Der Ritt auf dem Funken - Joseph Delmont - E-Book

Der Ritt auf dem Funken E-Book

Joseph Delmont

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Beschreibung

Loisi Hacker hatte vorgehabt, an die Nordsee zu reisen, entschied sich aber zu bleiben und ihre vor kurzem aufgenommenen Experimente fortzusetzen. Auch wollte sie nicht abwesend sein, falls der Vormund, von dem sie seit Monaten keine Nachricht erhalten, nach Untersberg käme. Herr Pfleiderer hatte bei seinem heimlichen Besuch Loisi ein Scheckbuch auf zehntausend Mark zurückgelassen, damit sie nicht in Verlegenheit geriete, wenn er verhindert wäre sie zu besuchen. Die Professoren, Ingenieure und Werkmeister gingen in Ferien. Sidney Montford blieb. Er schloss sich jeden Morgen in den, ihm vom Technikum zur Verfügung gestellten, Experimentensaal ein und kam meist den ganzen Tag nicht zum Vorschein. Oft lud er einen großen Kasten auf seinen Rücken, schleppte noch eine schwere Handtasche mit sich und verschwand am frühen Morgen in der Richtung nach den Zeißer Bergen.

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Der Ritt auf dem Funken

Fantastischer Zukunftsroman

 

 

 

Joseph Delmont

 

 

 

Verlag Heliakon

 

Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon

Titelbild: Pixabay (guignomao)

 

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

©2023 Verlag Heliakon

www.verlag-heliakon.de

[email protected]

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über-setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

1.

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63.

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65.

1.

Laut Statuten unseres Instituts kann Ihrem Ansuchen nicht willfahrt werden. § 26 des Technikums Hohenwelten besagt, dass die Aufnahme von weiblichen Studierendens unstatthaft ist.

Das Rektorat

Technikum Hohenwelten,

gez. Prof. Gerstenkorn.

 

Zornig ballte Loisi Hacker den Oktavbogen zusammen und schleuderte ihn in die Zimmerecke.

»Das nennt sich eine fortschrittliche Welt!« stieß sie erzürnt zwischen den Zähnen hervor. »Ein Mädchen, eine Frau kann nicht Brückenbauer oder Konstrukteur praktisch studieren, weil ihr die Vorbildungsanstalten die Türen verschließen.«

Mit einem Schwung warf sich die Erregte in einen Lehnstuhl, kreuzte die Beine und stützte den Kopf in die Hand.

Herr Pfleiderer erhob sich, nahm das Papier vom Boden, glättete es und las. Hin und wieder ließ er seinen Blick über den Briefrand schweifen und mit Wohlgefallen schielte er auf die schön geformten, bis über die Knie sichtbaren Beine des Mädchens, die in beigefarbenen seidenen Strümpfen staken.

»Ich verstehe dich nicht, Loiserl, warum willst denn durchaus Techniker werden? Ist das ein Beruf für ein junges Mädel? Hast du das notwendig? Ich kann dir nur immer wiederholen, dass du, wenn du …«

Mit scharfem Ruck warf Loisi den Kopf herum, und versuchte vergeblich den kurzen Rock über die Knie zu ziehen, als sie Pfleiderers Blicke wahrnahm. Wütend fauchte sie ihn an:

»Wollen Sie schon wieder von der unmöglichen Geschichte anfangen? Sind Sie noch immer nicht vernünftig geworden? Sie mit Ihren fünfundvierzig Jahren und ich mit meinen sechzehn! Nur dreißig Jahre sind Sie älter als ich. Lassen Sie mich endlich in Ruh’ mit Ihren Dummheiten!«

»Schau, Loiserl, der Altersunterschied macht gar nichts aus, ich möchte dir den Himmel auf Erden bereiten, ich möchte …«

Ein knallendes Geräusch verhinderte Pfleiderer den Satz zu beenden; sein Blick ruhte auf dem Brief und so hatte er nicht bemerkt, dass Loisi in das Nebenzimmer ging und die Tür mit Gewalt hinter sich zuschlug.

»Das Mädel ist rein verrückt«, murmelte Pfleiderer, »und ich alter Esel hab mich in sie vergafft und leb keine ruhige Stunde mehr. Recht hat sie ja mit dem Altersunterschied, aber sieht sie denn wie eine Sechzehnjährige aus? Jeder Mensch schätzt sie auf achtzehn bis zwanzig Jahre.«

Unruhig schritt Loisi in ihrem Zimmer auf und nieder, angestrengt arbeiteten ihre Sinne. Schon drei technische Studienanstalten hatten sie abgewiesen. Sie konnte es nicht begreifen, dass man in dieser modernen, fortgeschrittenen Welt einem Menschen eins Studium verweigerte, weil er weiblichen Geschlechts war. Es gab fast keinen Beruf mehr, in dem nicht Frauen den Männern den Rang streitig machten. Doctor med. jus, chemie, phil., theologie und jede andere akademische Laufbahn stand der Frau offen, nur den weiblichen Dr. ing. gab es nicht.

Alles, aber auch alles schlug ihr fehl. Als kleines Mädel spielte sie, anstatt mit Puppen, mit der Mutter Nähmaschine, zerlegte des Vaters Taschenuhr und verbrannte sich die Finger an den Lichtleitungsdrähten, als sie einen Schalter demontierte, die Drahtenden aneinander hielt und Kurzschluss verursachte.

Schon der Großvater war ein Bastler gewesen, hatte alle möglichen und unmöglichen Dinge erfunden und erbaut. An seiner Gartentüre hatte er eine verzwickt konstruierte Vorrichtung angebracht. Jeder, der ins Haus wollte, musste den Vorgarten passieren. Die Gartentür zu öffnen, bedurfte es gewisser Kraftanstrengung, und bei jedesmaligem Kreischen der Scharniere pumpte die sinnreiche Erfindung des alten Hacker einen Liter Wasser in ein großes Fass im Garten.

Alle Uhren im Haus hatten Spielwerke und vielfaches Geläute. War eine Viertel- oder halbe Stunde um, so schrien einige Kuckucke, zwitscherten Vögel, läuteten Glocken, blökte ein Schaf. Die vollen Stundenschläge trieben die übrigen Hausbewohner zur Verzweiflung, da hierbei einige Musikwerke in den Uhren Lieder, Märsche und Oratorien anstimmten. Ein Glück für die alte Frau Hacker, dass sie stocktaub war.

In ganz Graz kannte man den alten Bastler Hacker und machte sich es lustig über ihn.

