Der Rote - Landolf Scherzer - E-Book

Der Rote E-Book

Landolf Scherzer

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Beschreibung

Am Tag, als Der Rote kam Landolf Scherzers Reportagen über den „Ersten“ und den „Zweiten“ sind legendär. Wenn er sich nun an die Fersen des ersten linken Ministerpräsidenten Thüringens Bodo Ramelow heftet, bietet er uns erneut einen erhellenden Blick hinter die Kulissen der deutschen Politik. Nicht zuletzt will er wissen, was für ein Mensch er ist, dieser „Rote“. „Der Spezialist für Recherchen vor Ort.“ DER SPIEGEL Thüringen sei das grüne Herz Deutschlands, jetzt solle es auch „das bunte Herz“ werden, sagte Bodo Ramelow, der im Dezember 2014 gewählte Ministerpräsident des Freistaats Thüringen, in seiner Regierungserklärung. Mit ihm ist erstmals ein Politiker der Linken Regierungschef, ein Umstand, der vor der Wahl für erregte, oft unsachliche Diskussionen sorgte. Landolf Scherzer, seit dem „Ersten“ engagierter Beobachter der Entwicklung in Thüringen, verfolgt aus unmittelbarer Nähe Bodo Ramelows erste hundert Tage im Amt. Kann Rot-Rot-Grün die Stromtrassen noch verhindern? Was kann man für Asylbewerber und gegen Sügida tun? Welche Gestaltungsmöglichkeiten hat die Koalition, welche Grenzen setzt die knappe Mehrheit? In einem Kaleidoskop von Beobachtungen und Stimmen blättert Landolf Scherzer Grundfragen der Politik auf. Und nebenbei versucht er beharrlich herauszufinden, was er eigentlich für ein Mensch ist, dieser „Rote“.

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Informationen zum Buch

»Der Erste«, »Der Zweite«, »Der Letzte« und jetzt »Der Rote«

Wenn Scherzer den neuen linken Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen im Amt begleitet, bietet er uns erneut am Beispiel Thüringens mit seiner außergewöhnlichen Parteien-Konstellation einen erhellenden Blick hinter die Kulissen der deutschen Politik.

Thüringen sei bereits das grüne Herz Deutschlands, jetzt solle es auch »das bunte Herz« werden, sagte der im Dezember 2014 gewählte Ministerpräsident des Freistaats Thüringen Bodo Ramelow in seiner Regierungserklärung. Mit ihm ist erstmals ein Politiker der Partei »Die Linke« Regierungschef, ein Umstand, der im Vorfeld der Wahl für erregte, oft unsachliche Diskussionen gesorgt hat.

Landolf Scherzer, seit dem »Ersten« engagierter Beobachter der Entwicklung in Thüringen, verfolgt aus unmittelbarer Nähe Ramelows erste hundert Tage im Amt. Welche Gestaltungsmöglichkeiten hat die Koalition, welche Grenzen setzt die knappe Stimmenmehrheit? In einem Kaleidoskop von Beobachtungen und Stimmen blättert er Grundfragen der Politik auf.

Landolf Scherzer

Der Rote

Macht und Ohnmacht des Regierens

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Am Tag, als der Rote kam

Vom versäumten Anruf des Ministerpräsidenten, meiner Verwandlung in einer Erfurter Suppenküche und einem präparierten Mufflon-Schädel im Vorzimmer der Ministerin

Von der Schweigepflicht eines Friseurs, der Mehlstauballergie des Ministerpräsidenten und Veganern, die gegen die Salamisierung des Abendlandes demonstrieren

Von linken Gemischtwarenhändlern, dem großen Bahnhof bei der Suche nach einem Leck und zwei Hunden, die mit ihren Herrchen Ministersessel ausprobieren

Von einem Pistolenknauf vor meiner Nase, dem Bagger, dessen Führerhaus von der Treppe heruntergestürzt wurde, und Lauschaer Glasmurmeln, mit denen der Ministerpräsident sein Bier anwärmen soll

Von ministerialen Telefonkonferenzen auf dem Erfurter Hauptbahnhof, fliegenden Kühen am deutschen Himmel und Ginkgo-Bäumen an den Landstraßen der Rhön

Von den Wasserträgerinnen im Landtag, der Raucherlunge einer Elefanten sammelnden Thüringer Sportministerin und schönen Versprechungen in den Flitterwochen

Von Zwangsimpfungen unter Polizeischutz, einer Herzensangelegenheit der grünen Ministerin, die sechs Stunden beansprucht, und einem Land, in dem man bald wieder nach Bananen ansteht

Von einer »Adligen«, die nur eine »vom Hofe« ist, der Bio-Weihnachtsgans, die in keine Pfanne passte, und einer Schaufensterpuppe im Schlafzimmer der Ramelows

Von einem das Ohr abkauenden Politiker aus Berlin, dem Fledermaushotel für 90000 Euro, aus dem eine Webcam alle Gäste ins Internet stellt, und der Wüste als spannendem Lebensort

Von einem Büroleiter, der den Ministerpräsidenten nicht in ungebügeltem Hemd vertreten will, dem gewünschten Verbot des Artikels »die« und einer Ziege auf der Website des Abgeordneten Tilo Kummer, der fast Landwirtschaftsminister geworden wäre

Von einem Sternsinger, der nie Politiker werden möchte, der Unsitte, dass Abgeordnete in kurzen Hosen im Landtag sprechen, und Weihrauchharz aus der Wüste, das gegen Gelenkschmerzen helfen soll

Zeittafel

Über Landolf Scherzer

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Am Tag, als der Rote kam

Vielleicht waren meine Gummistiefel zu groß.

Vielleicht war der Schlamm im Graben zu zäh.

Und vielleicht hätte ich die Leiter, die neben dem Haufen ausgeschachteter nasser Erde lag, aufstellen sollen, um wieder aus dem Loch heraussteigen zu können.

Stattdessen mühte ich mich verzweifelt – zuerst nur auf die Arme gestützt und schließlich mit Brust und Bauch auf der Wiesenkante wälzend –, die Stiefel aus dem klebrigen Schlamm zu ziehen. Doch meine akrobatischen Bewegungen – Volker, der auf dem Bagger saß, hatte die Schaufel vorsorglich zur Seite gedreht – waren vergeblich. Die Stiefel steckten fest. Ich konnte nur die Füße herausziehen und musste mit einem Bein barfuß und mit dem anderen strümpfig durch den dezemberkalten Matsch waten.

Fluchend rannte ich aus dem Wiesental zu meinem Waldhäuschen auf der Höhe. Schon seit zwei Wochen versuchten Volker und ich, ein Leck in meiner fast einen Kilometer langen Wasserleitung, die das Dietzhäuser Seßlestal quert, sich in einer Gartenanlage verzweigt und aus der täglich irgendwo 1300 Liter liefen, zu finden. Aber noch nie hatte ich bei den Schachtarbeiten barfuß im Schlamm des ausgebaggerten Grabens gestanden. Auch deshalb werde ich mich an diesen Tag – es ist der 5. Dezember 2014 – noch lange erinnern.

Als ich mich umziehen will, klingelt das Telefon. Immer noch fluchend, nehme ich ab. John Paetke, ein ehemaliger Hochseefischer aus Berlin, der das politische Tagesgeschehen regelmäßig im Internet verfolgt, verkündet: »Hey, Seemann, neuer Kurs! Um 10:52 Uhr, vor genau 2 Minuten, ist Bodo Ramelow in Erfurt zum ersten linken Ministerpräsidenten der Bundesrepublik gewählt worden.« Ich möchte erwidern: »Das geht mir im Moment am nassen Arsch vorbei«, aber ich schalte das Radio ein.

Mit besorgter Stimme prophezeit ein Politiker »Niedergang« und »Chaos« für den Freistaat. Und eine Reporterin spricht von einem »außergewöhnlichen Moment der deutschen Geschichte«.

Ob es sich dabei um einen guten oder einen schlechten Moment handelt, kommentiert sie nicht. Ich laufe ins Dorf, um Geld zu holen.

Im Vorbeigehen sage ich Volker, dass wir uns mit dem Ausschachten beeilen müssen, denn die nun zum ersten Mal in Thüringen mitregierenden Grünen würden für das Graben auf Weideflächen vielleicht bald eine besondere Genehmigung verlangen. Volker stellt den Motor trotzdem ab und erklärt, dass er wegen des ungeschützten Stromkabels über der Wasserleitung nicht ohne mich weiterbaggern kann und inzwischen am »Fledermaushotel« im Dorf arbeiten wird.

