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Worms 1069. Heinrich IV, König und später Kaiser des römisch-deutschen Reiches, ringt um seinen Thron. Wagemutig bittet er nicht nur Rom um die Annullierung seiner Ehe, sondern bringt in seinem Streben, staatliche und kirchliche Herrschaftsgewalt in seiner Hand zu behalten, Reichsfürsten und Päpste gegen sich auf. Als er schwer erkrankt, lässt Heinrich die jüdische Ärztin Mirjam an seinen Hof kommen. Schon bald verbindet beide nicht nur eine ungewöhnliche Liebe, sondern ein Geheimnis, das Heinrichs Herrschaft weiter zu untergraben droht. Während Papst Gregor ihn zum Bußgang nach Canossa zwingt und es Papst Urban gelingt, Heinrich völlig zu entmachten, ziehen die Herren von Michelbach gegen den Bischof von Speyer. Ein bestialischer Mord im Wald von Rotenfels überzeugt die Bevölkerung davon, dass der Teufel umgeht. Als zudem ein fanatischer Wanderprediger zu einem blutigen Kreuzzug gegen die Juden aufruft, spitzt sich die Lage dramatisch zu. In einem verzweifelten Rettungsversuch bricht der junge Geistliche Gereon nach Speyer auf, Werinhard und Eberhard von Michelbach müssen weitreichende Entscheidungen treffen – und was soll nun aus Heinrich und Mirjam werden?
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Seitenzahl: 650
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Cornelia Renger-Zorn
Der Ring des Kaisers
Titelbild: iStock.com/iconogenic
© Historisches Museum der Pfalz Speyer (2021)
Fotograf: Peter Haag-Kirchner
Titel: Der Ring des Kaisers
Autorin: Cornelia Renger-Zorn
Herstellung: verlag regionalkultur
Satz: Moritz Noll, vr
Umschlaggestaltung: Andrea Sitzler, vr
Endkorrektorat: Julia Berger, vr
ePub-Erstellung: Robin Koßmeier
eISBN 978-3-89735-029-8
Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich.
392 Seiten, Broschur.
ISBN 978-3-95505-285-0
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
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© 2024 verlag regionalkultur
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Der junge König 5
Die Herren von Michelbach 43
Der Hoftag 61
Das fremde Kind 116
Neue Pläne im Murgtal 124
Die Ärztin 132
Die Bürger von Worms 151
Gegen die Sachsen 169
Gefährliche Handelsreise 173
Unruhe im Reich 191
Das Kloster 197
Ein Domschüler für Rotenfels 228
Die Angst geht um 248
Der Ring des Kaisers 285
Teufelsnacht 302
Gewalt und Frieden 326
Untergang in Italien 331
Kreuzzug am Rhein 344
Neue Herren im Murgtal 380
Epilog 386
Die wichtigsten Personen 388
Politische Ereignisse und Schauplätze 391
Worms, Juni 1069
Alles wartete auf den König. Dicht gedrängt stand die Menge, die sich schon in den Nachtstunden an der Straße zum Dom gesammelt hatte, um ihn beim feierlichen Einritt in die Stadt zu sehen. Die nächtliche Kühle war noch nicht verflogen, der ausgestoßene Atem bildete immer noch feine weiße Nebel vor den Mündern. Dabei warf das Licht der aufgehenden Sonne schon einen rötlich-gelben Schein über den Horizont, der Tag versprach warm und strahlend zu werden. Die zunehmende Helligkeit erfüllte die Menschen mit neuen Lebensgeistern, viele rieben sich die Hände oder pressten die Arme um den Leib, um sich warm zu halten. Die wogende Menschenmasse, die eben noch fast mit der massigen und alles beherrschenden schwarzen Silhouette des Domes verschmolzen war, wurde bei zunehmendem Licht zusehends bunter und quirliger. Vornehme Handelsherren der Stadt, Handwerker, Händler, Bauern aus dem Umland, Dienstboten, arme Tagelöhner, Bettler, Dirnen – alle waren gekommen, um Heinrich zu sehen, den jungen König. Alle Welt sprach bewundernd von ihm, nur manche flüsterten sich auch Gerüchte über unfassbare Verbrechen zu, die er angeblich begangen haben sollte.
Zusammen mit ihrem Onkel Jakob stand Mirjam am Rand der Straße, auf der sich der Zug des Königs bald nähern musste. Den guten Platz hatten sie ergattert, da sie schon kurz nach Mitternacht gekommen waren. Beide trugen unter ihren weiten Obergewändern aus feinem Wollgewebe noch warme Unterkleider aus Wolle und darüber gefütterte Mäntel, um die nächtliche Kälte so gut wie möglich fernzuhalten. Als Juden waren sie es gewohnt, was andere bisweilen durch Rücksichtslosigkeit, Frechheit und Gewalt erreichen mochten, sich durch Geduld, Ausdauer und Ergebenheit zu erkämpfen. Sie kannten das und beklagten sich nicht. Dem Herrn sei Dank, war das Leben in Warmaisa – so nannten die jüdischen Bewohner ihre Heimatstadt Worms – eigentlich sehr angenehm. Der Bischof als Stadtherr schätzte sie als tüchtige Bürger, die gutes Geld in seine Kasse brachten. Bei den christlichen Mitbewohnern waren sie anerkannt und geachtet. Jakob handelte mit begehrten und wertvollen Luxuswaren, darunter Seidenstoffe und seltene Gewürze wie Safran, Pfeffer, Zimt und Ingwer. Mirjam selbst war von ihrem Vater als Ärztin ausgebildet worden und hatte einen ausgezeichneten Ruf in der Stadt. Auch vielen Christen hatte sie schon geholfen, die andere Berufskollegen aufgegeben hatten.
Von einem plötzlichen heftigen Stoß im Rücken getroffen, fuhr Mirjam unwillig herum.
„Habe ich Euch gestoßen! Bitte, verzeiht mir! Das wollte ich nicht“, entschuldigte sich der bäurisch gekleidete Mann dicht hinter ihr und zog unwillkürlich den Bauch ein. Seine Miene schien ehrlich besorgt. Schon wollte er ihr seine Hand in einer Geste der Entschuldigung auf die Schulter legen, da besann er sich im letzten Moment eines Besseren. Bei einer so vornehm gekleideten Dame wäre jede Berührung unschicklich gewesen.
„He, drängelt nicht so unverschämt“, schrie der Bauer dann gegen diejenigen, die dicht hinter ihm standen. Als er sich wieder nach vorn drehte, bedachte er Mirjam mit einem verlegenen Lächeln.
„Nein, nein! Es ist nichts passiert! Hab vielen Dank für deine Besorgnis!“, erwiderte Mirjam mit erhobener Stimme, um der bewaffneten Patrouille in ihrer Nähe anzudeuten, dass kein Grund zum Einschreiten vorlag. Einer der Soldaten des Bischofs, die an den Straßenrändern aufgestellt waren, um für Ordnung zu sorgen, hatte bereits forschend das Gesicht in ihre Richtung gewandt. Die Jüdin wollte auf gar keinen Fall die Aufmerksamkeit der Truppe auf den Vorfall lenken. Das hätte für den Landmann eventuell übel ausgehen können. Die Soldaten des Bischofs waren strengstens angewiesen, die jüdischen Mitbürger vor jeglichen Belästigungen und Anfeindungen zu schützen. Mirjam war aber fest überzeugt, dass diese vom Stadtherrn angeordnete Sicherheitsmaßnahme keineswegs der einzige Grund war, warum sie und die übrigen Hebräer stets überall mit Zuvorkommenheit behandelt wurden. Mit vielen der christlichen Mitbürger pflegte ihre Familie gute Beziehungen, ja Freundschaften. Auch in dem Gesicht des Bauern, der sie eben angerempelt hatte, war nicht die geringste Spur von boshafter Absicht zu erkennen gewesen.
Einige aus der nächsten Umgebung drehten die Köpfe nach dem vermeintlichen Herd der Unruhe, wandten sich aber, da sich offenbar nichts Sensationelles ereignet hatte, gleich wieder der Straße zu. Die Menschen standen nun, die Körper dicht an dicht aneinandergedrängt, noch wagte es niemand, sich ungebührlich weiter nach vorn zu schieben. Die Männer der bischöflichen Truppe waren soeben noch von Kriegern der königlichen Leibgarde verstärkt worden, die sich, dem gaffenden Publikum zugewandt, ebenfalls an den Straßenrändern postiert hatten, um jede Annäherung an die geheiligte Person des Königs zu verhindern.
Mirjam hatte Verständnis für diese Vorsichtsmaßnahmen. Das gewöhnliche Volk zeigte bei öffentlichen Veranstaltungen und Feiern meist so wenig Disziplin, dass es ohne Anwendung roher Gewalt oft nicht abging. Sie hoffte trotzdem auf einen friedlichen Verlauf und lächelte ihrem Onkel zu, der vorsichtshalber ihren Arm genommen hatte.
In Warmaisa empfand man das gute Zusammenleben von Judäern und Christen als selbstverständlich, aber aus anderen Teilen des Reiches erreichten sie zuweilen beunruhigende Nachrichten. An anderen Orten hatte man die Juden angeblich schon beschuldigt, sie hätten den Propheten Jesus ermordet, den die Christen für den Sohn Gottes und den Messias hielten. Für Mirjam klang dieser Vorwurf absurd, aber er hatte bei ihr doch ein ungutes Gefühl hinterlassen. Was sollte man dieser Verleumdung entgegensetzen, wenn sie denn jemals ernsthaft erhoben würde?