Loisi wuchs im Hause der Großeltern auf, fand schon in zartester Kindheit an den Arbeiten des Großvaters Freude und Unterhaltung. Die Eltern waren früh gestorben und nun blieb das Enkelkind der alten Leutchen Sonnenschein.

Jede freie Stunde brachte die Kleine in der Werkstätte des Großvaters zu und verfolgte mit großem Interesse des alten Herrn Arbeiten. Oftmals demontierte sie die kunstreich verfertigten Automatens, erhielt Schelte und hie und da einen Klaps auf die Finger.

Loisi erbte das Basteln und ließ nicht mehr davon ab. In die Schule nahm sie kleine Mechanismen mit, unterhielt sich und die Klassengenossinnen damit und wurde oftmals, nachdem der Lehrer die Dinge konfisziert hatte, noch bestraft. Feilen, Bohrer, Fräser und anderes musste der Großvater abholen.

Als die Großeltern starben, ernannte die Vormundschaftsbehörde Herrn Karl Pfleilderer einen entfernten Verwandten des Mädels zu dessen Vormund. Das gesamte Vermögen der alten Leute ging auf Loisi über. Sie blieb in dem Haus wohnen, die Dienstboten verließen sie nicht, und jeder Versuch Pfleiderers, das Mündel zu bewegen, zu ihm zu ziehen, stieß auf energischen Widerstand.

»Dös wär ja noch schöner«, schrie die alte Crescentia, die schon über vierzig Jahre »den Hackerleuten die Wirtschaft geführt hatte, »bei ein’ Junggesellen werden wir das Mädel wohnen lassen! Was die Leute nachher reden möchten!«

In ganz Graz war der vielfache Hausbesitzer als Don Juan verschrien. Es war aber bei weitem nicht so arg, als es die Leute gerne haben wollten. Herrn Pfleiderers ganzes Verbrechen bestand darin, dass er nicht heiraten mochte. Er war ein richtiger Spießer und huldigte nur etwas frieieren Ansichten als seine Mitbürger, setzte sie aber niemals in die Tat um. Er hatte mit einigen Kellnerinnen Techtel-Mechtel gehabt, war jedoch allen Eheschlingen geschickt ausgewichen. Dies wurde ihm von den Grazern im Allgemeinen und von den im dritten Bezirk Wohnenden im besonderen übelgenommen.

Als die Loisi das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatte, sah sie wie eine Siebzehnjährige aus. Man konnte sie nicht gerade schön nennen, doch übte sie einen ungeahnten Reiz auf die Männerwelt aus. Stets stiegen die Herren der Schöpfung diesem über das Mittelmaß gewachsenen Mädel nach, flüsterten ihr manchmal Liebesworte ins Ohr und mussten es dulden, dass ihnen die Begehrenswerte die mit einem Riemen zusammengeschnürten Bücher um die Ohren schlug und ihnen schmerzhafte Wunden und Beulen beibrachte. Wer sich einmal bei Loisi eine derartige Abfuhr geholt hatte, wich ihr in Zukunft aus. —

Karl Pfleiderer kehrte eines schönen Herbsttages aus der Sommerfrische St. Lorenzen zurück und sah starren Auges, wie schön sein Mündel war, wenn es in enthusiastischen Tönen von ihrer Zukunft sprach. Des Vormunds Staunen wuchs, als Loisi ihm mitteilte, dass sie eine technische Vorbildungsanstalt und später eine technische Hochschule besuchen wolle, um Ingenieur zu werdens. Jede Widerrede war fruchtlos.

Oftmals besuchte Pfleiderer sein Mündel, und eines Tages wurde sich der Hagestolz bewusst, dass er in die Loisi sterblich verliebt sei. Verliebt, wie er es noch nie in seinem Leben gewesen.

Monatelang rang er mit dieser Leidenschaft, schalt sich einen Narren, der sich mit unnützen Gedanken, mit unerfüllbaren Wünschen trage. Er ging mit sich zu Rate, kritisierte scharf sein Spiegelbild und kam endlich zu dem Entschluss, mit dem Mündel darüber zu sprechen.

Loisi schüttelte sich vor Lachen, als ihr der Vormund eine regelrechte Liebeserklärung machte, der er den Heiratsantrag folgen ließ. Am siebzehnten Geburtstag Loisis sollte die Trauung stattfinden.

Der alternde Pfleiderer ließ mit seinen dringlichen Werbungen erst nach, als ihm Loisi drohte, die Obervormundschaftsbehörde anzurufen. Jedoch immer wieder, wenn auch in verschämt bittender Form, warb der Verliebte um das Mädchen. —

Vor dem kleinen Toilettenspiegel blieb Loisi stehen und besah interessiert ihr Gesicht. Lange starrte sie ihr Spiegelbild an, dachte angestrengt nach; eine Idee durchzuckte plötzlich ihr Gehirn, sie wandte sich um und eilte in das Wohnzimmer zurück. Sicherlich war der Herr Vormund noch anwesend.

»Sie sagen immer, dass Sie mich so gern haben, Herr Vormund. Wenn dies wirklich und wahrhaftig der Fall ist, dann müssen Sie mir eine kleine Gefälligkeit erweisen.«

»Alles, alles, was du willst, Loisi, wann du mir nur eins versprischst.«

»Mir, nir verspreche ich. Uneigennützig muss die Liebe sein.«

»Rede, Kind, was willst du, aber vergiss net, dass ich dich gern hab.«

»Schon gut, davon reden wir später. Wollen Sie mir meine Bitte erfüllen?«

»Ja, was ist es denn? Wann es in meiner Macht steht.«

»Es steht in Ihrer Macht.« Loisi dachte nach. »Sie sind doch Gemeinderat und Kirchenvater, Herr Vormund?«

»Freilich, freilich, das bin ich, aber was hat denn das damit zu tun?«

»Nur Geduld, Herr Vormund«, sie stockte, »wer hat denn die Heimat- und Geburtsscheine am Magistrat auszufüllen?«

Pfleiderer sah mit wenig intelligentem Gesicht auf sein Gegenüber. Loisi wiederholte ihre Frage.

»Ja, das weiß ich net, wahrscheinlich in jedem Bezirk ein Beamter, der die Matrikelbücher führt.«

Loisi setzte sich auf die Seitenlehne des Klubsessels, in dem Pfleiderer saß.

