Der rote Hahn - Axel Rudolph - E-Book

Der rote Hahn E-Book

Axel Rudolph

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Die Wege von Ragna Hvid und Walter Münch kreuzten sich jähe an einem sonnigen Tag in Vordingborg. Sie ist auf dem Weg zurück von Seeland nach Jütland, nachdem Ihre Mutter in einem Irrenhaus gestorben ist, er hat sich mit Skipper Hinrichsen auf dessen Kutter verkracht. Der Zufall führt die beiden zusammen auf eine Reise durch die ländliche Idylle Dänemarks. Ragna ist dankbar für das dunkle Schweigen des jungen Mannes, der nun ziel- und arbeitslos durch die Gegend schweift. Doch schon bald türmen die Ereignisse sich auf. Sie beschafft ihm Arbeit in der Nähe ihres Heimatortes – der Alltag des Hofes wird schnell zu dem seinen, und Karen, die Tochter des Bauern Poul Nielsens, Verlobte des reichen Grossbauern Jensen-Möllegaards, lädt zum Erntetanz... Jedoch steht sie einer schweren Wahl gegenüber: Eine Vernunftshochzeit kann den Hof weiterführen, mit Walter durchzubrennen, wäre ihrem Herzen zu folgen. Poul Nielsen will von der Liebe der beiden nichts hören und beharrt auf die Verlobung mit Jensen-Möllegaard. Noch in der Erntefestnacht, in der er Walter, als dieser um Karens Hand anhält, vor die Tür setzt, hört er über sich die Dielen knarren. Karen geht über ihm hin und her, packt ihren Koffer und schweren Schrittes verlässt sie den väterlichen Hof, um ihrem Herzen, ihrer Liebe zu folgen. Unten in Südjütland oder Nordschleswig, da gibt's Deutsche und Dänen, die freundlich und nachbarlich beisammen wohnen, da wäre keiner von ihnen in der Fremde, sinnt Walter – doch noch in derselben Nacht steht der Hof lichterloh in Flammen und Walter ist über alle Berge und das Leben auf dem Land wird in dieser Erntedanknacht aufgewühlt und nie mehr dasselbe.In feinster Detektivarbeit wird der Verlauf der Nacht nun aufgerollt. Zeugen befragt, Spuren verfolgt – Walter hat scheinbar nichts mit dem Brand zu tun. Ragna, die nie weit weg war, ist erleichtert – doch wer war es dann, der Versucht, Walter die Tat in die Schuhe zu schieben und dem dies beinahe glückt? Was ist das Motiv? Jemand will Walter an den Kragen und die Aussichten auf drei Jahre Zuchthaus rücken zunehmends näher. Ragna setzt alles daran, Walter zu helfen, doch kommt sie zu spät und ist ihre Hilfe wirklich so uneigennützig, wie es zuerst den Anschein hat, oder weiß sie mehr über den Hof, als sie dem Ermittler gegenüber eröffnet? Viel hängt an der Arbeit des Detektives – doch ob er es rechtzeitig schaffen wird, das Schicksal der Liebenden ins Lot zu bringen? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt...-

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Axel Rudolph

Der rote Hahn

Roman

Saga

Walter Münch kommt von Masnedsund her. Vor ihm liegen die roten Ziegeldächer von Vordingborg mit dem darüberwuchtenden Gemäuer des altehrwürdigen, runden und dicken Gänseturmes aus den Tagen König Waldemars, um ihn die blühenden Felder und satten Wiesen Seelands, hinter ihm der kleine Fischereihafen Masnedsund, in dem der Fischkutter „Baltasar“ liegt, mit dem rotnasigen, groben Skipper Hinrichsen an Bord.

Münch hat vor einer Stunde einen furchtbaren Krach mit diesem Skipper gehabt. Das heißt: Eigentlich ist immer Streit und Zank gewesen zwischen ihm und dem Alten, seitdem die „Baltasar“ hier in den dänischen Gewässern kreuzt. Heute aber war das Maß voll gewesen. Skipper Hinrichsen hat außer den Salzheringen, die er in Masnedsund gekauft hat, auch noch eine hübsche, runde Ladung Sprit an Bord nehmen wollen. Da hat Münch energisch aufgemuckt. „Ich fahr auf ’nem Fischkutter, Skipper, nicht auf ’nem Spritschmuggler! Verstanden?“ Und als der Alte saugrob geschimpft und erklärt hat, er verzichte darauf, einen so frechen und unbotmäßigen Maat an Bord zu haben, hat Walter Münch kurzerhand seinen kleinen Seesack über die Schulter geworfen und der „Baltasar“ den Rücken gedreht.

Rechts von der Straße blinkt durch grünen Buchenwald hindurch das blaue Wasser des Sundes. Halb versteckt hinter den Bäumen, lugen langgestreckte Gebäude, still zurückgezogen, von der Straße durch Wald und wohlgepflegte Gärten getrennt: die Landes-Irrenanstalt Oringe. Walter Münch sieht, wie eben ein Mann in dunkelblauen Tuchhosen und einer weißen Uniformjacke aus dem freundlichen Pförtnerhäuschen kommt und das grüne Gittertor öffnet. Ein Mädchen tritt auf die Straße hinaus.

