Der Rote Palast - June Hur - E-Book

Der Rote Palast E-Book

June Hur

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  • Herausgeber: CROCU
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Den Palast zu betreten bedeutet, einen blutigen Pfad zu beschreiten. Joseon (Korea), 1758. Unehelichen Töchtern stehen in der Hauptstadt nur wenige Möglichkeiten offen, aber durch harte Arbeit und Studium hat sich die achtzehnjährige Hyeon eine Stelle als Palastschwester verdient. Alles, was sie will, ist, den Kopf unten halten, gute Arbeit leisten und vielleicht endlich die Anerkennung ihres entfremdeten Vaters gewinnen. Doch plötzlich wird Hyeon in die dunkle und gefährliche Welt der Hofpolitik gestoßen, als jemand in einer einzigen Nacht vier Frauen ermordet. Die Hauptverdächtige ist Hyeons Mentorin. Entschlossen, die Unschuld ihrer geliebten Lehrerin zu beweisen, beginnt Hyeon mit ihren eigenen geheimen Ermittlungen. Bei ihrer Suche nach der Wahrheit trifft sie auf Eojin, einen jungen Polizeiinspektor, der ebenfalls auf der Suche nach dem Mörder ist. Als die Beweise beginnen, auf den Kronprinzen als Mörder hinzuweisen, müssen Hyeon und Eojin zusammenarbeiten, um die dunkelsten Ecken des Palastes zu durchsuchen und die tödlichen Geheimnisse hinter dem Blutvergießen aufzudecken.

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Ähnliche


Für meinen Mann, Bosco.

Freundschaft entsteht in dem Moment,in dem der Eine zum Anderen sagt:»Was! Du auch? Ich dachte,ich sei der Einzige …«– C. S. Lewis

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

EPILOG

NACHWORT DER AUTORIN

DANKSAGUNGEN

GLOSSAR

1

Februar 1758

»Mir nach«, flüsterte Hofarzt Nanshin, »und keine Fragen.«

Leise wie Schneeflocken fiel das Mondlicht auf die tierförmigen Statuen, die in einer Reihe auf den Ausläufern der geschwungenen Dachgrate hockten. Die Bodenlaternen tauchten die vereisten Innenhöfe und das Labyrinth aus holzvergitterten Fenstern und Türen in goldenes Licht. Bis auf die entfernten Schläge der großen Glocke, deren Echo durch die Hauptstadt und über den Changdeok-Palast hinweggrollte, herrschte Stille. Beim achtundzwanzigsten Glockenschlag würden die Palasttore für die Nacht verriegelt werden.

Sobald uns der königliche Hofarzt den Rücken zuwandte, sahen Jieun und ich einander mit weit aufgerissenen Augen an.

»Unsere Schicht ist doch vorbei?«, formte sie lautlos mit den Lippen. »Sollten wir jetzt nicht nach Hause dürfen?«

Ich beobachtete den Hofarzt nervös aus den Augenwinkeln. »Sehr merkwürdig«, gab ich ebenso unhörbar zurück.

Aber woher sollten wir schon wissen, was merkwürdig oder ungewöhnlich war? Schließlich hatten wir unsere Stellen als Nae-Uinyeos, als handverlesene Palastschwestern, beide erst vor Kurzem angetreten.

»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, zischte der königliche Hofarzt atemlos und beschleunigte seinen Schritt, wobei seine Hände in den weiten, wallenden Ärmeln verschwanden. Das blaue Seidengewand wogte wie Sturmwellen, auf denen die lange weiße Schürze die Schaumkrone bildete. »Wir müssen uns beeilen.«

Dementsprechend erhöhten auch Jieun und ich das Tempo. Unsere Schatten, ihrer mit Tablett, meiner mit Laterne, zogen sich in die Länge. Obwohl wir uns zu dieser Stunde normalerweise über die knurrenden Mägen und Gliederschmerzen vom langen Arbeitstag beschwert hätten, schwiegen wir diesmal. Im Palast liefen die Dinge anders. Hier benahm sich niemand wie ein Kind – selbst die Königskinder verhielten sich wie ernste, nervöse Greise.

Mit langen, raschen Schritten verließen wir die königliche Apotheke in der östlichen Ecke des Palastes und liefen in einer geraden Linie von Innenhof zu Innenhof, begleitet vom Dröhnen der großen Glocke, die langsam und stetig zum sechsundzwanzigsten, siebenundzwanzigsten und letztlich achtundzwanzigsten Mal schlug. Ich meinte fast zu hören, wie die Riegel der Haupttore polternd vorgeschoben wurden. Ab jetzt war es unmöglich, den Palast zu verlassen.

Unbehagen machte sich in mir breit und durch meinen Kopf hallten all die Warnungen, die ich gehört hatte.

»Den Palast zu betreten bedeutet, einen blutigen Pfad zu beschreiten«, hatten unsere Medizinlehrer hinter vorgehaltener Hand getuschelt. »Es wird Blutvergießen geben. Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht eures ist.«

Je weiter wir nach Süden kamen, desto verlassener wirkte alles, bis wir nur noch vier Li von dem Ort entfernt waren, wo meines Wissens der Großteil der Königsfamilie wohnte. Das entsprach mindestens einem halbstündigen Fußmarsch.