»Sie sagen, Sie haben mich gern, wollen mich heiraten. Verschaffen Sie mir einen Heimat- und Taufschein auf den Namen Alois Hacker und dann reden wir in zwei Jahren vom Heiraten.«

Offenen Mundes starrte Pfleiderer Loisi an. Er glaubte, sie habe den Verstand verloren. Als er ihr ernstes Gesicht bemerkte, wurde ihm klar, dass sie bei voller Vernunft sei und keinen Scherz treibe. Er fühlte ihren Unterarm an seinem Nacken, sie war ihm so nahe, dass ihn ein Schwindelgefühl erfasste. Mit einem Ruck erhob er sich.

»Na, na, mein liebes Kind, für so dumm brauchst mich nicht zu halten. Zu einem Verbrechen lass ich mich nicht verleiten.« Er sann einen Augenblick nach. »Ja, und dann nach zwei Jahren magst du mich erst recht nicht, hast dich inzwischen in einen anderen verliebt.«

Das Mädchen stand aufrecht vor ihm, sah ihm voll ins Gesicht. Pfleiderer konnte ihrem Blick nicht standhalten.

»Schämen Sie sich denn nicht, Herr Vormund? Sie müssen doch daran denken, was aus einer Ehe zwischen uns werden würde. Freilich, ich bin frühreif, wie alle Leute sagen, sehe etwas älter aus, als ich in Wirklichkeit bin, trotz alledem werden aber Sie nicht jünger in den Jahren, die Sie auf mich warten wollen.«

Ohne Gruß verließ Pfleiderer das Zimmer. Loisi sah ihm nach, lachte dann hell auf und begab sich in ihre Werkstatt. Ihr Traum war es, Edison, Marconi, Tessla und all die anderen großen Erfinder zu übertreffen. Sie bastelte ununterbrochen und arbeitete jetzt an einer Erfindung, die in die Absätze der Herrenschuhe eingebaut werden sollte. Von einem kleinen Steckkontakt, rückwärts am Stiefel, gingen die dünnen flexiblen Drähte nach der Hüfttasche zu einer Batterie, die durch die Schritte des Trägers mit elektrischem Strom geladen, eine kleine Taschenlampe und ein Feuerzeug betrieb. Eine zweite Erfindung sollte die Menschen auf ihren Arbeitswegen und Spaziergängen an alle Dinge erinnern, die sie sich vorgenommen hatten oder besorgen wollten. In der Brusttasche des Rockes sollte eine Sprechmaschine in Brieftaschenformat getragen werden, in der man des Morgens alles hineinsprach, woran man im Laufe des Tages erinnert sein wollte. Bei jedem Satz stellte man den Apparat genau auf die Zeit ein, in welcher man die Besorgung machen sollte, eine Besprechung oder ein Rendezvous vorgesehen hatte.

Loisi dachte sich die Erfindung wundervoll. Damen konnten den Apparat in ihren Handtaschen oder Pompadours tragen. Es wäre herrlich, wenn man in der Elektrischen, im Caféhaus oder auf einem Besorgungsweg plötzlich die eigene Stimme aus Pompadour oder Rocktasche hörte, die da mahnte:

»Vergiss nicht Feigenkaffee mitzubringen!« oder »Richte Tante Amalie einen Gruß aus!« oder »Um fünf Uhr sollst du die Pepi im Krebsenkeller treffen!«

Loisi dünkte es, dass sich die Sache fabelhaft einführen und bewähren müsste.

Die Mittagsstunde riss sie aus ihren Gedanken. Über dreißig Uhren verkündeten, dass es zwölf Uhr sei.

2.

Der Hagestolz, Herr Gemeinderat Pfleiderer, fühlte sich sehr beleidigt. Dieser dumme Fratz müsste sich alle zehn Finger ablecken, wenn er ihn zum Mann bekäme. Er und alt! Wie ein Zwanzigjähriger fühlte er sich, nahm es mit jedem Jungen auf. Lange, lange würde er leben. Die Pfleiderers überschritten vielfach das achtzigste, ja sogar das neunzigste Lebensjahr. Diese Gans, die Loisi, müsste sich glücklich schätzen, wenn er sie nähme! In Graz fischen die Mütter heiratsfähiger Töchter, aus den besten Familien, seit Jahren nach ihm. Die schönsten und reichsten Mädels würden mit Handkuss zugreifen, bewürbe er sich um sie,

Frau Wurz befand sich in großer Aufregung, als Herr Pfleiderer, missmutigen Gesichts, ins Zimmer trat, die Tür kräftig hinter sich zuschlug und mit zorniger Gebärde den Hut auf das Ledersofa warf, so dass die Gamsbarthaare dieses Kopfschmuckes sich energisch gegen die rücksichtslose Behandlung sträubten.

»Mein Gott, mein Gott, wenn ich nur wüsst, wo sie wieder hin sind! Sicher hat sie jemand erschlagen!« jammerte Frau Wurz, trocknete mit dem Schürzenzipfel die Tränen und strich die Haare aus der Stirne.

Pfleiderer sah erbost auf seine Wirtschafterin, stieß zwischen den Zähnen die Worte hervor:

»Was plärren Sie denn schon wieder? Von wem reden Sie denn?«

»Ihnen geht ja die Sache freilich nicht zum Herzen, wenn Sie auch gerne mit ihnen spielen; dazu sind Herr Bindernagel und das Fräulein Mittermaier gut genug.«

»Wann werden Sie endlich aufhören, die zwei Viecher „Herr“ und „Fräulein“ zu titulieren?«

»Lieber Herrgott im Himmel, wie kann man nur so herzlos von den lieben Viecherln reden und Viecher sagen!«

»Alsdann, was gibt es denn? Hören Sie endlich mit dem Weinen auf! Wie oft ist der Hund, auch der Kater schon fortgewesen und Sie haben geglaubt, dass jemand sie erschlagen oder eingefangen hat, aber immer wieder sind sie zurückgekommen. Die werden schon wieder heimfinden.«

»Da glaube ich nimmer daran. Der Herr Bindernagel kommt immer pünktlich um zwölf Uhr zum Essen zurück, wenn er noch so einen langen Ausflug gemacht hat, und jetzt ist es schon halb zwei. Der ist wieder einmal vom Fräulein Mittermaier verschleppt worden.«

»Lassen Sie mir meine Ruh’!« schrie Pfleiderer, setzte sich es mit Vehemenz auf das Sofa, fuhr mit einem meterlangen Fluch hoch und zog die Nadel, welche den Gamsbart am Hut festhielt, aus seinem Oberschenkel.

»Warum hängen Sie denn den Hut nicht auf, Frau Wurz? Muss ich mir eine Blutvergiftung zuziehen?«

Die Wirtschafterin glättete den Steirerhut, machte aber keine Miene, ihn aufzuhängen, sondern hielt ihn ihrem Herrn hin.

