Der Regenwald - Catherine Caufield - E-Book

Der Regenwald E-Book

Catherine Caufield

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Beschreibung

Catherine Caufield reiste um den Globus, um die Vielzahl der ökonomischen, sozialen und politischen Kräfte kennenzulernen, die unbarmherzig die Wälder für die Gewinnung von Zellstoff, Furnieren, Baumaterialien und Viehweiden vernichten. Sie zeigt, daß die Entwaldung ein Problem des Unwissens, der Habgier und der Überbevölkerung ist. »Der Regenwald« ist ein Aufruf an alle diejenigen, die eine bessere Zukunft für die Menschheit suchen, die möchten, daß auch ihre Kinder noch in der Lage sein werden, die faszinierendsten Lebensgemeinschaften, die jemals unseren Planeten bewohnt haben, zu hören, zu sehen und zu erleben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 512

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Catherine Caufield

Der Regenwald

Ein schwindendes Paradies

Aus dem Englischen von Christa Backmeroff

FISCHER Digital

Mit einem Vorwort von Donald R. Perry und einem Regenwald-Lexikon

Inhalt

Anmerkung zur deutschen AusgabeWidmungVorwort1 Eine Stadt in Brasilien2 Am Anfang3 Die Schichten des Waldes4 Grenzenlose Fruchtbarkeit5 Das Leben im Wald6 Vieh in den Wolken7 Die Ernte8 Das Ende der Straße9 Handelspartner10 Bäume für den Wald11 Pioniere12 Fieberrinde13 Früchte der Erde14 Der überschwemmte Wald15 Das uralte FeuerEin Wort des DankesRegenwald-LexikonLiteraturDanksagung

Für die deutsche Ausgabe durchgesehen von Wolfgang Müller

Meinem Vater gewidmet

Vorwort

von Donald R. Perry

1970 prophezeite Paul Richards, ein bekannter Tropenökologe, daß es im Jahr 2000 nur noch wenige Regenwälder auf der Erde geben würde. Mit der rapiden Bevölkerungszunahme in den tropischen Ländern der Dritten Welt ist die Entwaldung schneller fortgeschritten, als Richards’ traurige Schätzung vermuten ließ: Jedes Jahr werden etwa 210000 Quadratkilometer tropischen Regenwaldes abgeholzt. In Dutzenden von Ländern gibt es kaum Hoffnung, daß viele dieser Wälder, von denen jeder einzigartige pflanzliche und tierische Lebensgemeinschaften beherbergt, die Mitte des nächsten Jahrzehnts überleben werden.

Die Entwaldung war immer schon ein Nebenprodukt der Zivilisation – von ihren frühesten Anfängen bis zur Gegenwart. Anfang des 19. Jahrhunderts bedeckten riesige Wälder den größten Teil Nordamerikas. Damals glaubte niemand, daß es möglich sein würde, den gesamten Kontinent kahlzuschlagen, dennoch wurden in den folgenden 180 Jahren die meisten Wälder in den Vereinigten Staaten mehrmals gefällt. Tropische Regenwälder sind nun in gleichem Maße bedroht: Viele Leute glauben, daß sie für immer bestehen werden, weil sie solche riesigen Flächen bedecken. Sowohl in den Tropen als auch im Staat Montana, wo ich als Kind aufwuchs, habe ich gesehen, wie schnell Urwälder verschwinden können. Nicht einmal der gewaltig große Amazonas-Wald wird den zerstörerischen Stürmen der Veränderung lange trotzen können.

Die Menschen meiner Heimat wuchsen mit der Legende von Paul Bunyan auf. Paul war ein berühmter Riese, vier Stockwerke groß, der einen ganzen Wald mit einem einzigen Schlag seiner gewaltigen Axt fällen konnte. Er hatte einen riesigen Ochsen, der das Holz zum Markt zog, und die Fußabdrücke des Ochsen waren so groß, daß sie, wenn es regnete, zu Seen wurden. Paul war mein Lieblingsheld, und er machte Pionieren und Einwanderern aus Europa Mut, die sich vor der zermürbenden Aufgabe sahen, Wälder für die Landwirtschaft zu roden und Bäume für die Holzindustrie zu schlagen. Die Legende war eine Übertreibung des wahren Lebens, die dazu diente, eine rauhe Mentalität und einen gesunden Stolz auf die Landarbeit zu fördern. In Wahrheit war die Geschichte über Paul Bunyan weniger eine Legende als vielmehr Reklame: das Produkt eines Werbefeldzuges der Red River Lumber Company, der Holzgesellschaft in Minnesota. Wenn Pauls Leistungen auch maßlos erscheinen mochten, so wurde dies durch die Bedürfnisse eines schnell wachsenden Landes und einer Industrie, die jeden einigermaßen großen Baum als Bauholz betrachtete, verschleiert.

Ein Ereignis, das in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stattfand, illustriert die Unbekümmertheit und Unwissenheit des Holzfällergeistes. Es geschah in einem Lager in der Sierra Nevada, im Herzen des Landes der großen Mammutbäume (Sequoia). Eine Gruppe von Holzfällern beschloß, den größten Baum der Gegend zu fällen – ein Riese unter Riesen – ein Wunder der Natur, das sich einen geheiligten Platz unter den Lebewesen der Erde verdient hatte. Der Baum mochte fast so groß wie der General Sherman gewesen sein, der größte Baum der Erde, der einen Durchmesser von über elf Metern hat und etwa fünfundachtzig Meter hoch ist. Ein sieben Meter hohes Gerüst mußte aufgestellt werden, weil der Baum zu dick war, um weiter unten durchgesägt zu werden.

Dieser riesige Mammutbaum hatte allen Herausforderungen der Natur getrotzt – jeder denkbaren Katastrophe von heulenden Stürmen bis zu zahllosen Feuersbrünsten und Gewittern, und das schon fast seit dem Anfang der schriftlich niedergelegten Geschichte der Menschheit. Er hatte einen Vorgeschmack von der Unsterblichkeit genossen.

Er und seinesgleichen hatten mindestens zehntausend Jahre lang Seite an Seite mit amerikanischen Indianern gelebt. Dann kam eine besondere Rasse stahlschwingender, irdischer Primaten, die ein gemeinsamer, egoistischer Traum verband: für sich beanspruchen zu können, zu den Auserlesenen zu gehören, die ein Monument des Waldes zu Fall brachten. Viele Wochen lang sägten die Männer am Stamm und bearbeiteten ihn mit Äxten, bis ihre Bemühungen fast sinnlos erschienen. Als der alte Baum endlich seinem Ende nahe zu sein schien, lagen zweifellos bei Beginn eines jeden neuen Tages große Erwartungen in der Luft, die der Enttäuschung Platz machten, weil der Baum sich immer noch weigerte zu fallen.

Der riesige Mammutbaum fiel schließlich doch. Man stelle sich die Geräusche im Wald vor, als die letzten gemarterten Fasern, die den Baum noch hielten, schwächer wurden und laut zu ächzen begannen. Es muß einen furchtbaren Lärm von zerreißendem und knarrendem Holz gegeben haben, der mit einem gewaltigen Erdstoß endete. Nachbarbäume müssen von dem Riesen in einer Lawine von Ästen mit umgerissen und viel Holz muß dabei in die Luft gewirbelt worden sein. Aber von den Holzfällern war niemand da; der Baum fiel des Nachts, als alle schliefen.

Regenwaldbäume sind nicht ganz so groß wie Mammutbäume, aber in vieler Hinsicht sind sie noch größere Naturwunder. Sie fallen in jeder Sekunde in den Urwäldern auf der ganzen Erde. Die Pioniere der Tropen sind nicht anders als andere Pioniere; es sind die Wälder, die anders sind. Kahlschläge und das wiederholte Abholzen ausgedehnter Waldgebiete verändern die Artenzusammensetzung tropischer Wälder auf radikale Weise und werden nachteilige Auswirkungen auf die Bodenfruchtbarkeit sowie auf das lokale und regionale Klima haben. Aufgrund dieser Entwaldungen schleicht sich eine neue und verhängnisvolle Prophezeiung heran. Der Nationale Forschungsrat der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA schätzt, daß, aufgrund dauerhafter Veränderungen der Regenwaldökosysteme, bis zum Jahr 2100 fast fünfzig Prozent aller Arten auf unserem Planeten ausgestorben sein werden.

Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß die tropischen Wälder gerade zu dem Zeitpunkt zerstört werden, wo es möglich wird, sie richtig zu erkunden. Ein Jahrhundert lang wurden Entdecker und Naturforscher durch die gewaltige Höhe der Regenwaldbäume behindert. Auf den unzugänglichen Gliedmaßen dieser Bäume leben bis zu zwei Drittel aller Waldpflanzen und -tiere, von denen viele der Wissenschaft noch unbekannt sind. Erst seit kurzem machen es spezialisierte Klettermethoden möglich, diese luftige Region, das Baumkronendach, durchgehend zu studieren; dabei wird deutlich, daß sie unschätzbare Reichtümer an wichtigen und nützlichen Organismen beheimatet. Außerdem ist das Kronendach eine der erfolgreichsten evolutionären Schulen unseres Planeten gewesen: In diesem Lebensraum entwickelten Vögel, Fledermäuse und Insekten die Kunst des Fliegens, und hier wurde auch das geistige Fundament gelegt, das zur Entwicklung der menschlichen Intelligenz führte. Seit jedoch die neue Welt der Menschen, Maschinen, gezüchteten Pflanzen und Tiere das Antlitz der Erde bestimmt, nähert sich unser Planet der größten Ausrottungswelle von Leben seit dem Ende des Dinosaurierzeitalters. Wir sind heute mit der Tatsache konfrontiert, daß nur wenige Jahrzehnte verbleiben, mit nur einem Ticken des Sekundenzeigers der kosmischen Uhr vergleichbar, um die vielleicht komplexesten Pflanzen- und Tiergemeinschaften des gesamten Universums zu erkunden und zu studieren.