Auch sie geht langsam in der Richtung auf Vordingborg zu, kaum zehn Schritt vor Walter Münch. In einer Minute kann er sie mit seinen weitausgreifenden Schritten überholen. Aber er tut es nicht. Er verlangsamt sogar sein Tempo. Das Gesicht des Mädchens kann er nicht sehen, aber ihre ganze Haltung drückt eine so tiefe Trauer und Niedergeschlagenheit aus, daß er ein Gefühl hat, als müsse er auf den Zehenspitzen an ihr vorbeischleichen. Die Hand, die eine kleine braune Reisetasche hält, hängt schlaff neben dem hellen Sommerkleid hernieder, der etwas vornübergebeugte Rücken zuckt in kurzen Zwischenräumen, die Füße machen kleine, unsichere Schritte.

Jetzt bleibt das Mädchen stehen, mitten auf der einsamen Allee; ein leises Schwanken geht durch ihren Körper. Walter Münch macht ein paar lange Schritte und rafft die Sprachkenntnisse zusammen, die er sich voriges Jahr erworben hat, als er auf der dänischen Brigg „Saltholm“ fuhr.

„Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein?“

Aus einem traurigen, blassen Gesicht starren ihn ein Paar große, dunkle Augen einen Augenblick verständnislos an.

„Geben Sie mal Ihr Köfferchen her, Fräulein!“ Walter Münch löst sanft die Reisetasche aus der schlaffen Hand des Mädchens und weist mit dem Kinn nach der Stadt hin. „Ich glaube, wir haben denselben Weg.“

Das Mädchen antwortet nicht. Willenlos schreitet sie neben dem Manne her, der sich bemüht, seine langen Schritte ihrem Gang anzupassen. In ihren Ohren klingen immer noch die Worte, die vor wenigen Minuten der weißhaarige, gütige Chefarzt da drüben gesprochen hat: „Wir hatten ja Ihre neue Anschrift nicht, Fräulein Hvid. Die Benachrichtigung ging an die Landwirtschaftliche Hochschule in Kopenhagen, wo Sie früher waren. Glauben Sie mir, es war so das Beste für Ihre Frau Mutter. Gesund wäre sie leider nie geworden, und sie hat furchtbar gelitten.“

‚Sie hat furchtbar gelitten.‘ Nichts anderes ist in Ragna Hvids Bewußtsein zurückgeblieben, nichts von all den tröstenden, guten Worten, die der Chefarzt nachher noch zu ihr gesagt hat, nichts als dieser eine Satz.

„Meine Mutter ist in der Irrenanstalt gestorben,“ sagt sie ganz plötzlich laut mit einer spröden, trockenen Stimme. Walter Münch wirft einen mitleidigen Seitenblick auf das Mädchen und schweigt. Was soll man dieser traurigen, leiddunklen Stimme antworten? Zu schönen Sprüchen reicht sein bißchen Dänisch nicht, und was bedeuten auch alle gutgemeinten Worte einem solchen Fall. Münch ist erst vierundzwanzig, aber auch er weiß schon, wie es tut, wenn man seine Mutter verliert.

Stumm gehen sie nebeneinander her, Ragna Hvid ist dem Mann dankbar für sein ernstes Schweigen. Da ist die Ruine der alten Waldemarsburg, da die Algade mit ihrem provinzialen Leben, da der kleine Bahnhof. Und plötzlich packt Ragna Hvid eine jähe Angst vor dem Alleinsein auf der langen Fahrt nach Jütland, vor den neugierigen Blicken der Mitreisenden, den unvermeidlichen Fragen, vor allem aber vor dem Alleinsein mit ihren Gedanken. Kann man das aushalten, nach dieser Stunde ruhig, als sei nichts besonderes geschehen, in einem Abteil zu sitzen, zwischen schwatzenden, fremden Menschen, auf dem Fährschiff die leuchtenden Lichter sehen, das fröhliche Gedränge um den langen, hübsch gedeckten und mit Sommerblumen geschmückten Kaffeetisch in der Kajüte? Muß man nicht laut aufschreien? Oder irgend etwas tun, etwas Gewaltsames, Schreckliches, um sich Luft zu schaffen? Die Notbremse ziehen, die Scheiben einschlagen, zertrümmern, zerschellen? Damit die anderen es auch merken, daß das Leid an Bord ist?

„Wenn ich Ihnen sonst noch behilflich sein kann, Fräulein?“ sagt Walter Münch fragend, indem er das Köfferchen zurückgibt. Ragna Hvid schaut auf, zum ersten Male voll und mit Bewußtsein ihrem Begleiter ins Gesicht.

„Sie sind nicht hier aus Vordingborg, nicht wahr?“

„Nicht weit von hier, Fräulein. Bloß die Ostsee liegt dazwischen.“

Ragna merkt erst jetzt, daß der Mann das Dänische mit einem typisch deutschen Akzent ausspricht. Sie nickt verstehend.

„Ja, man hört es, daß Sie aus Deutschland sind.“

„Das freut mich.“ Walter Münch fühlt das Bedürfnis, das junge Mädchen etwas abzulenken von seinen schweren Gedanken. „Ich heiße Walter Münch. Bin eben erst da hinten in Masnedsund abgemustert. Konnte mich mit dem Skipper nicht vertragen. Na, und jetzt will ich mal so’n bißchen durch Dänemark tippeln und zusehen, wo ich Arbeit kriegen kann.“

„Auf einem Schiff?“

„ Muß nicht unbedingt sein. Hab sogar ziemlich die Nase voll von der christlichen Seefahrt. Ich bin nun mal kein Seemann, Fräulein. Hab nur so zugegriffen vor ein paar Jahren, weil ich nicht arbeitslos in Kiel herumliegen wollte. Eigentlich bin ich gelernter Maschinenschlosser. Und meine Eltern waren Bauern. Am liebsten möchte ich wieder aufs Land.“

Das Läutewerk neben dem Bahnhof schlägt an. Menschen drängen durch die Tür in die kleine Vorhalle. In fünf Minuten muß der Zug da sein und hält nur kurz hier in Vordingborg. Ragna Hvids Gesicht zuckt nervös. Während sie ihrem Begleiter die müde Hand zum Dank hinstreckt, fährt ihr der Gedanke durch den Kopf, daß es gut sein müßte, diesen Mann auf der langen Reise neben sich zu wissen, diesen Mann, der zu schweigen versteht, weder neugierige Fragen stellt, noch billige Trostworte gibt. Man wäre nicht allein und brauchte doch nicht zu reden, wenn man nicht will. Impulsiv sieht sie zu Walter Münch auf.