»Mit wem wollen Sie denn spielen, sich so gut unterhalten, wie Sie es gewohnt sind, wenn der Herr Bindernagel und das Fräulein Mittermaier verschwunden sind?« rief sie mit weinerlicher Stimme, »da war doch Ihr Herr Vater und Ihre Frau Mutter anders, »die hätten so arme Viecherl nicht vom Schinder umbringen lassen. O Gott, o Gott, und ich habe Ihner doch auf den Händen getragen, wie Sie noch ganz klein waren.«

»Hätten S’ mich doch fallen lassen, Sie alte Raunzen! Statt dass man was zu essen kriegt, muss man die Ludersviecher suchen. Wann ich aber den Herrn Bindernagel erwisch, kann er sich freu’n!«

Frau Wurz lachte unter Tränen.

»A’ Sie tun ihm ja doch nichts, Sie sind ja selbst froh, wenn Sie die zwei wiederfinden.«

Ärgerlich trat Pfleiderer aus seinem Haus am Lindweg. Wohin sollte er sich wenden? Meist nahmen die beiden Tiere auf ihren Exkursionen ihren Weg nach dem nahen Rosenberg, trieben sich einige Stunden spielend umher, bis Herr Bindernagel, ein noch nicht zwanzig Zentimeter hoher, schwarzer Rehpinscher, in seinem Magen die Mittagszeit ankündigen hörte, und ohne auf die weiteren Scherze und animierenden Kapriolen des grauen kastrierten Katers, Fräulein Mittermaier, einzugehen, nach Hause trabte. Es blieb dann dem Kater nichts anderes übrig, als seinem Freund zu folgen.

Im dritten Bezirk kannte und liebte man die beiden Tierchen. Niemand tat ihnen etwas zuleide, sogar die ärgsten Lausbuben hüteten sich, mit Steinen nach ihnen zu werfen oder sie zu quälen. Herr Bindernagel würde sich auch solches ganz energisch verbeten haben. So klein er war, und obwohl er nur zwei Kilogramm wog, kläffte er jeden, der ihn greifen oder schlagen wollte, an und biss kräftig zu. Schlugen seine kleinen spitzen Zähne auch keine großen Wunden, der Biss schmerzte doch sehr. Die Leute erschraken heftig, wenn der kleine Kerl an ihnen hochsprang, und die Kinder ließen ihn in Ruhe.

Fräulein Mittermaier ließ sich gerne, auch von Fremden streicheln, es schnurrte wollüstig, hätte sich auch greifen lassen, wenn nicht Herr Bindernagel gewesen wäre. Verächtlich sah der Zwergrehpinscher auf die Katze, die sich von jedem Menschen betasten ließ, scheel wurde sein Blick, das Weiß des Auges trat hervor, und heftig gruben sich die Zähne in die Hand des Vorwitzigen dem es vielleicht einfiel, den Kater anzufassen.

Wegen der Namen „Bindernagel“ und „Mittermaier“ hatte es schon Prozesse gegeben, sogar das Bezirksgericht hatte sich bereits damit befasst. Frau Wurz hatte die beiden Tierchen aus purer Rachsucht so benannt. Im Haus des Herrn Pfleiderer wohnte ein Komiker vom Stadttheater, der mit Frau Wurz in ständigem Krieg lebte. Ein cholerischer Herr, den es störte, dass Frau Wurz seine Rollen, die er bei offenem Fenster memorierte, mitsprach. Die alte Wirtschafterin hatte dieser Eigentümlichkeit halber auch schon auf der Galerie des Stadttheaters Unannehmlichkeiten gehabt, da sie bei Herrn Bindernagels Auftreten jeden Satz laut mitsprach und, so den dicken Komiker aus dem Konzept brachte. Zweimal war Frau Wurz inmitten der Vorstellung aus dem Theater gewiesen worden.

Obwohl der kleine Rehpinscher „Pitty“ keinerlei Ähnlichkeit mit dem riesenhaften, dicken Herrn Bindernagel hatte, nannte ihn Frau Wurz doch so. Spielte der Hund mit dem Kater im Garten hinter dem Hof, so kam es häufig vor, dass die Wirtschafterin aus dem Fenster der Hausherrnküche laut hinunterrief:

»Herr Bindernagel!!«

Jedesmal schoss der graue Wuschelkopf des Komikers aus dem Fenster seines Zimmers. Immer wieder fiel er darauf hinein.

Das Hündchen hatte sich bald an den neuen Namen gewöhnt und hörte nur noch darauf.

Herr Bindernagel lief aufs Gericht und klagte Frau Wurz auf Ehrenbeleidigung. Bei der Verhandlung hielt der Bezirksrichter der Frau das Niederträchtige ihres Tuns vor Augen und trug ihr unter Androhung von Strafe auf, den Hund nicht mehr Herr Bindernagel zu rufen.

»Ja, warum denn net, Herr Richter, warum denn net? Unsern Fleischhauer sein Hund heißt doch Tyras und das war doch ein Kaiser von Rom.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte der Richter und blickte »die Frau verständnislos an. »Ihr Fleischhauer war Kaiser von Rom?«

»Aber nein. Der Kaiser, was einmal in Rom gelebt hat und die Christen hat verbrennen lassen, der hat doch Tyras geheißen.«

»Sie meinen den Kaiser Nero?«

»Ist schon richtig, ich hab’ ihn nur mit dem Fleischhackerhund verwechselt.«

Es half nichts.

Frau Wurz taufte ihren Hund nicht um, und der Komiker, Herr Bindernagel, verlegte sein Studierzimmer nach der Straßenfront, um nicht mehr genarrt zu werden und allen Ärger zu vermeiden. Er geriet oftmals noch in gelinde Wut, wenn er einen gewissen Ort aufsuchen musste, der an der Hofseite lag, und dann plötzlich in seinem Tun gestört wurde, wenn der Ruf: »Herr Bindernagels!« zu ihm heraufschallte.

Mit dem kastrierten Kater, „Fräulein Mittermaier“, verhielt sich die Sache ähnlich.

Im dritten Stock des Hauses wohnte die Stenotypistin Marta Mittermaier. Man konnte nicht sagen, dass sie hässlich war, nur eine etwas zu große Nase störte im Gesicht. Fräulein Mittermaier war lang und schlank, trug ihren hellblond gefärbten Pagenkopf etwas zu hoch, so dass die Nase um so prominenter in die Welt stach. Sie — nicht die Nase — übernahm allerlei Schreibmaschinenarbeiten und hielt stets nach einem wohlhabenden Freier Umschau. Alle Heiratsannoncen im Grazer Tageblatt beantwortete sie, leider mit negativem Erfolg. Herr Pfleiderer hatte Fräulein Mittermaier einige Male zum Diktat in seine Wohnung gerufen, und seit jenen Tagen stellte diese Hopfenstange — wie Frau Wurz sie despektierlich benamste — dem Hausherrn auf Schritt nnd Tritt nach und klopfte oftmals an die Wohnungstür im ersten Stock.