»Der Regenwald« behandelt diese schrumpfende Zeitspanne. Er handelt von den heutigen Holzfällern, Pionieren und Paul Bunyans. Er handelt auch von dem sich verändernden Antlitz des Planeten und von der schließlichen Unterwerfung der wildesten Regionen. Catherine Caufield reiste um den Globus, um die Vielzahl der ökonomischen, sozialen und politischen Kräfte kennenzulernen, die unbarmherzig die Wälder für die Gewinnung von Zellstoff, Furnieren, Baumaterialien und Viehweiden vernichten. Sie zeigt, daß die Entwaldung ein Problem des Unwissens, der Habgier und der Überbevölkerung ist. »Der Regenwald« handelt von einer Art, die außer Kontrolle geraten ist und gefährlich nahe am Abgrund einer ökologischen Katastrophe steht, deren großräumige Auswirkungen das tägliche Leben eines jeden Menschen beeinträchtigen werden. »Der Regenwald« ist ein Aufruf an alle diejenigen, die eine bessere Zukunft für die Menschheit suchen, die möchten, daß auch ihre Kinder noch in der Lage sein werden, die faszinierendsten Lebensgemeinschaften, die jemals unseren Planeten bewohnt haben, zu hören, zu sehen und zu erleben.

1 Eine Stadt in Brasilien

»Ich will eine Stadt verkaufen.« Seine Worte, begleitet von einer ausladenden Geste, hingen unbeholfen in der Luft. Nach einer melodramischen Pause fuhr er fort: »Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann, aber es ist mein Traum. Brasilien ist ein Land, wo man noch träumen kann.« Es ist die Stadt Tucuruí im Amazonas-Regenwald, die Eduardo Albuquerque Barbosa zu verkaufen träumt. Im Jahre 1977 gab es den Ort noch nicht. Das Gelände der geplanten Stadt am linken Ufer des Rio Tocantíns beheimatete nur die Pflanzen und Tiere des Waldes. Innerhalb von drei Jahren änderten Büros, Restaurants, Gaststätten, Supermärkte, Tennisplätze, asphaltierte Straßen, Häuser für 52000 Menschen die Situation grundlegend. Eletronorte, Nordbrasiliens Elektrizitätsgesellschaft, ließ Tucuruí errichten, um die Arbeiter, die Brasiliens größtes Wasserkraftwerk bauen sollten, hier unterzubringen. Das Tucuruí-Projekt ist das größte technische Bauvorhaben, das jemals in einem tropischen Regenwald verwirklicht wurde. Wenn die Bauarbeiten 1986 beendet sind, wird die Tucuruí-Talsperre der viertgrößte Damm der Erde und nur etwas kleiner als der Assuan-Staudamm sein. Tucuruí, das dann seinen Zweck erfüllt hat, wird zur Geisterstadt werden, es sei denn, Barbosas Traum würde Wirklichkeit.

Eletronorte hat auf beeindruckende Weise für Unterkunft, Verpflegung und andere Annehmlichkeiten der Arbeiter und ihrer Familien gesorgt. In mancher Hinsicht ist das Leben dort wesentlich besser als in einer gewöhnlichen brasilianischen Stadt vergleichbarer Größe. Die Elektrizitätsgesellschaft sorgt für kostenlosen Schulunterricht und medizinische Behandlung. Es gibt ein Krankenhaus mit 220 Betten, vier Operationssälen und 50 Ärzten. An 22 Schulen werden insgesamt 15000 Schüler unterrichtet, Lebensmittel müssen per Lastwagen und Flugzeug aus dem 4800 km entfernten São Paulo herbeigeschafft werden. In den drei Supermärkten der Stadt gibt es Fernseh- und Stereogeräte, Waschmaschinen, Parfum von Yves Saint Laurent, Make-up von Helena Rubinstein, eine große Auswahl an Vogelkäfigen sowie die meisten anderen mehr oder weniger unentbehrlichen Dinge des Lebens.

Eine auffallende Besonderheit Tucuruís ist der Anblick uniformierter Gruppen von Arbeitern, die Bordsteine anstreichen, die Straßen fegen und die Parkanlagen in Ordnung halten. Wo immer man auch hingeht, ganz gleich um welche Tageszeit, findet man Gruppen von Männern und Frauen bei der Arbeit. Das erste, was ich sah, als ich eines Abends um halb zehn ankam, war eine Gruppe von Männern auf der Straße, die beim Schein der Straßenlaternen den Bordstein weiß anstrichen. Ein anderes Mal sah ich eine Schar von Straßenfegerinnen in braunen Hosenanzügen und dazu passenden Hüten die Straße entlanggehen – ein Bild wie aus Kambodscha nach der Revolution. Ergebnis ist die Verwirklichung des Traumes einer typischen amerikanischen Vorstadt aus der Zeit Präsident Eisenhowers. Der Aufbau und die Unterhaltung dieses sterilen Paradieses kosten Eletronorte drei Millionen Dollar pro Monat.

Es ist schwierig, von den Größenordnungen in Tucuruí nicht beeindruckt zu sein. Der Staudamm ist über 19 Kilometer lang. Der Stausee hinter dem Damm wird mehr als 2000 km² Regenwald überschwemmen, eine Fläche annähernd so groß wie das Fürstentum Luxemburg. Die Baukosten belaufen sich auf drei Millionen Dollar pro Tag. Die Arbeiter haben bereits mehr als sechs Millionen Kubikmeter Beton gegossen; zuvor mußte Eletronorte jedoch vier Kühlanlagen bauen, so daß mitten im Amazonasregenwald bei einer Höchsttemperatur von 12 °C Beton gemischt werden konnte. Fast alles, was für den Bau des Staudamms und für die Menschen, die ihn bauen, benötigt wird, kommt mit dem Lastwagen über die staubige, von Schlaglöchern und Radspuren zerfurchte Straße aus Brasília oder wird von Belém den Rio Tocantins hinuntergeflößt. Drei bis vier Monate im Jahr ist es sowieso zu naß, um irgend etwas zu tun. Trotzdem hat Eletronorte die meisten der gravierenden logistischen Probleme beim Bau des Staudamms und der Stadt bewältigt.

Nach Meinung Barbosas versucht Eletronorte – oder zumindest die örtliche Geschäftsleitung – »eine Art inoffizieller Neuverteilung des Besitztums vorzunehmen«. Alle Wohnungen gehören der Gesellschaft und werden den Arbeitern je nach Berufsgruppe zugeteilt. Außer den großen Mietskasernen, in denen die ungelernten Arbeiter wohnen, gibt es vier verschiedene Kategorien von Häusern. Die besten (für 20 Dollar Miete monatlich) sind aus Backstein und Beton gebaut und von hohen Zäunen umgeben. Die Häuser der untersten Kategorie bestehen aus vorgefertigten Holzteilen und sind nur von kurzer Lebensdauer; sie werden von Facharbeitern bewohnt. Diese Häuser haben ein Drittel der Wohnfläche der »besten« Häuser und werden für 1,50 Dollar im Monat vermietet. Jeweils mehrere Häuser derselben Kategorie stehen gruppenweise nebeneinander. Jede solche Gruppe ist wiederum von Häusergruppen anderer Kategorien umgeben. Theoretisch soll hierdurch die Vermischung verschiedener sozialer Klassen durch gemeinsames Wohnen und Lernen gefördert werden, denn der Einzugsbereich der Schulen umfaßt jeweils die gesamte Nachbarschaft. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, daß sich die Anzahl der »besten« Häuser zum Gipfel des Hügels hin, auf dem das neue Tucuruí erbaut ist, vergrößert – ein deutlicher Hinweis auf die soziale Schicht der Wohnungsinhaber. Sozusagen die symbolische Krönung der Stadt, auf dem Rücken des Hügels gelegen, ist Tucuruís bestes Hotel, dessen Schwimmbecken, Tennisplätze und klimageregelte Zimmer für auswärtige Ingenieure, Spezialisten, Journalisten und andere Leute reserviert sind, die Eletronorte besonders gut aufnehmen möchte.

Im Restaurant des Hotels führte ich das erste meiner vielen Gespräche mit Barbosa, der seit 1979 in Tucuruí arbeitet. Er war als Statistiker eingestellt worden, aber seine fremdsprachlichen Kenntnisse (er spricht Englisch, Französisch, Deutsch und natürlich Portugiesisch) zusammen mit seiner Vorliebe fürs Essen und Trinken sowie für die Konversation machten ihn zum idealen Public-Relations-Mann. Er ist über einen Meter achtzig groß und macht den Eindruck eines starken, aber nicht dicken Mannes. Aufgrund seines Auftretens und seiner Erscheinung sowie seiner Angewohnheit, mich zu belehren, schätzte ich ihn auf Ende Vierzig, bis ich erfuhr, daß er erst 29 Jahre alt ist.

Barbosa beteuerte, daß die Stadt Tucuruí ein wichtiges soziales Experiment darstelle: »Wir versuchen, die Dinge auf eine neue Art und Weise zu tun. Wir müssen eine neue Nation gründen – eine Nation, die auf dem einfachen Volk aufgebaut ist.« Ich hatte Mühe, seine Vorstellungen von einer »neuen Welt« politisch richtig einzuordnen. Die Idee, sozialwissenschaftliche Experimente in einer firmeneigenen Stadt durchzuführen, die binnen dreier Jahre fast völlig verlassen sein wird, erschien mir fast wie Selbstbetrug. Barbosa nannte sich einen Sozialisten, aber er verachtete den Sozialismus der Alten Welt. Er klang etwa wie ein idealistischer Berufsoffizier, der davon überzeugt ist, daß radikale Maßnahmen nötig sind, um sein Land vor dem Ruin zu retten. »Brasilien sollte seinen eigenen Sozialismus entwickeln und die anderen Länder Südamerikas zu einem lateinamerikanischen Sozialismus führen, der auf unseren eigenen Kulturen basiert«, erklärte er und fuhr fort: »Man kann die Leute zu nichts zwingen. Die Europäer fragen mich immer, warum es hier keine Gewerkschaften gäbe. Ich sage ihnen, daß wir keine Gewerkschaften für die Arbeiter gründen können. So wird das vielleicht in den Niederlanden gemacht, aber wir glauben, daß die Initiative von den Arbeitern selbst kommen muß. Sie haben keine Gewerkschaften, weil sie deren Zweck noch nicht erkannt haben. Der erste Schritt ist, Arbeit zu haben, Gewerkschaften kommen danach.«

Das neue Tucuruí ist zehn Kilometer vom alten Ort entfernt, der am Fluß liegt. Bevor Eletronorte hierher kam, hatte das alte Tucuruí etwa 3000 Einwohner, von denen die meisten der Jagd und dem Fischfang nachgingen und somit oft abwesend waren. Jetzt gibt es 40000 Menschen im alten Tucuruí, aber immer noch keine Kanalisation. Wenn man von der neuen Stadt in die alte kommt, ist das so, als ob man eine Bücherei verläßt und in einen Karnevalszug hineingerät. Plötzlich gibt es viele Menschen auf den Straßen, und keiner trägt eine Uniform. Jedes Haus ist ein Laden, und jede Ladentür ist weit geöffnet. An den Straßen entlang sind Waren ausgestellt – Fahrradreifen, Moskitonetze, Schuhe, Aluminiumtöpfe und -pfannen, noch mehr Schuhe, Kleidung, Obst und Gemüse und wieder Schuhe. Die Hauptstraße und praktisch der ganze Rest dieser jetzt ziemlich großen Stadt scheinen ein einziger Bazar zu sein.