„Wenn Sie wirklich auf dem Lande arbeiten wollen, dann sollten Sie zu uns hinüberkommen nach Jütland. Vielleicht könnte ich Ihnen behilflich sein.“

Münch ist ein Mann, der gewohnt ist, rasche Entschlüsse zu fassen. Er denkt nicht lange nach. Einen bestimmten Plan für die nächst Zukunft hat er sowieso nicht. Es ist gleichgültig, ob er hier auf Seeland nach Arbeit sucht oder erst mal nach Jütland fährt und sich dort umsieht. Und das traurige Mädchen da gefällt ihm.

„Wenn Sie meinen, daß in Jütland was zu machen ist, Fräulein — ich kann’s ja versuchen. Nur ...“

„Ich will gern die Fahrkarte für Sie auslegen, wenn Sie vielleicht ...“

„Das lassen Sie man, Fräulein!“ Walter Münchs Tatze legt sich rasch auf die Hand, die unwillkürlich nach dem Täschchen gegriffen hat. „So abgebrannt bin ich nun nicht, daß ich meine Fahrkarte nicht selber bezahlen kann. Ich meinte nur: Ich kann Ihnen doch nicht auf der Reise lästig fallen. Sie wollen doch sicher jetzt allein sein.“

„Nein — nicht allein!“ stößt Ragna Hvid fast angstvoll hervor. „Aber wir müssen uns beeilen, wenn Sie wirklich mitfahren wollen. Der Zug ...“

*

Ganze zwölf Kronen kostet die Fahrt von Vordingborg nach Randers, das Ragna als Ziel angegeben hat. Münch hat nur eine unbestimmte Ahnung, wo Randers liegt. Irgendwo ganz im Norden der jütischen Halbinsel.

„Eigentlich hatte ich mir ja erst mal das Städtchen da so’n bißchen ansehen wollen,“ denkt er, als er im Zuge sitzt und die zierlichen, rotbedachten Häuschen verschwinden sieht. „Statt dessen geb ich gleich ein Viertel meiner ganzen Barschaft auf einen Schlag aus und fahr nach Jütland. Na, es kommt immer anders im Leben, als man sich’s denkt, und das Mädchen ...“

Münch betrachtet verstohlen die ihm gegenüber Sitzende. Sie hat die Augen geschlossen und lehnt mit blassem, müdem Gesicht in ihrer Ecke. Schön ist dieses Gesicht nicht. Die breite Stirn trägt bereits ganz feine Faltenlinien, der Mund ist schmal und hart, und der Hals, der aus dem Einsatz des Sommerkleides hervorschaut, ist ein wenig hager. Aber irgend etwas Rührendes geht von diesem leidvollen, bitteren Gesicht aus, das ihn sympathisch berührt. Außerdem hat das Mädchen eine gesunde, kräftige Gestalt.

Die Reise von Vordingborg bis nach Jütland ist lang und umständlich. Umsteigen und stundenlanges Warten auf der kleinen Station Slagelse, bis man Anschluß erhält an den von Kopenhagen kommenden Schnellzug. Dann wieder in Korsör umsteigen auf das Fährschiff. Drüben, jenseits des Großen Belt, wieder in den Zug. Quer über die Insel Fünen bis zum Kleinen Belt. Abermals Fahrt mit dem Fährschiff von Middelfart nach Fredericia hinüber. Es ist bereits Nacht, als man den Kleinen Belt erreicht.

Ragna Hvid hat geschwiegen, stundenlang, und Walter hat dieses Schweigen geachtet. Wenn er ein Mann von Welt gewesen wäre, so hätte er ja wohl versucht, das Fräulein durch gewandte Erzählungen aufzuheitern und von seinem Leid abzulenken. Aber er ist nur ein einfacher Arbeitsmann. Er kann keine schönen Sprüche machen, keine „Konversation“ herbeizaubern, er kann nur taktvoll schweigen, wenn er nichts Vernünftiges zu sagen weiß. Aber selbst für das größte Leid wird dieses dauernde Schweigen unerträglich. Ragna Hvid fühlt selber, daß es besser sein wird, ein Gespräch anzuknüpfen, um ein wenig von den traurigen Gedanken abzukommen. Sie nickt dem Mann, der ihr auf der Fähre mit einer unbeholfen ritterlichen Bewegung das Plaid um die Schultern gelegt hat, dankbar zu.

„Wir werden rasch eine Arbeit für Sie finden, Herr Münk.“ Sie spricht den Namen Münch dänisch aus.