Frau Wurz wurde diese Aufdringlichkeit zu arg. Sie sann auf Rache und entschloss sich, in diesem Falle, so wie in der Streitsache mit dem Komiker zu handeln.

Sie taufte den Kater „Fräulein Mittermaier“ und schmetterte diesen Ruf, mehrmals am Tage, hell tönend zum Hoffenster hinaus.

Auch hier half die Klage wenig. Frau Wurz zahlte die kleine Geldstrafe und rief den Kater weiter: Fräulein Mittermaier.

»Wie kommen Sie denn dazu, das Tier „Fräulein Mittermaier“ zu nennen? Der Name ist doch deplatziert, es ist doch ein Kater, wie die Klägerin behauptet?«

Frau Wurz bückte sich, nahm einen nicht allzu großen Deckelkorb vom Fußboden, stellte ihn, ehe es jemand hindern konnte, auf den Richtertisch und öffnete den Deckel. Der Kopf eines kleinen Rehpinschers und das würdige dicke Haupt eines Katers kamen zum Vorschein.

»Schaun’n S’ her, Herr Hofrat, eigentlich ist das kein Kater mehr, ganz nimmer, weil ich ihn, wie er noch ganz klein war, kastrieren ließ. Und das da, ist der Herr Bindernagel; er wird sein Namensvetter immer ähnlicher, der lasst auch die Zunge immer ein bisserl aus dem Mund hängen.«

Beschwerden bei Herrn Pfleiderer und Klagen bei Gericht halfen nichts. Frau Wurz verzichtete nicht auf die neuen Namen, die sie ihren vierbeinigen Lieblingen gegeben, sogar Herr Pfleiderer, der anfangs gegen diese Unsitte energisch, aber ohne Erfolg protestiert hatte, gewöhnte sich langsam daran, den Hund „Herr Bindernagel“ und die Katze „Fräulein Mittermaier“ zu rufen. Er liebte die beiden drolligen Tierchen und hatte oft seinen Spaß mit ihnen.

Pfleiderer stand am Ende des Lindwegs, dort wo der Anstieg zum Rosenberg begann. Er pfiff, lockte und rief des öfteren:

»Herr Bindernagel! Herr Bindernagel!«

»Sie suchen wohl Ihr Hunderl?« sprach ihm die Milchhändlerin Frau Pepplinger an, »mit der Katz’ hab ich es vor zwei Stunden am Hasnerplatz vorm Lehrerseminar gesehen, es hat dort mit einem großen Hund gespielt.«

Pfleiderer fluchte. Wie oft schon hatte er die zwei Viecher, wie er sie jetzt in seinem Zorn nannte, suchen müssen! Verführer war immer der Kater.

Heute morgen waren die beiden wieder ausgerückt.

Am Murufer war eine Anzahl Hunde versammelt. Zu ihnen stieß Herr Bindernagel und seine Begleiterin. Man besprach alle wichtigen Tagesfragen und merkte nicht, dass der Todfeind aller Grazer Hunde, der Wasenmeister*) Sauertopf mit seinem Gehilfen, denen in einigem Abstand der Schinderwagen folgte, auftauchte.

 

*) Hundefänger.

 

Alle nahmen sofort Reißaus, nur Herr Bindernagel, naiv, ahnte die Gefahr nicht und erschrak heftig, als eine derbe Hand ihn an der Nackenhaut erwischte, hochhob und in den Wagen warf.

Starren Auges hatte Fräulein Mittermaier diesen Vorgang beobachtet. Sie konnte es sich nicht erklären, wie ein Fremder die Dreistigkeit haben konnte, ihren Spielkameraden überhaupt zu berühren. Kopfschüttelnd folgte der Kater dem Wagen und ließ sich auch mit der Peitsche nicht vertreiben.

Todesangst im Herzen saß Herr Bindernagel in einer Ecke des Wagens. Seine kleinen Jettaugens blickten entsetzt auf die ordinäre Gesellschaft, die ihn umgab. So oft ihm einer der Schicksalsgenossen nahekam, schnappte er wie rasend um sich.

Hinter dem Wagen lief noch immer Fräulein Mittermaier und miaute leicht. Sie weinte um Herrn Bindernagel, weinte mit trauerndem Herzen, lief mit einer ungeheuren Bangigkeit hinter dem Schinderwagen einher und war nur von dem einen Gedanken, von der großen entsetzlichen Furcht beseelt, ihren lieben Freund und Spielkameraden, den sie in ihr kleines Katzenherz geschlossen, zu verlieren.

Solch schwerer Gram eines von vielen Menschen irrtümlich als falsch verschrienen Tieres sollte lehren, wie erhaben die Liebe und Treue im Tierreich ist. Nicht mit den Füßen treten und stoßen, nicht mit Stock und Peitsche schlagen soll man das weinende, bittende und treue, vor den Menschen bettelnde Tier, das Herz sollte man weit öffnen und verstehen lernen, welch große, unendliche Liebe Gott ihm schenkte.

Kein noch so delikater Leckerbissen wäre imstande gewesen, den Kater von dem Hundewagen wegzulocken, unentwegt lief er mit, Herz und Seele bluteten ihm und vergingen vor Schmerz.

3.

»Haben Sie vielleicht mein kleines Hunderl gesehn?«, fragte besorgt Herr Pfleiderer eine alte Zeitungsausträgerin.

»Na, na, Herr Gemeinderat, aber der Schinder ist vor einer halben Stund’ an der Mur hinuntergefahren und da ist eine große Katze nachg’rennt. Wann ich net irr, so war dies Ihner Katzerl mit dem g’spaßigen Namen.«

Pfleiderer nahm an der nächsten Straßenecke ein Auto und sauste zur Wasenmeisterei. Er erreichte das einsame Gehöft, als eben der Schinderwagen mit den kläffenden Hunden durch das Hoftor einfuhr. Fast hätte das Auto den hinter dem Wagen laufenden, ganz verstaubten Kater überfahren.

»Fräulein Mittermaier!« rief Pfleiderer heiseren Tones, als der Emmerich den Kater greifen wollte. »Lassen Sie das Katzerl in Ruh!« setzte der Gemeinderat hinzu und nahm das Tier auf seinen Arm.