Mittlerweile war die Sonne höher gestiegen, es wurde wärmer. Mirjam begann in ihrem gefütterten Mantel zu schwitzen. Die Menschen hinter ihr wurden zunehmend unruhiger. Abgerissene Gesprächsfetzen, Gelächter und Hin- und Herrufen über die Köpfe hinweg verdichteten sich zu einer betäubenden Geräuschkulisse. Das Warten wurde jetzt fast unerträglich. Die Anspannung stieg von Minute zu Minute.
Viele harrten nicht nur aus Neugier aus, sondern angetrieben von verzweifelter Hoffnung. Allein dem König ins Gesicht zu sehen, noch besser den Saum seines Gewandes zu berühren – schon das konnte von Krankheiten und Leiden befreien! Wurde dem Herrscher nicht von alters her eine heilbringende Kraft zugeschrieben? Ging von ihm nicht das Königsheil aus und breitete sich wie ein Segen über sein Volk aus? Bei vielen war dieser Glaube noch tief verwurzelt.
Mirjam sah, wie einige aus der Menge die Lanzen der Wachen mit bloßen Händen ergriffen und versuchten, sie beiseite zu schieben, um auf die Straße hinaus zu gelangen. Ganz in der Nähe bemühte sich ein einbeiniger Krüppel verzweifelt, einen der Posten zum Nachgeben zu bewegen. Schreiend und flehend schlug er mit seiner knotigen Faust auf die Brust des Gepanzerten ein. Der stieß ihn weg wie eine leblose Gliederpuppe, wobei der Mann seine Krücke verlor und umfiel. Wie in einer Wellenbewegung wichen die Menschen halbkreisförmig um den am Boden Liegenden zurück. Die Wache brüllte einen Befehl, darauf kamen zwei weitere Soldaten gelaufen und zerrten den Mann weg. Die Menge schloss sich wieder am Rand der Straße.
„Wohin bringen sie ihn?“ Fragend blickte Mirjam ihren Onkel an. Schon machte sie eine Bewegung, als wolle sie dem Verletzten folgen, aber Jakob hielt sie mit eisernem Griff am Arm zurück und schüttelte den Kopf.
„Jetzt nicht!“, formten seine Lippen, seine Miene war ausdruckslos. Er kannte die an Naivität grenzende Hilfsbereitschaft seiner Nichte, aber es gab Gelegenheiten, da musste man sein Herz verleugnen, das lehrte die Erfahrung. Manchmal hatte er aber den Verdacht, dass sie diese Lektion, die doch die Klugheit gebot, einfach nicht lernen wollte.
Es hatte Mirjam fast körperlichen Schmerz verursacht, die brutale Misshandlung des Krüppels mit anzusehen. Der Mann tat ihr leid. Andererseits hatte seine abergläubische Verzweiflung auch einen gewissen Widerwillen in ihr erregt. Konnte sich ein vernünftiger Mensch wirklich ernsthaft einbilden, allein durch den Anblick des Königs oder durch die bloße Berührung von dessen Kleidung von seinen Leiden geheilt zu werden? Mirjam glaubte nicht an diese Dinge. Sie hatte schon zu viel von der Welt gesehen, um solchen Vorstellungen nachzugeben. Ihr Vater war ein bekannter Arzt in Warmaisa gewesen und hatte seine Tochter von Kindesbeinen an in die Grundlagen der Heilkunde eingeweiht. Ihre Mutter hatte das alles für überflüssig gehalten und hätte es lieber gesehen, wenn sie sich auf Haus und Küche konzentriert, einen guten Mann genommen und viele Kinder bekommen hätte.
„Das kann sie doch immer noch“, hatte ihr Vater sie beschwichtigt, wenn sich die Diskussion zwischen den Eltern innerhalb der heimischen vier Wände wieder einmal entzündet hatte. „Aber erst soll sie etwas Vernünftiges lernen. Außerdem habe ich so ein Gefühl, sie hat die Gabe, anderen Menschen zu helfen. Warum also nicht, Frau?“
Der Vater war bei diesen Auseinandersetzungen immer ganz sanft und leise geblieben, wie es überhaupt seine Art war. Meist hatte er die Mutter nach diesen Worten lange mit einem forschenden Blick angeschaut. Die Mutter, die im Grunde ihres Herzens wusste, dass ihr Mann Recht hatte, pflegte dann, die Stirn skeptisch zu runzeln und zu schweigen.
„Wir haben doch noch zwei andere Töchter“, hatte ihr Vater dann meist seine Rede fortgesetzt. „Finde gute Männer für sie!“
Das hatte die Mutter dank ihrer guten Beziehungen und ihrer Umtriebigkeit auch getan. Und wenn sie doch einmal wieder auf die Verheiratung der letzten Tochter zu sprechen kam, pflegte der Vater sein bestes Argument vorzubringen, und seiner Frau die Stifterinschrift an der Wormser Synagoge ins Gedächtnis zu rufen. Vor 35 Jahren war diese Synagoge mit dem Geld des Jakob ben David und seiner Frau Rahel erbaut worden und damit hatten sich die Spender, so war es an der Synagoge für die Nachwelt zu lesen, ein Denkmal geschaffen, das dauerhafteren Ruhm einbringen würde als die Zeugung von Söhnen und Töchtern.
Die Mutter hatte dann immer leicht geseufzt, eine resignierte Miene aufgesetzt und geschwiegen. Im Grunde konnte sie ihrem Mann kein überzeugendes Argument entgegenhalten, außer der Tatsache, dass ein Leben als unverheiratete Frau eben nicht der Norm entsprach.
„Denk an die vielen Nonnen bei unseren christlichen Nachbarn“, schob der Vater dann oft nach. „Bei denen gilt das als besonders fromm, wenn sie nicht heiraten und sich der Gelehrsamkeit und dem Gebet widmen anstatt Küche, Haus, Kindern und unersättlichen Ehemännern!“
Mirjam sah das halb entrüstete, halb ärgerliche Gesicht ihrer Mutter vor sich, mit dem sie auf dieses Argument zu reagieren pflegte: „Was redest du nur wieder! Als ob die Christen für uns ein Vorbild sein könnten!“ Wenn der Disput an diesem Punkt angekommen war, wurde ihre Mutter grundsätzlich kurz angebunden. Sie war, anders als ihr Vater, von der Vereinbarkeit von christlichen und jüdischen Grundsätzen und Lebensweisen entschieden nicht überzeugt, wusste aber, dass sie ihrem Gatten im gelehrten und geistvollen Disputieren nicht gewachsen war. Also verschwand sie in der Küche oder in einem anderen Teil des Hauses, um es nicht zu ernsthaftem Streit kommen zu lassen.
Auf diese Weise war der Druck hin zu Verehelichung und Kindersegen von Mirjam genommen worden, was es ihr ermöglichte, ihrem Vater nachzufolgen. In seinem Kräutergarten vor der Stadtmauer hatte sie schon früh mitgeholfen. Sie hatte zugesehen, wie die einzelnen Teile der Pflanzen wie Blüten, Blätter, Stängel und Wurzeln geerntet, gepresst, getrocknet und dann mittels Hinzugabe geeigneter Stoffe zu Salben, Pasten, Tinkturen und Ölen verarbeitet wurden. Jede Pflanze hatte ihre ganz eigene Wirkung und oft musste man sie für ein gutes Rezept auch kombinieren, um dem Patienten zu helfen. All die so hergestellten Arzneien bewahrte ihr Vater in einer eigens dafür reservierten Kammer im Haus auf. Auf langen, übereinander angeordneten Regalen standen da im Halbdunkel die sorgfältig beschrifteten Krüge, Tiegel und Gläser, von denen betörende Düfte ausströmten. Die Rezepte wurden in dicken Folianten gesammelt, dazu waren dort auch etliche medizinische Werke antiker Autoren zu finden.
Mirjam liebte die Pflanzen und hatte sich im Lauf der Zeit immer tiefer in die geheimen Kenntnisse ihres Gebrauchs hineingearbeitet. Nun, da ihr Vater seit einem Jahr tot war, pflegte sie hingebungsvoll selbst den Garten und bereitete die Arzneien zu. Fast alle Patienten des Vaters hatte sie übernommen und so viele neue hinzugewonnen, dass sie Mühe damit hatte, sie alle zu versorgen. So war die Zeit wie im Flug vergangen und mittlerweile stand die Ärztin nicht weit vor ihrem dreißigsten Lebensjahr.
Für eine kleine Weile hatte sie das Gedränge hinter sich vergessen und sich ihren Gedanken hingegeben. Ihr Gesicht hatte dabei einen träumenden, fast entrückten Ausdruck angenommen. Ihr Onkel betrachtete sie wachsam, dann drückte er ihren Arm, ein wenig fester als nötig.
„Wach auf!“, schnaubte er. „Da hinten gibt es Unruhe. Der Zug scheint sich zu nähern! Sonst verpasst du den König! Du träumst mit offenen Augen vor dich hin!“
Mirjam verzog ihre Miene in scheinbarer Hilflosigkeit. „Ja, Onkel, verzeih mir“, schrie sie ihm ins Ohr, um den umgebenden Geräuschpegel zu übertönen. „Ich sinniere.“
„Ja, das scheint mir auch“, erwiderte der Onkel, ebenfalls direkt in ihr rechtes Ohr. Wenn ihre grünbraunen Augen sich so verschleierten und in unerreichbare Fernen blickten, dachte er bei sich, dann wirkte ihr Gesicht auf geheimnisvolle Art zeitlos. Schon oft hatte er sich gefragt, woher dieser Ausdruck kam. Es schien ihm, als ob diese unergründlichen Augen Tore seien, Tore zu einer seit Jahrtausenden angesammelten Weisheit. Noch lag das Strahlen der Jugendlichkeit auf ihrem geschwungenen Mund und den schimmernden, leicht bräunlichen Wangen. Aber in den umschatteten Augen spiegelte sich noch etwas Tieferes, etwas, das bis an die Wurzeln des Volkes Israel hinab reichte. Dass er selbst mit seinen fünfundfünfzig Jahren in seinen seltenen Anfällen von gerechtem Zorn auf andere wie Moses vor dem Pharao wirkte, das hatte er sich schon anhören müssen, aber das war etwas anderes: Er war schließlich ein Mann.