Die Leiterin der Volks- und Raiffeisenbank (VR-Bank), die ein Ehepaar, das einen langfristigen Vertrag abschließen will, berät, informiert mich mit trauriger Miene über die weiter gesunkenen Zinsen meines Guthabens.

Ich drohe grienend: »Vielleicht verstaatlichen die Roten, um uns kleine Sparer zu beruhigen, demnächst die Thüringer Banken!«

Weil sie verständnislos guckt, erkläre ich ihr, dass vor 18 Minuten der Linke Bodo Ramelow …

Die Direktorin erleichtert: »Unsere Bank ist schon vergenossenschaftlicht. Das wird dem Genossen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow bestimmt genügen.« Dann fragt sie: »Der kommt doch aus dem Westen?«

Ich nicke.

»Na, da kann’s nicht schlimmer werden, da weiß der, wo der Hase langlaufen muss.«

Ich meine, dass sie das schon betagte Ehepaar vor dem Vertragsabschluss vielleicht vorsorglich auf die politische Veränderung in Thüringen hinweisen und fragen sollte, ob es noch einen Monat Bedenkzeit haben möchte. Sie redet mit dem Mann, kommt zurück und sagt: »Die haben nur staunend festgestellt: Bei uns in Thüringen ist ja was los! Und dann unterschrieben.«

Die ersten 5 Euro des abgehobenen Geldes werde ich gegenüber im Dönerladen von Ercan ausgeben. Ein vielleicht 50-jähriger Mann mit einer Audi-Reklamemütze drängelt sich vor mir durch die Tür. Ercan entschuldigt ihn: »Audi hat es immer eilig, immer eilig.«

Ercan gehörte in der Türkei zu den für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Kurden. Ich sage: »Kannst dich freuen, Ercan, in Thüringen regiert ab heute ein Linker.«

Doch der Kurde säbelt ungerührt mit dem langen Messer bedächtig das Fleisch vom Dönerspieß und bemerkt eher beiläufig: »Hier in Deutschland interessieren Ercan keine linken Ideologien und auch keine Revolutionen. Hier interessiert Ercan nur, ob Regierung gut für kleine Leute.«

Audi dagegen fragt immer wieder, ob es stimmt, was ich erzähle. So laut, als würden wir nicht bei Ercan, sondern vor großem Publikum stehen, verkündet er: »Endlich! Nach 25 Jahren die Schwarzen in Thüringen weg! Jetzt können die Roten zeigen, dass hinter den Bergen eine soziale und gerechte Politik, eine demokratische und gleichzeitig sozialistische möglich ist.«

Allerdings werde sich Bodo Ramelow als Regierungschef nur behaupten, wenn er auf die Frage »Wer bist du?«, ohne nachzudenken, mit »Ich« antwortet. »Er muss ein Ministerpräsident des Volkes werden. Und das bedeutet, sich zu seinem wirklichen Ich zu bekennen.«

Während Ercan meinen Döner mit viel Fleisch füllt, sagt Audi anscheinend zusammenhanglos: »Es gab vor über 100 Jahren zwei große deutsche Philosophen, die wussten schon damals, was heute in der Welt geschieht. Sie waren sozusagen mit einer prophetischen Gabe gesegnet.« Auch er scheint ein wenig von dieser Gabe geerbt zu haben. »Im Frühjahr 89 habe ich meinen Lada verkauft. Alle meine Freunde hielten mich für total verrückt, weil ich sagte: In ein paar Monaten ist der Lada nichts mehr wert, und als Nächstes werde ich mir einen Golf kaufen.«

Im vergangenen Monat hat Audi, so erzählt er stolz, nicht nur den Koran zum vierten Mal, sondern wegen der Koalitionsverhandlungen zwischen Linken, Sozialdemokraten und Grünen auch das »Kommunistische Manifest« noch einmal gelesen.

»Dort schrieben Marx und Engels schon vor fast 170 Jahren«, und Audi zitiert aus dem Gedächtnis: »Sie werden sich aus dem Boden die Schätze reißen und Länder und Kontinente übergreifend zu höchstmöglichen Preisen verkaufen. Und das weltweit umspannende Netz der Kommunikation aufbauen.«

Ich frage Audi, der eigentlich Peter Lutschian heißt, ob er Philosophie studiert hat. »Nein, ich handle in Schwarza mit Autoteilen.«

»Und vor der Wende?«

»War ich Koch beim Armeesportclub in Oberhof. Der Olympiamannschaft der DDR und dem Weltmeister Gerhard Grimmer hat mein Essen immer geschmeckt.«

»Und weshalb sind Sie nicht Koch geblieben?«

»Weil die alte Zeit nach 89 unwiederbringlich abgelaufen war. Und wer damals ehrlich vor sich bleiben wollte, musste die Vergangenheit beenden und etwas Neues beginnen.«

Für ihn sei das selbstverständlich gewesen. Für die Politiker im Landtag und die Beamten mit CDU-Parteibuch in den Thüringer Ministerien wahrscheinlich nicht. »Die sitzen dort fest wie angenagelte Bretter oder eingesponnene Schmetterlingspuppen und werden ihr Denken und Handeln trotz der neuen linken und grünen Minister nicht ändern.«

Als Peter Lutschian bemerkt, dass ich hinke, empfiehlt er mir ein Mittel gegen Knieschmerzen: Weihrauchharz aus der Wüste in den Arabischen Emiraten. Ich solle ihn in Schwarza besuchen, dann könnten wir Weihrauch kauen und über ehrliche Politik reden.

Ich nicke, und Ercan wickelt mir den Döner in Alufolie.

Auf dem Heimweg ruft ein Redakteur der »Zeit im Osten« an. Ob ich nicht darüber schreiben will, wie sich nach der Wahl des Roten das Leben in Thüringen verändert. Es wäre doch spannend, zu erfahren, wie die Thüringer nach 25 Jahren CDU-Herrschaft auf eine »mögliche Wiederkehr des realen Sozialismus« reagieren würden. Wie sie in ihren Stammkneipen bei Bratwurst, Rostbrätel, Bier und Klößen über die alten und neuen Roten diskutieren. Und welche Konsequenzen sie aus dem Wahlsieg der »SED-Nachfolger« zögen.

»Nichts wird sich hier verändern!«, erwidere ich. Die Thüringer werden abwarten und einfach nach der Wald-Weisheit »Gleich welcher Vogel auf dem Baum hockt, er bekleckert immer die auf den unteren Ästen Sitzenden« weitermachen. Sie würden erst reagieren, wenn ihr Dorf eingemeindet und die Schule geschlossen wird oder Lohn und Renten steigen und die Steuern sinken. Außerdem stünde Weihnachten vor der Tür, da wären Tannenbäume, Freilandgänse und Silvesterraketen allemal wichtiger als Bodo Ramelows linke Projekte, Wolfgang Tiefensees sozialdemokratisches Wirtschaftsprogramm und Anja Siegesmunds grüne Probleme. Nein, das wäre kein Thema für mich.

Als er nicht lockerlässt, einigen wir uns, dass ich lediglich »die Thüringer in den Zeiten der Veränderungen« beobachte.

Volkers Bagger steht nicht mehr auf der Wiese. Jemand schaufelt im Graben mit der Hand. »Hättest mit der Drecksarbeit auf mich warten sollen«, rufe ich Volker zu.

Als ich näher komme, bemerke ich, dass es nicht Volker ist. Der Mann im Graben trägt einen fast schulterbreiten aus Bast geflochtenen Hut wie ein vietnamesischer Reisbauer. Er sieht mich, klettert behände aus dem Graben, wischt seine Lehmfinger an einer grauen Wattejacke ab, bevor er mir die Hand gibt, und erklärt, dass er Fridolin heißt. »Fridolin Scheusel. Kannst aber Frieder zu mir sagen.«

Bodo Ramelow – der rote Wahlsieger© dpa Martin Schutt

Ich frage barsch, was er hier macht, denn der Ein-Mann-Unternehmer Volker hatte mir gesagt, dass er außer seinem Bagger keine weiteren »Kollegen« beschäftigt.