„Haben Sie selber da oben ein Gut, Fräulein? Oder Ihr Vater vielleicht?“

Ragna Hvid schüttelt den Kopf. „Nein, ich bin Landwirtschaftskonsulentin in Höjris bei Randers. Wissen Sie, was das ist?“

„Hm, ja.“ Ganz klar ist ihm der Begriff nicht. „Ein Konsulent, das ist doch einer, den man um Rat fragt, nicht? So, wie es Rechtskonsulenten gibt?“

„Ganz recht, Herr Münk. Jemand, der den Bauern mit Rat und Tat unentgeltlich zur Seite steht, sie auf dem laufenden hält über den neuesten Stand der Landwirtschaft, ihnen hilft beim Ankauf von Maschinen, von Saatkorn, bei der Obstzucht und dergleichen. Wir müssen die landwirtschaftliche Hochschule besucht und auch zwei Jahre praktisch gearbeitet haben. Dann werden wir vom Staat angestellt und besoldet. Das heißt, ich bin vorläufig erst auf ein Probejahr nach Jütland geschickt worden.“

Walter Münch hat keine Ahnung von Dänemark. Er kennt nur ein paar der kleinen Häfen unten an der Südküste. „Allerhand Achtung,“ meint er darum erstaunt, „da muß die Landwirtschaft bei Ihnen ja schon mächtig vorgeschritten sein.“

Zum ersten Male stiehlt sich ein ganz leises Lächeln um Ragna Hvids strengen Mund. „Dänemark ist ein Bauernland, Herr Münk. Sogar aus Australien und Kanada kommen oft die Landwirte hierher, um unsere Betriebe kennenzulernen.“

„Und Ihr Vater?“

„Meinen Vater hab’ ich nie gekannt,“ sagt Ragna Hvid, und das kleine Lächeln ist wieder verschwunden. „Er starb ein Jahr nach meiner Geburt. Und meine Mutter ...“

Nun muß Walter Münch doch davon sprechen. Er greift beruhigend nach der Mädchenhand, die wieder nervös zu zucken begonnen hat, und sagt fast dasselbe, was heute mittag der Chefarzt in Oringe gesagt hat:

„Vielleicht war es das Beste für Ihre Mutter, Fräulein Hvid. Eine alte Frau ...“

„Meine Mutter war erst vierundvierzig Jahre alt,“ sagt Ragna Hvid tonlos. Münch macht verwunderte Augen.

„Wirklich? Wie alt sind Sie selbst denn, wenn die Frage erlaubt ist?“

„Ich bin einundzwanzig geworden.“

Münch schweigt erstaunt. Er hätte dies strenge, harte Gesicht auf mindestens achtundzwanzig, wenn nicht gar dreißig Jahre geschätzt. Aber vielleicht machte nur das Leid dieses Gesicht so alt.

„Ich weiß, daß ich älter aussehe,“ sagt Ragna Hvid bitter. „Alle halten mich für eine Dreißigerin.“

Dann schweigen sie wieder beide.

*

Der Nachtschnellzug von Fredericia nach Aalborg donnert durch das jütische Land. Walter Münch ist eingeduselt auf seinem Sitz. Ragna Hvid betrachtet still sein im Schlaf etwas töricht aussehendes Gesicht. Ihr Blick gleitet bald darüber hinweg, weit, weit zurück in eine freudlose, kalte Jugend. Ein paar lustige Sommertage unter den Kameraden auf der Hochschule, eine kleine, harmlose Liebelei, die in Nichts zerstob. Ragna Hvid war eben zu streng und kalt, um sich einer Freude ganz hingeben zu können. Nicht, daß es in ihrem Leben keine hellen Tage gegeben hätte. Es waren genug Tage und Wochen da, die wert gewesen waren zu leben, sonnige Wochen auf dem blauen Oeresund, in den Buchenwäldern Seelands, auf weiten Wanderungen durch Jütlands roggenschwere Fluren, Wochen voll glühenden Arbeitseifers, gekrönt von glücklichen Erfolgen. Aber über all diesen Wochen und Tagen lag immer die Schwermut, die einen Schatten warf über die hellste Sommersonne. Und ein Tag ist da vor allem, ein Tag, der schon acht Jahre zurückliegt und von dem Ragna Hvid trotzdem nie loskommt: Jener Tag, da sie als Dreizehnjährige, als durch das Leid der Mutter viel zu früh reifes Mädchen, mit leergeweinten Augen der schwarzen, verschlossenen Kutsche nachsah, die ihre Mutter für immer fortführte — in die Irrenanstalt.

Ragna Hvid preßt die Lippen zusammen, bis sie ein schmaler, böser Strich werden, und starrt über Walter Münchs Kopf hinweg trostlos auf den Tag, der ihr junges Leben vergiftete.

In Aarhus wird Münch jählings wach. Leute sind in das Abteil eingestiegen, zwei schwergliederige, breite Männer, typische Bauerngesichter, die Ragna sogleich mit derbem Handschlag laut begrüßen, zwei Hofbesitzer aus der Randers-Gegend.

„Seh, seh! Fräulein Hvid! Wohl in Kopenhagen gewesen zur Landwirtschaftlichen Ausstellung, was?“

Walter Münch wundert sich ein wenig, daß das Fräulein Hvid ihren Bekannten gegenüber gar nichts erwähnt von dem Tod ihrer Mutter. Sie antwortet kurz und knapp auf die Fragen, aber die beiden gemütlichen Landwirte lassen sich nicht stören. Der eine ist ein bekannter Viehhändler, der eben auf dem Markt in Aarhus einen guten Abschluß gemacht hat, und auch sein Kamerad ist in offensichtlich guter Stimmung. Sie behandeln Fräulein Hvid mit kameradschaftlicher Vertraulichkeit. Ein paar lustig-derbe Worte über die Stadt und ihre kleinen Vergnügungen, dann springt das laute Gespräch rasch über auf die Landwirtschaft. Ob das Wetter sich bis zur Ernte halten wird? Namen von Höfen und Bauern schlagen an Walters Ohr, Namen von Getreide- und Obstsorten, Saatkorn, Viehfutter. Und dann die Leute! Es ist ein Elend mit den Leuten heutzutage. Die jungen Burschen, die nicht selber bodenansässig sind, drängen in die Stadt, kaum, daß man noch einen vernünftigen Stamm von Landarbeitern bekommen kann. Ragna Hvid macht plötzlich mitten im Gespräch eine Bewegung nach Walter Münch hin.