„Komm jetzt, aufgepasst! Gleich ist es soweit!“ Jakob zog die Nichte enger an sich. Dabei durchströmte ihn ein Gefühl der Dankbarkeit. In Mirjam hatte er trotz der eigenen Kinderlosigkeit jemanden, der ihm wie eine Tochter war und dem er Fürsorge und Unterstützung angedeihen lassen konnte. Er selbst war unverheiratet geblieben. Sein mit vielen Reisen verbundenes Dasein als Fernhändler hatte ihn stets davon abgehalten, sich mit Frau und Kindern zu belasten, wie er sich ausdrückte. Außerdem hatte er ja Mirjam, die er schon immer wie ein eigenes Kind geliebt hatte und auf die er genauso stolz war wie ihr eigener Vater, sein verstorbener Bruder.
Durch seine Handelsgeschäfte mit seltenen Luxusgütern hatte sich Jakob ein Vermögen verdient. Einen großen Teil des Jahres war er auf den Fernstraßen des römisch-deutschen Reichs und weit darüber hinaus unterwegs. Das große, sich über ganz Europa erstreckende Netzwerk seiner Handelspartner und Freunde funktionierte hervorragend und ließ ihm regelmäßig die neuesten Nachrichten zukommen. Auf diese Weise war Jakob über die wichtigen Entwicklungen im Reich und die darüber kursierenden Kommentare und Einschätzungen stets auf dem Laufenden.
Aus diesem Grund machte er sich im Augenblick auch so große Sorgen. Der gegenwärtige König Heinrich hatte eine schwierige Kindheit und Jugend gehabt. Beim Tod seines Vaters war er noch keine sechs Jahre alt gewesen. Mit elf Jahren hatte ihn eine Gruppe der mächtigsten Reichsfürsten in ihre Gewalt gebracht und damit seiner Mutter entzogen, die damals die Regentschaft für ihn führte. Der Heranwachsende war zwischen Interessengruppen wie ein Spielball hin und her gestoßen worden und hatte unter diesen Umständen kaum die Möglichkeit gehabt, einen gefestigten Charakter zu entwickeln. Jetzt war er achtzehn und was man von ihm zu erwarten hatte, das war mehr als unsicher. Nach all dem, was Jakob zu Ohren gekommen war, schienen die Aussichten eher trübe. Die scheußlichsten Berichte über die Abartigkeiten des jungen Herrschers hatte er seinen Angehörigen verschwiegen. Jakob blickte auf seine Nichte herunter und fragte sich, ob das ein Fehler gewesen war.
„Er soll seine eigene Schwester vergewaltigt haben“, zischte eine unangenehm schnarrende Stimme dicht über ihr. Mirjam zuckte zusammen und drehte instinktiv den Kopf zur Seite. Dicht vor sich, fast direkt vor ihrer Nase, schimmerte ein Stück grünes Atlastuch in der Sonne. Offenbar gehörte es zu einem männlichen Oberkleid. Mirjams Blicke wanderten aufwärts, sie erstarrte. Ein schmierig grinsender, beleibter Kerl blickte auf sie herunter. Sein fauliger Atem wehte sie an. Sie fühlte sich angegriffen, wollte reagieren, aber Jakob, wachsam wie immer, handelte bereits. Entschlossen fasste er sie an den Schultern und schob sie vor sich her auf seine andere Seite hinüber, so dass er selbst direkt neben dem grün geschnürten Fettwanst zu stehen kam.
Der Provokateur war überrascht und wollte zurückweichen, was aber wegen des Gedränges nicht möglich war. Da Jakob üblicherweise die Schultern etwas hängen ließ, hatte der fette Grobian ihn nicht beachtet oder unterschätzt. Jetzt sah er sich plötzlich mit einem hoch aufgerichteten, ihm an Körpergröße ebenbürtigen Mann konfrontiert, dessen finster glühende Augen auf ihn gerichtet waren. Jakob taxierte sein Gegenüber eine Weile mit diesem für ihn typischen, auch in seiner eigenen Familie gefürchteten Prophetenblick, dann wandte er sich brüsk ab. Der Fettwanst drehte den Kopf weg und tat, als sei nichts gewesen. Offenbar war er zu allem Überfluss auch noch ein Feigling. Mirjam stand immer noch starr und klammerte sich an ihren Onkel. Die Begegnung hatte ihr Ekel eingeflößt, aber was noch schlimmer war: Die Bemerkung dieses Menschen hatte eine Frage aufgeworfen, die sie beschäftigte.
In diesem Augenblick ging es wie ein Ruck durch die Menge.
„Er kommt! Er kommt!“, flog der Ruf durch die Reihen. Alle reckten die Köpfe und starrten angespannt in die Richtung, aus der man den Zug erwartete. Mirjam stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, soweit es ihr irgendwie möglich war.
Hufgetrappel näherte sich, plötzlich ging alles ganz schnell. Die Jüdin fand kaum die Zeit, alles gleichzeitig zu erfassen, was es zu schauen gab. Soldaten der gepanzerten Leibgarde, weltliche Herren in kostbaren Gewändern, Geistliche in goldbestickten Roben, alle auf herausgeputzten Rössern, zogen in mehreren Reihen dicht an ihnen vorbei. Ein mächtiger Sog ging von dem prächtigen Schauspiel aus. Mirjam fühlte den Druck von hinten, der die vordersten Zuschauer mit zunehmender Gewalt auf die Reihe der gepanzerten Wachen und ihre Lanzen zuschob.
In diesem Moment gelang es zwei Männern, aus der Menge auszubrechen und auf die Straße zu gelangen. Ihr plötzlicher Vorstoß hatte die Wachen überrumpelt, die so damit beschäftigt waren, die andrängende Masse einzudämmen, dass sie mit einem so tollkühnen Unterfangen nicht gerechnet hatten. Die Störer stürmten jäh in den Zug hinein auf einen Reiter zu, der von Soldaten umgeben war. Sie hofften wohl, durch ihre Schnelligkeit in dem kurzzeitig entstandenen Durcheinander ihr Ziel zu erreichen, aber die Panzerreiter reagierten sofort. Zwei von ihnen scherten aus der Kolonne aus und trieben die Unglücklichen mit ihren Schwertern zurück in die Arme der bischöflichen Wachen, die sie brutal niederstießen.
Aus dem Publikum stiegen entsetzte Schreie auf, auf der Straße gab es einen Tumult, und der Zug geriet kurzzeitig ins Stocken. Etliche Pferde stiegen auf. Neben gebrüllten Befehlen war lautes Wiehern und Schnauben zu vernehmen. Der Reiter, auf den es die Angreifer abgesehen hatten, befand sich in unmittelbarer Nähe der beiden Juden. Mirjam bemerkte, dass sich die ungeteilte Aufmerksamkeit der Menschen um sie herum auf ihn gerichtet hatte. Sein Pferd verdrehte die Augen, wieherte und wollte aufsteigen. Allerdings unterwarf der Reiter das Tier so rasch und vollkommen seinem Willen, dass es sich nur ein- oder zweimal um sich selbst drehte und nach einigem Tänzeln und Schnauben wieder zur Ruhe kam.
Seit dem Beginn des Tumults hatte Mirjam den Reiter keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Fasziniert hatte sie beobachtet, wie fest er sein Ross im Zaum hielt, es beherrschte, eins mit ihm war. Er trug einen purpurfarbenen Mantel, der seine Gestalt in weichen Falten umfloss und zum Teil noch die Kruppe des Pferdes bedeckte. Er schien ihr groß, nicht so groß wie Onkel Jakob, aber größer als die meisten anderen Männer, die sie kannte, und gut proportioniert, mit auffallend langen, kräftigen Beinen, mit denen er die Weichen des großen Pferdes zusammenpresste. Sie suchte sein Gesicht und erschrak, als sie in ein Paar ins Dunkelblau spielender, großer Augen sah, die genau auf sie gerichtet waren. Dabei hatte er offenbar für einen Moment nicht auf sein Pferd geachtet. Sofort begann es wieder zu schnauben und versuchte erneut auszubrechen, er wandte den Blick ab und zog die Zügel an. Dann war er auch schon vorbei.
Mirjam hielt die Augen zwar weiter auf den jetzt wieder fließenden Zug gerichtet, nahm aber von den nachfolgenden Würdenträgern nur noch schemenhafte Eindrücke wahr. Die Augen dieses Reiters ließen sie nicht los. Hatte ihm nicht die Aufmerksamkeit der Menge gegolten? Er hatte einen purpurnen Mantel getragen! Das musste der König gewesen sein. König Heinrich, noch keine neunzehn Jahre alt! Sie hatte sich von den Augen eines Jungen einfangen lassen! Unwillkürlich verzog sie das Gesicht. Halb ärgerlich, halb ungläubig versuchte sie, die Erinnerung an den Vorfall abzuschütteln.