Die Schatten, die sich die Pavillons einverleibten, wurden immer dunkler und die Schneedecke war jetzt nicht mehr mit bläulich schimmernden Fußabdrücken durchsetzt, sondern unbefleckt. Dann passierten wir endlich das bewachte Tor und betraten einen weiteren von Laternen erleuchteten Innenhof. In der Mitte befand sich ein quadratischer Seerosenteich, in dessen Eisschicht sich der runde, strahlende Mond und die schwarzen Kämme des Wächterbergs Bugaksan spiegelten.

So weit war ich noch nie vorgedrungen.

Vor dem Innenhof erhob sich ein lang gezogener, prächtiger Pavillon, dessen Fensteröffnungen mit Hanji-Papier bespannt waren. Er verfügte über eine Reihe hoch aufragender Säulen und ein kunstvolles schwarzes Ziegeldach. Auf der Holztafel, die unter dem Dachvorsprung hing, war Joseung-Pavillon zu lesen. Dies war das Hauptgebäude des Donggungjun-Komplexes: Hier residierte der Kronprinz höchstpersönlich.

Ich hatte Prinz Jangheon zwar noch nie zu Gesicht bekommen, aber schon finstere Gerüchte über ihn gehört. Es hieß, bei seiner Geburt sei der König, der normalerweise für seinen eisernen Stoizismus bekannt war, fast über sein Gewand gestolpert, so eilig hätte er seinen Sohn in den Armen halten wollen – einen wunderschönen Sohn, und noch dazu seinen einzigen lebenden Nachfolger. Den König hatte eine solche Liebe zu dem Kind ergriffen, dass er es ohne Umschweife offiziell zum Kronprinzen ernannt hatte. Dieser Rang hatte jedoch seinen Preis gehabt: Im zarten Alter von gerade einmal hundert Tagen war der junge Thronfolger den Armen seiner Mutter entrissen worden, um im Joseung-Pavillon isoliert vom Rest des Palastes von völlig Fremden aufgezogen zu werden. Dort wuchs er so weit von seinen Eltern entfernt auf, dass er sie bald nur noch einmal im Jahr zu Gesicht bekam. Und nun machten über den vernachlässigten Prinzen verstörende Gerüchte die Runde.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, hatte ich eine der Palastschwestern einmal sagen hören, »bis der Kronprinz ermordet wird, entweder von den Anhängern der Alten Doktrin oder von seinem eigenen Vater.« Solches Getuschel verstummte allerdings sofort, sobald Jieun und ich auftauchten; schließlich arbeiteten wir noch nicht lange im Palast.

»Kommt mit.«

Blinzelnd richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Hofarzt Nanshin, der uns bedeutete, schneller zu laufen. Wir taten wie geheißen und folgten ihm an einer Reihe Hofdamen vorbei, die reglos wie Statuen dastanden. Nur eine junge Frau musterte uns verstohlen. Unsere Blicke trafen sich kurz, bevor sie schnell zu Boden sah, dennoch fühlte es sich weiterhin so an, als würden uns Hunderte Augenpaare beobachten.

Mit klopfendem Herzen stellte ich die Laterne ab. Dann stiegen wir die Stufen zur Terrasse hoch und betraten den Pavillon, wo die gestaffelt angeordneten Holzschiebetüren nach und nach von Dienern aufgezogen wurden, die sich lautlos wie Schatten bewegten und uns weiter hineinwinkten, bis wir ins Innerste vorgedrungen waren. Dort erwartete uns ein Eunuch, dem die Verzweiflung ins bleiche Gesicht geschrieben stand.

»Ich weiß, Ihr seid für heute schon außer Dienst, Uiwon-nim«, flüsterte der Eunuch dem Hofarzt zu, »aber es ist dringend. Der Prinz braucht Eure Hilfe.«

Ich senkte den Kopf, um meinen schreckgeweiteten Blick zu verbergen. Seit meiner Ankunft im Palast hatte ich mich nur um Frauen gekümmert: um Prinzessinnen, Konkubinen und Hofdamen. Bei Belangen der männlichen Angehörigen des Königshauses hatte ich den Ärzten bisher noch nicht assistiert.

»Folgt mir bitte.« Gebückt führte uns der Eunuch in ein dunkles Gemach. Um den schwachen Schein der flackernden Kerzen und Laternen auf dem Boden drängten sich die Schatten. Überall standen achtlos beiseitegeschobene Bücherstapel herum. Von der Decke hing ein fein gewebter Sichtschutz aus Bambusstreifen, hinter dem sich eine lagernde Gestalt abzeichnete; davor standen zwei zitternde Hofdamen. Sobald wir eintraten, zogen sie den Sichtschutz nach oben, bis auf der Schlafmatte dahinter der weiß gekleidete Liegende zum Vorschein kam.

»Geht. Alle beide«, ertönte eine gebieterische Frauenstimme.