»Ich helfe ihm, wenn Not am Mann ist und er mit seinem Bagger am Fledermaushotel arbeiten muss.«

Missmutig entgegne ich, dass meine Rechnung wegen seiner Handschachtung um ein paar Hunderter teurer wird. »Was bezahlt dir Volker in der Stunde?«

»Wegen Weihnachten kriege ich nicht erst ab 1. Januar 15, sondern schon heute 8,50 Euro Mindestlohn! Aber sagen wir mal: Bei dir 7 Euro und zum Frühstück immer ein frisches Gehacktesbrötchen und ’ne Flasche Schwarzbier.« Schließlich sei er keine Fachkraft für Meliorationsbau, sondern nur ein, wie er es nennt, Schachtarbeiter.

Ich nicke, und Frieder steigt wieder hinunter in den Schlamm. Er bewegt sich flink wie ein 20-Jähriger, und seine Augen strahlen spitzbübisch. Aber ihm wächst schon ein grauer Vollbart.

Als ich bezweifele, dass sein Basthut eine ideale Kopfbedeckung für den Winter ist, widerspricht er. »Nu pass mal gut auf, ich muss dich mal schlaumachen: Mein Großvater, der in der Kriegsgefangenschaft auf den heißen Feldern der usbekischen Sowjetrepublik Baumwolle pflücken musste, hat mir beigebracht: Was im Winter gut gegen Kälte ist, hilft im Sommer auch gegen die Hitze. Ich habe seine Weisheit nur umgedreht.« Außerdem hätten schon die Vietcong-Kämpfer im Krieg gegen die Amerikaner beim Ausschachten der Laufgräben solche Hüte getragen.

Ich hole ihm eine Flasche Bier und sage, dass wir, weil ich zu einem Axel-Prahl-Konzert nach Erfurt fahre, für heute Feierabend machen.

Als würden wir uns seit Jahren kennen, fragt Frieder unvermittelt: »Nimmst du mich mit?«

»Nein«, sage ich. »Alles ausverkauft. Es gibt keine Karten mehr.«

Bevor Frieder geht, erinnert er mich, dass er Montag erst nach eins kommt. Ich soll rechtzeitig sein Gehacktesbrötchen holen, denn der Dorfbäcker macht montags schon am Mittag zu. Das sei ja hier traditionell so. Und Traditionen würde auch Bodo Ramelow nicht ändern können. »Die Roten werden keine Revolution machen! Ordnung muss Ordnung bleiben. Sonst gibt es Chaos im Land.«

Gewöhnlich öffnet der Einlassdienst die Saaltüren in der Alten Erfurter Oper eine halbe Stunde vor dem Beginn des Konzerts. Doch heute sind die Türen eine Viertelstunde vorher immer noch geschlossen. Die Besucher drängeln sich ungeduldig im Foyer. Ich stelle mich, weil ich Ansammlungen parfümierter Menschen möglichst meide, abseits an einen Ecktisch, auf dem Zeitungen ausgelegt sind. Gestern, so lese ich auf einer Titelseite, demonstrierten Tausende Thüringer mit brennenden Kerzen, um vor einer Wahl des roten »kommunistischen Stasi-Belebers Bodo Ramelow« zu warnen. Und in einer die halbe Seite füllenden Anzeige fordern Träger des Thüringer Verdienstordens – unter anderem der Schriftsteller Reiner Kunze und der Jungunternehmer Stephan Schambach – die Abgeordneten auf, durch ihre Wahl zu verhindern, dass einem Ministerpräsidenten der Linken, »den Gefängniswärtern von gestern, die Schlüssel wieder ausgehändigt werden«.

Als die Fans 10 Minuten vor ultimo endlich hineingelassen werden, hektisch schubsend ihre Plätze gefunden haben, Axel Prahl zwar fast pünktlich auf der Bühne erscheint, aber die Orchesterstühle leer bleiben, schimpft ein Mann neben mir: »Kaum sind die Linken dran, klappt im Freistaat wieder nischt mehr.«

Axel Prahl entschuldigt seine Musiker mit einer »Fahrverspätung von Rügen«, dann mit »Verwechseln der Uhrzeit und dem Weihnachtsmarkt«. Nach den ersten zur Gitarre gesungenen Liedern verhaspelt er sich, als er in einem Nebensatz sagen will, dass heute die Linken, »… also die sind jetzt in Thüringen … also im Landtag …«. Die Zuhörer verstehen ihn trotzdem, und einige klatschen verhalten. Frenetischer Beifall dagegen, als er das »großartige Erfurter Publikum« zum Mitsingen auffordert: »Es ist schön, gemeinsam ein Lied zu singen.« Einmal, zweimal, dreimal. Alle erheben sich. Ich habe wieder einmal das Gefühl, nicht zur Mehrheit zu gehören. Nur ein Pärchen in der Reihe vor mir bleibt ebenfalls sitzen. In der Pause warte ich, bis der Mann zur Toilette geht. Ich wasche mir lange die Hände und frage, weshalb seine Frau und er sitzen geblieben sind. »Wir stehen weder vor Merkel noch vor Herrn Gysi und auch nicht bei Axel Prahl auf. Dieses Ritual ist für uns seit 89 endgültig passé.« Mehr sagt er nicht. Nur, dass er, Karl Breuer, bald 63 wird und Einrichter in der Erfurter Schuhfabrik »Paul Schäfer« war. Kein Wort zur neuen Regierung.

Nach der Pause singt Axel Prahl vom »Tanz auf dem Vulkan« und »Es fährt ein Schiff auf hoher See, und keiner weiß, wohin …«.

Am nächsten Morgen stehen meine Stiefel neben dem Graben. In einem steckt eine kleine Flasche Wurzelpeter. Nikolaustag.

Der Kräuterlikör wird meine Rettung, als Richard, ein 60-jähriger ehemaliger Monteur bei Simson, fluchend aus dem Wald kommt. Richard, wie immer sorgfältig rasiert, aber auch wie immer mit am Hintern aufgerissener Manchesterhose bekleidet, sucht seit vielen Jahren vergeblich eine feste Arbeit. Er lebt, wie er manchmal verlegen sagt, von den Hartz-IV-Almosen und holt Tag für Tag mit seinem klapprigen Leiterwagen Holz aus dem Wald. Gewöhnlich beklagt er sich bei mir nur über die neuen Reichen, die sich am Ortsrand von Suhl schöne Häuser bauen lassen, nicht aber sein Holz kaufen, weil es für ihre Kamine angeblich zu dünn ist. Heute aber flucht er über alles. Über den Holzplan des Landes Thüringen, der die Forstleute zwingt, auch im Frühling Bäume zu fällen. Über die Quads, die, von Polizei oder Förstern unkontrolliert, die Waldwege kaputtfahren. »Schlimmer als damals die Russenpanzer!«

Richards Handwagen, beladen mit meterlangen Buchenstämmen, ist heute auf einer der Fahrrinnen des geschundenen Waldweges zusammengebrochen.

Also öffne ich den Wurzelpeter. Den ersten Schluck trinken wir auf Richard und seinen Wunsch nach einer festen Arbeitsstelle. Vor dem zweiten frage ich: »Auf die Neuen in Erfurt?« – »Nee, auf die nicht. Der rote Ramelow hat auch keinen Goldesel, der ihm Euros für die Haushaltskasse scheißt.« Und deshalb würde auch er keine zusätzlichen Polizisten einstellen, die die Quadterroristen im Wald zur Ordnung rufen, und könnte auch den Holzplan nicht ändern.

»Gut, er hilft vielleicht den Flüchtlingen, aber die bringen Thüringen kein Geld, die brauchen welches.« Außerdem verstünden die Roten wenig von der Wirtschaft, behauptet er. »Sonst wäre die DDR ja wohl nicht pleitegegangen.«

Ich hole ihm meinen Leiterwagen. Er lädt das Holz um, und obendrauf packt er seinen zerbrochenen Wagen. Als Richard mit der wackligen Fuhre im Dorf verschwunden ist, entdecke ich von weitem Frieders spitzen Hut.