Viele Häuser haben Wasserränder an den Wänden, bis zu einer Höhe von anderthalb Metern. Einige Häuser stehen in einer Art See. Man versicherte mir, daß das Wasser in ein bis zwei Monaten zurückgehe. Jedes Jahr bereiten sich die Einwohner auf die Überschwemmung vor und räumen ihre Häuser. Wenn das Wasser zurückgegangen ist, ziehen sie wieder ein und sehen dabei den jährlichen Auszug als eine Art Frühjahrsputz an. Der erste Eindruck ist der fröhlichen Chaos’ und großer Armut. Dafür, daß der größte Teil dieser Behausungen in den letzten vier bis fünf Jahren gebaut worden ist (falls Bauen überhaupt die richtige Bezeichnung für das Errichten solcher Hütten ist), sehen sie unglaublich verfallen aus. Die jährliche Überschwemmung fordert anscheinend ihren Tribut.

Trotz der Armut ist Tucuruí eine blühende Stadt. Der Ort hat eine ähnliche Funktion, wie sie Bangkok für die Urlaub machenden amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg besaß, und sie hat auch etwas von der Atmosphäre Bangkoks. Durch die offene Tür einer Einzimmerbehausung dringen Fernsehgeräusche, und man sieht fünf Kinder auf einem Bett sitzen und mit gläsernen Augen, die allen Fernsehsüchtigen eigen sind, auf den Bildschirm starren. Stereomusik dringt aus schmuddeligen Kneipen, die zu Mittag geöffnet sind und so aussehen, als ob sie seit Jahren keinen Gast mehr gehabt hätten.

Etwa die Hälfte der Einwohner, die heute im alten Tucuruí wohnen, sind dorthin gezogen, weil ihre Häuser im Überschwemmungsbereich des Stausees lagen. Eletronorte ließ den betroffenen Familien die Wahl, ob sie in die Stadt ziehen oder auf dem Lande bleiben wollten. 65 Prozent entschlossen sich, das Leben auf dem Land aufzugeben. Viele, die zuerst weiterhin auf dem Land wohnen wollten, sind inzwischen den anderen gefolgt, nachdem sie ihre Anwesen durch Bestechung, Drohungen und Gewaltanwendung an mächtige Viehzüchter verloren.

Was im Tucuruí-Gebiet geschieht, ist typisch für andere Gebiete Amazoniens, die neu besiedelt werden. Zunächst bearbeiten viele Kleinbauern ihr eigenes kleines Anwesen, aber nach nur wenigen Jahren befindet sich der größte Teil des Landes in den Händen einer kleinen Anzahl mächtiger Großgrundbesitzer. Ein Grund für diese Entwicklung ist die chaotische Durchführung von Grundbucheintragungen im Amazonasgebiet, wo es durch vielseitige, ungenaue oder nicht angemeldete Ansprüche auf ein bestimmtes Stück Land manchmal unmöglich ist, festzustellen, wem was gehört. Geschäftsleute mit guten Verbindungen haben es daher leichter als des Lesens unkundige Bauern, die besten Grundstücke für sich zu beanspruchen, ganz gleich, wem das Land rechtlich gesehen nun wirklich gehört. Die Reichen können allerdings auch noch auf eine andere, direktere Weise das bekommen, was sie haben wollen: Es ist am Amazonas immer noch üblich, daß Geschäftsleute pistoleiros (bezahlte Revolvermänner) anstellen, die ihnen das begehrte Land verschaffen. Für ein paar hundert Dollar hat man zehn bis zwölf bewaffnete Männer zu seiner Verfügung.

Der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Tucuruí ist ein Segen für die Kritiker Eletronortes und der Regierungspläne für das Amazonasgebiet. Die alte Stadt mag zwar farbenfroh sein – und die neue steril –, aber das Elend und die Armut der alten Stadt stehen im erschreckenden Gegensatz zu der Ordnung und dem Luxus des neuen Tucuruí. »Wir haben ein großes Problem«, sagte mir Barbosa, »da haben wir die neue Stadt, wo alles ordentlich und sauber ist, und die alte sieht aus wie ein Dreckhaufen. Doch wir ernten die Kritik.«

So wie Barbosa die Sache sieht, ist die Kritik eine schreiende Ungerechtigkeit. Eletronorte hatte zunächst in und am Rande der alten Stadt Wohnungen für seine Arbeitskräfte bauen wollen. So hatte das Unternehmen die Kritik, der es sich jetzt ausgesetzt sieht, verhindern wollen – und gleichzeitig hätte man Kosten gespart. Es war zunächst auch geplant, daß die Einheimischen die Geschäfte, Restaurants und andere Unternehmen, die Eletronorte benötigte, selbst gründen sollten. Eletronorte wollte ihnen helfen, Fuß zu fassen, und hätte den Bau öffentlicher Anlagen wie Kanalisation, Wasserversorgung und Straßen übernommen.

Barbosa berichtete dazu folgendes: »Wir verschwendeten ein Jahr damit, von der Regierungsbehörde für die Entwicklung des Amazonasgebietes und der staatlichen Planungsstelle die Erlaubnis für unser Vorhaben zu bekommen. Wir bauten sogar eine Siedlung dicht neben der alten Stadt. Wir glaubten, daß die Behörden das Ganze dann als abgeschlossene Sache anerkennen würden. Aber wir bekamen trotzdem nicht die Zustimmung, und wir verloren Arbeitskräfte, weil es keine Wohnungen gab. Es fehlten Schulen und andere öffentliche Einrichtungen. Deshalb haben wir dann woanders gebaut.« Das soziale und wirtschaftliche Gefälle zwischen der alten und der neuen Stadt ist laut Barbosa »die größte Tragödie dieses Projekts«. Und der drei Meter hohe Zaun um das neue Tucuruí mit seinen bewachten Eingängen verbindet die beiden Städte auch nicht gerade miteinander.

Die Einrichtungen, die Eletronorte geschaffen hat, sind für die Bewohner der neuen Stadt bestimmt, obwohl in manchen Fällen die Firma den Nutzen – jedoch niemals das Anrecht auf diese Dienste – auch anderen gewährt. Das Krankenhaus nimmt Notfälle aus der alten Stadt auf. Jedes Kind der alten kann eine weiterführende Schule in der neuen Stadt besuchen (es gibt keine weiterführenden Schulen in Alt-Tucuruí), aber dieses Angebot wird selten wahrgenommen; wenige Familien aus der alten Stadt können ihre zehnjährigen Kinder entbehren und sie zu einer solchen Schule schicken, wenn auch die Grundschulbildung ihrer Kinder den Schulbesuch möglich machte. Die Geschäfte und Gaststätten »sind für alle, die es sich erlauben« und die durch die gutbewachten Eingänge in Eletronortes Musterstadt hereinkommen können, geöffnet.

Eletronorte versorgt zum Teil auch die alte Stadt. Angestellte der Gesellschaft liefern Lebensmittel an das dortige Krankenhaus. Jedes Jahr helfen sie mit, die Schäden der alljährlichen Überschwemmung zu beheben. Und sie haben die Straßen der alten Stadt asphaltiert. »Wir haben sie sogar viermal asphaltiert«, betonte Barbosa. Wenn man sich die Straßen ansieht, sollte man nicht meinen, daß die staubigen, tief ausgefahrenen Fahrwege im alten Tucuruí überhaupt – und schon gar nicht viermal – asphaltiert worden sind. Die Schwierigkeit liegt darin, daß kleine Risse im Asphalt sofort wieder gefüllt werden müssen, sonst vergrößern sie sich sehr schnell – durch die große Hitze und die schweren Regenfälle – bis die Straßenfläche einfach aufbricht. In der neuen Stadt mit ihren Trupps uniformierter Straßenarbeiter werden die Straßen ordentlich instand gehalten. Aber ohne jegliches Verwaltungswesen, ohne Ingenieure, Steuereinkommen und praktisch ohne staatliche oder regionale Unterstützung kann das alte Tucuruí nicht einmal die Zuwendungen, die es von Eletronorte erhält, richtig einsetzen.

So oder so werden diese Zuwendungen ein Ende nehmen, wenn Eletronorte seine Fertighäuser wieder abbaut, Lehrer und Ärzte auszahlt und nur eine kleine Gruppe Angestellter zur Instandhaltung des Dammes zurückläßt. Wie eine parasitäre Pflanze, deren Wirtspflanze erstickt wurde, wird das alte Tucuruí unter der Änderung leiden. Es besteht die Möglichkeit, daß eine andere Firmengruppe, die eine Hauptgeschäftsstelle im Amazonasgebiet benötigt, die neue Stadt übernimmt. Das ist, wie schon gesagt, Barbosas Traum: »Aber selbst wenn die Stadt einen Käufer findet, ich gehe. Ich will als nächstes am Santa-Isabel-Staudamm arbeiten. Das wird ein großer Damm.« Seine Augen leuchteten in Erwartung des nächsten Amazonasexperiments: »Staudamm-Leute bleiben nicht gerne lange an einem Ort.« Vor drei Jahren gehörte Barbosa noch nicht zu den Staudamm-Leuten. Er war Städteplaner mit einem Diplom der Universität Brasília und hatte in Rio de Janeiro gearbeitet. »Tja, aber ich wurde ein Damm-Mann während meiner ersten sechs Monate hier«, sagte er lachend.