„Der Mann hier sucht auch Arbeit oben bei uns. Ich kann ihn empfehlen.“

„Seh, seh!“ Der behäbige Großbauer betrachtet Walter Münch mit erwachtem Interesse. „Verstehen Sie denn was von der Landwirtschaft?“

Walter nickt. „Meine Eltern waren Bauern. Wir hatten zu Hause immer die dicksten Kartoffeln.“

„Der ist gut,“ lacht schallend der Landwirt, und der Viehhändler, der überall herumkommt und jeden Hof und seine Verhältnisse kennt, fügt nachdenklich hinzu:

„Wenn er Arbeit sucht ... Am besten geht er da gleich zu Poul Nielsen nach Kjelderup. Der sitzt hart drin. Sein Großknecht ist eingezogen worden zu den Dragonern.“

Münch blickt fragend zu Ragna hinüber. Aber die hat bei den Worten des Viehhändlers wieder die Augen geschlossen. Ihr Gesicht ist hart wie Stein.

Holzpantinen klappern über den sauber gefegten Hof. Poul Nielsen, der Besitzer des Kjelderuphofes, weist auf ein Häufchen Pferdemist.

„Nimm den Besen, Jakob, und feg den Appel auf, der da liegt und strahlt!“

Jakob, der Arbeitsknecht, der eben drüben aus der Stallung tritt, sieht sich um und langt nach einem der Geräte, die an der Hauswand lehnen. Poul Nielsen tritt vor dem Eingang aus den Holzschuhen und schlürft auf seinen dicken Wollsocken in die Leutestube, wo nach alter Sitte zu Mittag gegessen wird. Der Hofbesitzer, seine Familie und das gesamte Gesinde bis zum Hüterbuben hinab. Ein großgewachsenes, rankes Mädchen mit gesunden, roten Wangen und schwerem blonden Haar, tritt ihm schon an der Schwelle entgegen.

„Es ist ein Mann da, Vater, der dich sprechen möchte.“

Das Antlitz des Hofbesitzers verdüstert sich. „Ein Mann? Du solltest mich doch gleich rufen, Karen, wenn einer aus der Stadt nach mir fragt!“

Karen lacht vergnügt. „Es ist doch keiner aus der Stadt, Vater! Ein Fremder, der Arbeit sucht. Viehhändler Thomsen hat ihn hergeschickt.“

Walter Münch erhebt sich höflich von der Bank, als der Bauer eintritt, und bringt kurz sein Anliegen vor. Ob er Arbeit bekommen kann auf dem Kjelderuphof?

Poul Nielsen betrachtet wohlwollend die kräftige Gestalt Walters. „Sie sprechen so komisch. Sind Sie Schwede?“

„Nein, Deutscher.“

„Aber er spricht ganz gut dänisch, Vater,“ sagt Karens Stimme rasch hinter dem Rücken des Hofbesitzers. Poul Nielsen lächelt mit gutmütigem Spott. „Din Skaal, min Skaal, alle smukke Pigers Skaal, was? Weiter langt’s wohl nicht.“

„Ein bißchen weiter doch, Herr Nielsen. Und die Landwirtschaft verstehe ich auch.“

„Landmann?“

„Ich bin auf dem Lande groß geworden. Gelernt habe ich Maschinenschlosser.“

Der Hofbesitzer bekommt einen aufmerksamen Blick. „So? Verstehen Sie was von landwirtschaftlichen Maschinen?“

„Von der Dreschmaschine bis zum Reihenmäher.“

„Hm. Dann könnte man ... Kommen Sie mal mit.“ Während sie über den Hof zur Scheune gehen, überlegt Poul Nielsen, daß er seinen zweiten Knecht, den langen Jörgensen, zum Großknecht machen könnte, wenn der Neue da wirklich mit den Maschinen umzugehen weiß und Jörgensen entlasten kann. Es bedarf keines langen Examens, um im Geräteschuppen festzustellen, daß der Deutsche wirklich mit den Maschinen vertraut ist. Ein paar sachkundige Bemerkungen, ein paar fachmännisch untersuchende Griffe Walters am Mechanismus der Motor-Dreschmaschine, und Poul Nielsen weiß Bescheid. Er nickt und zieht hinter Walter das Tor des Schuppens zu.

„Sind Ihre Papiere in Ordnung?“ Umständlich und aufmerksam studiert er das Paßheft, das Walter ihm hinreicht. Nielsen hat kein Deutsch gelernt in der Schule, aber den Stempel der dänischen Staatspolizei versteht er um so besser. „Eingereist in Vordingborg am 12. Juni.“ Also liegt nichts gegen den Mann vor. Nielsen gibt das Heft zurück.