Er sei nur gekommen, um sich zu erkundigen, ob mir das Axel-Prahl-Konzert gefallen hat. »Mir hat er zwischen den Liedern zu viel gequatscht.«

Ungläubig frage ich: »Du hast noch eine Karte bekommen?«

»Nu pass mal gut auf, ich muss dich da mal schlaumachen: Der Freund meines Bruders ist 1997 unter den Gutachtern gewesen, die die Alte Oper wegen Sicherheitsmängeln schließen ließen.« Natürlich hätte man die Mängel auch beheben können. Aber den damaligen Ministerpräsidenten Vogel hätte erstens das Gerippe des nicht fertiggebauten DDR-Kulturhauses, des »Schiffshebewerkes«, gestört, und zweitens soll er ein leidenschaftlicher Opernfreund gewesen sein. »Also musste sowohl das Schauspielhaus als auch die Alte Oper in Erfurt geschlossen werden, um eine repräsentative Oper bauen zu können. Als die fertig war, konnte in der Alten Oper, die inzwischen privatisiert wurde – wer dadurch wie viel verdient hat, weiß selbst der Freund meines Bruders nicht –, also da konnten nach einigen Reparaturen wieder Konzerte stattfinden. Tja, wenn ein Thüringer Ministerpräsident Opern liebt …«

Und er will wissen, welche künstlerischen Vorlieben der neue Ministerpräsident hat. Ich kenne sie nicht.

»Vielleicht mag er Dramen«, meint Frieder. »Mit einer Stimme Mehrheit regieren! Ob die Grünen und die Sozis dichthalten, wenn es ums Eingemachte geht? Vielleicht läuft schon einer mit dem Dolch im Gewand herum … Einer von den eigenen Leuten, der keinen Posten in der neuen Regierung erhalten hat.«

»Rede nicht so einen Scheiß! Mich interessiert im Moment nur, ob wir endlich das Leck in der Leitung finden.«

Frieder grinst. »Davon redete ich doch gerade!«

Am Nachmittag werde ich nach Weimar zum Thüringer Hochseefischer-Stammtisch fahren. Dreimal im Jahr treffe ich mich dort mit mehr als 100 ehemaligen Fischern aus der DDR. Wir hatten bei der zweitgrößten Hochseefischerei-Flotte der Welt gearbeitet. Von ihr sind nach der Wiedervereinigung drei Schiffe unter isländischer Flagge übriggeblieben. Und die Erinnerungen. Die frischen wir regelmäßig bei Bier und Schnaps auf.

Ich frage Frieder, ob er mitkommen will.

»Nee. Ich werd seekrank, wenn’s irgendwo zu heftig schaukelt.«

Es schaukelt erst beim vierten Korn. Nach dem fünften, den mir mein früherer Schiffskoch spendiert, ertappe ich mich, dass ich Einzelheiten des Semannstreffens trunken und nach Frieders krummer Art symbolisch auf die Politik übertrage. Zuerst versteigern wir lautstark Ladenhüter: die Leuchten eines pleitegegangenen Unternehmens. Zugunsten des neuen Seenotrettungsdienstes! Danach läuft ein Dokumentarfilm über die Schinderei an Bord der Fang- und Verarbeitungsschiffe, die gleichzeitig eine nie zuvor und nie mehr danach empfundene Gemeinsamkeit schuf. Alle in einem Boot …

Schiet Symbolik! Ich trinke nur noch Kaffee, hole das Notizbuch aus der Tasche und will von meinen Tischnachbarn – Dieter Nohr, früher Matrose, Rudolf Voss, seinerzeit Bootsmann, und Thomas Schultz, einem der besten Netzmacher – wissen, was sie über die neue Thüringer Regierung denken.

Dieter, der inzwischen bei Mellingen in zwei Becken Forellen, Barsche und Welse züchtet, fragt schlitzohrig: »Bodo Ramelow, das ist doch einer von der Linkspartei. Die war früher PDS und noch früher SED. Also ein Kommunist? Ein Kommunist wie Honecker. Erich regierte zwar nach heutigen Koordinaten außer Thüringen gleichzeitig noch Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, aber Chef ist allemal Chef! Bodo und Erich …« Ob ich vergessen hätte, wie es früher bei Staatsbesuchen war.

Bevor sie mir was erzählen, soll ich ’ne Runde ausgeben, und außerdem wollen sie noch mal die Geschichte vom Staatsbesuch im Volkseigenen Fischkombinat Rostock-Marienehe hören. »Zur Erinnerung, wie es damals bei den Roten war!«

Der ehemalige Politoffizier Hans-Georg Weil, auf dem Dampfer wurde er wie alle seiner Art »Linksaußen« genannt, setzt sich zu uns.

»Wie oft denn noch«, frage ich, aber als ich ihre schon in Vorfreude grinsenden Gesichter sehe, gebe ich nach. »Also der Honecker hatte sich rechtzeitig zum Staatsbesuch angemeldet. Auf Weisung der Kombinatsleitung begannen wir sofort, Bordsteinkanten zu streichen, Stiefmütterchen zu pflanzen, Fähnchenschwenken zu üben und Sprechchöre einzustudieren. So weit, so gut. Zwei Tage vor dem Staatsbesuch jedoch hatte ein Mitglied der Kombinatsleitung eine schreckliche Ahnung: Was machen wir, wenn der Staatsbesuch unsere Schiffe sehen will? Die Schiffe trugen wie immer die Zeichen schwerer Kämpfe mit den Naturgewalten: Rost statt Farbe. Da ordnete der Genosse Kombinatsdirektor an. Erstens: Die entladenen Schiffe werden zu Erkundungsfahrten in die Ostsee geschickt! Zweitens: Die übrigen gehen einstweilen auf dem Schrottsammelplatz des Kombinats vor Anker. Drittens: Das Schiff, das für die Ordensverleihung vorgesehen ist, muss sofort gestrichen werden! Doch obwohl die Betriebskampfgruppe und sowjetische Soldaten zu den Verschönerungsarbeiten hinzugezogen wurden, hätte der Anstrich nicht rechtzeitig fertig werden können. Da machte ein verantwortlicher Genosse des Zentralkomitees den rettenden Vorschlag: Wir streichen den Dampfer nur von der Landseite!

Vier Tage nach dem Staatsbesuch lief der ›Hälfte hui und Hälfte pfui‹-Dampfer zur großen Fahrt aus. Als einige Matrosen maulten, dass sie nicht auf Karnevalskähnen fahren würden, versicherte der Genosse Reparaturdirektor, dass die Farbe spätestens in einer Woche wieder abgeplatzt sei.«

»Ja, so war es eben bei uns Kommunisten«, bestätigt der Politnik.

Und Dieter Nohr: »Glaubst du, heute werden die Straßen nicht gekehrt, verfallene Häuser nicht hinter Bauplanen versteckt und die Kruzifixe nicht auf Hochglanz poliert, wenn Bodo Ramelow, die Merkel oder der Papst sich zum Besuch anmelden? Aber du wolltest wissen, wie wir über die linke Regierung denken. Im Moment hoffe ich nur.«

Im vergangenen Jahr sind ihm einige Tonnen Fische verendet, als das Hochwasser sie aus ihrem gewohnten Gefängnisbecken in die ungewohnte Freiheit schwemmte. Nun hofft er, dass die neue Regierung ihm den Rest der Hochwasserschäden bezahlt.

Außerdem begrüßt er das von der Linken versprochene kostenlose Kindergartenjahr. »Man kann von gefangenen großen Fischen schwärmen, doch essen wirst du sie erst, wenn sie in der Pfanne braten.«

Rudolf Voss, heute Holzhändler in Tambach-Dietharz, hilft ihm seit Monaten, die beschädigten Becken zu reparieren. »Ich habe FDP gewählt. Die ist nun nicht mehr im Landtag. Ich bin nicht für die Linke, aber jeder sollte fairerweise seine Chance haben.«

»Der Bodo Ramelow ist nicht nur Kommunist, der ist auch strenggläubig. Und ich hab was gegen Pfaffen«, sagt Thomas Schultz.

Der ehemalige Politnik hat genauer hingesehen: »Bei der Vereidigung hat er nicht ›So wahr mir Gott helfe‹ gesagt. Er will’s wohl selber hinkriegen.«

»Aber ob er bei Sturm ein guter Käptn ist, muss er noch beweisen. Die Lieberknecht ließ sich das Ruder ja von Leuten aus der Hand nehmen, die für Doppelgehalt angeheuert haben oder keinen Kurs halten konnten«, meint Thomas.