Jakob drückte ihren Arm. „Mirjam! Was ist mit dir? Der Zug ist vorbei. Die werden jetzt alle in die bischöfliche Pfalz ziehen. Da ist das gemeine Volk nicht mehr zugelassen. Gehen wir nach Hause!“
Eine Weile warteten sie noch, bis sich die Menge langsam auflöste, um nicht in allzu großes Gedränge zu geraten. Viele standen noch in Gruppen beisammen und besprachen das Gesehene. Auch einige von Jakobs und Mirjams Nachbarn hatten sich das Schauspiel nicht entgehen lassen. Sie winkten ihnen ausgelassen zu. Andere wandten sich den Geschäften am Dom zu. Es wirkte fast unheimlich, wie die bis in den Himmel ragende Westfassade der Gottesburg unmittelbar hinter der Reihe der vorgebauten Häuser aufstieg und sie im Vergleich auf die Größe von Spielzeugklötzchen zusammenschrumpfen ließ. Die Kaufleute und Handwerker bemerkten die Einzigartigkeit des Bauwerks gar nicht mehr, denn sie hatten es jeden Tag vor Augen. Eilig begannen sie, die Läden vor ihren Fenstern, die gleichzeitig als Verkaufstische dienten, herunterzuklappen und darauf ihre Waren auszulegen. Der bevorstehende Hoftag würde viele Besucher und Fremde in die Stadt spülen, die Aussicht auf gute Geschäfte beflügelte alle.
Mirjam hätte gerne noch ein bisschen bei den Ständen verweilt, aber der Onkel zog sie in Richtung der alten Römerstraße, die sich in Nord-Süd-Richtung durch die Stadt zog. Dann strebten sie durch ruhige Seitenstraßen der nördlichen Stadtmauer zu, wo sich, nahe der Synagoge, das Haus der Familie Kalonymos befand. Manche der Judäer wohnten auch mitten in der Stadt, Tür an Tür mit ihren christlichen Nachbarn, das war hier nichts Ungewöhnliches. Bald hatten sie das Gemeindehaus erreicht, passierten die Synagoge und waren in ihrer Gasse. Die Häuser auf der Nordseite trennte auf der Rückseite nur ein schmaler Zwischenraum von der dahinter aufragenden Stadtmauer.
Bei dem Sturmschritt, den der Onkel auf der Römerstraße vorgelegt hatte, war Mirjam nicht zum Nachdenken gekommen. Als er das Tempo verlangsamte, je näher sie der Synagoge kamen, ließ sie das eben Erlebte noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen. Eigentlich hatte sie das Geschwätz um die Reichsangelegenheiten bis dato nicht allzu sehr gekümmert. Das Reich! Die Fürsten! Was konnte das alles schon am Schicksal der normalen Leute ändern, besonders wenn sie krank waren! Hatte sie zumindest bis jetzt gedacht. Sie war so um das Wohl ihrer Patienten bemüht gewesen, dass ihr für andere Dinge wenig Zeit geblieben war. Aber nun war sie plötzlich neugierig geworden. Brocken von Gesprächen, die sie in der letzten Zeit aufgeschnappt hatte, kamen ihr in den Sinn.
„Ich habe gehört, in der Bischofspfalz wird in den nächsten Tagen noch ein Hoftag abgehalten. Weißt du, worum es da geht?“, fragte sie ihren Onkel. Wenn jemand etwas wusste, dann er. Seine zahlreichen Informanten trugen ihm so manches zu. Außerdem reiste er auch noch viel im Reich und auch außerhalb der Grenzen herum, traf dabei Gott und die Welt und hörte eine Menge.
Und noch eine andere Frage drängte sich plötzlich wieder in den Vordergrund, eine unangenehme und beunruhigende Frage. „Hat er wirklich seine Schwester vergewaltigt?“
Jetzt hatte sie es selbst ausgesprochen, diese in ihren Augen ungeheuerliche Verleumdung, die ihr im Gedächtnis haften geblieben war. Ein König, der seine Schwester vergewaltigt haben sollte! Und noch dazu ein Achtzehnjähriger! Wie sollte das möglich sein? Fragend blickte sie zu ihrem Onkel hoch.
Der wandte, wie aus Angst vor möglichen Lauschern, rasch den Kopf sichernd in alle Richtungen. „Leise“, warnte er. „Es steht uns nicht zu, über solche Dinge zu sprechen. Er ist der oberste Herr, wir sind zwar freie Leute, aber müssen doch froh sein, wenn er uns unter seinen Schutz stellt. Wir sind nicht befugt, über seine Verfehlungen zu urteilen.“
„Ja, aber ...“, Mirjam wollte sich nicht so einfach abspeisen lassen. Jakob legte ihr den Finger auf den Mund und zog sie weiter. „Zu Hause“, meinte er, „zu Hause, gedulde dich!“
Daheim angekommen, wurden Jakob und Mirjam erst einmal von Lea, Mirjams Mutter, in Beschlag genommen. Sie öffnete die Tür des zwar schmalen, aber über zwei Stockwerke in die Höhe strebenden Hauses, bevor sie noch anklopfen konnten, und winkte sie an sich vorbei ins Innere. Kaum hatte sie die Tür wieder geschlossen, stellte sie fast in einem Atemzug gleich mehrere Fragen auf einmal.
„Wie war es? Habt ihr ihn gesehen? Den König? Was macht er für eine Figur? Ich habe ihn noch nie gesehen, außer als kleinen Jungen“, sprudelte sie hervor. Aber bevor eine Antwort erfolgen konnte, waren schon wieder andere Dinge wichtiger: „Aber jetzt geht euch erst einmal waschen und die Kleider wechseln, es gibt gleich Essen!“, forderte sie die beiden Ankömmlinge auf.
Für Lea zählte nur das Wohl der großen Familie, das wusste Mirjam, und dieser selbstlose Verzicht auf eigene Bedürfnisse erstaunte sie immer wieder und nötigte ihr großen Respekt ab. Jetzt warf sie ihrer Mutter, die gerade ihre persönliche Neugier der Sorge ums Essen untergeordnet hatte, einen liebevollen Blick zu. Das gutmütige, rundliche Gesicht war noch erstaunlich glatt, aber um die Augen herum war die mürbe Haut in viele feine Fältchen gekräuselt und um den Mund hatten sich tiefe Kerben und Linien eingegraben, die besonders auffielen, wenn sie sich aufregte oder ärgerte.
Mirjam wusch sich Hände und Gesicht in einem Becken, das mehrfach am Tag geleert und mit Brunnenwasser neu gefüllt wurde. Dann wechselte sie das Gewand in ihrer Kammer im zweiten Geschoss und stieg zum Essen wieder eine Etage hinunter, voller Neugier, den Onkel endlich eingehend befragen zu dürfen. Aber die ganze Familie, ihre beiden Schwestern, ihre Schwäger und deren Kinder hatten schon am Tisch in der großen Stube Platz genommen. Da war an solche Themen nicht zu denken.
Mirjam aß gehorsam ihren Tzimmes, eine Art Auflauf aus Möhren und Fleischstückchen, und versuchte, dem Gespräch zu folgen, um nicht durch geistige Abwesenheit aufzufallen. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie dadurch nur umso mehr in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit geraten würde, was normalerweise Fragen nach ihrer eigenen Befindlichkeit nach sich zog, deren einsilbige Beantwortung als unhöflich galt.
Nach dem Essen stieg Mirjam in Jakobs Geschäftskontor hinunter, das sich mit einigen Lagerräumen im Erdgeschoss des Hauses befand. Sie platzte vor Spannung.
„Wie kann ein Mensch so gehässig sein! Gegen seinen eigenen König! Der Mann hat doch gelogen“, überfiel sie ihren Onkel, der sich auf einem Stuhl hinter seinem Pult niedergelassen und begonnen hatte, in einem dicken, in Rindsleder eingebundenen Buch Eintragungen vorzunehmen.
„Vielleicht“, meinte Jakob bedächtig und wiegte seinen Kopf. „Vielleicht aber auch nicht.“ Und dann, ohne im Schreiben innezuhalten, befahl er: „Mach die Tür zu!“
Kaum war die Tür geschlossen, zog die Nichte fragend die Schultern hoch. „Aber du hast ihn doch auch gesehen! Er macht einen durchaus edlen und beherrschten Eindruck! Der Vorwurf ist doch völlig absurd!“ Mirjam hatte die Hände auf dem Schreibtisch abgestützt und beugte sich in Richtung ihres dahinter sitzenden Onkels vor.
Der ließ endlich von seiner Schreiberei ab und hob den Kopf. Eine Weile sah er sie prüfend an. Dann meinte er mit gutmütigem Spott in der Stimme: „Du hast ihm zu tief ins Auge geschaut!“
Der Schlag hatte gesessen. Mirjam fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Und wenn schon, was hat das damit zu tun“, blaffte sie beinahe wütend zurück, um die jähe Anwandlung zu überspielen.
„Wir hätten nicht in der ersten Reihe stehen sollen. Ich hätte es wissen müssen“, murmelte Jakob. Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die geschlossenen Augenlider und presste die Finger schließlich über der Nasenwurzel zusammen. Dann stöhnte er leise und öffnete die Augen wieder. Jetzt kneteten seine Finger die Unterlippe.
„Du könntest für eine Weile nach Mainz zu unseren Verwandten gehen“, überlegte er. „Aufbruch sofort. Was hältst du davon?“
„Gar nichts! Wieso denn?“ Mirjam verstand die Welt nicht mehr. Warum sollte sie plötzlich nach Mainz? Sie hatte Patienten in Worms, die sie dringend brauchten.