Während die Hofdamen den Raum verließen, wagte ich es, einen Blick auf die Frau zu werfen, die vor der Wand saß: Prinzessin Hyegyeong, die Gemahlin des Kronprinzen. Beide waren dreiundzwanzig Jahre alt und im Alter von neun Jahren miteinander verheiratet worden. Wie üblich sah sie makellos aus. Ihre Seidenrobe war über und über mit strahlenden, golddurchwirkten Drachenmedaillons bestickt und ihr glattes Haar war mithilfe eines goldenen Stabs zu einem dicken, perfekten Nackenknoten zusammengesteckt, der im Kerzenlicht schimmerte. Ich war ihr vorher schon ein paarmal im Chippok-Saal begegnet. Sie schien ihre Zeit lieber mit ihrer Schwiegermutter zu verbringen, als hier bei ihrem Gemahl zu bleiben.

»Seine Hoheit ist seit zwei Tagen krank. Sein Zustand verschlechtert sich«, erklärte Prinzessin Hyegyeong und erhob dabei die Stimme, als würde sie nicht zu uns, sondern zu denen dort draußen sprechen.

»Und hat Seine Königliche Hoheit heute schon Medizin eingenommen?«, fragte Hofarzt Nanshin.

»Nein. Heute Morgen schien es ihm zuerst viel besser zu gehen, aber am Nachmittag wurde er ohnmächtig. Seitdem ist er unpässlich.«

Der Arzt verneigte sich leicht. »Ich werde Seine Hoheit nun untersuchen.« Dann kniete er sich neben den jungen Mann, der mit dem Rücken zu uns lag, und Jieun und ich ließen uns neben dem Arzt nieder. Die Bettdecke raschelte, als sich der Kronprinz mithilfe seines Eunuchen aufsetzte.

»Könnt Ihr mir sagen, was mit Seiner Königlichen Hoheit nicht stimmt?«, fragte Prinzessin Hyegyeong. »Er klagt schon den ganzen Tag über Schwäche und Müdigkeit.«

Ich konnte einfach nicht widerstehen; schließlich hatte ich den Prinzen noch nie gesehen – nicht einmal aus der Ferne. Er verbrachte seine Zeit überwiegend im Verbotenen Garten, wo er sich im Schwertkampf und Bogenschießen übte. Behutsam ließ ich den Blick über das Schlafgewand, das dem Arzt entgegengestreckte Handgelenk, den dürr anmutenden Hals schweifen … und verharrte schließlich auf dem faltigen, verängstigten Gesicht.

Ich blinzelte verblüfft, kniff die Augen zusammen und sah noch einmal hin. Nichts hatte sich verändert. Das war keine Einbildung.

Maßlos verwirrt betrachtete ich den alten Mann – einen Eunuchen –, der dort im Schlafgewand des Kronprinzen auf dessen Bett saß. Das war nicht Prinz Jangheon. Und doch kniete Hofarzt Nanshin weiterhin neben dem Hochstapler und überprüfte mit geübten Fingern seinen Puls, als wäre er tatsächlich der zukünftige König.

»Seine Königliche Hoheit fühlt sich so schlecht, weil sein Qi geschwächt ist.« Als sich der Arzt kurz umwandte und sein Profil zeigte, fiel mir der Schweiß an seinen Schläfen auf.

»Schwester Jieun, bring den Ginsengtee.«

Aber Jieun blieb wie paralysiert sitzen und starrte unentwegt den falschen Prinzen an. »Eu… Eunuch Im?«, flüsterte sie.

Aschfahl warf ihr der Arzt einen finsteren Blick zu. »Kein Wort«, zischte er, dann drehte er sich zu mir um. »Schwester Hyeon, bitte hol die Medizin.«

Sofort griff ich nach Jieuns Tablett und stand auf. Zu meinem Entsetzen zitterte ich und das Tablett bebte in meinen Händen. Alle Blicke waren auf mich gerichtet.

»Dein Gesicht scheint errötet, Schwester Hyeon«, bemerkte Prinzessin Hyegyeong gedämpft, »und du wirkst ziemlich nervös.«

Ich umklammerte das Tablett fester, doch es klapperte immer noch. »Ich bitte um Verzeihung, Eure Hoheit.«

»Man hat mir erzählt, dein Geburtsname sei Baek-Hyeon.«

»Ja«, erwiderte ich atemlos, »so heiße ich.«

»Dieser Name ist normalerweise Jungen vorbehalten.«

Am liebsten hätte ich mir den Schweiß von der Stirn gewischt. Nie zuvor hatte mich ein Mitglied des Königshauses derart ins Visier genommen. »Meine Mutter war bei meiner Geburt so enttäuscht, dass sie mir trotzdem den Namen eines Jungen gegeben hat.«

Unter ihrem aufmerksamen Blick kam mir der Raum plötzlich heiß und stickig vor; selbst der geringste Luftzug brannte auf der Haut. Dann flüsterte sie: »Du gleichst Prinzessin Hwahyup, der Lieblingsschwester des Prinzen, fast aufs Haar. Sie ist seit sechs Jahren tot.«

Unsicher, ob Ihre Hoheit die angesprochene Ähnlichkeit als Affront wertete, blieb ich wie angewurzelt stehen. Erst als sie den Blick von mir löste und sich meine Schultern wieder entspannten, merkte ich, wie schmerzhaft sich meine Muskeln verkrampft hatten.