Zwischenruf vom Nachbartisch: »Hey, was soll das Gerede. 50 Prozent der Thüringer sind nicht mal zur Wahl gegangen, aber ausgerechnet die zerreißen sich jetzt das Maul.«

Thomas unkt weiter: »Und wenn die nur noch als Landratten am Kai arbeitenden Kollegen von der CDU und die unerfahrenen AfD-Aufsteiger die Ladung schief vertäuen oder ein Meuterer aus der eigenen Mannschaft das Ruder blockiert, kannste als Kapitän nur noch heldenhaft brüllen: Alle in die Boote, ich gehe mit dem Kahn unter.«

Ende der Coffeetime. Wir trinken wieder auf den Landgang in Labrador und das Fischen vor Angola. Auf die Äquatortaufe, die Rekordfänge von Makrelen …

Am nächsten Abend feiert der Dorfarzt von Dietzhausen, MR Dr. Wolfgang Geiger, seinen 75. Geburtstag im ehemaligen Kloster von Rohr. Am Vormittag hatte er mir noch mit Tabletten gegen Kopfschmerzen von der gestrigen Seemannssause ausgeholfen.

Seine verstorbene Frau war Ärztin in Dietzhausen, sein Sohn ist Arzt in Dietzhausen, seine Tochter ist Ärztin im Nachbarort Rohr. Und er arbeitet noch mit 75 Jahren! In der DDR war er Mitglied der LDPD.

Etwa 50 Verwandte, Kollegen und Freunde sitzen an der langen Tafel. Eine würdige Feier für den Jubilar. Nur eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren – wahrscheinlich eine Bekannte der Geiger-Dynastie – bringt für kurze Zeit Kümmernis in die Erinnerungsgespräche. Wegen akuter Schmerzen im Knie bittet sie den alten Doktor, der die Überweisung ausgestellt hat, um Hilfe, damit sie, obwohl nicht privat versichert, bereits im nächsten Monat einen MRT-Termin erhält. Er schüttelt hilflos den Kopf. Danach bedauern die Tochter und schließlich auch der Junior. Im Umkreis von 80 Kilometern werden sie in den nächsten Wochen keinen Termin organisieren können.

Die kleine Frau bemerkt die Verstimmung der Geburtstagsgäste und erzählt lachend, dass sie vor 30 Jahren schon nach zwei Wochen eine künstliche Hüfte erhalten hat, obwohl man in der DDR oft jahrelang darauf warten musste. Sie hatte gedroht, nicht zur Volkswahl zu gehen. »Drohe heute mal: Wenn ich keinen MRT-Termin bekomme, werde ich nicht wählen!«

Am lautesten lachen die Geburtstagsgäste aus den alten Bundesländern.

Als ich am Morgen aufstehe, hat Volker bereits ein flaches Loch ausgebaggert und ist verschwunden.

Später kommt Frieder. Wir schachten mit dem Spaten, um die Wasserleitung unter dem Elektrokabel freizulegen, sie absperren und danach feststellen zu können, ob sich das Leck schon in den ersten 600 oder in den restlichen 300 Metern befindet.

»Täglich 1,3 Kubikmeter Wasser, dafür bekommst du fast sechs Flaschen Schwarzbier«, rechnet Frieder.

»Oder vier und ein Gehacktesbrötchen«, sage ich schlechtgelaunt. Danach erzähle ich von der Geburtstagsfeier und dem MRT-Termin. Das kennt er. Er habe es vom vielen Schachten im Rücken. Doch er und sein Freund Olaf haben aus der Not eine Geschäftsidee entwickelt. Weil Olaf einen »Arzt mit Beziehungen« kennt, hätten sie einen kleinen Nebenverdienst.

»Der Arzt organisiert einen MRT-Termin, und mein Freund Olaf versteigert ihn im Internet.«

Ich glaube es nicht.

»Also, nu pass mal gut auf: Der Olaf stammt aus meiner Gegend, dem Teufelsmoor.«

»Teufelsmoor?« Kenne ich nicht.

»Aber Worpswede kennste? In der Nähe, am Rande vom Teufelsmoor, hat auch Bodo Ramelow seine Kindheit verbracht.« Deshalb könne er mir erklären, weshalb der so geworden ist, wie er heute ist.

»Das Teufelsmoor und dazwischen die Hamme, im Winter ist sie zugefroren, da konntest du als Kind kilometerweit übers Eis flitzen. Wahrscheinlich ist auch der kleine Bodo damals aufs Eis gegangen.« Es ist das größte Torfmoor Deutschlands. Die ersten Kolonisatoren versuchten es vor rund 400 Jahren mit Schaufel, Spaten und Pickel urbar zu machen. Viele kamen dabei um. Der Boden ist wenig ertragreich. Die Siedler kämpften um die kleinen Ackerflächen. Schließlich verkauften sie Torf als Brennmaterial. »Mit über tausend kleinen Segelschiffen brachten unsere Vorfahren den Torf bis nach Hamburg, Bremen und Kiel.«

»Schiffe mit roten Segeln?«, frage ich grinsend.

»Nee, mit geteerten schwarzen.«

Hunderte Millionen Tonnen Torf wurden bis zum 20. Jahrhundert aus dem Teufelsmoor herausgeholt. »Zu viel gestochen und zu viel verkauft. Es ist kaum etwas geblieben. Torf wächst nun mal nicht nach. Das haben die Nachfahren der Kolonisatoren zu spät begriffen.«

Was das alles mit Bodo Ramelow zu tun hat?

»Weil der es als einer vom Teufelsmoor inzwischen begriffen hat.«

Ich schaue ihn verständnislos an.

»Also, ich muss dich mal schlaumachen, mein Lieber: Bodo Ramelow weiß genau, er muss in Thüringen erst was aufbauen, bevor er was abbauen kann. Dann bleibt Thüringen reich. Man nennt das Werte schaffen.

Er wird zuerst, das kann ich dir schon heute sagen, mit den Chefs von 50hertz und Trianel verhandeln. Die braucht er für die wichtigsten gewinnbringenden Investitionen: die Stromtrasse und das Pumpspeicherwerk. Nicht nur wegen der Bauaufträge und der Arbeitsplätze. Nee, der Wert ist der im Pumpspeicherwerk erzeugte Strom, der macht Thüringen später reich. Und dann hast du was für Schulen oder so.«

Deshalb, so unkt Frieder, werde Bodo Ramelow nur halbherzig gegen Trassen und Pumpspeicherwerk reden, aber »zum ökonomischen Nutzen Thüringens« handeln. Außerdem natürlich auch ein wenig zu seinem eigenen Nutzen. »Stell dir mal vor, der würde jetzt als Erstes die von der früheren CDU-Regierung geholten milliardenschweren Unternehmen wie Trianel und 50hertz abblitzen lassen. Darauf warten Merkel, Seehofer und andere doch nur. Die Linke als Investorenschreck! Also macht er das Gegenteil. Er ist einer vom Teufelsmoor.«

Als Kind habe er Bodo Ramelow nicht gekannt. »Wie auch? Er ist nach Rheinhessen gezogen.«

Ausgerechnet in der Wüste, in der Sahara, sei er ihm begegnet, als der Ramelow mit 5 anderen Touristen und 6 Kamelen 14 Tage auf dem alten Karawanenweg von Marokko nach Timbuktu gezogen ist. »Ich war damals in Algerien für das Tränken und Satteln der Kamele zuständig, und Bodo Ramelow war schon ein hohes Tier in der PDS. Er hat nur einen Tag auf dem Kamel gesessen. Sonst ist er gelaufen. Er schwärmte von der grenzenlosen Weite, dem Gefühl der unendlichen Freiheit. Einen Satz habe ich mir ungefähr gemerkt: Die Wüste wächst unaufhörlich. Wehe, wenn man Wüsten in sich trägt.«

Ich glaube ihm weder die Teufelsmoor-Kolonisatoren-Wertschöpfungsgeschichte noch die von der Wüste. Ich sage nur: »Du spinnst.«

Beleidigt steigt er aus dem Graben, und ich esse zwei Tage lang die Gehacktesbrötchen allein. Am dritten Tag trinkt er, bevor wir hinunterklettern, zwei Schwarzbier und behauptet, ohne einen Widerspruch zu dulden: »Bodo Ramelow war in der Wüste!«

Ich würde Bodo Ramelow gern danach fragen. Doch erstens habe ich ihn lange nicht gesehen, und zweitens ist er, so melden gerade die Medien, anstatt endlich zu regieren, mit seiner Frau nach Venedig gefahren.

Mir fällt ein, dass die Suhler Landtagsabgeordnete Ina Leukefeld, die schon viele Jahre mit Bodo Ramelow zusammenarbeitet, noch Schulden bei mir hat. Um sie damit im neuen Jahr nicht in Verlegenheit zu bringen, sage ich am Telefon, würde ich mir das Geld abholen.