„Oder nach Speyer“, überlegte er. „Dort gibt es zwar noch keine jüdische Gemeinde, aber ich habe einen guten Bekannten, einen Geschäftspartner mit großer Familie. Dort könntest du eine Weile unterkommen. Um deine Patienten könnte sich der alte Salomon so lange kümmern. Wir sagen, du seist auf einer Reise ins Ausland.“ Jakob stand auf, zog einen Stuhl heran und bedeutete seiner Nichte, sich zu setzen.
„Du bist dem König aufgefallen, das habe ich genau bemerkt. Und er hat einen gewissen Ruf, musst du wissen.“ Jakob stand auf und begann, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer hin und her zu marschieren, wie er es tat, wenn er einen Brief diktierte.
„Schon seit frühester Jugend soll er sich zügellosen Ausschweifungen hingegeben haben. Seit vier Jahren ist er mündig, aber an seinem Lebensstil hat sich nichts geändert. Zwei oder drei Konkubinen soll er gleichzeitig haben. Seine Gemahlin, die kleine Bertha von Turin, die ein wenig jünger ist als er, lässt er links liegen und rührt sie nicht an. Aber wenn er hört, jemand habe eine junge und hübsche Tochter oder Frau, befiehlt er, sie ihm mit Gewalt vorzuführen. So erzählt man sich jedenfalls.“ Der Onkel war nach dieser ausführlichen Schilderung vor Mirjam stehen geblieben, wippte auf den Fußspitzen und schaute auf sie herunter.
„Und das glaubst du?“ Die Nichte schnaubte verächtlich. „Was für ein neidisches Geschwätz! Woher wollen diese Schandmäuler wissen, dass er seine Gemahlin nicht anrührt?“
„Bis dato sind noch keine Kinder gekommen“, meinte der Onkel, und nahm seinen Gang wieder auf.
„Aber das kann alle möglichen Ursachen haben“, empörte sich Mirjam. „Und wenn er daneben noch die eine oder andere Liebschaft hätte - er ist ein junger Mann! Wie viele junge Frauen haben mir schon ihr Leid geklagt über die Seitensprünge ihrer Männer! Da kann ihre Kirche noch so viel predigen!“
„Ja, ja, du hast sicher Recht, wenn du meinst, dass nicht alles von diesen furchtbaren Gerüchten wahr ist“, fuhr der Onkel beschwichtigend fort. „Aber wo Rauch ist, da ist auch Feuer ...“
Jakob wurde durch lautes Pochen am Eingang des Hauses unterbrochen. Mirjams Schwäger tauchten an der Tür vom Kontor zum Korridor auf, der durch die gesamte Tiefe des Hauses verlief und von dem die einzelnen Zimmer und Kammern abgingen.
„Jakob, was sollen wir tun?“, flüsterte einer der Männer. „Es sind Soldaten des Bischofs! Was können die von uns wollen?“
Jakob gebot ihnen mit einer Hand zu schweigen, die andere hielt er lauschend ans Ohr, wobei er sich leise der Haustür näherte.
Von draußen ließ sich eine Stimme vernehmen: „Öffnet der Wache des Bischofs! Sonst werden wir uns Zugang verschaffen!“
„Rasch, nach oben“, befahl Jakob. „Alle Frauen hinauf! Beeilt euch!“
Erneut hämmerte eine Faust gegen das Türblatt. Dann, nach einer kleinen Weile, war wieder dieselbe Stimme zu hören: „Jakob Kalonymos, öffnet uns, wenn Ihr zuhause seid. Es ist dringend! Befehl des Bischofs!“
„Wartet, ihr Herren! Wollt einen alten Mann, ich bitt Euch mit allem Respekt, nicht so ungebührlich drängen! Ich bin nicht mehr so schnell wie Ihr, edler Hauptmann!“
Jakob hoffte, durch Betonung seines nicht mehr jugendlichen Alters auf Zeit spielen zu können, obwohl er wusste, dass dem Hauptmann der Wache, dessen Stimme er erkannt hatte, seine Person bestens bekannt war. Aber auch für die Gegenseite erkennbare falsche Selbsteinschätzungen konnten gelegentlich nützlich sein, wenn sie höflich genug vorgebracht wurden und dem Betroffenen schmeichelten. Diese Taktik hatte er bereits viele Male erfolgreich erprobt. Nachdem er sich durch einen Blick überzeugt hatte, dass seine Nichte mit ihren Schwestern und der Mutter auf der Treppe in die oberen Stockwerke verschwunden war, drehte Jakob den Schlüssel mehrfach umständlich im Schloss herum. Die Tür schwang quietschend auf, davor standen drei Mann der bischöflichen Garde.
Der Hauptmann trat vor. „Jakob, Euer ergebener Diener, verzeiht unser Vorgehen, aber wir brauchen dringend einen Arzt! Wo ist Frau Mirjam?“
„Wollt Ihr nicht erst einmal hereinkommen?“ Jakob hielt mit der einen Hand die Tür auf und machte mit der anderen eine einladende Geste, aber vergeblich. Die Soldaten rührten sich nicht.
„Wer ist denn krank, und warum hat es eine solche Eile!“ Der Kaufmann versuchte weiter, Zeit zu gewinnen. „Normalerweise schickt Bischof Adalbert uns einen seiner Kammerdiener vorbei, wenn er ärztlichen Beistand braucht.“
Der Hauptmann räusperte sich, machte aber vorerst keine Anstalten, das Haus zu betreten. Unbehaglich blickte er an den Fassaden der benachbarten Häuser hoch, wo er bereits Dutzende von neugierigen Augenpaaren auf sich gerichtet vermutete. Nervös trat er von einem Bein aufs andere.
„Wir haben keine Zeit für Höflichkeiten, verzeiht, Jakob Kalonymos! Wir sind auch nicht befugt Auskunft zu geben. Unser Befehl lautet, so rasch wie möglich Frau Mirjam in die Bischofspfalz zu bringen. Bitte lasst Eure Nichte holen! Sonst müssten wir Euer Haus durchsuchen!“ Bei diesen Worten trat er über die Schwelle und warf einen prüfenden Blick ins Innere.
In diesem Augenblick erschien Mirjam oben auf der Treppe. „Hier bin ich“, rief sie. Eine Hand am Geländer, mit der anderen das lange Obergewand gerafft, eilte sie die hohen ausgetretenen Stufen hinunter.
„Wer braucht mich?“, fragte sie mit einem energischen Unterton. „Der Bischof war das letzte Mal, als ich ihn besuchte, in leidlich guter Verfassung.“ Die Befürchtung, dass der Bischof jederzeit seiner krankhaften Fettleibigkeit zum Opfer fallen konnte, behielt sie für sich.
„Einer seiner Geistlichen leidet an Krämpfen im Leib, sehr schmerzhaft“, entgegnete der Anführer verlegen. „Bitte beeilt Euch!“
„Ich hole nur schnell meine Tasche“, rief Mirjam und verschwand in den Tiefen des Korridors. Nach kurzer Zeit kam sie zurück. Ein dunkler Kapuzenmantel umgab ihre Gestalt, in der Hand hielt sie eine große Ledertasche. Jakob wollte ihr die Arzttasche abnehmen, aber der Anführer hielt ihn zurück. „Das Handwerkszeug tragen wir!“, befahl er, während er der Ärztin mit einem raschen Griff die Tasche entwand. Bevor sie protestieren konnte, hob der Hauptmann die Hand, und die beiden Bewaffneten nahmen die Frau in ihre Mitte. Mirjam fühlte die Ahnung einer ungewöhnlichen Bedrohung in sich aufsteigen, unterdrückte aber entschlossen alle Bedenken und ließ sich widerstandslos eskortieren.
Auf der Straße schlug der Trupp sogleich ein scharfes Tempo an, Mirjam musste laufen, um mit ihnen Schritt zu halten. Jakob zog von außen die Tür hinter sich zu und beeilte sich, den Soldaten zu folgen, wobei er den Vorauseilenden absichtlich einen gewissen Vorsprung ließ. Mirjam ergriff die vermeintliche Gelegenheit, abrupt blieb sie plötzlich stehen. „So könnt ihr einen alten Mann nicht behandeln! Ihr seht doch, dass er keine Luft mehr bekommt!“, herrschte sie den Anführer wider besseres Wissen an.
„Euer Onkel ist kein gebrechlicher Greis. Er bekommt noch sehr gut Luft“, erwiderte der Hauptmann scharf. „Außerdem ist er bei diesem Besuch nicht vorgesehen. Ich würde Euch raten, unsere Ankunft nicht zu verzögern. In der Pfalz wartet man nicht gerne!“ Mittlerweile hatte der Onkel aufgeschlossen, die beiden Wachen griffen auf einen Wink ihres Offiziers hin Mirjam an den Unterarmen und zogen sie weiter.
Zum zweiten Mal an diesem Tag liefen die beiden Juden über die Römerstraße, diesmal in umgekehrter Richtung von Norden nach Süden. Dann bogen sie nach Westen ab in Richtung Dom und Bischofspfalz. Ein tunnelartiges Rundbogenportal führte von Osten her auf einen großen, von Gebäuden umstandenen Platz, dessen nördliche Seite an das südliche Seitenschiff der Bischofskirche grenzte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes befand sich die Pfalzkapelle, rechts und links des Portals im Osten zwei repräsentative steinerne Gebäude, direkt an den Dom anschließend die Aula Minor für kleinere Versammlungen und zur Unterbringung vornehmer Gäste, auf der anderen Seite des Tores die Aula Major, ein dreistöckiger, palastartiger Bau mit einer fast über das gesamte Hochparterre reichenden Halle, die über eine Freitreppe vom Hof aus zu erreichen war. Dieser aufwändige Bau war für Hoftage und Bischofssynoden vorgesehen. Im Westen des Platzes gab es einige größere Gebäude zur Unterbringung der Dienstboten und Bewaffneten, Stallungen, Scheunen zur Einlagerung von Vorräten, etliche Werkstätten sowie einen großen Küchentrakt, der separat errichtet worden war, um die Brandgefahr zu minimieren.