»Und du musst Jieun sein«, stellte Prinzessin Hyegyeong mit nach wie vor gedämpfter Stimme fest, »die Halbcousine des neuen Polizeiinspektors.«

»J… j… ja«, stammelte Jieun, »k… k… korrekt.«

Ich stellte das klappernde Tablett ab und kniete mich wieder an meinen Platz neben dem Hofarzt, wo ich die schwitzigen Hände in den Rockfalten vergrub. Ich wollte zu Jieun hinüberschauen, aber die Angst hielt mich davon ab.

»Ich habe euch beide aus einem bestimmten Grund herbestellt.«

Prinzessin Hyegyeong blickte kurz zu den papierbezogenen Holzgittertüren hinüber, als auf der anderen Seite Schritte knarrten. Die Silhouette einer Hofdame huschte vorbei und verschwand. »Und zwar, weil ihr beide etwas gemeinsam habt.«

Endlich traute ich mich, Jieun anzusehen. Wir waren beide erst achtzehn geworden, waren beide die Töchter einfacher Konkubinen und damit Dienstmädchen von unreinem Blut. Wir gehörten zu den Cheonmin, zur Unterschicht der Gesellschaft. Der einzige Unterschied zwischen uns bestand darin, dass Jieuns Vater sie als seine Tochter anerkannte, während meiner mich ebenso wenig beachtete wie seine Hausangestellten.

»Ihr wurdet beide frisch als Palastschwestern ausgewählt«, fuhr Prinzessin Hyegyeong fort. »Und davor wart ihr Schwestern im Hyeminseo – noch dazu Lieblinge von Schwester Jeongsu, wie ich höre. Und dieser Frau vertraue ich.«

Ich krallte mich in meinem Rock fest. Jieun musste ebenso verwirrt sein wie ich.

»Schwester Jeongsu ist eine Freundin der Familie. Und auch die Familie von Hofarzt Nanshin ist eng mit der meinen verbunden. Ich hoffe, ich kann euch ebenfalls vertrauen, Jieun und Hyeon, denn eure Mentorin hat mir genau das versichert.« Dann schlich sich ein düsterer Unterton in ihre Stimme. »Ich hoffe, euch hat noch niemand als Spioninnen angeheuert.«

»Nein, natürlich nicht, Eure Hoheit!«, platzte es aus Jieun heraus. »Wir würden es nie wagen …«

Ihre Hoheit hob den Zeigefinger an die Lippen. »Hier im Palast erhebt man nur dann die Stimme, wenn etwas für die Öffentlichkeit bestimmt ist; im Privaten flüstert man. Hier haben die Wände Ohren. Jeder spioniert für irgendjemanden.« Dann schweifte ihr Blick wieder zum falschen Prinzen. »Also, kann ich euch vertrauen?«

»Ja«, antworteten Jieun und ich im Chor.

»Dann kümmert euch weiter um Seine Hoheit. Und wenn der König ihn zu sprechen wünscht, werdet ihr Seiner Majestät ausrichten, dass sein Sohn nach wie vor unpässlich ist.«

Verlangte sie allen Ernstes von uns zu lügen – den König höchstpersönlich anzulügen?

Das konnte uns den Kopf kosten.

Das Atmen fiel mir schwer, dennoch verneigte ich mich, ebenso wie Jieun. Es war unsere Pflicht zu gehorchen. Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Das Rauschen meines Pulses vermischte sich mit dem Rascheln von Hofarzt Nanshins Seidengewand, der nun den falschen Prinzen umsorgte: eine Darbietung für das unsichtbare Publikum.

Für die Hofdamen. Die Eunuchen. Die Spione.

Ich konnte mir bildlich vorstellen, was sie sahen: ein Schattentheater hinter den mit Hanji-Papier bespannten Türen; die Silhouetten eines Arztes und zweier Krankenschwestern, die im dämmrigen Kerzenschein um den Prinzen herumhuschten.

Wie lange unsere Vorführung anzudauern hatte, wusste ich nicht, aber die nachfolgenden Stunden der Anspannung zogen sich so in die Länge, dass meine stechende Angst davor, unwissentlich in ein tödliches Spiel geraten zu sein, sich zu pochenden Kopfschmerzen abschwächte. Und je mehr Zeit verstrich, desto mehr verdrängte die beklemmende Stille selbst die Kopfschmerzen – bis nur noch eine einzige Frage übrig blieb:

Wohin ist der echte Prinz Jangheon verschwunden?

Diese Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich mich bedächtig in seinem Gemach umsah. Mein Blick streifte eine schimmernde Porzellanvase, lackierte Möbel mit Perlmuttintarsien und blieb schließlich an ein paar verstreuten Büchern in der Nähe hängen, bei denen es sich – wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte – um okkulte Werke handeln musste. Seine Hoheit war nämlich regelrecht besessen von daoistischen Schriften, von magischen Formeln und Lehren darüber, wie man sich Geister und unsichtbare Mächte untertan machte.