Ihr Wahlkreisbüro befindet sich in der Suhler Rüssenstraße (dort wohnten keine »Rüssle«, also Russen, sondern in der Rüsse mussten die Flachspflanzen so lange faulen, bis nur noch die Fasern übrigblieben). Das Bürohaus im Lichtschatten von DDR-Plattenbauten hat die Linke von Herrn Marx aus Passau gemietet.

Ina Leukefeld glaubt nicht, dass Bodo Ramelow als stellvertretender Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion zu seiner Erbauung mit einer Kamelkarawane durch die Wüste gezogen ist.

Doch sie nickt, als ich sie nach seiner Kindheit am Teufelsmoor frage. Weil er unter Legasthenie litt, der Lese- und Rechtschreibschwäche, über die man damals nicht viel wusste, sei er von den Mitschülern gehänselt worden. »Da gibst du auf oder wirst eine Kämpfernatur – und später Ministerpräsident.«

Als sie bemerkt, dass ich ihre Antworten notiere, erkundigt sie sich, weswegen ich überhaupt danach frage.

Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht kann ich es für den Artikel brauchen.

Dann, sagt sie, soll ich auch ihre »DDR-Vergangenheit« erwähnen. »Ich habe inoffiziell bei der K1 gearbeitet, einer speziellen Abteilung der Kripo!« Vor ihrer Kandidatur für den Thüringer Landtag hat sie das offengelegt und ist von den Suhlern trotzdem dreimal als Direktkandidatin, selbst gegen prominente CDU-Leute wie den ehemaligen Thüringer Finanzminister Voß, in den Landtag gewählt worden.

Obwohl sie als arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecherin der Linken gute fachliche Voraussetzungen hat, wusste sie schon während der Koalitionsverhandlungen, dass sie unter Bodo Ramelow weder Staatssekretärin noch Ministerin werden wird. »Er versicherte immer wieder, dass für seine Regierung niemand mit Stasi-Beziehungen in Frage kommt. Als Ministerin für Arbeit und Soziales holte er Heike Werner aus Sachsen nach Thüringen.«

»Hat dich das gewurmt?«

»Da musst du drüberstehen und dir sagen: In der Politik ist man als Indianer vielleicht wichtiger als ein Häuptling. Man guckt nicht vom Berg herunter, sondern müht sich in der Ebene.«

»Vielleicht ist Bodo Ramelow doch durch die Wüste gelaufen?«, sinniere ich. »Und jetzt die Predigt auf dem Berg?«

Statt darauf einzugehen, erklärt sie mir, dass sie in der Regierung manches erreichen können, was zuvor unmöglich schien. »Schon vor 5 Jahren haben Bodo und ich zusammen geträumt, was man verändern müsste. Inzwischen kalauert er immer öfter: Ich hab mit der Ina ein Ding zu laufen.«

»Du ein Ding mit Bodo?«

»Wir wollen Langzeitarbeitslose in einem öffentlichen Beschäftigungssektor wieder in Lohn und Brot bringen. Ihnen Selbstbewusstsein und Würde zurückgeben. In dieser Wahlperiode vorerst 3000. Und Mindestlohn zahlen, damit sie, ohne aufstocken zu müssen, von ihrer Arbeit leben können.«

»Das wird das Land Millionen kosten.«

»Wir werden bei Schäuble Geld für dieses bundesweite Pilotprojekt beantragen, selbst wenn er Rot-Rot-Grün nicht liebt.

Jetzt müssen wir nicht mehr wie als Opposition bei den regierenden CDU-Ministern und Staatssekretären bitten und betteln, um einen Vorschlag von uns diskutieren oder gar umsetzen zu dürfen. Jetzt haben wir Abgeordneten der Linken plötzlich kurze Wege. Da gehst du einfach zum Staatssekretär oder zur Ministerin und sagst: Wir müssen uns mal gemeinsam kümmern, dass …«

Natürlich würde das nicht immer so klappen wie an ihrem 60. Geburtstag. »Ich saß im Plenum. Es war der 12. Dezember. Bodo hatte gerade seine erste Regierungserklärung gehalten. Da simste der Suhler Oberbürgermeister sinngemäß: Späte Rache der Schwarzen. Haushalt im Landesverwaltungsamt nicht genehmigt. Kein Baubeginn am Portalgebäude möglich. Finanzstopp …«

Schon vor der Wahl hätten die Suhler CDU und die Linke über die Zukunft des Portalbaus vom ehemaligen Kulturhaus gestritten. »Die CDU und ihr Spitzenkandidat Voß wollten abreißen. Wir wollten ihn erhalten und vielleicht zum Stadtarchiv umbauen. Der Stadtrat entschied sich für Erhalten. Baubeginn nach genehmigtem Haushalt. Das sah alles gut aus.

Ich leitete die SMS mit der Hiobsbotschaft an Bodo weiter, der auf der Regierungsbank neben der Finanzministerin saß. Nach einem kurzen Gespräch mit ihr simste er: Schon erledigt und geklärt. Gruß Bodo. – Natürlich war das Problem damit nicht geklärt, aber wenigstens in den Köpfen gespeichert.«

Die neue Thüringer Landesregierung (von links nach rechts): Sozialministerin Heike Werner (Linke), Landwirtschaftsministerin Birgit Keller (Linke), Bildungsministerin Birgit Klaubert (Linke), Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne), Justizminister Dieter Lauinger (Grüne), Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff (Linke), Finanzministerin Heike Taubert (SPD), Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) und Innenminister Holger Poppenhäger (SPD)© dpa Martin Schutt

Trotzdem hegt sie keine allzu großen Erwartungen, vor allem wenn es ums Geld geht. »Jeden Monat lade ich Hartz-IV-Empfänger in Suhl zum Arbeitslosenfrühstück ein. Essen, trinken und reden. Als Bodo Ramelow gewählt war, drückten mir einige die Hand und sagten: Ina, Die Linke war schon immer gegen Hartz IV. Jetzt könnt ihr in Thüringen diesen menschenunwürdigen Spuk beenden! – Mitstreiter in Bürgervereinen erwarten, dass Rot-Rot-Grün nun die Trassen über den Rennsteig verhindern. Manche hoffen, dass die Renten in Ost und West – auch eine Forderung der Linken – endlich angeglichen werden. Doch das sind Bundesgesetze. Thüringen hat 16 Milliarden Schulden. Mehr als seinerzeit die DDR. Die Banken verdienen umso mehr, je höher die Schulden sind. Man müsste sie verstaatlichen, denke ich. Aber auch eine Regierung unter einem roten Ministerpräsidenten muss die Banken bedienen. Das nennt man erzwungene Diplomatie. Genau wie bei der Wohnungsbaugenossenschaft (GEWO) in Suhl. Die gehört zu 100 Prozent der Stadt und hat auch eine soziale Verantwortung. Man kann die Hartz-IV-Leute dort nicht einfach rausschmeißen. Wo sollen sie wohnen, wenn nicht in den kommunalen Blocks? Aber die GEWO war mit 50 Millionen verschuldet. 21 Millionen übernahm die Stadt. 29 Millionen die Bank. Und nun diktiert die Bank, ähnlich wie die EZB in Griechenland, wie viele Mitarbeiter einzusparen, also zu entlassen sind. Und dagegen kann auch der Ministerpräsident nichts machen!«

»Was ist unter Rot-Rot-Grün zu verändern?«

»Vielleicht gelingt uns eine ehrlichere, für alle durchschaubarere Politik.« In der DDR hätten sich die Bürger nicht mehr für die Politik der SED und der übergehorsamen Blockparteien interessiert, weil sie die Kluft zwischen den euphorischen Verlautbarungen und den traurigen Tatsachen des Alltags nicht mehr ertragen konnten. Inzwischen würden viele auch den neuen Politikern misstrauen. »Denn was, wie und worüber die Politiker reden, das hat wenig mit dem Leben der Leute zu tun. Es ist nur noch ein politisches Kauderwelsch zur Machterhaltung.«

»Und was werdet ihr den Bürgern sagen?«

»Wir dürfen als Dreier-Koalition nichts diplomatisch verschleiern oder verschweigen, nichts beschönigen, selbst wenn die auszusprechenden Wahrheiten unbequem sind, weil wir uns getäuscht haben.« Als ich mir diesen Satz in meinem Notizbuch rot unterstreiche und ein Ausrufezeichen danebensetze, fragt sie: »Ist solch ein Politikstil unmöglich?«

Ich sage ihr, dass ich keine Regierung kenne, die Fehler öffentlich und ohne relativierende Ausrede zugegeben hat.