„Wir werden erwartet“, grüßte der Hauptmann die Torwächter, die an den aufgeschobenen hölzernen Torflügeln Haltung annahmen, dann betrat er hinter den beiden Soldaten mit Mirjam in der Mitte den schattigen und zugigen Durchgang. Jakob wollte sich anschließen, da drehte sich der Anführer auf dem Fuß um und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück.
„Ihr nicht, Jakob Kalonymos! Ihr habt heute keinen Zutritt. Ich habe meine Befehle, bitte versteht das. Und Ihr braucht auch nicht zu warten, es wird länger dauern.“
Dann ließ er den Hebräer stehen und folgte seinem Trupp, der bereits auf der anderen Seite des Tunnels in die Helle des großen Platzes hinausgetreten war. Die Torwächter traten an Jakob heran und kreuzten ihre Spieße vor ihm zum Zeichen, dass sie ihn nicht passieren lassen würden. Dann nahmen sie wieder ihre Posten rechts und links des Tores ein.
„Macht Euch nichts draus, die feinen Herren wollen unter sich sein“, meinte der ältere der beiden Wächter in dem Bemühen, etwas Positives von sich zu geben. „Eure Nichte war doch schon oft hier, also macht Euch keine Sorgen!“, schob er noch vertraulich nach.
Jakob schaute ratlos an der glatten Mauer des hohen steinernen Bauwerks hoch. Nach außen hin durchbrachen nur schmale schlitzförmige Öffnungen die Wand aus großformatigen sorgfältig behauenen Quadern.
„Hab Ihr eine Ahnung, welchen Abt da gerade die Kolik erwischt hat?“, fragte er den Wächter leichthin und bemühte sich, seiner inneren Anspannung Herr zu werden und seiner Stimme einen scherzenden Tonfall zu geben.
„Abt?“ Der Torwächter runzelte die Stirn und lachte. „Na, wundern tät‘ es mich nicht, wenn es ein Abt wär‘, so wie die fressen können!“ Offenbar berührten ihn die Befindlichkeiten der hohen Herrschaften herzlich wenig. Stattdessen fragte er den Kaufmann, das Thema wechselnd: „Habt Ihr demnächst wieder etwas von diesem feinen roten Wolltuch?“ Der zweite Wächter, ein noch junger Mann, blickte mit plötzlich erwachendem Interesse auf.
„Das hat meinem Weib immer so gut gefallen. Auch wenn es nicht billig war!“, erklärte der Ältere nun etwas verlegen und zwinkerte dem Judäer mit einem zweideutigen Grinsen zu, wobei er sich schwer auf seinen langen Spieß stützte.
„Das rote Tuch“, wiederholte Jakob mechanisch, wobei er fieberhaft überlegte und wie absichtslos näher an den Soldaten herantrat. „Das rote Tuch, das kann ich Euch besorgen“, meinte er dann geschäftsmäßig in gedrosselter Lautstärke, bevor er noch leiser und vertraulich hinzufügte: „Sagt mir, wie viel. Wenn Ihr mich hinein bringt, mache ich Euch einen guten Preis.“ Im selben Augenblick hätte er sich auf die Zunge beißen können, weil er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Der Torwächter lächelte schief. „Das hab‘ ich mir schon immer gedacht, dass ihr Juden verschiedene Preise für verschiedene Leute macht“, murmelte er und lachte kehlig auf. Als er bemerkte, dass der andere Wächter begonnen hatte, der Unterhaltung zu lauschen, räusperte er sich und spuckte zur Seite auf den Boden aus.
Jakob begann vor aufgestauter Ungeduld, mit den Händen seine Oberarme zu schlagen, als sei ihm kalt. „Ich wollte zu gern wissen, was da drin vorgeht!“, wagte er einen neuen Versuch in der Gewissheit, dass er seine Chance verspielt hatte, wenn er denn jemals eine gehabt hatte.
Entweder der Torwächter war wirklich ahnungslos, oder er stellte sich unwissend. „Es ist doch nicht ungewöhnlich, dass jemand da drin unpässlich ist. Besonders jetzt, wo wegen des Hoftages so viele Gäste anwesend sind“, versuchte er erneut, in seiner plumpen Art, den Hebräer zu beruhigen.
Der jüngere Wächter auf der anderen Seite der Durchfahrt, der offenbar zu viel von dem vorangegangenen Gespräch mitbekommen hatte, betrachtete Jakob nun betont eingehend und grinste hämisch.
„Machst du dir etwa Sorgen um deine Nichte, weil sich der junge König im Palast aufhält?“, fragte er mit einem lauernden Unterton. Jakob tat, als habe er die vertrauliche Anrede nicht gehört, die in diesem Fall als reine Unhöflichkeit gemeint war. Da fuhr der Mann bereits mit einer Drohung fort: „Davon würde ich dir schwer abraten, wenn du nicht schnurstracks ins Loch wandern willst, alter Wucherer!“
Der ältere Wächter warf dem so Geschmähten einen entschuldigenden Blick zu und hob kaum merklich die Achseln. Jakob wusste, dass es besser gewesen wäre, auf dem Absatz kehrt zu machen und sich zu entfernen. Stattdessen wandte er sich dem Jüngeren zu und fragte kühl: „Was führt dich zu dieser Einschätzung, junger Freund?“ Das Gesicht des Wächters verzerrte sich: „Mein Schwager hat Geld bei dir geliehen. Jetzt hat er immer mehr Schulden, weil er deine Zinsen nicht bezahlen kann!“
Jakob überlegte kurz. „Handelt es sich bei deinem Schwager um den Zimmermann in der Hauptstraße nahe dem Dom?“, fragte er dann. Ein Blick auf sein Gegenüber verriet ihm, dass er richtig lag. Wie gut, dass er die laufenden Außenstände immer im Kopf hatte!
„Der Zimmermann brauchte dringend Geld, um anderes Geld zurückzugeben, das er, was ich beim Geschäftsabschluss nicht wusste, unrechtmäßig erworben hatte und das ihn vor das Gericht gebracht hätte“, fuhr Jakob sachlich fort.
„Euer Schwager überschrieb mir zur Sicherheit die Erlöse aus einem Auftrag für eine Herberge in der Stadt. Allerdings erledigte er diesen Auftrag nur unvollkommen, so dass der Auftraggeber die Zahlung verweigerte und die angefertigten Stücke wieder zurückgab.“
Jakobs Vortrag war nüchtern und von einer unerbittlichen Logik. Der Wächter folgte seinen Worten mit zusammengekniffenen Augen.
„Da ein Kaufmann solche Fälle immer mit einkalkulieren muss“, fuhr der Judäer fort, „hatte ich monatsweise Zinsen verlangt, die Euer Schwager auch in der ersten Zeit bezahlt hat. Da ich durch die Schuld Eures Schwagers nun vermutlich demnächst das gesamte Darlehen abschreiben muss, habe ich einen Teil zumindest durch die Zinsen abgedeckt und daher wenigstens meinen Verlust verkleinert.“
Nachdem er seine Ausführungen in dieser Weise abgeschlossen hatte, verbeugte er sich knapp und ging davon. Keiner der beiden hatte ihn während seiner Rede unterbrochen, keiner wagte es, ihn aufzuhalten. Wahrscheinlich würden seine Argumente bei diesen verblendeten Leuten langfristig nichts nutzen. Unfähigkeit, Selbstüberschätzung und Hass waren schlechte Ratgeber. Aber er hatte es wenigstens versuchen müssen, besonders auch zur Wahrung seines eigenen Rufes, da hier klar zutage lag, dass die Behauptung des angeblich Geschädigten falsch war.
Auf dem Heimweg überfiel den Kaufmann ein Gefühl wachsender Niedergeschlagenheit. Er musste sich endgültig damit abfinden, dass er nichts mehr für seine Nichte tun konnte. Mirjam war jetzt auf sich selbst gestellt. Tatsächlich war sie schon öfter zum Bischof gerufen worden und hatte seine Schmerzen, die zu einem Teil von einer außergewöhnlichen, durch ungesunde Ernährung und Krankheit hervorgerufenen Fettsucht herrührten, bis jetzt immer lindern können, wofür der Kirchenfürst sich stets erkenntlich gezeigt hatte. Dem Hebräer war sehr wohl bewusst, dass dies zum großen Teil der Heilkunst seiner Nichte zu verdanken war, zu einem großen Teil aber auch dem Glück. Schließlich war nicht gegen alle Krankheiten ein Kraut gewachsen, und die Launen der Hochgestellten, besonders unter dem Einfluss von Schmerzen, hatten sich schon allzu oft als unberechenbar erwiesen. Der Arztberuf war daher nicht einer der ungefährlichsten. Je besser der Arzt, desto nobler die Kundschaft und desto größer das Risiko, bei mangelndem Erfolg in Misskredit zu geraten. Jakob hoffte inständig, es würde auch diesmal alles gut abgehen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatten sich alle am Bischofshof vorkommenden Leiden als behandelbar erwiesen. Die Fälle, in denen aus unabwendbaren und unzweifelhaft nicht dem Arzt anzulastenden Gründen schließlich der Tod eingetreten war, hatten sich in engeren Grenzen gehalten.