 

Am Fuße des Hügels, auf dem das neue Tucuruí steht, wohnen 17000 Arbeiter in Mietskasernen. Außer einigen wenigen Frauen, die als Straßenfegerinnen oder in den Kantinen arbeiten, wohnen dort nur Männer, die – zumindest für die Dauer ihres Aufenthaltes in Tucuruí – alle ohne Frauen sind. Es sind ungelernte Arbeiter, die den Staudamm bauen. Die meisten von ihnen kommen aus dem armen Nordosten Brasiliens. Für viele ist es die erste Anstellung. Diejenigen, die aus ländlichen Gebieten stammen, waren vorher Jäger, und einige, deren Familien das Glück hatten, etwas Land zu besitzen, waren auch Bauern. Die Männer und jungen Burschen (nicht wenige sind keine achtzehn Jahre alt) aus Recife und anderen städtischen Elendsvierteln haben mehr Erfahrung im Durchsuchen von Abfällen und im Betteln als mit bezahlter Arbeit.

Der Lohn eines ungelernten Arbeiters in Tucuruí beträgt 22000 Cruzeiros (etwa 110US-Dollar) im Monat; das sind 70 Prozent mehr als der gesetzlich festgelegte Mindestlohn in Brasilien. Lebensmittel und Unterkunft werden subventioniert. Trotz der guten Bezahlung und dem Mangel an Arbeitsplätzen zu Hause ist der Umsatz an ungelernten Arbeitskräften groß. In jedem Jahr wechseln etwa 70 Prozent der Arbeiter. Am Anfang, als es noch weit weniger Annehmlichkeiten gab, war die Fluktuation sogar noch größer. Jetzt gibt es in Form einer gleitenden Subventionsskala mehr Anreize für die Arbeiter, länger zu bleiben. Während der ersten drei Monate bezahlt ein Arbeiter 2000 Cruzeiros im Monat für sein Essen. Danach sinkt der Preis alle drei Monate, bis nach einem Jahr alle Mahlzeiten umsonst sind. In ihrer Freizeit schlafen die Männer, trinken Bier (stärkere alkoholische Getränke sind nicht erlaubt) und spielen Fußball. Unterhaltung anderer Art gibt es nur in der alten Stadt.

Die Langeweile und Einsamkeit des Kasernenlebens bricht sich manchmal in spektakulärer Weise Bahn. Was vor zwei Jahren in Tucuruí geschah, hätte direkt aus der Handlung eines Hollywood-Films stammen können. Es geschah an einem Feiertag in der Osterwoche. Einige Arbeiter wollten den Karsamstag auf traditionelle Weise feiern, indem sie mit einer Figur, die Judas Ischariot darstellen sollte, in einer Prozession durch die Straßen zogen. Einige Wächter der Gesellschaft fanden – nicht ohne Grund, wie allgemein zugegeben wurde –, daß die Figur obszön sei. Sie hielten die Prozession an, es gab ein Handgemenge, und sechs Männer wurden ins städtische Gefängnis abtransportiert.

Die übrigen Männer gingen zur Kantine, dem Kasino der Firma, und erzählten die Geschichte. Plötzlich ähnelte das Geschehen der Szene aus dem Film »White Heat«, als James Cagney in der Gefängniskantine vom Tode seiner Mutter erfährt. Die Männer schoben Zettel die langen Tische entlang. Sie schlugen mit Löffeln gegen ihre metallenen Teller. Essen wurde durch den Saal geworfen. Dann begannen 1500 Männer die Kantine auseinanderzunehmen. Sie warfen Tische um und die Stühle aus dem Fenster. Schließlich stürmten sie das Gefängnis und befreiten ihre Kollegen. Danach drang der Mob in einen Supermarkt ein und riß die Ware von den Regalen. Tüten mit Mehl, Reis und Bohnen, Flaschen mit Speiseöl und fein säuberlich aufgestapelte Kartons mit Joghurt lagen überall herum. Auf einigen Regalen standen alkoholische Getränke – Johnny Walker, Bombay-Gin, Moët et Chandon-Champagner, Southern Comfort – diese Flaschen wurden nicht zerschlagen.

Die erschrockenen Wächter der Firma, die unbewaffnet sind, riefen die Landespolizei zu Hilfe. Die Polizisten feuerten mit ihren Maschinenpistolen in die Luft – und trafen einen der Randalierer. Der Tumult ebbte ab. Die Geschäftsführer Eletronortes, entsetzt bei dem bloßen Gedanken an den Skandal, den es unweigerlich gegeben hätte, wenn der Arbeiter an den Schüssen gestorben wäre, charterten ein Jetflugzeug, um den Verletzten und zwei seiner Freunde in ein Krankenhaus nach São Paulo zu bringen. »Wir wollten nicht, daß es hieß, der Mann sei nicht in bester Behandlung«, erklärte ein Firmensprecher. »Wir ließen seine Freunde mitfliegen, damit sie sehen konnten, daß er die bestmögliche Behandlung bekam.« Zum Glück überlebte der Mann.

 

Im April 1982, anläßlich Brasiliens »Nationaler Indianer-Woche«, organisierte Eletronorte in der Turnhalle eine Ausstellung von Kult- und Gebrauchsobjekten der Menschen, deren Heimat dem Stausee geopfert werden sollte. Vertreter der nationalen Indianerbehörde (FUNAI) saßen einsam an Kartentischen, auf denen die Gegenstände der Parakanân-Kultur sorgfältig ausgebreitet lagen – komplett mit Preisschildern. Viele dieser Gegenstände enthielten Hinweise darauf, wie die Parakanân ihre Welt sehen, aber diese Symbolik blieb den Schulkindern, die durch die Ausstellung geführt wurden, verborgen. Sie fühlten sich von dem angezogen, was sie bereits von den Indianern wußten. Scharen von Jungen bewunderten prachtvoll befiederte Pfeile, Bogen und Speere. Die Mädchen hielten sich Halsketten an, um sich von Freundinnen bewundern zu lassen. Einige der Federarbeiten waren atemberaubend schön. Ein Tanzdiadem aus schwarz-weiß gebänderten Harpyienfedern kostete 15US-Dollar. Barbosa führte mich durch die Ausstellung und meinte: »Die Anthropologen sind schockiert und werfen uns vor, daß wir die Indianer kommerzialisieren, indem wir ihre Arbeiten verkaufen. Deren Ideal ist eine unberührte Indianerkultur. Aber die Indianer brauchen Geld. Sie brauchen Lebensmittel. Sie fertigen diese Sachen an, um sie zu verkaufen. Um die Indianerkultur zu erhalten, muß man zunächst einmal die Indianer erhalten.«

Sechs Städte mußten aufgegeben werden und 6000 Familien das Gebiet verlassen, das Eletronorte überschwemmen wollte. Drei Reservate, die vormals für die Akuawa-Parakanân und Parkatê geschaffen worden waren, sind betroffen; eines davon wird fast vollständig überflutet. Ein zweites Schutzgebiet soll teilweise überschwemmt werden, während ein neuer Abschnitt der Transamazônica durch den anderen Teil verlaufen wird. Durch das dritte Reservat, das bereits Ende der 60er Jahre von einer Fernstraße in zwei Teile geteilt wurde, sollen eine elektrische Eisenbahnlinie und eine Hochspannungsleitung führen.

Die brasilianische Regierung hat in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mehrmals versucht, die Parakanân, die zu jener Zeit etwa 600 Personen zählten, zu »befrieden«. Die Indianer behinderten den Bau der Tocantins-Eisenbahnlinie, die durch ihr Land führte und angelegt wurde, um Paranüsse sicher auf den Markt zu bringen und dabei die gefährlichen Stromschnellen zu umgehen. (Die Eisenbahnlinie, deren Fertigstellung über vierzig Jahre in Anspruch nahm und die viele Menschenleben forderte, wurde nach 20 Jahren aufgegeben, als die Regierung in der Nähe eine Straße baute.) Der Prozeß der Kontaktaufnahme mit zurückgezogen lebenden indianischen Gruppen wird in Brasilien als »Befriedung« verstanden. Da die Annäherung Vertrauen stiften soll, hinterlegt man Geschenke – Spiegel, Angelhaken, Glasperlen – in einer Lichtung des Waldes und zieht sich dann zurück, um der Gruppe Gelegenheit zu geben, die Sachen anzusehen. Wenn alles gut geht, nehmen die Indianer die »Geschenke« an. Der »Befrieder« hinterläßt weitere Gegenstände in der Hoffnung, daß die Gruppe auch sie annimmt. Dieser Vorgang wiederholt sich, bis die so »Befriedeten« endlich aus dem Schutz des Waldes herauskommen, um ihre Wohltäter kennenzulernen.

Fünfzig Jahre lang widerstanden die Parakanân diesen Annäherungsversuchen, bis 1953 der staatliche Indianerschutzdienst (SPI) 190 Indianer dazu brachte, sich in einem neuangelegten Dorf in der Nähe anzusiedeln. Angestellte des SPI versprachen den Indianern Schutz. In Wirklichkeit brachten sie Tod: Die Grippe ist eine ungefährliche Krankheit für die Weißen, aber Naturvölker besitzen keine Abwehrkräfte gegen sie. Innerhalb eines Jahres waren fünfzig Parakanân an Grippe erkrankt und starben. Die anderen, von denen viele krank waren und im Sterben lagen, flüchteten in den Wald und somit außer Reichweite des SPI.

In den folgenden 15 Jahren versteckten sich die Parakanân vor den Fremden. Währenddessen wurde der SPI von einer neuen Vereinigung, der FUNAI, abgelöst. Der SPI wurde 1968 aufgelöst, nachdem eine staatliche Untersuchungskommission festgestellt hatte, daß SPI-Angestellte des Völkermordes schuldig waren. Neben Vergewaltigung und Sklavenhaltung verzeichnete der Untersuchungsbericht unzählige Mordanschläge, in einigen Fällen sogar den Einsatz von Dynamit gegen indianische Dörfer und die Ausgabe von arsenvergiftetem Zucker. In Mato Grosso hatten Großgrundbesitzer mit dem Einverständnis lokaler SPI-Funktionäre Pocken und Masernerreger verbreitet. Brasiliens Generalstaatsanwalt, Jader Figueiredo, der die Untersuchung leitete, sagte, daß die Geständnisse betreffend sexueller Vergehen, Mord und aller anderen Verbrechen gegen die Indianer und deren Eigentum einwandfrei bewiesen, daß die SPI jahrelang ein Hort der Korruption und des wahllosen Mordens gewesen sei.