„Sie können hierbleiben, Münk. Fünfunddreißig Kronen im Monat, freie Kost und Logis. Mehr kann ich nicht geben. Dafür können Sie aber auch den Winter hierbleiben, wenn Sie wollen.“

„Es ist gut, Herr Nielsen.“

Der Hofbesitzer tauscht einen kräftigen Handschlag mit dem Mann. „Jörgensen kann Ihnen die Kammer zeigen. Und einen ‚Herrn‘ gibt’s auf dem Kjelderuphof nicht. Ich bin der Bauer und heiße Poul Nielsen. Das ist ein ehrlicher Name.“

Ein altes Auto quält sich über die etwas holperige Allee, die von der Landstraße zum Kjelderuphof hinaufführt. Poul Nielsen blickt ihm über den Gartenzaun hinweg entgegen. Sein altes, zerfurchtes Gesicht ist wie von einem Schatten überzogen.

„Da drüben ist der Großknecht,“ sagt er hastig, auf einen langen Menschen zeigend, der vornübergebeugt vom Stall zum Wohnhaus hinüberschlurft. Er wird Sie schon unter die Fittiche nehmen. Ich muß jetzt ...“

Da schallt schon Karens helle Stimme vom Küchenfenster herüber: „Vater! Vater! Herr Haslund ist da!“

Dicht neben der Eßstube liegt das kleine „Kontor“ des Hofbesitzers, ein schmales Zimmer, das neben den üblichen Möbeln noch einen großen Lehnstuhl und einen altmodischen Sekretär enthält. In diesem Raum sitzen sich der Hofbesitzer und Herr Haslund aus Randers gegenüber. Eine dicke Aktentasche liegt zwischen ihnen auf dem Tisch.

„Wollen Sie wirklich den Wechsel prolongiert haben, Herr Nielsen?“

Poul Nielsens Finger trommeln nervös auf dem Schreibtisch. Dieser Haslund hat eine unangenehme laute und unbekümmerte Stimme. Ist doch nicht nötig, daß Karen, die in der Küche Geschirr wäscht, das hört. Unmutig zuckt er die Achseln.

„Ich muß Sie darum bitten, Herr Haslund. Sie wissen ja, wie knapp das Geld heute ist.“

„Ob ich das weiß,“ seufzt der Agent. „Eben darum dachte ich ... Die Bank wird schwerlich mit der Prolongierung einverstanden sein.“

Poul Nielsens Stirnadern schwollen bedrohlich an. „Warum nicht? Ist der Kjelderuphof vielleicht nicht das Zehnfache wert von dem, was hier auf dem Wechsel steht?“

„Gewiß, gewiß,“ beruhigt Herr Haslund, „der Hof ist gut, das weiß jedes Kind in der Randers-Gegend. Und der neue Stall ...“

„Ich hab ihn nun einmal gebaut,“ sagt Nielsen ärgerlich und denkt einen Augenblick an das warnende Unken der Nachbarn im vorigen Jahr, als er das Geld aufnahm, um den neuen Stall zu bauen. Er hat trotzdem seinen Kopf durchgesetzt, denn so ein Stall mit allen neuen Errungenschaften war nun mal seine Lieblingsidee. Das Geld wäre auch ohne Schwierigkeit zurückgezahlt worden, wenn der letzte Herbst nicht so schlecht ausgefallen wäre. Schlechte Ernte, Krankheit im Vieh, dazu noch die Aufwendungen für Arne, der in Kopenhagen die Universität besucht — das ging ins Geld. Poul Nielsen schüttelt die Gedanken unwillig ab und bietet dem Besucher die Zigarrenkiste.

„Die Bank wird genau wissen, wie ich stehe,“ sagt er überlegen. „Sie hat kein Risiko dabei, wenn sie den Wechsel verlängert. Der Kjelderuphof ist Sicherheit genug. Sie können ja mal durch die Wirtschaft gehen, Herr Haslund, und sich die Gebäude ansehen. Alles in bestem Stand. Und übrigens hab’ ich erst kürzlich eine neue Brandversicherung abgeschlossen.“

Haslund weiß das alles. Auch daß der Hofbesitzer Nielsen im vorigen Monat eine ziemlich hohe Versicherung mit der „Allgemeinen“ abgeschlossen hat. Die Gesellschaft hat eben deswegen bei der Bank angefragt und sich Auskunft über den Kjelderuphof eingeholt. Aber Haslund muß daran denken, was ihm der Bankdirektor gestern noch ausdrücklich gesagt hat. „Sehen Sie zu, Haslund, daß wir den Betrag kriegen! Prolongieren können wir diesmal nicht. Die Geldknappheit, die Entwertung der Krone, die Wirtschaftskrise — wir haben ja fast nicht mehr genug im Depot, um unsere Verbindlichkeiten zum Ultimo bei der Nationalbank decken zu können.“ Haslund macht ein bedenkliches Gesicht und räuspert sich.

„Der Sommer war trocken, Herr Nielsen. Einmal muß es ja wohl regnen. Wenn der Regen kommt, ehe die Ernte herein ist, kann sie dies Jahr womöglich noch schlechter ausfallen als im vorigen.“

„Wollen den Teufel nicht an die Wand malen,“ knurrt der Hofbesitzer. „Aber was hat das mit dem Wechsel zu tun?“

„Ich dachte nur ...“ Haslund gelangt nicht mehr dazu zu sagen, was er dachte. Karen kommt mit dem Kaffeebrett. Das ist so Sitte auf den Höfen in Nordjütland. Wer zu Besuch kommt, muß Kaffee trinken, ob es nun der Amtmann in Person oder der Briefträger ist. Haslund sieht sich, während das Mädchen den Tisch deckt, unwillkürlich um, als ob er etwas vermisse. Er hätte nicht nein gesagt zu einem Gläschen Aquavit. Aber Poul Nielsen ist strenger Antialkoholiker. Schnaps gibt es auf dem Kjelderuphof nicht.