Zurück in seinem Kontor, wanderte Jakob stundenlang in dem kleinen Raum hin und her und wartete auf die Rückkehr seiner Nichte. Der Rest der Familie war es gewohnt, dass Mirjam in ihrer ärztlichen Funktion auch hin und wieder in die Bischofspfalz gerufen wurde, und machte sich keine Sorgen, auch als sie gegen Abend immer noch nicht zurück war. Seine Schwägerin kam, um Jakob zum Nachtessen zu holen. Er schlug die Einladung aber aus. Er konnte im Moment nichts essen. Nur ein einziger Gedanke zermarterte ihm das Hirn: Was mochte jetzt in der Bischofspfalz vor sich gehen?
Hinter der Tordurchfahrt führten die bischöflichen Soldaten Mirjam bis zur Aula Major der Bischofspfalz und machten dort abwartend neben der großen Freitreppe Halt.
„Wir werden erwartet“, wiederholte der Hauptmann mit einem entschuldigenden Unterton zu der Jüdin. „Ihr werdet nicht lange warten müssen.“ Er stellte die Arzttasche, die er bis jetzt getragen hatte, vorsichtig auf dem Boden ab.
Mirjam stellte fest, dass sich von dieser Stelle aus ein guter Blick auf den weiten Platz im Schatten des Doms bot, wo ein brodelndes Leben und Treiben herrschte. Bauern trugen Fässer und beladene Körbe auf den Schultern. Pferde wurden von Stallknechten am Halfter zur Tränke geführt. Während sie bei den saufenden Tieren warteten, nutzten sie die Pause zum Schwatzen. Mirjam stellte sich vor, worüber sie wohl reden mochten. Wahrscheinlich darüber, was den hohen Herren an neuen Anordnungen gerade wieder eingefallen war, welches Missgeschick dem oder jenem Geistlichen oder Höfling passiert war oder wer mit wem gerade ein unerlaubtes Verhältnis unterhielt. Mägde eilten vorüber, beladen mit Eimern, die sie rechts und links an Stangen auf den Schultern balancierten und aus denen gelegentlich das Wasser heraus schwappte. Gerade sprengte ein vornehm gekleideter Herr durch das Tor und wirbelte eine Menge Staub auf. Vor dem Stallgebäude schwang er sich vom Pferd und warf die Zügel einem der Knechte zu, bevor er über den Hof eilte und über die steinerne Außentreppe ungehindert im Palas verschwand. Offenbar ein Bote oder Vertrauter aus der Umgebung des Königs oder des Bischofs.
Mirjam rätselte noch, in welcher Mission der Bote wohl unterwegs gewesen war, als sich im Erdgeschoss neben der Freitreppe eine Tür öffnete. Heraus traten zwei Männer. Der eine, ein älterer Domgeistlicher, war an seiner knöchellangen schwarzen Kutte und dem ebenfalls schwarzen Skapulier mit Kapuze zu erkennen. Der andere trug eine blaue, um die Mitte mit einem Ledergürtel gehaltene Tunika, die ihm bis zu den Waden reichte. Die Beine waren mit Wollbändern umwickelt und steckten in wadenhohen Lederstiefeln. Am Wehrgehenk um die Hüften hing das Schwert zu seiner Linken.
Den Geistlichen kannte Mirjam, es war Pater Burchard, der Vorsteher der Domschule und ein persönlicher Vertrauter von Bischof Adalbert. Den jungen Mann hatte sie nie zuvor gesehen.
„Seid willkommen im Palast des Bischofs, Frau Mirjam aus der edlen Familie des Kalonymos“, sprach Burchard die Ärztin respektvoll an und deutete eine Verbeugung an.
„Hauptmann“, wandte er sich dann an den Offizier der bischöflichen Wache, die Mirjam hergebracht hatte. „Du und deine Leute, ihr seid entlassen. Ich danke euch im Namen des Bischofs für eure Dienste. Geht in die Küche und lasst euch etwas Gutes vorsetzen! Ihr habt es euch verdient!“
Das ließen sich die Soldaten nicht zweimal sagen. Der Hauptmann verneigte sich militärisch knapp vor dem Domherrn, dann führte er seine Leute zum Küchengebäude in einem abgelegenen Winkel des großen Hofes.
Mirjam wollte ihre Tasche aufheben, aber Pater Burchard kam ihr zuvor. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er sie mit ernstem Gesicht an. „Heute wartet eine nicht ganz einfache Aufgabe auf Euch“, setzte er vorsichtig an.
„Wieso?“, entgegnete die Ärztin. „Ist der Anfall seiner Exzellenz diesmal noch schlimmer als sonst? Mehr Extrakt der Giftblume kann ich ihm nicht geben! Das würde ihn schädigen! Er muss sich vernünftig ernähren, übermäßigen Fleischgenuss meiden, und nicht zu viel von dem reinen Rheinwein in sich hineinschütten!“
Sie schmunzelte über das zufällige Wortspiel, dann nahm ihre Miene einen ehrlich besorgten Ausdruck an. Gerade öffnete sie den Mund zu einer weiteren Tirade, da fiel ihr der Pater ins Wort.
„Nein, nein, nicht der Bischof!“ Er schüttelte den Kopf. „In letzter Zeit hält er sich wohl an Eure Ratschläge“, beruhigte er sie. „Zumindest meistens“, setzte er dann noch einschränkend hinzu. „Aber nun kommt, Frau Mirjam“, drängte er sie. „Wir müssen uns beeilen! Bitte! Fragt jetzt nicht! Ich werde Euch alles später erklären!“
Als ob er es vergessen hätte, wandte er sich kurz zu seinem schweigsamen Begleiter um: „Das ist übrigens der junge Herr Udalrich von Godesheim, der Adjutant einer unserer weltlichen Gäste.“ Udalrich verneigte sich, ohne ein Wort zu verlieren. Mirjam fragte sich, wozu seine Anwesenheit hier nötig war. Als ihr Blick erneut auf das Schwert an seiner Seite fiel, stieg ein Verdacht in ihr auf.
Während Burchard sich schon anschickte weiterzugehen, machte sie keine Anstalten, ihm zu folgen. Als der Pater sich noch einmal umdrehte, sah er sie wie angewurzelt stehen, die Brauen gerunzelt und an der Unterlippe nagend.
„Ich tue nichts Unrechtes, ich habe einen Eid geschworen, ihr wisst das, Pater Burchard! Einen Eid, nur zum Wohle meiner Patienten zu handeln. Wenn ich also etwas tun soll ...“
„Nein, um Gottes Willen!“ Er trat auf sie zu. „Frau Mirjam, Ihr sollt einen Menschen behandeln, dem es schlecht geht, sehr schlecht! Wenn ihm noch jemand helfen kann, dann Ihr. Seine eigenen Ärzte haben keinen Einfluss. Nur sollten wir die Einzelheiten nicht hier auf dem Hof erörtern. Bitte folgt mir ins Haus!“
Burchard schaute mit scharfen Blicken um sich, um zu prüfen, ob ihr Wortwechsel von einem Dritten gehört worden war. Das war offenbar nicht der Fall gewesen, nicht zuletzt weil Udalrich sich rasch vor sie hingestellt und sein Schwert mit einem schleifenden Geräusch in der Scheide auf und ab gezogen hatte, als ob er einen unliebsamen Widerstand prüfen wolle.
„Ich habe Euer Wort?“, versicherte sich Mirjam noch einmal. „Das habt Ihr, Frau Mirjam, Gott soll mein Zeuge sein“, antwortete ihr der Geistliche mit ernster Stimme. „Bitte folgt mir nun!“
In dem Gang hinter der Tür herrschte Halbdunkel. Sie befanden sich in einem leeren Wachlokal. In einer Ecke öffnete sich ein Treppenturm. Pater Burchard stieg als erster die Stufen hinauf, die in den großen Saal im ersten Stock führten. Dort herrschte gedämpftes Stimmengewirr und geschäftiges Treiben. Mindestens ein Dutzend Bedienstete war dabei, Geschirr und Essensreste hinauszuschaffen und die Tafel abzuräumen.
Kaum war Mirjam aus dem Treppenschacht heraus, fiel ihr Blick auf eine Gruppe vornehm gekleideter Männer, die am anderen Ende des Saales vor einer Fensternische zusammenstanden und sich unterhielten. Einer schaute gelangweilt im Raum herum, Mirjam fühlte plötzlich seinen Blick auf sich. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, wie er seinen Nachbarn in die Seite stieß und mit dem Kinn in ihre Richtung stieß. Der Nachbar sah kurz auf, lachte und schüttelte den Kopf. Mirjam kannte ihn, es war der Kommandant der Leibgarde seiner Eminenz, des Bischofs von Worms. Wahrscheinlich hatte er den misstrauischen Frager gerade von der Harmlosigkeit und Nützlichkeit ihrer Person überzeugt.
Sie huschte hinter Pater Burchard her, der den rechteckigen, weiten Saal nun an einer der beiden Schmalseiten schnell durchmaß, um zum Eingang in den nächsten, ihnen gegenüber liegenden Treppenturm zu gelangen. Da die Diener das Stiegenhaus auf der anderen Schmalseite der Halle benutzten, kamen sie auf diesem Weg glücklicherweise niemandem in die Quere.
Mirjam folgte dem Pater auf dem Fuß und hielt instinktiv den Blick gesenkt, als ob sie der Aufmerksamkeit der Leute um sich herum auf diese Weise entgehen würde. Hier kannten sie zwar fast alle, daher erregte ihre Gestalt kaum einen Verdacht. Aber sie wusste nicht, was auf sie zukommen würde, also war es wohl besser, möglichst wenig Aufsehen zu erregen.
