‘ 280 000 Euro von einem Kunstexperten geschätzt worden war.

„Vitrine?“ hatte die Freifrau argumentiert. „Geht nicht. Dann wäre die Madonna unnahbar ihres Charmes beraubt. Dann kann ich eine Versicherung auch lassen.“

Der Dieb hatte kurze Wege gehabt. Ein oder zwei Minuten, um mit der Madonna, die 80 Zentimeter hoch war, zu verschwinden. Er musste das Schloss beobachtet haben, hatte gewusst, dass die Freifrau an diesem Abend nicht zu Hause war. Dass sich die Tochter zu dieser Zeit in einem der oberen Räume des Erkers aufhielt, war ihm womöglich nicht bekannt. Da hatte er Glück gehabt. Im ersten Schreck wäre sie nach dem Auslösen des Alarms wahrscheinlich in ihrem Zimmer geblieben, hätte es von innen abgeschlossen, auf das Eintreffen der Polizei gewartet. Es war hinreichend bekannt, dass Kunstdiebstähle immer brutaler wurden. Die Täter scheuten sich nicht, sogar während der Öffnungszeiten in Museen einzudringen und Besucher und Aufsichtspersonal mit Waffengewalt in Schach zu halten. Zehn Minuten hatte es bis zum Eintreffen der Polizei gedauert. Vermutlich hatten die Beamten vor dem Fernseher gesessen und sich einen Film oder ein Fußballspiel angesehen. Was die Sicherung der Madonna betraf, hätte Aandekerk höchstens die Leichtigkeit des Einbruchs bemängeln können. Es musste einfach gewesen sein, die Scheibe an dem ebenerdigen Fenster abzukleben und sie mit einem professionellen Diamantschneider auszuritzen. Aber warum sollte er dieser sympathischen Frau Schwierigkeiten bereiten? Vielmehr kam es darauf an, die Madonna wiederzubeschaffen.

6

Die Besichtigung des Signalsensors war rasch erledigt. Er sah sich weiter in dem Raum um, entdeckte einen barocken Schachtisch mit Intarsien und zwei Schubladen für die Figuren. Die Figuren aus einfachem Holz waren aufgebaut. Einmal die Woche traf er sich mit Peter Sommer. Dann spielten sie. Ob er das Seekadettenmatt noch hinbekam? Sommer fiel darauf nicht mehr herein. Erst die Eröffnung mit dem ‚Classico Italiano‘, dann kümmerte sich sein gefesselter Springer nicht um das Damenopfer, mit Läufer und zwei Springern setzte er den schwarzen König matt. Sommer hatte verblüfft den Kopf geschüttelt, gesagt: „Genial. Aber noch mal machst du das nicht.“

Aandekerk stand vor dem Schachtisch, zog die Figuren, als die Freifrau mit einem Tablett in den Salon kam und es auf den Couchtisch stellte. „Oh, Sie spielen Schach?“

„Hobbymäßig. Seit ein paar Jahren. Auf einem Turnier werden Sie mich nicht finden. Außerdem hasse ich es, mit der Uhr zu spielen, unter Zeitdruck zu stehen. Und Sie?“

„Ja. Ich bin in Bad Neuenahr sogar im Verein. Aber das heißt nichts. Die meisten Partien dort verliere ich. Einmal die Woche kommt eine Freundin zu mir. Gegen sie verliere ich auch.“

Sie setzten sich gegenüber auf die Couch. Die Freifrau goss Kaffee in seine Tasse, schob ihm einen Teller mit Gebäck zu. „Nehmen Sie. Sie sind ja schlank. Ich muss da etwas vorsichtiger sein. Und?“ fragte sie. „Wie ist Ihre Prüfung verlaufen?“

„Alles in Ordnung. Wir werden zahlen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kommt es Ihnen vor allem auf den ideellen Wert an. Deshalb bitte ich Sie, mit der Auszahlung noch etwas zu warten. Ich würde gerne die Figur aufspüren und Sie Ihnen zurückgeben. Geht das?“

Die Freifrau runzelte die Stirn, überlegte. „An welchen Zeitraum haben Sie gedacht?“

„Schwer zu sagen. Die Figur ist registriert. Auf Auktionen wird die Madonna nicht auftauchen. Auch nicht bei einem Kunsthändler. Es gibt allerdings schwarze Schafe, die das illegal machen. Kein Auktionator oder anständiger Händler wird sie annehmen. Ich rechne eher mit dem Üblichen. Anonymes Schreiben an unsere Versicherung, Übergabeangebot zu einem Preis, der weit unter der Versicherungssumme liegt. Möglich, aber weniger wahrscheinlich ist, dass sie jemand für sich privat entwendet hat oder entwenden ließ. Die Vorstellung von dem Milliardär, der eine geraubte Sammlung mit Bildern von Monet, Degas, Renoir, Turner und anderen hat, sich abends eine Zigarre aus dem Humidor nimmt, in eine mit einer gepanzerten Tür verschlossene Galerie geht, um ergriffen die Gemälde zu betrachten, gehört eher ins Reich der Legende. In Ihrem Fall müsste das ein sehr frommer Mensch sein, ein Marienverehrer. Erzählen Sie mir zunächst von dem Abend, als die Madonna geraubt wurde.“

7

„Ich war an diesem Abend bei einer Freundin wie an jedem Montag. Bin gegen Viertel vor Acht nach Remagen gefahren, wo sie wohnt. Meine Tochter, sie war über Weihnachten zu Besuch, hielt sich oben im Erker im Gästezimmer auf. Genau um 21.12 Uhr ging der Alarm los und auf der Polizeiwache hier in Sinzig hörten sie das Funksignal. Meine Tochter hat sich eingeschlossen, wartete auf das Eintreffen des Streifenwagens.“

„Sie wusste von dem Wert der Madonna und von der Alarmsicherung?“ unterbrach sie Aandekerk.