»Das Hunderl kann ich Ihnen nicht geben, wenn Sie mir nicht die Marken zeigen und die Bestätigung, dass er Ihnen gehört.« Der Hundefänger sprach gesetzt und ruhig. Er freute sich, dem Herrn Gemeinderat, der seinerzeit nicht nur gegen eine Erhöhung der Bezüge der Wasenmeisterei gestimmt hatte, sondern scharf gegen die brutale Art des Hundefanges aufgetreten war, eins auszuwischen.

»Aber, Sie kennen mich doch, ich bin der Gemeinderat Pfleiderer, ich will ja sofort die zehn Schilling Strafe erlegen, die Marken schicke ich Ihnen mit meiner Wirtschafterin heraus.«

»Ich habe meine Vorschriften, die hat ja der Gemeinderat selber ausgetüftelt.«

»Jetzt machen Sie keine Geschichten und folgen Sie mir das Hunderl aus, sonst können Sie von mir was erleben.«

Der Wasenmeister reckte sich.

»Hier bin ich Herr im Haus, den Hund folge ich Ihnen unter Protest aus. Sie müssen mir das schriftlich geben.«

»Von mir aus schreiben Sie, was Sie wollen, nur den Hund will ich sofort haben.«

»Erst wenn Sie unterschrieben haben.«

Herr Sauerton setzte ein langes Schreiben auf, das wie ein Anklagebrief lautete. Er ließ sich sehr viel Zeit dabei. Pfleiderer klopfte ungeduldig mit den Händen auf den Schreibtisch. Er unterschrieb das Papier, nachdem er den Protest gelesen. Emmerich brachte den eingeschüchterten Herrn Bindernagel in seinem Arm. Das Hündchen zappelte, als es seinen Herrn und den Freund sah. Fräulein Mittermaier schnurrte, und die beiden überhäuften sich mit Liebkosungen, als sie neben ihrem Herrchen im Auto saßen.

Frau Wurz weinte Tränen des Wiedersehens, als die zwei Ausreißer sich über ihren Fressnäpfen zankten. Bei der Fütterung hörte die gegenseitige Zuneigung auf.

Nach Tisch begab sich Pfleiderer auf das Rathaus. Er beabsichtigte gegen den Wasenmeister sofort Schritte zu unternehmen, eventuell Klage wegen Nötigung gegen ihn einzureichen.

»Wo ist denn das Veterinäramt?« fragte der Gemeinderat den Ratsdiener Kratochwil.

»Diener, Herr Gemeinderat von Pfleiderer, im zweiten Stock, Tür Nummer 68.«

Im ersten Stock, gegenüber dem Treppenaufgang, war ein Pappschild „Matrikelamt“ angebracht.

Pfleiderer blieb stehen, die Loisi fiel ihm ein. Hatte sie nicht oder er selbst am Vormittag vom Matrikelamt gesprochen? Richtig, sie wollte doch einen gefälschten Heimatschein haben. Na, da konnte sie lange warten, er, der Herr Gemeinderat und neunfache Hausbesitzer Pfleiderer, würde eines solchen Gänschens halber nicht zum Fälscher werden.

Was sind der Menschen gute Vorsätze, wenn die Liebe von ihnen Besitz ergreift? Noch dazu wenn der Liebende in einem Altersstadium sich befindet, das gefährlichen Klippen gleich ist. Klippen, die ein Abgleiten des kühnsten Steigers nicht zu verhindern vermögen.

Langsam stieg Pfleiderer die Stufen vom zweiten ins erste Stockwerk hinab. Er hatte oben seinem Herzen in kernigen Worten Luft gemacht, die Eingabe an die zuständige Stelle unterschrieben, die es dem Herrn Wasenmeister in Zukunft unmöglich machte, seiner niedrigen Rachsucht freien Lauf zu lassen, hochherrschaftliche Massehunde einzufangen und sie nur gegen einen erpresserischen Revers herauszugeben.

Das Auge fiel, noch bevor er die erste Etage wieder erreicht hatte, auf Tür Nummer 68. Die Buchstaben des Wortes „Matrikelamt“ redeten eine eindringliche Sprache. Plastisch traten sie aus dem Pappkarton hervor, sprangen sozusagen dem Zögernden ins Gesicht.

»Anschaun kann ich mir ja einmal die Geschichte, deswegen kriegt die Loisi doch nicht ihren Willen«, sprach Herr Pfleiderer zu sich selbst und trat in die Tür.

»Grüß Gott, Herr Gemeinderat. Was verschafft mir denn die Ehre?«

»Grüß Ihnen auch Gott, Herr Kirchner, wie geht es denn? Was macht die Frau Gemahlin?«

»Ja, haben Sie denn vergessen, Herr Gemeinderat? Die ist ja schon vor zwei Jahren gestorben. Gott lass ihr die selige Ruh; aber, der Herr Gemeinderat war ja damals selber auf der Leich.«

»Ja, richtig, Sie müssen schon mitschuldigen, Herr Kirchner, unsereins hat soviel im Kopf, da vergisst man schon manches.«

Der Witwer kicherte.

»Ich bin ja schon wieder verheiratet, bald erwarten wir was Kleines, vielleicht in einer Wochen, vielleicht schon früher. Meine Frau kann sich so gar nicht recht besinnen.« Er klopfte auf ein riesenhaftes dickes Buch, welches vor ihm auf dem schrägen Stehpult lag. »Bald wird da wieder eine Seite vollgeschrieben, ein neuer Grazer Bürger drin verewigt werden.«

»Aha, die Geburtsmatrikel«, sagte Herr Pfleiderer so nebenhin. Er hatte schon längst das in Rundschrift verschnörkelte Wort auf dem Etikett gelesen.

»Mit was kann ich denn dem Herrn Gemeinderat dienen?«

Pfleiderer hatte kurz und rasch überlegt.

»Kann man da nicht Göd1 sein?«

»Ja, das wär uns eine große Ehr.«

»Wie wird denn solch eine Eintragung eigentlich gemacht, Herr Kirchner?«

»Haha! Der Herr Gemeinderat ist ja ein Junggeselle, der braucht sich bei der Geburt seiner Kinder nicht zu uns herbemühen. Also Sehen S’, hier sind die vielen Rubriken, bis zum Sterbedatum.«

Der Matrikelführer rückte mit seinem Zeigefinger über das weiße Blatt hin.