Das nächste Treppenhaus führte sie in einem zugigen, von zu wenigen Fackeln in eisernen Wandhaltern sporadisch erleuchteten Turm in engen Windungen nach oben. Ein Blick zurück offenbarte der Ärztin, dass Udalrich ihnen nicht mehr folgte. Seit wann er nicht mehr hinter ihr war, hätte sie nicht sagen können. Wieder überkam sie ein ungutes Gefühl, das sie aber rasch beiseite schob.
Als sie am oberen Ende aus dem Schacht heraustraten, öffnete sich ein kleiner, behaglich eingerichteter Raum vor ihnen. In dem halb mannshohen Kamin auf der gegenüber liegenden Längsseite knisterte ein munteres Feuer, dessen angenehme Wärme bis zum Treppenabsatz zu spüren war. Vor dem Kamin standen ein blankpolierter hölzerner Tisch und zwei Armstühle, an der Stirnseite nicht weit davon ein Bettgestell, das mit daunengefüllten Leinenbezügen anstatt mit Strohsäcken gepolstert schien und mit weichen wollenen Decken belegt war.
„Setzt Euch, Frau Mirjam!“ Pater Burchard wies auf einen der mit Kissen belegten Armstühle und wartete, bis sich die Besucherin darauf niedergelassen hatte. Mirjam wäre lieber stehen geblieben, aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es in diesem Fall besser war, sich den am Hof üblichen Gepflogenheiten anzupassen. Sie beherrschte ihre Ungeduld und beobachtete, wie der Pater die Tasche, die er bis jetzt getragen hatte, zu ihren Füßen absetzte. „Es wird Euch zu gegebener Zeit jemand hier abholen“, erklärte er dann steif.
Das war nun doch entschieden zu viel der höfischen Etikette! Verärgert fuhr die Jüdin auf. „Jetzt sagt mir doch endlich, wen ich behandeln soll!“, herrschte sie den Domgeistlichen an. „Vor allem“, fuhr sie fort, „unter welchen Beschwerden dieser Mensch leidet! Das muss ich doch wissen! Sonst kann ich schwerlich etwas für ihn tun!“ In zweifelndem Tonfall setzte sie dann noch hinzu: „Der Hauptmann sprach von einem Domherrn mit einer Kolik. Wieso wird da so ein Geheimnis daraus gemacht?“
Burchard blickte sie gespannt an. „Ihr habt etwas gegen Koliken dabei?“, fragte er.
Mirjam nickte. „Natürlich, ein verbreitetes Leiden“, bestätigte sie achselzuckend und fixierte den Geistlichen scharf. Warum fragte er so unbedarft? Er wusste doch, dass auch der Bischof darunter litt. Hier wurde irgendein Spiel gespielt, das sie noch nicht durchschaute. Das war ihr klar. Doch welches? Wollte man sie in die Enge treiben mit einem Patienten, der nicht mehr genesen konnte? Bei dem alle ärztliche Kunst von vornherein schon nutzlos sein würde? Aber was hätte das für einen Sinn? Sicher würde Bischof Adalbert auch in Zukunft gern von ihren Fähigkeiten Gebrauch machen wollen, besonders wenn es ihm einmal wieder so richtig schlecht ging, und damit war sicher in Bälde zu rechnen.
Übrigens, Bischof Adalbert. Wo steckte der eigentlich? Wenn es um einen seiner Geistlichen ging, fragte sich die Ärztin, warum war sie dann nicht in den Wohntrakt der Domherren geführt worden, sondern in den Palas und in diesen Raum, der über der großen Halle liegen musste und offenbar nur dem Zweck diente, einem hochgestellten Gast eine angemessene Bequemlichkeit zu bieten.
„Ich muss Euch jetzt allein lassen.“ Mirjam war noch dabei, ihre Gedanken zu sortieren, da sprach der Pater schon weiter.
„Was immer auch kommt, lasst Euch nicht einschüchtern. Überlegt nüchtern und vernünftig, so wie Ihr das sonst auch tut. Gebraucht Euren Menschenverstand, das ist der beste Rat, den ich Euch mit auf den Weg geben kann. Der, dem Ihr begegnen werdet, wird es durchschauen, wenn Ihr die Unwahrheit sagt oder Euch in Schmeicheleien ergeht. Darin hat er Erfahrung.“
Mirjam horchte auf. Was hatte der Onkel ihr erst vor einigen Stunden erklärt? Sie rief sich seine Formulierungen ins Gedächtnis. Als Kind und Jugendlicher ausgenutzt von egoistischen Machtinteressen, in die Irre geführt von verlogenen und heuchlerischen Reden, Spielball zwischen den Fronten.
Mirjam glaubte jetzt zu wissen, was sie erwartete, und blickte auf, um den Geistlichen zur Rede zu stellen. Der aber hatte sich bereits abgewandt und war lautlos in der Schwärze des Treppenturms verschwunden. Sie sprang auf, um ihm nachzueilen, aber in diesem Moment schloss sich die Tür, und als Mirjam daran zog, blieb sie unbeweglich. Die Ärztin musste sich der Tatsache stellen, dass sie vorübergehend hier gefangen war. Es war nicht damit zu rechnen, dass es noch einen unverschlossenen Ausgang aus diesem Zimmer gab. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie jetzt auf alle Fälle die Nerven behalten musste.
Um ihre innere Unruhe in den Griff zu bekommen, beschäftigte sie sich zunächst damit, den Inhalt ihrer Tasche nochmals zu revidieren. Die Beschäftigung mit ihren Arzneien und Geräten lenkte sie in der Regel von allen anderen Sorgen ab und ließ sich beliebig ausdehnen. Draußen war es inzwischen dämmrig geworden, durch die mit Tierhaut verschlossenen Schlitze in den hölzernen Fensterläden fiel nur noch schwaches Licht. Das Feuer war heruntergebrannt, man hätte ein Scheit nachlegen müssen, um es am Leben zu erhalten.
Nach einer Weile schloss die Jüdin die Tasche wieder und lauschte in die Stille hinein, hörte aber nichts. Kein Laut drang durch die massiven Quadermauern und dicken Eichentüren bis hierher durch. Dann erhob sie sich und wanderte im Raum umher. Zunächst stieß sie auf eine weitere Pforte in der dem Treppenhaus gegenüber liegenden Schmalseite des Raumes, die natürlich ebenfalls verschlossen war, dann auf eine niedrige Tür in der dem Kamin gegenüber liegenden Längsseite. Diese Tür ließ sich erstaunlicherweise öffnen, und Mirjam trat auf einen offenbar der Außenmauer vorgelagerten Gang, der zu einem heimlichen Gemach zur Befriedigung der Notdurft führte. Es war mit einem bequemen Sitz ausgestattet, die Exkremente fielen durch einen Schacht innerhalb der Mauer hinunter. Die Ärztin vermutete, dass sie in einer Jauchegrube landeten, die in Abständen geleert wurde. In dieser Hinsicht würde sie also keine Not leiden, dachte sie in einer Anwandlung von Galgenhumor.
Plötzlich vernahm sie ein Geräusch und eilte in den Raum zurück. Durch die dem Treppenhaus gegenüber liegende Tür betrat gerade eine junge Dienerin das Zimmer. Die makellos saubere Schürze und das reinliche weiße Kopftuch deuteten darauf hin, dass sie dazu bestimmt war, den Gästen des Bischofs aufzuwarten. Während sie ein Tablett mit Speisen, zwei Kannen und mit einem Becher auf dem Tisch absetzte, lächelte sie Mirjam freundlich zu. Dann stocherte sie mit dem Schürhaken im Feuer und schob ein weiteres Holzstück hinein, während die Funken aufstoben.
„Es wird noch etwas dauern, Herrin“, erklärte sie höflich, als sie wieder aufrecht stand. „Macht es Euch inzwischen bequem, esst und trinkt, und wenn Ihr mögt, legt Euch ein wenig hin. Es wird Euch niemand übel nehmen, wenn Ihr Euch ausruht.“ Sie deutete auf das Bett.
„Auf wen muss ich hier eigentlich so lange warten, das hat mir immer noch niemand gesagt!“ Mirjam hoffte, die Bedienstete durch einen strengen Tonfall einzuschüchtern und so zu verunsichern, dass sie sich zu einer weiteren Aussage verleiten ließ.
Die Frau lächelte wieder. „Wenn es Euch noch niemand gesagt hat, wie soll ich es dann wissen?“ erwiderte sie dann mit entwaffnender Logik. Dann legte sie kurz den Zeigefinger an die Lippen und schüttelte unmerklich den Kopf. „Versucht es nicht mit den Mitteln der Redekunst. Der König hasst nichts mehr als das. Braucht Ihr noch etwas?“ Mirjam schüttelte mechanisch den Kopf, daraufhin verschwand die Bedienstete und schloss fast geräuschlos die Tür hinter sich. Die Jüdin hörte kein Geräusch eines Schlüssels im Schloss, versuchte aber erst gar nicht, die Tür von innen zu öffnen.
Mirjam stand mitten im Raum und überlegte. Ihre Vermutung war richtig gewesen! Die Erkenntnis überraschte sie nicht mehr wirklich. Sie versuchte, sich den jungen Mann mit dem eigenartigen, halb neugierigen, halb herausfordernden Augenpaar ins Gedächtnis zu rufen. Seine Gestalt und seine Haltung hatten sie angezogen, das, was sie über ihn gehört hatte, zutiefst abgestoßen. Sie wusste nicht, was sie in diesem Moment vorgezogen hätte: Ihm zu begegnen oder um die Begegnung herumzukommen.