Im Hinblick auf die geplante Transamazônica, die durch das Land der Parakanân führen sollte, gelang FUNAI Anfang 1971 die Befriedung einer anderen Gruppe von Parakanân. Es dauerte acht Monate, bis die Indianer ihr Mißtrauen verloren. Innerhalb weniger Wochen bekamen vierzig Parakanân die Grippe. Etwas später im selben Jahr besuchte ein brasilianischer Arzt, Antonio Madeiros, die Parakanân. Er stellte fest, daß fünfunddreißig Frauen geschlechtskrank waren, ein Leiden, das bis dahin bei den Parakanân unbekannt war. Madeiros fand eindeutige Beweise dafür, daß sie von zwei FUNAI-Vertretern und verschiedenen Straßenarbeitern angesteckt worden waren. Acht Kinder, die diese Frauen später zur Welt brachten, wurden blind geboren. Letztendlich erblindeten auch zwei der Frauen, da ihre Krankheit nicht behandelt worden war.

Im Juli 1971 gründete FUNAI ein Reservat für die Parakanân, das an die Transamazônica angrenzt. Trotzdem stellte die Londoner Aborigines Protection Society, die 1972 eine Arbeitsgruppe sandte, um die Lebensbedingungen der Stämme im Amazonasbecken zu untersuchen, fest, daß Straßenarbeiter das Parakanân-Reservat ungehindert betreten konnten, daß die Arbeiter nicht medizinisch untersucht wurden, um Krankheitsübertragungen zu verhindern, und daß sie durch Bedrohung und Bestechung den Indianern ihren Willen aufzwangen. Anfang 1971 hatte die Gruppe aus 150 Indianern bestanden; am Ende desselben Jahres waren fast die Hälfte tot, Opfer von Grippe, Malaria und psychischen Schäden.

Das Team der Aborigines Protection Society fand die Parakanân in einem Stadium der kulturellen Auflösung. Sie waren aus ihrer Heimat vertrieben worden und konnten in dem neuen Gebiet ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten, zum Teil, weil die Straßenbauarbeiten zwangsläufig die Jagdtiere davontrieben. So wurden die Indianer von den Almosen und Bestechungen der FUNAI-Angestellten und Straßenarbeiter abhängig. Viele Stammesangehörige gingen nicht mehr nackt, sondern trugen schlechtsitzende, abgewetzte Baumwollfetzen, die ihnen nach ein paar Monaten des Lebens im Freien vom Leibe fielen. Ein großer Teil der Gruppe war dauernd durch Erkältungen, Schnupfen und Unterernährung geschwächt. Straßenarbeiter führten alkoholische Getränke und Prostitution ein sowie verschiedene ansteckende Krankheiten, die von Zeit zu Zeit epidemische Ausmaße annahmen.

1975 gab Eletronorte bekannt, daß der Tucuruí-Stausee einen großen Teil des Parakanân-Reservates überschwemmen würde und die Transamazônica durch den noch verbleibenden Teil des Schutzgebietes umgeleitet werden müßte.

1976 »befriedete« FUNAI eine weitere Gruppe von diesmal 38 Parakanân, die vormals nie Kontakt zu Fremden hatten. Nach der Kontaktaufnahme impfte FUNAI die Indianer und flog sie in ein etwa 320 km entfernt liegendes Schutzgebiet namens Pucuruí, obwohl bereits feststand, daß ein großer Teil dieses Reservates von dem neuen Stausee überschwemmt werden würde. Mitte der 60er Jahre war das Reservat von Norden nach Süden durch die Belém-Brasília-Fernstraße zerschnitten worden. Anfang der 70er Jahre teilte die Transamazônica das Gebiet von Osten nach Westen, und eine geschäftige Stadt entstand am Schnittpunkt der beiden Straßen. Diese Indianergruppe erlebte dasselbe Elend wie ihre Vorgänger fünf Jahre zuvor. Vertrieben von dem Land, auf dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, verpflanzt in ein »Reservat«, das einer Verkehrsinsel glich, litten sie an körperlicher und geistiger Unterernährung. Innerhalb des ersten Jahres ihrer »Befriedung« starben zehn Indianer an Infektionskrankheiten. Die nächste Behandlungsmöglichkeit für Kranke gibt es in der Eletronorte-Klinik in Tucuruí, 130 km vom Parakanân-Reservat und über 60 km von Pucuruí entfernt.

Das Gebiet des heutigen Pucuruí-Reservates muß einst reich an Wild gewesen sein. Inzwischen ist es jedoch ödes Land – Arbeiter zweier nahegelegener Farmen und des FUNAI-Sägewerkes innerhalb des Reservats, die hochkalibrige Gewehre und moderne Fallen benutzten, haben zuviel gejagt. Der Betrieb des Sägewerkes und die daraus resultierende Vernichtung des Waldes machen das Reservat immer weniger für Wild geeignet. Das Sammeln und der Verkauf von Paranüssen könnte den Parakanân zu einem anständigen Einkommen verhelfen, das ihre Abhängigkeit von FUNAI-Almosen vermindern würde und ihnen Gelegenheit gäbe, schwindende Eiweißquellen durch Paranüsse zu ersetzen, aber statt dessen werden die wertvollen Nüsse von FUNAI-Angestellten gesammelt und verkauft. Das Sägewerk verarbeitet das Holz des Waldgebietes, das bald überschwemmt werden soll. 1976 wurde der Wert des Holzes auf über 50 Millionen US-Dollar geschätzt. Rechtlich gehören die Produkte des Indianerlandes den Indianern, aber FUNAI hat keine Anstalten getroffen, um die Gewinne des Sägewerkes an die Parakanân weiterzuleiten.

Beide Parakanân-Gruppen reagierten auf diesen Eingriff in ihre Lebensweise auf eine Art, die typisch für Indianerkulturen ist. Sie beschlossen, kollektiven Selbstmord zu begehen. Sie hörten auf zu jagen, ihre Felder zu bestellen und Kinder zu bekommen; sie warteten einfach darauf zu sterben.

 

»In der schlechten alten Zeit, die noch gar nicht so lange her ist«, erzählte mir ein Beobachter, »wurde zwei Wochen, bevor ein Stausee die betroffenen Dörfer überflutete, ein Armeelastwagen mit Lautsprecher geschickt, der ankündigte: ›Hört mal zu, Leute, Ihr habt zwei Wochen Zeit, um von hier zu verschwinden. Wiedersehen.‹«

Was in Tucuruí geschah, scheint nicht soviel anders zu sein als das, was in der schlechten alten Zeit passierte. Die Möglichkeit eines Stausees war bereits in den frühen 60er Jahren diskutiert worden, und es war sehr wohl bekannt, daß in dem zu überschwemmenden Gebiet Indianer lebten. Trotzdem machten bis 1977, als mit dem Bau des Staudammes bereits begonnen worden war, weder FUNAI noch Eletronorte irgendwelche Anstalten, die Indianer zu entschädigen oder umzusiedeln. Zu der Zeit waren beide Parakanân-Gruppen bereits zu sehr demoralisiert, um sich noch darum zu kümmern, was mit ihnen geschah. Außerdem zögerten sie, sich auf FUNAIs Versprechen von einer sicheren Zukunft zu verlassen. 1978 dann, unter dem Zwang der Notwendigkeit, einen neuen Lebensraum zu finden, entschlossen sich die beiden Gruppen, in jeweils einen anderen Teil ihres alten Heimatlandes zurückzugehen. Kurz nachdem man ihnen versichert hatte, sie könnten dorthin zurückkehren, wurden drei Parakanân-Frauen schwanger – der Wille zu überleben war wieder erwacht. Beide Zielgebiete waren allerdings von unrechtmäßigen Ansiedlern besetzt, und keines ist bisher von der Regierung als offizielles Reservat anerkannt worden.

Die Parkatê leben in Mâe Maria, dem dritten Reservat, das vom Tucuruí-Projekt in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie wurden zu Anfang dieses Jahrhunderts von Forschungsreisenden »entdeckt«, hatten aber danach trotzdem 50 Jahre lang den Kontakt mit Nicht-Indianern vermeiden können. Nach ihrer »Befriedung« in den 50er Jahren starben 70 Prozent der Parkatê. 1961 zählte man weniger als 30 Parkatê. Der brasilianische Anthropologe Roberto DaMatta, der die Gruppe aufsuchte, schrieb Mitte der 60er Jahre, daß die Parkatê als Gemeinschaft zu verschwinden begonnen hätten: »Seit der ›Befriedung‹ sind sie nur noch eine Anzahl von Einzelpersonen, völlig von der nationalen Gesellschaft abhängig.«

Bis 1977 hatten die Parkatê ein erstaunliches »Comeback«. Mit dem Zuzug der erst 1969 »befriedeten« Gruppe vom Igarapé dos Frades war ihre Zahl auf 108 angewachsen. Sie hatten den FUNAI-Vertreter fortgejagt und ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände genommen. Ende der 60er Jahre war die Umsiedlung aller Lokalgruppen nach Mâe Maria abgeschlossen: Damals wurde das Reservat durch den Bau einer Bundesstraße zweigeteilt. Als 1971 eine Abordnung des Primitive Peoples’ Fund und Survival International eines der Parkatê-Dörfer besuchte, litten jede Frau und jedes Kind augenscheinlich an Keuchhusten, und alle saßen verloren mit laufenden Nasen und ununterbrochen hustend da. Gefragt, was den Indianern denn fehle, antwortete der FUNAI-Angestellte: »Gar nichts, Indianer sind immer so.«

Trotzdem bot Mâe Maria den Parkatê einen großen Vorteil. Einer der wertvollsten Bäume Amazoniens, der Paranußbaum, wächst dort in großer Anzahl. 1972 erbrachten Paranuß-Exporte nur für die Region um Tucuruí einen Gewinn von über 13,5 Millionen US-Dollar. Seit 1964 ist die Hauptbeschäftigung der Parkatê das Sammeln dieser Nüsse. Aber die meiste Zeit mußten sie die Nüsse an FUNAI verkaufen, die als Zwischenhändler auftrat und den Indianern 20 Prozent oder manchmal noch weniger vom Erlös abgab.