Einem Prinzen mit derart unkonventionellen Vorlieben war der Palast vermutlich zu banal geworden. Und vielleicht war das der Grund, warum er sich außerhalb der Mauern des Palastes herumtrieb – was keinem Mitglied des Königshauses ohne Erlaubnis des Königs gestattet war. Ziellos kreisten meine Gedanken um Bücher und Möbelstücke, auf der Suche nach etwas, worauf ich mich konzentrieren, womit ich mich wach halten konnte. So flossen die Stunden zäh und lautlos dahin, als wären wir in einer endlosen Zeitschleife gefangen.

Hofarzt Nanshin saß reglos wie ein Stein da; Jieun vertrieb sich die Zeit damit, die Akupunkturnadeln in ihrem Norigae-Chimtong zu zählen. Dabei handelte es sich um ein kleines Silberetui, verziert mit kunstvollen Knoten und Quasten, das an den Kordeln um die Hüfte ihrer Uniform angebracht war. Es gehörte zur Grundausstattung einer jeden Uinyeo. Eunuch Im, der falsche Prinz, unterdrückte ein Gähnen. Ich kniff mich, aber das Taubheitsgefühl wurde immer schlimmer. Noch nie hatte sich Furcht so anstrengend angefühlt wie heute; ich war völlig erschöpft. Ob eine oder mehrere Stunden vergangen waren, konnte ich nicht mehr sagen.

Wieder kniff ich mich, diesmal fester. Bleib wach!

Aber dann schweiften meine Gedanken endgültig ab. Sie verließen das königliche Gemach, den Palast und ließen sich in der nahe gelegenen medizinischen Dienststelle, dem Hyeminseo, nieder. Dort waren Jieun und ich seit unserem elften Lebensjahr zu Krankenschwestern ausgebildet worden. Die Tage dort hatten wir mit der Behandlung der bürgerlichen Patienten und eifrigem Lernen für die bevorstehenden Prüfungen verbracht. Wir waren fest dazu entschlossen gewesen, Jahrgangsbeste zu werden – denn jedes Jahr wurden die zwei besten Schülerinnen für den Palastdienst ausgewählt. Für diesen Lebenstraum hatte ich gelernt, ohne viel Schlaf auszukommen. Bis spät in die Nacht hinein hatte ich gepaukt, um mit den anderen brillanten Schülerinnen der Anfängerklasse – alles Dienstmädchen in ungefähr meinem Alter, also zwischen zehn und fünfzehn – gleichzuziehen. Den ganzen Tag hatten wir dagesessen, in unseren rosafarbenen Jeogori-Jacken und blauen Röcken, die Haare zu ordentlichen Zöpfen geflochten, und hatten die Nase entweder in Bücher gesteckt oder aufmerksam nach vorn geschaut, um den Ausführungen unserer strengen Lehrerinnen zu lauschen. Als mich eine Lehrerin einmal getadelt hatte, weil ich im Unterricht eingeschlafen war, hatte ich mir beigebracht, um jeden Preis wach zu bleiben, indem ich mich so fest kniff, dass die Haut sich schälte.

Kohpi. Das war der Spitzname, auf den mich meine Mitschülerinnen getauft hatten, weil meine Nase vor Erschöpfung ständig blutete. Was natürlich vom ständigen Kneifen und Wachbleiben kam, wann immer ich keine drei Stunden geschlafen hatte. Schwester Jeongsu hatte mir sogar ein paar kurze Stoffstreifen gegeben, die ich immer in meiner Tasche aufbewahren sollte, damit ich sie mir in die Nasenlöcher stecken konnte, wann immer das Blut floss.

Obwohl ich also Expertin im Wachbleiben war, kam mir Schlaf jetzt so verlockend vor wie noch nie.

Irgendwann musste ich wohl doch eingenickt sein, denn ich schreckte erst zum tiefen, hallenden Dröhnen der großen Glocke hoch. Mir war noch ganz schwummrig zumute und ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass die Glocke das Ende der Ausgangssperre verkündete: Es war fünf Uhr morgens.

Ich rieb mir die Augen und sah mich um.

Der Raum war noch immer dunkel. Prinzessin Hyegyeong, die offensichtlich noch wach war, saß nach wie vor mit hängenden Schultern und leicht nach vorn gebeugt in den Schatten. Auf ihrer hohen Stirn glitzerten Schweißperlen, während sie die Ohren nach den Schritten des Königs offen hielt. Bald schon würde der ganze Palast erwachen und die Abwesenheit des Kronprinzen bemerken. Das verhieß nichts Gutes für sie – oder für uns.

Hinter mir glitten die Türen so abrupt auf, dass ich mich ruckartig umdrehte. Vor uns stand ein junger Eunuch, der völlig außer Atem seine schwarze Kopfbedeckung zurechtrückte.