„Natürlich. Sie muss es wissen. Sie ist die einzige Erbin.“

„Und dann?“

„Zehn Minuten später trafen die Beamten ein. Der Dieb hat sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, die Eingangstür wieder zu schließen. Die stand weit offen und er war über alle Berge.“

„Sieht so aus, als habe er oder sie, das wissen wir ja noch nicht, gewusst, dass Sie jeden Montagabend nicht im Schloss sind. Was ist mit der Aufzeichnung der Kamera?“

„Nichts. Die Kamera ist auf die Madonna gerichtet. Sie deckt nicht den ganzen Salon ab. Der Täter muss von der Seite gekommen sein, hat sie mit Bauschaum eingedeckt. Man sieht nur, wie sich die Aufnahme rasch verdunkelt.“

„Möglicherweise kannte er oder sie, das lassen wir bitte noch offen, sich im Salon aus. Wer überhaupt wusste von der Madonna und ihrem Wert?“

„Eigentlich jeder. Sie war vor ein paar Jahren bei einer Ausstellung des Rheinischen Landesmuseums in Bonn. Die Ausstellung hieß ‚Schöne Madonnen am Rhein‘. Ein Schild war an der Figur angebracht. ‚Privatbesitz Freifrau von Graefe‘. Nach der Ausstellung hat mich ein Kunsthistoriker der Bonner Universität besucht, mit mir gesprochen und einen Artikel im ‚Bonner Stadt-Anzeiger‘ veröffentlicht. ‚Tilmann Riemenschneiders polychrome Arbeit‘. Da war ein Foto dabei und wieder die Angabe ‚Privatbesitz Freifrau von Graefe‘. Sie sehen, jeder konnte es wissen. Zweimal habe ich den Professor auch eingeladen zu einem Vortrag im Sinziger Heimatmuseum. Ich organisiere solche Vorträge, bin auch Mäzenin des Museums.“

„Ihre Freundin, bei der Sie am Montagabend waren, besucht Sie auch hier im Salon?“

„Ja. Wir haben uns im Schachverein Bad Neuenahr kennengelernt. Manchmal kommt sie. Meistens spielen wir aber bei ihr.“

Frauen im Schachverein, dachte Aandekerk. Er kannte keine einzige, die spielte. Und wenn sie es einmal versuchten und es lernen wollten, fielen sie sofort auf das Schäfermatt herein. Natürlich gab es auch Ausnahmen, weibliche Genies, die sogar gegen den amtierenden Weltmeister gewannen. Er behielt seine Überlegung für sich, wollte die Freifrau nicht verärgern. Es war ein sensibles Thema. So als seien Frauen nicht einer besonderen Logik fähig. Wahrscheinlich war es aber so, dass sie einfach andere Interessen hatten. Weniger Begeisterung für strenge Logik.

Aandekerk zog ein Notizbuch und einen Stift aus der Innentasche seines Jacketts.

„Frau von Graefe, könnten Sie mir bitte die Namen sagen, von den Personen, die Sie hier im Salon besucht haben und von der Madonna wussten?“

Franziska von Graefe legte die Stirn in Falten. „Ungern. Ich will niemanden verdächtigen.“

„Ich gehe diskret vor. Haben Sie keine Bedenken!“

„Nun gut. Also, da ist der Professor aus Bonn, der Kunsthistoriker. Er heißt Linus Bachmann. Er wohnt in der Bonner Südstadt. Sie wollen Telefonnummer und Adresse haben?"

„Dann muss ich nicht selbst suchen. Und weiter…“

„Na ja, Marie Majewski, meine Freundin.“

„Polin?“

„Nein. Ihre Großeltern. Sie ist in Deutschland geboren.“

„Und wohnt…?“

„In Remagen. Aber bitte, keinen Besuch dort. Wenn Sie mit ihr sprechen wollen, müssten wir das anders arrangieren. Ich will sie nicht mit einem Verdacht, der völlig unbegründet ist, vor den Kopf stoßen. Sie hat nichts mit dem Diebstahl zu tun. Ich war zur Tatzeit bei ihr.“

Das heißt nichts, überlegte der Detektiv. Sie kann es in Auftrag gegeben haben.

„Gut. Ich will ja nur einen Eindruck von ihr gewinnen. Was ist mit ihrer Tochter?“ fragte er.

„Laura? Nein, Sie bekommt die Figur ja sowieso.“

„Sie wohnt hier in der Umgebung?“