1975 stellte FUNAI eine Anthropologiestudentin, Iara Ferraz, ein, um ein kommunales Entwicklungsprojekt durchzuführen. Sie ermunterte die Parkatê, auch den Transport und Verkauf der Nüsse selbst zu übernehmen. Im Juni 1976 wiesen die Parkatê den FUNAI-Vertreter aus dem Reservat und weigerten sich, weiter Nüsse an die Organisation zu verkaufen. Statt dessen verkauften sie direkt an den Großhandel und benutzten den Gewinn dazu, einen Lastwagen zu kaufen. FUNAI entließ Frau Ferraz aus ihrer Stellung wegen angeblicher Disziplinlosigkeit, aber im darauffolgenden Jahr erhielten die Parkatê nach erfolgreichen Verhandlungen mit der Banco do Brasil ein Darlehen, um ihre Geschäfte zu erweitern, und stellten 20 brasilianische Erntehelfer ein. 1980 verdienten sie an Paranüssen über 50000US-Dollar jährlich.

Seitdem mußten die Parkatê mit weiteren Problemen fertig werden. Eletronorte errichtete eine 500000 Volt-Hochspannungsleitung durch das Mâe Maria-Gebiet, was den Verlust von 800 Paranußbäumen sowie mehrerer tausend wertvoller Edelhölzer zur Folge hatte. Verhandlungen betreff Entschädigungen fanden zwischen Eletronorte, FUNAI, der Bundesregierung und den Parkatê statt. 1978 verlangten die Indianer 560000US-Dollar. Eletronorte fand jedoch eine Gesetzeslücke, die Entschädigungen für Indianer auszuschließen schien. Die Gesellschaft argumentierte mit Erfolg, daß die brasilianischen Gesetze den Indianern zwar die Nutzung des Landes zusprechen, das Land selbst jedoch Eigentum des Staates sei. Den Indianern stehe der Nutzen aller Bäume auf dem Land zu, aber der Staat, als Eigentümer des Landes, habe das Recht, einige oder alle Bäume zu fällen. Im Juni 1977 erließ der brasilianische Staatspräsident eine Verfügung, die Eletronorte im Interesse der nationalen Entwicklung Zugang zu dem Land gewährte. Der Staat brauchte den Parkatê keine Entschädigung zu zahlen. Damit hätte die Sache ein Ende finden können, wenn sich die Parkatê nicht einen der besten Anwälte São Paulos genommen und weitergekämpft hätten. Im Jahre 1980 willigte Eletronorte ein, den Parkatê eine Entschädigung in Höhe von 830000US-Dollar zu zahlen.

Kurz nachdem diese Verhandlungen beendet worden waren, ließ Brasiliens staatliche Bergbaugesellschaft, die Companhia Vale do Rio Doce (CVRD), verlauten, eine elektrische Eisenbahnlinie durch das Mâe Maria-Reservat führen zu wollen. Bis zu zwölf Züge mit jeweils 160 Frachtwaggons sollen in den nächsten 80 Jahren täglich 19 km durch das Gebiet fahren. Für notwendige Schienenarbeiten werden Anfahrtsstraßen, Unterkünfte für Arbeiter, Sand- und Kiesgruben geschaffen werden müssen – alles Dinge, die Störungen und Verschmutzungen in das Reservat bringen. Der Einspruch der Parkatê wurde abgewiesen und ihre Forderung nach 230000US-Dollar Entschädigung ignoriert. CVRD gewann den Streit mit den Argumenten, daß eine Umgehung des Reservates zu teuer sei und daß die Parkatê, obwohl vor 20 Jahren im Aussterben begriffen, inzwischen so an die Zivilisation angepaßt seien, daß sie durch die Züge nicht sonderlich gestört würden.

 

Der Amazonas hat über tausend Nebenflüsse, von denen einige größer sind als der Mississippi. Ozeandampfer können bis nach Manaus fahren, das mehr als 3600 km weit im Binnenland liegt. Ein Fünftel allen Süßwassers der Erde fließt jeden Tag durch den Amazonas, das ist mehr Wasser, als durch die acht nächstgrößeren Flüsse zusammengenommen strömt. Quellen, die nur 160 km vom Pazifik entfernt entspringen, fließen nach Osten und werden zu Rinnsalen, Bächen, Flüßchen und immer größeren Flüssen, bis schließlich 6400 km weit von der Quelle die Wassermassen in solcher Menge und mit solcher Gewalt in den Atlantischen Ozean stürzen, daß ein Seemann noch 160 km von der Flußmündung entfernt Süßwasser aus dem Meer schöpfen kann. Marajó, eine Insel in der Amazonasmündung, ist so groß wie die Schweiz. An der Flußmündung sind die Ufer weiter voneinander entfernt als Paris und London.

Das Energiepotential der Flüsse des Amazonasbeckens, den Amazonas selbst nicht mitgerechnet, beträgt 100000 Megawatt. Damit ist das Amazonasbecken mit einer Ölquelle vergleichbar, aus der täglich fünf Millionen Barrel Öl fließen und die doch niemals erschöpft ist. Brasilien muß täglich 25 Millionen US-Dollar aufbringen, um nur eine Million Barrel Öl einzuführen, so daß das Land genug Gründe hat, die eigene hydroelektrische Energie zu entwickeln. Zur Zeit gibt es zwei kleine Staudämme im brasilianischen Regenwald, die zusammen nur 65 Megawatt produzieren. Falls aber Eletronortes Pläne Wirklichkeit werden, sollen die Flüsse des Amazonasbeckens bis zum Jahre 200022000 Megawatt produzieren; das sind 40 Prozent der elektrischen Energie, die Brasilien dann voraussichtlich benötigen wird.

Die Erfahrungen, die man mit Staudämmen in tropischen Regenwäldern gemacht hat, sind nicht gerade gut. Der erste Staudamm, der 1964 fertiggestellt wurde, bildete den Brokopondo-See in der ehemaligen niederländischen Kolonie Surinam, die nördlich von Brasilien liegt. Rund 1500 m² dichter Primär-Regenwald wurden für das Staubecken überschwemmt. Beim biologischen Zerfall der Bäume entstand Schwefelwasserstoff, der einen solchen Gestank verursacht, daß sich noch Menschen, die viele Meilen entfernt wohnten, darüber beschwerten. Zwei Jahre lang mußten alle, die am Staudamm arbeiteten, Gasmasken tragen. Die schlimmste Folge war jedoch die Übersäuerung des Wassers, die wiederum zur Korrosion des teuren Staudammkühlsystems führte. Die Gesamthöhe der zusätzlichen Kosten für Wartung, Reparaturen und Erneuerungen von beschädigten Anlagen wurde 1977 auf vier Millionen US-Dollar geschätzt; das sind sieben Prozent der gesamten Projektkosten.

Ein See, in den absterbende Bäume Nährstoffe abgeben, ist ein attraktiver Lebensraum für Wasserpflanzen. Diese erscheinen zunächst an den Ufern des Sees, wo das nährstoffreiche Wasser das Land umspült. Schließlich lösen sie sich vom Ufer und treiben in die Mitte des Sees, wo sie dichte Teppiche bilden und sich in den Ästen und Stämmen der Baumleichen verfangen. Nachdem der Brokopondo-Staudamm gebaut worden war, breiteten sich Wasserhyazinthen, die einst im Suriname-Fluß selten waren, über die Seeoberfläche aus. Wasserhyazinthen sind attraktive Pflanzen mit glänzendgrünen, ovalen Blättern und zarten blaß-lila Blüten; wenn sie jedoch in Massen auftreten, können sie in Seen und Kanälen großes Unheil anrichten, da sie die Schiffahrt beeinträchtigen und sich in den Schrauben verfangen können. Wenn der Wasserspiegel niedrig ist, liegen sie am Ufer – ein übelriechendes und schlüpfriges Hindernis für jeden, der zum Wasser will. Innerhalb eines Jahres trieb ein 130 km² großer Teppich aus Wasserhyazinthen auf dem Brokopondo-See, im zweiten Jahr bedeckte er bereits fast die Hälfte der Wasseroberfläche und ein Schwimmfarn der Gattung Ceratopteris weitere 440 km².

Der zweite und jüngste Staudamm im Amazonasbecken, Curuá Una in der Nähe von Santarém, rund zwei Flugstunden von Tucuruí entfernt, wurde 1977 in Betrieb genommen. Obwohl der Stausee nur ein Fünfundzwanzigstel der Fläche des Tucuruí-Stausees besitzt, beschwerten sich Leute, die mehr als 60 km entfernt wohnten, monatelang über den Schwefelgestank, nachdem das Staubecken gefüllt worden war. Als der Geruch endlich verflog, fingen die Probleme erst richtig an. Bis 1982 hatte das saure Wasser die Stahlmäntel beider Turbinen korrodiert. Ersatzmäntel aus Edelstahl kosteten über fünf Millionen US-Dollar.

Innerhalb kurzer Zeit war die Hälfte des Curuá Una-Sees von schwimmenden Teppichen aus Wasserhyazinthen und Igelgras bedeckt. Dadurch starben viele Fische im See. Wasserhyazinthen sind für die meisten Fische ungenießbar. Zudem nehmen Wasserhyazinthen die verfügbaren Nährstoffe auf und verhindern, daß die Sonnenstrahlen bis in größere Tiefen vordringen. Andere Pflanzen und die Fische, die von ihnen abhängig sind, haben praktisch keine Überlebenschance.

Im Jupia-Stausee, im Rio Paraná außerhalb des Amazonasgebietes, hat das Gewicht der vielen Wasserhyazinthen, die an der Seeoberfläche wachsen, Stahlkabel reißen lassen. Die Spezialfilter, die die Turbinen vor den Wasserpflanzen schützen sollen, sind manchmal so verstopft, daß die Stromerzeugung unterbrochen werden muß. Das sind jedoch nur kleine Unannehmlichkeiten im Vergleich zu der Tatsache, daß Wasserpflanzen, die auf der Wasseroberfläche treiben oder ans Ufer gespült werden, Nahrung und Brutstätte für die Überträger zweier der gefährlichsten und unangenehmsten Krankheiten des Menschen – Malaria und Bilharziose – liefern.