»Eunuch Choe«, fragte Prinzessin Hyegyeong schneidend, »wo steckt Seine Hoheit? Ich habe Euch doch aufgetragen, nicht zurückzukehren, ehe Ihr ihn gefunden habt.«

»Ich …« Hektisch atmend wischte er sich über die Stirn. »Ich bin in den Palast zurückgekehrt, sobald die Tore wieder offen standen, Eure Hoheit. Der Prinz ist just in diesem Moment auf dem Weg hierher.«

Ihre Hoheit legte kurz den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ihre Stirn glättete sich. »Geht. Richtet Seiner Hoheit aus, er soll durch das Hinterfenster in sein Gemach steigen, damit ihn die Hofdamen nicht sehen. Ich habe es für ihn offen gelassen.« Sie wartete, aber der Eunuch blieb mit fest verschränkten Händen an Ort und Stelle stehen. »Sonst noch etwas?«

Eunuch Choe rang nervös die Hände. »In der Hauptstadt hat sich ein großes Unglück ereignet, Eure Hoheit. Ein M… M… Massaker. Es gab ein Massaker.«

Mir stockte der Atem. Bei seinen Worten lief mir ein Schauer über den Rücken.

»Was genau meint Ihr?«

»Ich habe Seine Hoheit gerade zurückbegleitet, als er mir erzählt hat, wie er Zeuge eines gar schrecklichen Anblicks wurde. Der Kronprinz war zutiefst erschüttert, weswegen …«, Eunuch Choe blickte kurz zur Tür, bevor er zu Ihrer Hoheit hinübereilte, »… weswegen seine Verfassung äußerst labil ist. Eure Hoheit, Ihr solltet den Pavillon sofort verlassen und in Eure Residenz zurückkehren.«

Ich runzelte die Stirn. Schwebte Ihre Hoheit etwa in Gefahr?

Als hätte Prinzessin Hyegyeong meine Frage erahnt, sah sie plötzlich in meine Richtung und wirkte fast überrascht darüber, dass wir immer noch dort knieten. »Die Palasttore stehen jetzt offen. Geht. Und behaltet das hier für euch, wenn euch euer Leben lieb ist.«

Wir verneigten uns und zogen uns leisen Schrittes zurück. Ich konnte kaum erwarten, mit Jieun über diese ganze Sache zu sprechen. Auf dem Heimweg tratschten wir nämlich andauernd über das Palastgeschehen. Ihr Haus lag im nördlichen Bezirk, meines in der Nähe des Festungstores.

Kurz bevor sich die Türen hinter uns schlossen, hörten wir noch, wie Eunuch Choe sagte: »Vier Frauen wurden ermordet, Eure Hoheit. Im Hyeminseo.«

Bei diesem Wort verkrampfte sich mein Herz. Hyeminseo. Für die meisten handelte es sich dabei lediglich um die medizinische Dienststelle, für mich war es jedoch mein erstes und einziges echtes Zuhause. Dies war der Ort, an dem der Traum, über meine bisherige Stellung in der Gesellschaft hinauszuwachsen und Krankenschwester zu werden, erste Blüten getrieben hatte; der Traum, mehr zu sein als Hyeon, uneheliche Tochter und einfache Bürgerliche.

Ich hoffte, mich verhört zu haben, doch als ich Jieuns entsetzten Blick und aufgerissenen Mund bemerkte, stolperte ich beinahe die Steinstufen hinab und wäre um ein Haar mit einer Handvoll Hofdamen kollidiert. Ich versuchte, tief Luft zu holen, aber mein Hals fühlte sich an, als hätten sich darin Eissplitter gebildet.

Krankenschwestern aus dem Hyeminseo … tot … ermordet?

Ehe ich mich’s versah, war ich auch schon losgeeilt.

»Schwester Hyeon!«, rief mir Hofarzt Nanshin hinterher. »Im Palast ist das Rennen nicht gestattet …«

»Uiwon-nim, ich muss gehen.« Und mit diesen Worten rannte ich über den Hof, nahm mehrere Steinstufen auf einmal und schlitterte über die vereiste Schneedecke. Ich brauchte einen Moment, bis mir auffiel, dass Jieun direkt hinter mir lief. Unsere Herzen schlugen im Takt zur selben Hoffnung.

Bitte lass den Eunuchen falschliegen. Bitte. Bitte. Bitte.

Über die mit Schnee gepuderte Hauptstraße zog bläulicher Nebel. Die Kälte, die er mit sich brachte, brannte uns an Wangen und Ohren, während wir an den geschlossenen Marktständen der Donhwamunro-Straße vorbeihasteten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und an jeder Ecke lauerten finstere Schatten. Als wir die gewaltigen Mauern des Hyeminseo erreichten, hinter denen die medizinische Dienststelle und ihre weitläufigen Innenhöfe lagen, klapperten mir die Zähne.

»Warte.« Jieun fasste mich am Ellenbogen und wir blieben stehen. Vor den Toren hatte sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet. Die Züge des Polizisten, der den Eingang bewachte, waren im flackernden Fackelschein in rötlich oranges Licht getaucht.