Haslund überwindet sein heimliches Verlangen und sagt Karen ein paar höfliche Komplimente. Dabei fällt ihm unwillkürlich auf, wie schön und blühend das Mädchen geworden ist. Ihre gesunden Zähne blitzen, sie strahlt förmlich von Lebensfreude und Sauberkeit. Poul Nielsen bemerkt die bewundernden Blicke Haslunds und schmunzelt ein bißchen. Als Karen wieder in der Küche verschwunden ist, spielt seine Hand selbstgefällig mit der Uhrkette, die sich quer über seine Weste zieht.

„Sie wissen doch, daß Karen zum nächsten Frühjahr als Hausfrau nach Möllegaard zieht, Herr Haslund?“

„Ja, sie ist ja mit Jensen-Möllegaard verlobt. Ist es nun wirklich so weit?“

„Natürlich, Herr Haslund.“ Nielsen zieht erstaunt die Stirnhaut in Falten. „Warum sollte es nicht so weit sein? Die beiden heiraten im Frühjahr.“

Haslund weiß, warum Poul Nielsen das betont. Karl Jensen, der Besitzer von Möllegaard, ist ein reicher Mann. Er hat ein respektables Konto auf der Bank, und der Mühlenhof ist der größte in der Gegend, fast dreimal so groß wie der Kjelderuphof. Nur — Haslund hat bisher nicht so recht an diese Heirat geglaubt. Jensen-Möllegaard ist zwar noch ein rüstiger Mann, aber immerhin dicht an die Fünfzig, und Karen Nielsen kann doch höchstens neunzehn sein. Junge Mädchen haben oft ihren eigenen Kopf in bezug auf so was. Aber wenn Poul Nielsen es sagt, wird es schon stimmen. Ein Wort ist bei diesen jütischen Bauern oft sicherer als eine Unterschrift auf einem Wechsel. Haslund überlegt, ob er seinem Chef die Sache vom Gesichtspunkt der bevorstehenden Heirat schildern und eine Prolongierung anraten soll. Vorher aber versucht er noch einmal eine Schmeichelei.

„Es handelt sich ja schließlich um keine große Summe. Ich meine, wenn Sie nur wollen, Herr Gutsbesitzer ...“

Eine ungeduldig ärgerliche Handbewegung unterbricht ihn. Poul Nielsen kann es nicht leiden, wenn jemand ihn „Gutsbesitzer“ nennt. Der Kjelderuphof hat zwar seine vierhundert Morgen und Anspruch darauf, als „Gut“ gewertet zu werden, aber Poul Nielsen ist als Bauer geboren, drüben in dem kleinen Süderhof, den sein Vater bewirtschaftet hat, und er ist Bauer geblieben, auch nachdem er es fertiggebracht hat, den total verkommenen, großen Kjelderuphof zu übernehmen und ihn zu einem tadellosen Betriebe emporzuarbeiten. Er rückt unmutig seinen Stuhl und steht auf, die Augen fest auf das vor plumper Schmeichelei und Hinterlist triefende Gesicht des Agenten geheftet.

„Wir verlieren nur Zeit, wenn wir weiter darüber reden, Herr Haslund. Sagen Sie dem Bankdirektor, daß ich ihn bitte, den Wechsel noch einmal zu prolongieren. Er wird es schon tun.“

Haslund trinkt schnell seinen Kaffee aus und erhebt sich gleichfalls. Der nicht erhaltene Schnaps spukt in seinem Kopf und macht auch ihn mißmutig. „Ich glaube kaum, daß die Bank das tun wird.“

Poul Nielsen stützt die harte Faust schwer auf den Tisch. „Dann werde ich fortan mit einer anderen Bank arbeiten, Herr Haslung, und Ihnen zum Ersten in Gottes Namen den Betrag zahlen. Guten Tag, Herr Haslund!“

*

Es ist Sonnabendnachmittag. Das Vieh ist versorgt, der Hof zwischen Stallung und Wohnhaus blitzsauber gefegt, die Sensen, Forken und Schaufeln sind gereinigt. Die Leute vom Kjelderuphof sitzen in der Leutestube, rauchen Tabak und putzen an ihrem Zeug herum. Nur der lange Jörgensen, der Großknecht, macht noch einen Marsch durch die Felder, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung ist.

Walter Münch ist ohne viel Aufhebens in die Gemeinschaft aufgenommen worden. Er kennt sie schon alle hier in der Leutestube: Jakob, den Schweizer Carlson, die beiden Arbeitsknechte und die drei Tagelöhner. Auch den langen Großknecht, der eben von seinem Rundgang zurückkommt und seine etwas schlotterige Gestalt gebückt durch den Türrahmen schiebt. Einen Verwalter hat Poul Nielsen nicht. Er ist sein eigener Verwalter.

„Das Wetter gefällt mir nicht,“ sagt der Großknecht und hängt seine Jacke an einen Balken. „Es riecht nach Regen.“

„Kriegen wir Regen, kriegen wir auch Ruhe,“ betet der Zweitknecht die alte Bauernregel her, aber seine Stimme ist ohne Überzeugung. Es klingt eine leise Besorgnis darin. Wenn nach so langer Trockenheit der Himmel sich auftut, dann wächst es sich hier in dem verwehten Nordland oft zu einem endlos langen Landregen aus, und das wäre nicht gut für die Ernte.