Malaria ist bereits die am weitesten verbreitete Krankheit Amazoniens. Ihre Verbreitung in Tucuruí war schon ernst, bevor die Arbeiter kamen, um den Damm zu bauen. 1976 ergaben Tests, daß jeder Fünfte an Malaria erkrankt war. Der Staudamm wird die Anzahl günstiger Brutstätten für Moskitos in der Region weiter vergrößern. Jedesmal, wenn das Wasser im Tucuruí-See durch die Turbinen läuft, um Strom zu erzeugen, werden 900 km² idealer Moskitobrutstätten freigelegt. Wenn das Wasser über zwei Wochen seinen Tiefstand beibehält, kann in dieser Zeit eine ganze Generation von Moskitos für Nachwuchs sorgen.

Bilharziose wird durch Pärchenegel der Gattung Schistosoma hervorgerufen. Für ihre Entwicklung sind Zwischenwirte (Teller- und Deckelschnecken) notwendig. Die Larven der Egel verlassen die Schnecken und dringen in die Haut von Menschen ein, die im Wasser schwimmen, sich damit waschen oder auch nur darin stehen. Sind die Larven erst einmal in die Blutbahn gelangt, wandern sie zur Leber und siedeln sich dann, je nach Art, in der Blase oder im Darm des Menschen an. Die Symptome der Krankheit reichen von chronischem Durchfall und Blut im Urin bis zu ernsteren, unter Umständen tödlichen Leber-, Nieren- und Rückgratleiden sowie Schäden an anderen Organen. Die möglichen Behandlungsmethoden sind kostspielig und risikoreich.

Vierzehn Millionen Brasilianer leiden an Bilharziose. Zur Zeit kommen im Rio Tocantins die Schnecken, die den Darm-Pärchenegel beherbergen, noch nicht in größerer Anzahl vor. Robert Goodland, ein Ökologe der Weltbank, der 1977 für Eletronorte bei Tucuruí eine Umweltstudie durchführte, glaubt jedoch, daß es ein paar Jahre nach Einrichtung des Stausees dort ideale Bedingungen zur Schneckenvermehrung geben wird. Da die Schnecken rings um Tucuruí vorkommen und viele der Staudammarbeiter aus dem armen Nordosten des Landes stammen, wo die Krankheit weit verbreitet ist, ist es sehr wahrscheinlich, daß die Anzahl von Schnecken wachsen und die Bilharziose zunehmen wird.

Die Regierung von Surinam wandte 2,3 Millionen US-Dollar auf, um den Brokopondo-See in einer größtenteils erfolgreichen Kampagne von Schwimmpflanzen zu befreien. Das Herbizid, das dafür genutzt wurde, war »2,4–D«, eines der Hauptbestandteile von Agent Orange, dem Entlaubungsmittel, das die Amerikaner in Vietnam einsetzten und das von vielen heute mit den furchtbaren Geburtsschäden an Kindern amerikanischer Soldaten und vietnamesischer Zivilisten in Verbindung gebracht wird. Die Einheimischen, die das Wasser des Suriname-Flusses benutzten, mußten feststellen, daß ihr Fluß zunächst blockiert und dann auch noch vergiftet war. In Curuá Una haben Wissenschaftler die Behörden davon überzeugt, daß Manatis die Antwort auf Schwimmpflanzen sind. Diese sanften Säugetiere, die zur Familie der Seekühe gehören, leben u.a. von Wasserhyazinthen. Dreißig Manatis wurden schon im Curuá Una-See ausgesetzt, aber mindestens doppelt so viele werden benötigt, um die sich vermehrenden Pflanzen in Schach zu halten.

Von der Schnelligkeit, mit der Bäume und andere Pflanzen, die überflutet werden, vermodern, hängt die Wasserqualität ab. Wie schnell sich Pflanzen zersetzen, wird wiederum von der Menge des frei verfügbaren Sauerstoffs bestimmt. In einem See mit kleiner Oberfläche, der gleichzeitig tief und ruhig ist, verläuft die Zersetzung anaerob, das heißt, sie findet unter Ausschluß von freiem Sauerstoff statt. Unter diesen Bedingungen wird die Zersetzung langsam vor sich gehen und viele Jahre dauern. Zu den Gasen, die bei anaerober Zersetzung als Nebenprodukte entstehen, gehören Methan, ein flammbares Gas, Schwefelwasserstoff (Hydrogensulfid), giftig und nach »faulen Eiern« riechend, sowie Kohlendioxid, das den Säuregehalt des Wassers erhöht. In Brokopondo, wo im größten Teil des Sees anaerobe Zersetzung stattfand, wirkte sich der Sauerstoffmangel des Wassers noch 80 km unterhalb des Staudamms katastrophal aus: Fische, betäubt durch das freigesetzte Hydrogensulfid, trieben an der Wasseroberfläche.

Aerobe Zersetzung findet in großen, flachen Seen statt, die seicht genug sind, daß das Sonnenlicht hindurchdringen und Sauerstoff durch Photosynthese der Unterwasservegetation produzieren kann, den die natürliche Turbulenz des Wassers gleichmäßig im See verteilt. Im größten Teil des Tucuruí-Reservoirs wird sehr wahrscheinlich aerobe Zersetzung stattfinden. Das bedeutet, daß der Wald schneller verrotten wird und die Auswirkungen der Zersetzung schneller zu spüren und auch gravierender sein werden. Es bedeutet aber auch, daß sich die Dinge schneller wieder normalisieren sollten.

In kleinen Teilen des Waldes, die bereits zu Versuchszwecken von Eletronorte überschwemmt wurden, hat die Zersetzung bereits begonnen und wird von einem fauligen Geruch begleitet. Diese überschwemmten Waldgebiete, wie auch die gesamte Gegend von Curuá Una, bilden eine unheimliche und gespenstische Landschaft. Tausende von Baumskeletten ohne Blätter oder Rinde recken sich aus dem See empor – ein geisterhafter und doch merkwürdig schöner Anblick.

Im Überschwemmungsgebiet des geplanten Tucuruí-Stausees gibt es etwa 20 Millionen Kubikmeter Holz bester Qualität im Werte von vielen Millionen US-Dollar. Dort wachsen einige sehr wertvolle Baumarten wie Ebenholz und Paranuß. Das übrige Holz könnte zu Zellstoff verarbeitet werden. Die Methangasgewinnung aus Holz ist ein Vorhaben, das die Regierung in der Tucuruí-Region verwirklichen will. Eletronorte hat jedoch nicht vor, den Wald vor der Überschwemmung des Gebietes abzuholzen. Wie es so oft bei Entwicklungsprojekten in Amazonien der Fall ist, soll ein großer Teil des Waldes zerstört werden und das Holz einfach ungenutzt bleiben.

Eletronorte hält das Fällen des gesamten Waldes im Bereich des zukünftigen Stausees für ebenso unnötig wie undurchführbar. »Es ist zunächst verlangt worden«, sagte Barbosa, »daß der Wald gefällt werden sollte, aber es war niemals so geplant, da es völlig unwirtschaftlich wäre. Wenn der Fall so läge, daß es eine große ökologische Katastrophe gäbe, falls der Wald nicht abgeholzt würde, dann müßten wir das ganze Projekt aufgeben, denn wir können es uns niemals leisten, alles zu fällen. Wir haben einfach nicht die Zeit dafür. Wir wissen, daß es dort Umweltprobleme geben wird, sogar viele, schwerwiegende Probleme, aber es ist alles eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Es wird keine vollkommene Katastrophe geben, und was die Probleme anbelangt, die wir nicht lösen können … na ja, das ist halt der Preis, den wir bezahlen müssen. Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern ist auch die offizielle Ansicht von Eletronorte.«

Bei der Terminplanung für den Bau des Tucuruí-Staudammes, der zunächst von den Anfangsarbeiten bis zur Vollendung des Projektes fünf Jahre dauern sollte, war in der Tat keine Zeit für das Fällen der Bäume im Stauseebereich vorgesehen. Selbst wenn ein mittelgroßes Sägewerk zur Verfügung stünde, das eine Tagesleistung von 680 Tonnen erbrächte, würde es etwa 115 Jahre dauern, bis das Holz aus über 2000 km² Wald verarbeitet wäre. Auf der ganzen Erde gibt es nur eine Handvoll Sägewerke, die die Vielfalt von Holz aus einem kahlgeschlagenen Regenwald verarbeiten könnten, und keine dieser Anlagen steht in Brasilien. Andere, weniger ehrgeizige Vorschläge, wie wenigstens ein Teil des Waldes genutzt werden könnte, sahen den Einsatz kleiner, mobiler oder schwimmender Sägewerke vor, die das Holz für lokale Zwecke verarbeiten und auch noch nach der Überschwemmung des Gebietes weiter abbauen könnten. In seinem Bericht an Eletronorte wies Goodland darauf hin, daß die Tatsache, daß die Bäume im Wasser stehen, ihren Wert sogar noch erhöhen kann. Das Wasser befreit die Bäume von Rinde und Ästen und erleichtert zudem den Transport.

Zu Anfang hatte Eletronorte gar nicht vor, überhaupt einen Teil des Waldes im Überschwemmungsgebiet abzuholzen. Nachdem Goodland jedoch in seinem Bericht auf die Gefahren von Krankheiten, Übersäuerung des Wassers, Wasserpflanzen und Fischsterben hingewiesen hatte, entschloß sich die Gesellschaft, doch einige Gebiete abzuholzen. Der Kahlschlag von mehr als 10000 Hektar Wald wurde für notwendig befunden, um ein einwandfreies Arbeiten der Turbinen zu gewährleisten. Viele Jahre gingen verloren, bis sich die Gesellschaft entschloß, den Auftrag zur Abholzung CAPEMI zu geben, einem Unternehmen mit vielseitigen Geschäftsinteressen, die von Versicherungen bis zur Rinderzucht reichen. Eines der wenigen Gebiete, für das sich CAPEMI zuvor nicht interessiert hatte und auf dem sie keine Erfahrungen besaß, war allerdings der Holzbau. CAPEMI ist in Brasilien eher als die Firma bekannt, die die Rentenversicherung der Militärs durchführt. Mit Hilfe französischer Berater und einem Darlehen der Banque Nationale de Paris von 25 Millionen US-Dollar ging CAPEMI ans Werk – und scheiterte. Nachdem CAPEMI bis Anfang 1983 nur einen kleinen Teil des zur Entwaldung freigegebenen Gebietes abgeholzt hatte, meldete die Firma Konkurs an und schuldete ihren 3000 Arbeitern über drei Millionen US-Dollar. Nunmehr begann Eletronorte verzweifelt, einen neuen Weg zu suchen, wie die wichtigen Rodungsarbeiten vorgenommen werden könnten, bevor das Gebiet überschwemmt wird. Man wird sehr wahrscheinlich nicht genug Zeit haben, um die Bäume abzuholzen und zu verkaufen. Das einzige, worauf Eletronorte hoffen kann, ist, daß es gelingen wird, die Bäume in den wichtigsten Gebieten zu fällen und mit Erde zu bedecken, um so ihre Zersetzung zu beschleunigen. Einige führende Mitarbeiter der Gesellschaft glauben, daß die einzige Möglichkeit, die Arbeit rechtzeitig zu beenden, das chemische »Fällen« der Bäume sein wird – mit Herbiziden, die vom Flugzeug aus versprüht werden. Aufgrund von Protesten der Bevölkerung wurde dieser Plan aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.