Sie wechselt das Thema. »Opposition ist viel leichter. Da kannst du kritisieren. Aber wenn du selbst regierst … Ich will doch öffentlich nichts gegen die eigene Regierungspolitik sagen.«

»Also abducken?«

»Nein. Als bei den Koalitionsverhandlungen ein Bekenntnis der Linken zur DDR als ›Unrechtsstaat‹ nötig wurde, habe ich öffentlich dagegen polemisiert, weil …« Doch darüber müssten wir jetzt nicht mehr diskutieren. »Wir sind mit diesem Experiment zum Erfolg verurteilt. Wenn wir scheitern, geht’s in Thüringen nach rechts.« Es sei ja nicht so gewesen, dass die Thüringer mit großer Mehrheit eine rot-rot-grüne Regierung unter Bodo Ramelow wollten und wählten. 2009 wäre eine satte Mehrheit zustande gekommen. 51 Abgeordnete für Rot-Rot-Grün und nur 37 für CDU und FDP. Aber seinerzeit wollten SPD und Grüne noch nicht mit der Linken koalieren. Und heute müssen sie mit 46 gegen 45 regieren.

Sie ist überzeugt, dass Bodo Ramelow genügend Mut und Durchsetzungsvermögen hat, damit es gelingt. »Er muss nur ab und an sein Temperament ein wenig zügeln. Und nicht, wenn er unrecht hat, auf seiner Meinung beharren!«

Als ich sie nach seinen typischen Charaktereigenschaften frage, erzählt sie, dass ihre Tochter einen seltenen roten Stein aus Norwegen mitgebracht hat. »Das weiche Wasser des Flusses hat ihn zwar glattgeschliffen, aber trotzdem erkennt man noch Schrammen und Einlagerungen. Er passt also zu Bodo. Nach der Wahl habe ich ihm den Stein geschenkt und gesagt: Trag ihn immer in deiner Jackentasche. Er wird dir Kraft geben für die Auseinandersetzungen. Er wird dich besänftigen, wenn du aufbraust, und er wird dich, solltest du abheben, auf die Erde zurückholen.«

Ich frage, was er davon am meisten brauchen kann.

»Der Stein wirkt nur im Dreiklang.«

Nun bitte ich sie doch, mir einen Kontakt zu Bodo Ramelow herzustellen. Sie nickt und bezahlt ihre Schulden für die Solidaritäts-CDs, mit deren Erlös wir strahlengeschädigten Kindern von Tschernobyl helfen.

Beim Rückweg komme ich an den drei schottischen Hochlandrindern von Karl Dietl vorbei, die auch im Winter auf der Weide im Seßlestal stehen. Die Braune hat gekalbt. Ich rufe ihn an, und er sperrt Kuh und Kalb separat in ein Gatter und gabelt Heu in die Raufe. Die anderen beiden müssen die Dezemberreste des kargen Weidegrases suchen.

Ich hacke Holz, um mir Feuer zu machen, und lese die Post der vergangenen Tage. Eine Anschrift lautet: »Dietzhausen – Suhl, Volksdemokratische Republik Thüringen«. Roland Lattemann, Klempnermeister aus Neunhofen, prophezeit ironisch: »Es geht mit dem schönen Seßlestal nun zu Ende. Die Roten werden mit ihrer Regierung dem ganzen Land den Garaus machen. Nehmt also die letzten guten Tage noch mit viel Freude und Genuss auf …« In einem mitgeschickten Leserbrief, den eine kommunale Thüringer Zeitung veröffentlichte, schrieb er: »Wenn ein Herr Mohring schon wenige Minuten nachdem Herr Bodo Ramelow zum neuen Ministerpräsidenten des Landes Thüringen gewählt worden war, ankündigt, dass er alles tun werde, um die Regierungszeit der Linken schon vor Ablauf der Legislaturperiode zu beenden, ohne dass er abwartet, ob dies aus der Sicht des Volkes überhaupt notwendig sein wird, dann ist er nicht nur ein schlechter Verlierer, sondern ein noch schlechterer Demokrat.«

Helmut Püpcke, ehemaliger Gymnasiallehrer in Frankfurt/Main, der aus politischen Gründen schon vor 1961 aus Halle in den Westen gegangen war, gratuliert zur neuen Regierung: »Meinen herzlichsten Glückwunsch zur Wahl Bodo Ramelows zum thüringischen Ministerpräsidenten! Er gehört zu den ganz wenigen Politikern, die einen Sargnagel der deutschen Demokratie beklagen, nämlich den eklatanten Rückgang der Wählerbeteiligung. Wenn nur noch die Hälfte der Wahlberechtigten ihr Wahlrecht wahrnimmt, sollte man auch in Deutschland das Recht zur Pflicht machen (wie in Belgien). Denn am Wahltag hängen wir auf der Chaiselongue, weil’s regnet, oder feiern am Grill, weil die Sonne scheint, und verraten ein weiteres Mal den letzten Rest von Demokratie.«

Klaus Liebscher, ein ehemaliger Kommilitone an der Fakultät für Journalistik in Leipzig, schreibt mir warnend: »Der Genosse Bodo Ramelow wird, wenn es um Sein oder Nichtsein der neuen Koalition geht, alle Ideale der Linken, außer dem Kampf gegen die Nazis und die Solidarität mit den Asylanten, der neuen Macht opfern …«

Abends besucht mich Frank Quilitzsch. Er schreibt über seinen Vater, der viele Jahre in der Moskauer DDR-Botschaft gearbeitet hat. Als der Vater nach der Wende Bücher las, in denen die Verbrechen Stalins und anderer kommunistischer Führer dokumentiert waren, bezeichnete er sich als einen »unnützen Menschen«. Einen, der rückblickend sein Leben in der DDR als sinnlos empfand.

Ich erzähle Frank von meinen Beobachtungen nach der Wahl des »roten Bodo Ramelow«, den Briefen und der Hoffnung einiger Linker, dass dieses Regierungsbündnis vielleicht als ein Versuch genutzt werden könnte, in einer demokratischen Gesellschaft sozialistische Ideen – ein sozial gerechtes und ökologisches Miteinander – auszuprobieren.

»Schreib das auf! Vielleicht in einem Buch ›Der neue Erste‹ oder ›Der Rote‹«, sagt Frank.

Wir trinken an diesem Abend viel Wodka.

Vom versäumten Anruf des Ministerpräsidenten, meiner Verwandlung in einer Erfurter Suppenküche und einem präparierten Mufflon-Schädel im Vorzimmer der Ministerin

Zwei Tage später – ich stelle mein Handy meist auf stumm – schickt mir Ina Leukefeld eine vorwurfsvolle SMS: »Du musst aber auch drangehen, wenn dein Ministerpräsident anruft.«

Weil ich seinen Anruf nicht noch einmal verpassen will, lasse ich das Handy sogar an, als ich zu einem Krankenbesuch in die bayrische Herzklinik von Bad Neustadt fahre. Die modernen Klinikgebäude ähneln eher einem Erlebniscenter. Auf der Station will eine freundliche Schwester wissen, ob ich ebenfalls aus Thüringen komme wie der Patient. Als ich nicke, behauptet sie unvermittelt: »Mit den Kommunisten in Ihrer neuen Regierung werden wir in Bayern keine Probleme haben. Die Herzkranken aus Thüringen kommen weiter zu uns. Kranke interessieren sich nur, ob die Ärzte gut sind und das Essen schmeckt.«

Aber sie hätte während der Nachtschicht im Radio gehört, dass der rote Chef in Thüringen eine einheitliche gesetzliche Krankenversicherung bevorzugt, wie es sie in der DDR gab.

Gegen 21 Uhr klingelt das Handy.

»Hallo, Dichter, hier ist Bodo Ramelow.« Danach Schweigen, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob ich »Guten Abend, Herr Ministerpräsident!« sage oder ihn wie früher noch mit »Genosse« und »Du« anspreche.