»Stellen Sie auch den Heimatschein aus?«

»Wenn derjenige ein Grazer ist, selbstverständlich.«

»Das müssen alles Sie allein machen?«

»Ih, woher denn? Ich unterschreibe nur als Matrikelsührer und mach den Stempel drauf.«

Die Augen Pfleiderers hatten schon längst eins Fach entdeckt, unter dem aus einem Papierstreifen das geteilte Wort „Geburtsurkunden-Formulare“ geschrieben stand.

»Das ist aber eine ganz interessante Beschäftigung, die Sie da haben. Lassen S’ doch einmal sehen, wie das gemacht wird.«

Geschäftig holte der Beamte einen Heimatschein aus dem Fach und begann zu erklären:

»Also, hier oben kommt der Zweischillingstempel, die Rubriken werden genau ausgefüllt, unten kommt die Stampiglie da und darunter meine Unterschrift.«

Den Kautschukstempel behielt Pfleiderer im Auge. Er war kein Verbrecher, der Schweiß stand ihm vom angestrengten Nachdenken auf der Stirne und der Atem bahnte sich schnaufend durch die Nase den Weg. Eine Idee kam ihm.

»Sagen Sie doch einmal, ist nebenan nicht der Registrator Nowotni tätig?«

»Nein, der ist auf Zimmer 72.«

»Möchten Sie nicht so gut sein und den Nowotni herholen, ich möchte ihn nicht gerne vor den anderen Herren in seiner Kanzlei sprechen.«

»Seht gern, Herr Gemeinderat, aber der Nowotni hat doch ein Zimmer allein.«

Den Nacken herauf kroch Herrn Pfleiderer eine dicke Blutwelle, färbte Hals und Gesicht rot, ließ die Schweißtropfen auf der Stirne scharf hervortreten.

»Es ist schon besser, Sie sind so gut und holen ihn hierher, vielleicht ist doch jemand bei ihm.«

»Sehr gern, Herr Gemeinderat, sehr gern.«

Der Beamte schlurfte aus dem Zimmer. In seinem Herzen frohlockte es. Nun konnte er dem Verwandten in der Provinz abschreiben, den reichen Paten, den Hausherrn Pfleiderer, wollte er sich nicht entgehen lassen. Wenn es nur kein Mädel wurde! —

Was sind gute Vorsätze, was bedeutet dem Menschen Moral, die Furcht vor der Gefahr, vor aller Welt als unehrlich, als Dieb und Fälscher entlarvt zu werden? Wo bleibt alle angeborene Ehrlichkeit, der anerzogene Begriff von Mein und Dein, wenn ein Gedanke in ihm Wurzel gefasst hat und ihn Religion und Gesetz vergessen lässt?

Tief atmend, sich etwas unauffällig und scheu umsehend, stand Pfleiderer vor dem Gebäude. In seiner Brusttasche knisterte das bereits mit dem Gummistempel versehene Heimatscheinformular. Er, dessen Ehrlichkeit niemals ein Mensch angezweifelt hätte, war zum Dieb, zum Verbrecher geworden. Stoßweise blies er den Atem aus der Nase. Ohrfeigen hätte er sich ob seiner Dummheit können. Als der Matrikelführer Kirchner mit dem Beamten Nowotni ins Zimmer getreten war, wusste Pfleiderer nicht, was er sagen sollte. Unzusammenhängendes, eine Einladung: dem Kegelklub „Alle Neune“ beizutreten, stotterte er zwischen den Zähnen hervor.

Langsam umging er das Denkmal vor dem Rathaus, keinen Blick wandte er nach dem monumentalen Gebäude zurück. Er wollte nicht durch ungewohnte Eile auffallen. Er sah allen Menschen starr ins Gesicht und suchte von den Mienen der Vorübergehenden abzulesen, ob man ihm seine Missetat ansähe. Noch zitterte es in ihm nach, wenn er daran dachte, dass leicht jemand hätte, zur Türe hereintreten können, als er den Schein aus dem Fach zog und dann abstempelte.

So ward der ehrliche Stadtväter und angesehene Hausbesitzer Pfleiderer zum Dieb. — Der Spross braver Eltern, die sich sicherlich jetzt im Grab umdrehten, war auf Abwege geraten. Zorn, unbändige Wut packte den Mann, als er sich seines Mündels erinnerte, dessenthalben er die Tat begangen. Die kann lange warten, bis er ihr den Schein gibt. Nein, nein, er will seiner Untat nicht noch eine neue hinzufügen.

Tief atmend, ein wenig schnarchend, dazwischen leise schluchzende Töne ausstoßend, lag Herr Bindernagel in der Sofaecke auf seinem Daunenkissen, von einem zusammengefalteten karierten Umschlagtuch bedeckt. In ihm wirkte, sogar noch im Schlaf, das entsetzliche Abenteuer vom Tage nach. Der Schreck war zu arg, die Tortur für den kleinen verwöhnten Kerl zu groß gewesen. Fräulein Mittermaier schnurrte in der anderen Sofaecke, putzte sich die letzten Reste des Straßenstaubes aus dem Fell und warf von Zeit zu Zeit besorgte Blicke auf ihren schlafenden Freund.

Guten Vorsätzen haftet dass Odium kurzer Lebensdauer an. Der Gedanke, Loisi von dem erbeuteten Heimatscheinformular nichts zu sagen, räumte bald dem Wunsch, ihr davon Mitteilung zu machen, den Platz. Doch nur unter der Bedingung, dass sie ein bestimmtes Heiratsversprechen gebe. Plötzlicher Schreck befiel Pfleiderer. Er entsann sich, dass ihm sein Mündel nicht nur vom Heimat, sondern auch von einem Taufschein gesprochen. Er hatte also nur halbe Arbeit geleistet. Wie sollte er sich in den Besitz eines solchen Dokuments setzen? Es ist doch nur im Pfarrhaus möglich, einen Taufschein zu erlangen.

Mit energischem Kopfschütteln wies der Verliebte den Gedanken von sich, sich ein zweites Mal ins Gefahr zu begeben. Das Teufelsmittel sollte das Papier von irgendjemand anderem beschaffen lassen. Keine Hand werde er mehr rühren.

Der Zufall gebärdet sich oftmals im Leben als deus ex machine. — Am Abend, bevor Herr Pfleiderer sich in das Restaurant im Hotel zur Post zum Tarock begab, meldete ihm Frau Wurz, dass Herr und Frau Kirchner den Herrn Gemeinderat zu sprechen wünschen.