»Ist das da nicht Palastschwester Inyeong?«

»Schwester Inyeong? Aber warum sollte sie hier sein …?« Mein Blick blieb an dem bekannten Gesicht in der Menge haften. Dort stand tatsächlich Schwester Inyeong – kreidebleich. Sie trug einen aus Stroh gewebten Umhang und starrte geradeaus. Als eine Böe aufkam, zog sie die Ärmel nach unten und schlang den Umhang fröstelnd enger um sich. Bis auf die Tatsache, dass sie ein paar Jahre älter als ich war, wusste ich kaum etwas über sie. »Vielleicht kann sie uns erzählen, was hier passiert ist«, flüsterte ich.

Wir bahnten uns den Weg durch die tuschelnden Schaulustigen und eilten zu ihr hinüber. Sobald wir nah genug herangekommen waren, streckte ich die Hand nach ihrer in Stroh gehüllten Schulter aus, aber sie duckte sich weg und verschwand tiefer in der Menge. Dann schlüpfte sie in eine Gasse und ließ mich mit meiner Frage allein.

Wer ist gestorben?

Ich drehte mich um und verrenkte mir fast den Hals, um an dem Polizisten am Tor vorbeizuschauen, dessen Speer im Fackellicht aufblitzte. Dort im Hof hatte man vier Leichen unter Strohdecken aufgebahrt, eine neben der anderen, völlig reglos. In einem Anflug von Panik schlang ich die Arme um mich und versuchte, mich nicht davon übermannen zu lassen.

Ich stand nur noch ein paar Schritte vom Tor entfernt und wagte mich noch ein Stück weiter vor.

Jieun hielt mich am Ärmel fest. »Wo willst du hin?«

»Ich muss herausfinden, wer ermordet wurde«, flüsterte ich zurück.

»Aber Hyeon-ah, das ist ein Tatort!«

»Vielleicht können wir helfen. Schließlich waren wir auch mal Schwestern hier.«

Bei meinem nächsten Schritt versperrte mir der Polizist mit dem Speer den Weg.

»Zurücktreten!«, blaffte er.

Jieun wich sofort zurück, aber ich rührte mich nicht vom Fleck. Nacktes Grauen durchströmte meine Adern, als ich in den Innenhof blickte.

»Zurücktreten!«, ermahnte er mich noch einmal.

Die Worte kamen wie von selbst über meine Lippen. »Ich bin Krankenschwester. Ich bin hier, um die Leichen zu untersuchen.«

Als mich der Polizist aufmerksam musterte, stellte ich mir bildlich vor, was er sah: eine junge Frau in hellblauer Seidenjacke, dunkelblauem Rock und langer weißer Schürze. Das Haar hatte ich mir mit einem leuchtend roten Band zu einem Knoten gebunden und darüber trug ich eine Garima – eine feste schwarze Kopfbedeckung aus Seide, die kronengleich am Scheitel befestigt wurde und wie ein Buchdeckel über den Hinterkopf hing.

»Eine Schwester aus dem Hyeminseo?«, fragte er.

»Nein.« Ich zeigte ihm die Erkennungsmarke, die mir Zutritt zum Palastgebäude verschaffte. »Ich bin eine Nae-Uinyeo.«

Der Polizist legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Sie brauchten mich nicht; sie hatten selbst genug fähige Leute, um die Leichen zu untersuchen. Überwiegend waren das wahrscheinlich Damos – Krankenschwestern, die als Bestrafung für ihre schlechten Noten bei der Polizei arbeiten mussten. Trotzdem ließ der Beamte den Speer sinken und fragte: »Man hat Euch also herbestellt?«

Ohne zu zögern, log ich: »Ja, das ist korrekt.«

»Na, wenn Ihr den Anblick ertragen könnt, dann tretet ein. Welcher Unmensch würde so etwas nur tun.« Keine Frage, eine Feststellung.

Ein letztes Mal noch atmete ich tief durch. Sobald ich den Hof betrat, wurde mir eiskalt ums Herz. Ich begegnete dem Tod nicht zum ersten Mal – allerdings noch nie so wie jetzt. Trotz der Strohdecken auf den vier Leichen sah ich die Ansätze der ordentlich gekämmten Haare, die reglosen Fingerspitzen, die Säume der Schwesternuniformen.

Dann ließ mich eine plötzliche Bewegung zusammenfahren. Hinter den papiernen Fenstern huschte ein Lichtfleck vorbei, der wahrscheinlich von den Polizisten stammte, die gerade das Hauptgebäude untersuchten. Der Schein verharrte kurz auf dem Blutspritzer, der sich quer über das Hanji-Fenster zog, dann fiel er in den Innenhof und ließ die Strohdecken golden schimmern.

Als ich vor den vier Toten in die Hocke ging, verwandelte sich mein Atem in ein hektisches Keuchen. Mit zitternden Händen griff ich nach der ersten Strohdecke und zog daran. Das blutige Schmatzen verursachte mir eine Gänsehaut. Es fühlte sich an, als würde ich eine dicke Schleimschicht abziehen, die sich auf den Leichen gebildet hatte. Als ich noch einmal zog, kam ein schmales Gesicht mit hoher Stirn und glasigen Augen zum Vorschein. Der Mund war zu einem stillen Schrei geöffnet.