Der neue Ministerpräsident vor der Staatskanzlei in Erfurt© Michael Reichel

Wir kennen uns an die 20 Jahre. Bodo Ramelow hatte 1995 die »Erfurter Erklärung« mit ausgearbeitet, die unter anderem auch Ulrich Plenzdorf, Friedrich Schorlemmer und Probst i.R. Dr. Dr. Heino Falcke unterschrieben. Es war ein rot-rot-grünes Programm, das mir Hoffnung für die Zukunft nach der Wiedervereinigung machte. Bei Lesungen und Diskussionen zitierte ich daraus »Ramelow’sche« Sätze:

»Die deutsche Einheit wird zum massivsten Umverteilungsprozess von unten nach oben seit Bestehen der Bundesrepublik missbraucht …

… Die Erwerbsarbeit der Zukunft muss auf gesellschaftlichen Nutzen und ökologische Nachhaltigkeit verpflichtet werden. Finanzierung von Arbeit statt Arbeitslosigkeit …

… Statt die ›Zwänge‹ der deregulierten Güter- und Kapitalmärkte als Schicksal hinzunehmen, brauchen wir eine Regierung, die handelt …

… Wir brauchen eine Regierung, die ohne inneres Feindbild regiert.«

Wir hatten uns auch getroffen, als sich die Kali-Kumpel in Bischofferode mit dem allerletzten Mittel, dem gemeinsamen Hungerstreik, gegen die willkürliche Schließung ihrer Grube wehrten. Bodo Ramelow organisierte monatelang den Kampf der Kumpel, und ich las auf Solidaritätskundgebungen und einmal auch vor den Hungerstreikenden, die ausgerechnet im Speisesaal des Betriebes schon den 63. Tag ohne Essen ausharrten.

Ich stottere, dass ich mich über seinen Anruf freue. Aber, dass ich … äh … ehrlich gesagt … äh … plötzlich Hemmungen hätte, weil … äh … ich nicht mehr mit dem Gewerkschafts- und Parteirebellen Bodo Ramelow, sondern mit dem ersten Repräsentanten Thüringens, dem Ministerpräsidenten, spreche.

Er entgegnet, dass nicht nur ich, sondern auch er sich manchmal fragen würde, was mit ihm und um ihn herum geschehen ist.

Frühmorgens ständen die Personenschützer in seinem Hausflur, und auf der abgesperrten Straße warteten zwei Limousinen. »Im Autoradio meldet der Nachrichtensprecher: Das Thüringer Kabinett wird heute beschließen, dass …, und es dauert eine Weile, bis ich begreife: Der redet von meinem Kabinett.«

Aber ich bräuchte mir über Formalitäten keinen Kopf zu machen. »Schließlich hast du schon 1999 über mich geschrieben.« Bei der Erinnerung daran erwähnen weder er noch ich »Pinocchio«, den Namen, den Bodo Ramelow nach der Veröffentlichung zum »Unwort« erklärt hatte.

Damals war er der von der Regierung und einigen Wirtschaftsvertretern am meisten gefürchtete und am häufigsten verklagte Landtagsabgeordnete. Dabei hatte er nur das umgesetzt, was der ehemalige Sprecher des Landtages immer wieder behauptete: »Der Thüringer Landtag ist gläsern.«

Also veröffentlichte er im Internet Fakten aus dem Rechnungshofbericht, informierte über Stellen von Geschäftsführern, die ohne vorherige Ausschreibungen vergeben worden waren, über Missbrauch von Fördermitteln im Wirtschaftsministerium und stellte einen Kontoauszug der Thüringer Entwicklungsgesellschaft Südwest über angebliche Gelddepotüberweisungen nach Luxemburg ins Internet.

Der ehemalige Thüringer CDU-Wirtschaftsminister Schuster bezichtigte Bodo Ramelow daraufhin, sich »kommunistischer Methoden« zu bedienen. (Wobei das Öffentlichmachen von geheimen Informationen nicht unbedingt zu den typischen Merkmalen der kommunistischen Agitation gehörte.) Die Entwicklungsgesellschaft, die damals von Stefan Baldus geleitet wurde, verklagte ihn, drohte 100000 DM Geldbuße an, und Ministerpräsident Vogel schimpfte, dass sich kein Unternehmer in Thüringen ansiedeln würde, wenn er Angst haben müsste, dass seine Geschäftsergebnisse von Herrn Ramelow im Internet veröffentlicht würden.

Dass ich über seine Internetenthüllung ausführlich geschrieben hatte, fand er gut. Weniger einverstanden war er mit meiner Beschreibung seines Äußeren. »Wenn ich ihn sehe, muss ich an die Pinocchio-Puppe denken. Zwar hat er keine lange, spitze Nase, aber etwas abstehende große Ohren, listig lustige Augen und zerfranste, in die Stirn gekämmte Haare.«

Am Telefon heute kein Wort davon. Stattdessen erzählt er über seine ersten Tage in der Staatskanzlei.

»Zuerst habe ich die Chefs des Thüringer Bauernverbands besucht. Obwohl der Bauernverband und das Landwirtschaftsministerium immer eine Domäne der CDU waren, haben wir die Probleme schnell und konstruktiv gelöst. Als ich einige Tage später in der Vollversammlung vor den Bauern sprach, gab es nicht nur langen Beifall, sondern einige würdigten meine Rede sogar mit stehenden Ovationen.«

Der Geschäftsführer des Bauernverbandes ist übrigens jener Stefan Baldus, der ihn seinerzeit als Chef der Entwicklungsgesellschaft Südwest verklagt hatte und mit dem er sich, als dieser CDU-Staatssekretär des Innen- bzw. Landwirtschaftsministeriums war, bis aufs Messer gestritten hat. »Nach der Versammlung gab er mir die Hand und bedankte sich für den Beginn einer sehr guten Zusammenarbeit.«

Wichtig sei für ihn auch der Besuch des Erstaufnahmeheimes für Asylbewerber in Suhl gewesen. »Die vorherige Landesregierung schickte immer mehr Asylanten nach Suhl, ohne sich um Mobiliar und Mitarbeiter zu kümmern. Wenn wir das Problem dort nicht lösen, manifestiert sich der Ausländerhass. Ich habe über eine Stunde mit dem Oberbürgermeister besprochen, wie wir Suhl bei diesem Problem finanziell unter die Arme greifen können. Wir müssen unsere Mittel so aufteilen, dass wir denen helfen, die uns bei der Unterbringung der Asylbewerber unterstützen.«

Als neuer rot-rot-grüner Ministerpräsident müsste er selbstverständlich auch mit den vielen schwarzen Chefs und Mitarbeitern in seiner Staatskanzlei auskommen, von denen manche schon unter Ministerpräsident Vogel gedient haben.

»Nur durch Parteienvielfalt funktioniert Demokratie. Also habe ich jedem erst einmal die Hand gegeben, mich auch bei denen bedankt, die in der CDU sind, und abschließend gesagt, wenn einer Probleme mit meiner Partei hat, gehen wir gemeinsam zum Personalrat. Irgendetwas finden wir.«

Ich erkundige mich nicht nach der Beseitigung von altem Filz in der Staatskanzlei und den Ministerien. Heute noch nicht.

Aber zum Schluss frage ich ihn: »Stimmt es, dass Sie … äh … dass du mit anderen Touristen und 6 Kamelen zwei Wochen lang auf der alten Seidenstraße nach Timbuktu durch die Wüste gezogen bist?«

»Ja, das war eine gute Zeit«, antwortet er und zitiert seinen Leitspruch von Nietzsche, den ich in abgeänderter Form bereits von Frieder gehört habe: »Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt.«

Er will nicht wissen, woher ich seine Wüstengeschichte kenne, und verspricht, dass ich ihn – »falls du wirklich über mich schreiben willst« – in der kommenden Woche unter anderem beim Geburtstagsempfang für Wirtschaftsminister Tiefensee und bei seinem Besuch im »Restaurant des Herzens« begleiten kann.

An die tägliche Termin-Hatz müsste er sich erst gewöhnen, sagt er mit fast stolz klingendem Unterton. »Ich bin, was die Zeit betrifft, oft noch fremdbestimmt.« In den nächsten 5 Jahren werde er damit leben müssen und hoffentlich lernen, die Fremdbestimmung so oft wie möglich in Selbstbestimmung umzuwandeln.

Frieder und ich sind ebenfalls noch fremdbestimmt, denn weil die Plasterohre weder akustisch noch elektronisch mit Geräten zu orten sind, schaufeln wir vorsichtig mal links und mal rechts, um den Verlauf der Leitung zu finden. Zum Frühstück bekommt der Kanalarbeiter heute 2 Gehacktesbrötchen, weil ich mich für mein »Du spinnst ja« entschuldigen möchte.

»Der Ministerpräsident hat mir am Telefon bestätigt, dass er durch die Wüste marschiert ist.«