Der weit vorgeschrittene gesegnete Umstand, in dem sich die Frau Matrikelführer befand, erinnerte den Herrn Gemeinderat, welch neue Verpflichtung er auf sich genommen. Er verwünschte sich und die Loisi, die ihn in eine solche Situation gebracht und ihm da eine neue, wenn auch etwas sehr entfernte Verwandtschaft auf den Hals geladen hatte. Er wusste genau, kannte es aus Erfahrung, dass nicht nur die Patenkinder stets lästig fallen, sondern, dass auch der Sprösslinge Eltern häufig aufdringlich seien.

»Freilich, freilich, Frau Kirchner, wenn es eins Bub wird, heb ich ihn aus der Taufe«, sagte, allen Ingrimm verbeißend, Pfleiderer.

»Na, was soll es denn sonst werden, als ein Bub?«, prahlte der künftige Vater großsprecherisch.

1 Taufpate.

 

4.

Oberlehrer Polsterhans warf einen strengen Blick über seine schief sitzenden Brillengläser auf Loisi. In seiner Hand hielt er eine gewöhnliche amerikanische Weckeruhr, an deren Metallfüßen ein kleiner Kasten befestigt war. Der Zeiger wies auf eine Minute vor zwölf.

»Was soll diese Kinderei, Loisi Hacker? Ich habe während der ganzen Unterrichtsstunde beobachtet, wie Sie mit dem Zeugs da herumhantierten, anstatt meinen Worten zu folgen; können Sie …«

Der Gestrenge wurde in seiner Strafpredigt unterbrochen, seine Augen blickten entsetzt auf den Wecker in seiner Hand. Aus dem Kästchen hörte er seinen eigenen Vortrag über Physik. Sein Schnarren und Räuspern, sein krächzendes Organ, der monotone Ging-Sang ward haargenau wiedergegeben. Mit einer wütenden Gebärde stieß er die neueste Erfindung Loisis auf den Tisch, so dass das Kästchen in Trümmer, die Wachsplatte darin in Stücke ging.

Ob dieses fluchwürdigen Verbrechens musste Loisi ihren Platz im Lyzeum für immer räumen, ihn einer weniger erfindungsreichen, aufmerksameren Schülerin überlassen.

»Wie kannst du denn solche Dummheiten machen, den Herrn Professor verspotten? Jetzt nimmt dich keine Schule in Graz mehr auf.«

»Daran liegt mir nicht das geringste, Herr Vormund. Ich hab es satt, in diesen Kleinkinderschulen herumzusitzen und den Blödsinn länger mitzumachen. Ich bin auch viel zu groß und ein Lachobjekt für alle Mitschülerinnen. Was soll ich denn im Lyzeum, dort kann ich nichts zulernen, was mich in der Technik weiterbringt.«

»Ja, hast denn diese verrückte Idee noch immer nicht aufgegeben?«

»Ich denke nicht daran, und wenn mir der Herr Vormund nicht hilft, na, dann geh ich einfach zum Schlossermeister Blaschek in die Lehre, der hat mir versprochen, dass er mich aufnimmt und es bei der Innung durchsetzt, dass ich aufgedungen werde.«

Mit verliebten Augen sah Pfleiderer zu dem Mädchen auf. Donnerwetter, die wird hübscher von Tag zu Tag! Wie stramm ist sie doch! fuhr es ihm durch den Sinn. Ein köstliches Bild war es, die Loisi anzusehen. Sie hielt im rechten Arm Herrn Bindernagel, im linken Fräulein Mittermaier und hatte Mühe, den schnappenden und kläffenden Rehpinscher zu verhindern, dass er den pflegmatisch schnurrenden Kater ins Ohr biss. Von Zeit zu Zeit fuhr der Hund mit seiner langen Zunge Loisi über die Wange oder beschnüffelte ihr Haar.

»Hat der Herr Vormund vergessen, was ich wegen der Dokumente gesagt habe? Glauben Sie nicht, dass es besser ist, ich besuche ein Technikum, anstatt dass ich jahrelang als Schlosserlehrling am Schraubstock stehen und nachher noch, weiß Gott wie lange, murksen muss, bis ich mich durchsetze?«

Pfleiderer ließ seinen Blick nach dem alten Biedermeierschreibtisch schweifen. In einer der kleinen vielen Schiebladen des Aufsatzes lag das von ihm gestohlene Heimatschein-Formular. Noch hatte Loisi keine Ahnung davon, mit keinem Wort hatte er der Sache Erwähnung getan. Er wusste es ganz genau: erzählte er ihr davon, würde sie nicht ablassen, ihn zu quälen und zu drängen, ihr auch »den Taufschein zu besorgen. Nein, nein, sagte er sich energisch, auf keinen Fall würde er sich wieder verleiten lassen, etwas zu begehen, was ihn mit den Gesetzen in Konflikt bringen könnte.

Ein Klopfen unterbrach Herrn Bindernagels Gekläff für einen Augenblick, das aber noch stärker einsetzte, als die Wirtschafterin das Zimmer betrat.

»Bist endlich ruhig, Lump elendiger!« schrie Pfleiderer, dessen Zuruf »den Hund veranlasste, noch lauter zu hellen.

»Grüß Gott, Loiserl, du lasst dich ja selten sehn bei uns. Wie geht’s dir denn? Ja, was ich sagen wollt: Der Herr Kirchner ist draußen, er hat einen ganz roten Kopf und schwitzt. Ganz aufgeregt ist er, kann …«

Der Satz blieb unbeendet. Im Türrahmen stand der echauffierte Matrikelführer, wischte sich den Schweiß mit dem Rockärmel von der Stirne und sah mit erschreckend großen Augen ins Zimmer.

»Sie müssen entschuldigen, dass ich so sans façon ins Haus fall, aber ich komm grad vom hochwürdigen Herrn Pfarrer Latzinger, von der St. Andräkirchen, dort sind wir in unserm Bezirk zugehörig … gehst weg du Mistviech!«

Kirchner schüttelte seine Hand. Er war in seiner Erregtheit der Loisi Arm nahegekommen, was ihm von Herrn Bindernagel sehr übel genommen wurde, der mit seinen Zähnen kräftig des Aufgeregten Daumen erwischte und nicht wieder loslassen wollte.

»Ein solch kleiner Teufel!« Kirchner merkte, dass er sich auch mit dem Hund des Herrn Taufpaten gut vertragen musste. »Ein liebes Hunderl ist das, das half was auf seine Familie. Ja, was ich noch sagen wollte, Herr Gemeinderat, der Herr Pfarrer hat gesagt, dass Sie nur bei einem Buben Pate stehen dürfen.«

»Das habe ich ja auch zugesagt, Herr Kirchner.«