Die Leute sind müde von der Arbeit und ziemlich wortkarg, aber ein Gespräch nach Feierabend muß sein. Walter Münch muß noch einmal ausführlich erzählen, wie er nach Kjelderup gekommen ist. Der Großknecht hört bedächtig zu. Ja, Fräulein Hvid kennt er natürlich. Sie ist ein tüchtiges Mädchen, das was versteht von der Landwirtschaft. Sie hat ihr „Kontor“ drüben in Höjris, in der Volkshochschule.

Walter muß sich anstrengen, um zu verstehen und sich verständlich zu machen. Die Leute hier sprechen ganz anders als die dänischen Matrosen auf der „Saltholm“. Aber die Nordjüten lachen ihn nicht aus, wenn er etwas falsch ausspricht oder mißversteht. Sie verbessern ihn ernst und sachlich. Es ist eben ein Fremder. Daß er aus dem Ausland, ganz unten von Deutschland herkommt, bedeutet keine besondere Sensation für die Kjelderupleute. Für diese Bauern hier ist jeder ein „Fremder“, der nicht in der Randers-Gegend geboren ist, selbst wenn er nur von der Westküste oder der Insel Fünen kommt.

So um acht Uhr herum kommt Rasmine, die Küchenmagd, herüber in die Leutestube und setzt eine große Schüssel Apfelmus mit Milch auf den Tisch. Wer Lust hat, kann zulangen. Walter ist noch reichlich satt von der guten Abendkost.

„Die Verpflegung scheint ja gut zu sein hier auf dem Hof,“ wirft er hin. Die anderen sehen ihn verwundert an. Nun ja, das Essen ist nicht schlecht, natürlich nicht, sonst würde ja keiner hier im Dienst bleiben. Aber besonders erwähnenswert ist es auch nicht. Die dänischen Bauern und auch die Knechte sind verwöhnt in bezug auf die Verpflegung.

„Du kriegst hier, was du vertilgen kannst,“ belehrt der Großknecht den Neuen. „Auch mit Tabak ist der Bauer nicht knauserig, nur Schnaps gibt er nicht. Wenn du einen trinken willst, mußt du bis Höjris hinübergehen in den Krug.“

„Der Bauer scheint ein anständiger Mann zu sein.“

„Och ja,“ gibt der Großknecht zu. „Nielsen ist kein unebener Hausvater. Manchmal brummt und knurrt er ja so’n bißchen, besonders wenn Post von seinem Sohn gekommen ist. Der sitzt in Kopenhagen und will ein Studierter werden.“ Der Großknecht spuckt verächtlich auf den Fußboden und scharrt mit den Füßen darüber. „Aber von der Landwirtschaft versteht der alte Nielsen was. Da kannst du lernen.“

„Guten Abend, Folkens!“ Die Tür ist aufgegangen. Karen Nielsen, frisch und strahlend, eine blendend weiße Küchenschürze vor das hellblaue Kattunkleid gebunden, tritt in die Leutestube. Der Großknecht erhebt sich schwerfällig, die andern sitzen und grinsen die Bauerstochter töricht an. Karens Blick sucht nach Walter Münch.

„Haben Sie sich schon eingerichtet in Ihrer Kammer, Münch?“

Auch Walter ist aufgestanden. „Danke, Fräulein Nielsen. Ich fühle mich schon ganz wohl hier.“

„Das freut mich. Die Lise wird Ihnen noch einen frischen Strohsack bringen. Der alte in Ihrer Kammer taugt nicht mehr viel. Montag früh müssen Sie mit aufs Feld, aber nachmittags können Sie mir dann ein bißchen im Gemüsegarten helfen. Und dabei wieder etwas von Deutschland erzählen wie vorhin, als wir auf Vater warteten.“ Karen lächelt dem Neuen noch einmal zu und stellt dann ein paar Fragen an Jörgensen, die die Arbeit betreffen. Der Großknecht antwortet nur kurz und schwerfällig.

Als Karen gegangen ist, stopft er sich langsam und nachdenklich seine Pfeife. Sein Gesicht hat einen fast gequälten Ausdruck vor Nachdenklichkeit. Karen Nielsen kommt selten abends in die Leutestube, und der Strohsack in der Knechtskammer ist doch noch ganz gut. Daß aber Karen zu dem Neuen „Sie“ sagt, wo man sich hier auf dem Kjelderuphof doch allgemein duzt, das ist ewas zu viel für Jörgensens Schädel. Auch die andern grinsen darüber und meinen, dem Neuen einen guten Rat geben zu müssen. „Wir sagen einfach ‚Karen‘ hier und nicht ‚Fräulein Nielsen‘, belehrt der Zweitknecht, „der Bauer wird fuchsteufelswild, wenn er das hört.“

Morgen ist Sonntag. Da bleibt man heute etwas länger sitzen in der Leutestube. Gegen halb zehn Uhr aber verkrümeln sich der Zweitknecht und der Hütejunge doch in ihre Kammern. Die Tagelöhner sind schon früher gegangen. Sie wollen noch nach Höjris hinüberschlendern und ein Glas Bier im Krug trinken. Und der Schweizer hat sich mit der Küchenmagd irgendwohin in den Garten verzogen. Die beiden wollen nächstes Jahr heiraten; deshalb nimmt es niemand übel, wenn sie sich absondern. Nur Walter und der Großknecht bleiben noch ein bißchen sitzen. Jörgensen qualmt schweigend. Erst als die Uhr zehn schlägt, klopft er seine Pfeife aus und reckt sich ein bißchen.

„Ja, Karen ...,“ sagt er, gleichsam eine lange Gedankenreihe zu Abschluß bringend, „sie ist verlobt