Bei Eletronorte weiß man immer noch nicht, was mit Tucuruí nach der Überflutung des Waldes geschehen wird. Das weiß übrigens niemand. Viele Ökologen, die in der Region Untersuchungen angestellt haben, sind besorgt. Ein Fischexperte sagte mir: »In ökologischer Hinsicht ist das Ganze eine Katastrophe. Der Staudamm wird plötzlich die Lebensbedingungen in einem großen Gebiet total verändern. Wir haben hier über 200 Fischarten gefunden, von denen 10–20 Prozent wissenschaftliche Neuentdeckungen sind. Viele Arten hat man in noch keinem anderen Fluß gefunden. Einige Arten werden mit Sicherheit nach der Fertigstellung des Staudammes aus dem Fluß verschwinden.«

Über 10000 Tiere – einschließlich Faultiere, Affen, Hirsche, Schildkröten und Baumstachler – wurden aus dem Brokopondo-Gebiet gerettet, bevor das Wasser seinen Höchststand erreichte. Eine vernünftige biologische Bestandsaufnahme ist in Tucuruí nie durchgeführt worden, aber es gibt viele Arten dort. Hier sah im letzten Jahrhundert der Naturforscher Henry Bates auf einer Reise mit Alfred Wallace zum erstenmal einen wunderschönen Vogel aus der Familie des Trogons, dessen rosafarbene Brust und grün glänzender Rücken ihn zu einem aufsehenerregenden Bewohner des Regenwaldes machen. Eletronorte hat nicht vor, eine Tierrettungsaktion zu veranstalten. Es ist jedoch möglich, daß Fotos von ertrunkenen oder sich an Baumwipfeln festklammernden Tieren, die von der brasilianischen Presse nach der Flutung des Itaipú-Reservoirs an der Grenze zu Paraguay veröffentlicht wurden, dazu beitragen, den Druck der Öffentlichkeit zu verstärken und Eletronortes Haltung zu ändern.

Führende Mitarbeiter Eletronortes befürchten, daß die ökologischen Probleme ernsthafte Schäden an der Anlage zur Folge haben könnten. Man hofft inständig, daß sich die Vorfälle vom Brokopondo-See hier nicht wiederholen werden, und ist optimistisch, das Problem der Zersetzung schneller zu lösen als in Brokopondo, da der Rio Tocantins eine größere Strömungsgeschwindigkeit hat als der Suriname. Der Suriname-Fluß brauchte zehn Jahre, um den 13,5 Millionen Kubikmeter fassenden Brokopondo-Stausee zu füllen. Im Tucuruí-Stausee wird das Wasser sechs- bis siebenmal pro Jahr umgesetzt werden und der Säuregehalt des sich immer erneuernden Wassers wesentlich geringer sein. Aber die wahre Prüfung beginnt erst dann, wenn der Stausee sich zu füllen beginnt. Dieses schon so oft verschobene Ereignis ist nun für 1986 geplant. Inzwischen gab ein Funktionär von Eletrobras, der Muttergesellschaft Eletronortes, offen zu: »Das Tucuruí-Projekt bereitet uns Todesängste.«

 

Zusammen mit Barbosa und João Basilio, einem Biologen, der für Eletronorte arbeitet, wollte ich mir ein zu Versuchszwecken überschwemmtes Waldgebiet ansehen. Wir fuhren 40 km auf einer neuangelegten, unbefestigten Straße an der Westseite des Stausees. Die wirtschaftlichen und technischen Argumente gegen das Abholzen der Bäume im Stauseegebiet schienen hier, nur ein paar hundert Meter vom zukünftigen Stausee entfernt, nicht zu greifen. Auf beiden Seiten der Straße, soweit das Auge reicht, liegen die großen baumlosen Weiden der Viehzuchtbetriebe, deren Eigentümer, wie man mir sagte, zwischen 50 und 10000 Hektar Land besitzen. Die meisten dieser Betriebe liegen auf staatlich geschütztem Land, das zum Einzugsgebiet des Stausees gehört. Die wenigen Flächen, auf denen der Regenwald noch steht, liegen in dem Gebiet, das überschwemmt werden soll.

Die Straße, eine drei Meter breite Bresche in frischer, rotbrauner Erde, windet sich durch den Wald. Wo sie durch hügeliges Land verläuft, liegt der Erdaushub zu hohen Bergen aufgetürmt am Straßenrand. Wo das Land eben ist, sieht man auf beiden Seiten den nackten Erdboden, der ein paar Meter weiter in niedriges Gestrüpp übergeht oder am Stacheldraht einer Viehweide endet. Obwohl die Straße das Gegenteil suggeriert, ist die Landschaft ganz und gar nicht eben. Ich hatte mir das Amazonasbecken als riesige Ebene mit vereinzelten Hügeln und sanften Tälern vorgestellt. In Wirklichkeit war die Fahrt, wenn man einigermaßen schnell fuhr, äußerst beängstigend – ein »Springen« von Bodenwelle zu Bodenwelle. Die beiden Männer lachten nur über meine Vorstellung von der »großen Amazonas-Ebene«, eine Beschreibung des Regenwaldes, die in Brasilien jedes Schulkind lernt.

Die Entwaldung der höher gelegenen Gebiete und der Uferböschungen (und nicht das Abholzen der Bäume in dem zu überschwemmenden Gebiet) bedroht die reibungslose Funktion des Staudamms. Die beschleunigte Bodenerosion könnte zur schnellen Verschlammung des Stausees und der ihn speisenden Flüsse führen. Und da Regenwasser von kahlen Hängen oberflächig abfließt, ohne vom Boden aufgenommen zu werden und langsam zum Fluß durchzusickern, wie das auf bewaldeten Hängen der Fall wäre, führt der Kahlschlag zu starken klimatischen Veränderungen mit ausgeprägten Trockenperioden. Das könnte zur Folge haben, daß in der Trockenperiode nicht genügend Wasser vorhanden ist, um die Turbinen mit voller Kraft zu fahren.

Die Möglichkeit, daß ein Projekt, in das viele Millionen US-Dollar investiert worden sind, an Verschlammung durch Entwaldung scheitern könnte, mag phantastisch klingen, aber genau das ist schon mehr als einmal geschehen. Der Anchicaya-Stausee in Kolumbien war nach fünfzehnjährigem Betrieb fast vollständig verschlammt, so daß man flußaufwärts einen zweiten Damm bauen mußte, der wiederum viele Millionen US-Dollar kostete. Auf den Philippinen ist der Ambuklao-Stausee so schnell verschlammt, weil die Wälder im Einzugsgebiet des Agno-Flusses abgeholzt wurden, daß der Damm nun nicht mehr mit voller Kapazität arbeiten kann. Es war vorgesehen, daß der Staudamm 75 Jahre funktionsfähig sein sollte und sich nach 62 Jahren amortisiert hätte. Nun aber befürchtet man, daß der Damm 30 Jahre, das heißt bis 1985, arbeiten wird. Dann werden nach Angaben der Agency for International Development durch die Verschlammung Kosten in Höhe von 25 Millionen US-Dollar entstanden sein. Die intensive Landwirtschaft im Einzugsgebiet des oberen Río Pardo in Brasilien hatte eine so starke Bodenabschwemmung zur Folge, daß im Jahre 1977 zwei Staustufen des Flusses völlig zerstört wurden.

Stauseen speichern Wasser entweder im »aktiven« oder »passiven« Zustand. »Aktives« Speicherwasser treibt die Turbinen an und produziert Strom. Das in den Vorflutern passiv gespeicherte Wasser füllt einfach die Kolke im Flußbett aus, ohne zu der Wassermenge, die zur Stromerzeugung genutzt wird, etwas beizutragen. »Passiv« gespeichertes Wasser wirkt als Puffer der Sedimenteintragung entgegen. Viele Stauseen haben daher einen viel größeren »passiven« als »aktiven« Wasserspeicher. Im Tucuruí-See soll etwas über die Hälfte der Gesamtkapazität von 43 Millionen Kubikmeter Wasser auf den aktiven Speicher entfallen sein. Innerhalb einiger Monate lädt der Río São Antônio über 80200 Kubikmeter Schwemmstoffe im Speicherbecken des Salto Grande-Damms ab. Im Vergleich hierzu würde die passive Speicherkapazität des Tucuruí-Sees nach 20 Jahren erschöpft sein; das wäre etwa zu dem Zeitpunkt, da der Staudamm beginnen soll, Gewinn abzuwerfen.

Eletronorte kämpft schon jetzt an den Ufern des noch leeren Stausees gegen die Erosion. Als ich 1982 dort war, hatte man einige Teile des Ufers vor der letzten Regenzeit mit Gras bepflanzt. An den Ufern, an denen kein Gras angepflanzt worden war, zeugten tiefe Rinnen von der Abschwemmung des Bodens in das Flußbett. Das Anpflanzen von Gras im Eletronorte-Stil ist eine langwierige und teure Sache. Zuerst wurde (an den Ufern) ganz normal Gras ausgesät, aber dafür brauchte man eine Humusschicht, die der erste Regen fortwusch. Jetzt wird das Gras in einer Gärtnerei aufgezogen und dann in Soden angepflanzt.

1977 schrieb Robert Goodland: »Die Geschwindigkeit, mit der die Entwaldung im Tocantins-Flußgebiet fortschreitet, wundert sogar SUDAM.« Eletronorte besitzt keine Daten darüber, wie schnell die Abholzung vor sich geht, nicht einmal in den zur Besiedlung freigegebenen Staatsforsten. Die Geschäftsleitung von Eletronorte