Vor mir lag die neunzehnjährige Bitna, eine Schwesternschülerin. Das ferne Echo ihrer Stimme hallte in meinen Ohren wider. Hyeon-ah! Leihst du mir deine Aufzeichnungen zum Injaejikjimaek?

Ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen. Sobald ich mich beruhigt hatte, zog ich die Decke weiter nach unten und hielt erst inne, als zwei blutige Schnitte zum Vorschein kamen: einer an der Kehle und ein längerer, der quer über die Brust verlief. Ihre Fingernägel waren blutverkrustet. Offenbar hatte sie sich heftig gewehrt.

Ich musste die Augen schließen, um gegen das kalte Grauen anzukämpfen. Also wartete ich ab, bis sich mein Puls und Atem beruhigt hatten, dann erst fuhr ich fort, die anderen drei Leichen in Augenschein zu nehmen.

Bei der zweiten Leiche handelte es sich um die zwanzigjährige Eunchae, ebenfalls eine Schwesternschülerin, mit der ich im Hyeminseo zusammengearbeitet hatte. Nächsten Monat hätte sie ihren Verlobten geheiratet. Sie hielt ein ausgerissenes Haarbüschel umklammert. Um die Nase hatte sich ein blauer Fleck gebildet und auch unter der Haut zeichneten sich Blutergüsse ab. Man hatte ihr in den Bauch gestochen und wie Bitna die Kehle durchgeschnitten.

Die dritte Tote war Oberschwester Heejin, die schon etwas älter und eine der wenigen gewesen war, die sich Zeit nahmen, um den Schülerinnen, die im Unterricht nicht mitkamen, Nachhilfe zu erteilen. Erst vor Kurzem hatte sie mir noch von ihrer kleinen Nichte erzählt und welche Freude es sei, sie im Arm zu halten. Jetzt würde sie die Kleine nie wieder an sich drücken können. Jemand hatte der alten Frau den Rücken aufgeschlitzt – wahrscheinlich, als sie sich gerade zum Weglaufen umwandte. Ihre Kehle wies den gleichen Schnitt auf wie die der anderen beiden.

Als ich nach der letzten Decke griff, konnte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten. Also setzte ich mich auf den Boden und blinzelte mir den kalten Schweiß aus den Augen.

Ich musste tief durchatmen, um ein Wimmern zu unterdrücken. Obwohl ihr Gesicht noch verdeckt war, wusste ich bereits, wer das vierte Opfer war: Das musste Schwester Jeongsu sein. Sie war zehn Jahre älter und wie eine große Schwester für mich. In den frühen Morgenstunden hatte sie ebenfalls oft Nachhilfe gegeben.

Zitternd atmete ich ein und zog die Decke beiseite.

Einen Moment lang war ich verwirrt, denn dort lag nicht etwa meine Lehrerin, sondern eine Frau in der dunkelblauen Uniform einer Musuri, einer rangniederen Palastbediensteten.

Ich spürte ein Stechen hinter dem linken Augapfel, als mir dämmerte, wer hier vor mir lag: Hofdame Ahnbi. Ich hatte sie schon einmal gesehen, nämlich als sie eine der Konkubinen des Königs, Madam Mun, bedient hatte. Sie war ungefähr in meinem Alter gewesen. Aber was hatte eine Hofdame hier verloren, noch dazu in der Uniform einer Bediensteten? Wie konnte sie außerhalb des Palastes ermordet werden? Hofdamen galten als Frauen des Königs – es war ihnen verboten, zu heiraten oder den Palast zu verlassen. Jeder Regelverstoß wurde streng geahndet, oft sogar mit dem Tod.

Eine nasse Haarsträhne fiel mir ins Gesicht. Ich schob sie hinters Ohr und nahm Ahnbi genauer unter die Lupe. Allem Anschein nach hatte ihr der Mörder in die Brust gestochen. Ihre Stichwunde hatte am wenigsten von allen geblutet, sie musste ihr also mit einer kleineren Klinge beigebracht worden sein. Anschließend war sie durch einen einzigen Stich in die Kehle getötet worden. Es gab keine Anzeichen für Abwehrverletzungen – zumindest nicht auf den ersten Blick.

»Ihr wollt mir also weismachen, Ihr hättet nichts gesehen«, dröhnte eine tiefe Stimme aus dem Gebäude. Ruckartig hob ich den Kopf. Im Laternenschein zeichnete sich hinter der Papiertür eine kräftig gebaute Silhouette ab. »Und da seid Ihr ganz sicher?«

Ich eilte um das Gebäude herum in den Hinterhof, außer Sichtweite des Polizisten, der das Eingangstor bewachte. Dort trat ich dicht an den Rand des vergitterten Fensters heran, sorgsam darauf bedacht, keinen Schatten auf das Hanji-Papier zu werfen.

»Ich muss wohl eingeschlafen sein, Kommandant Song.«

Ich runzelte die Stirn. Schwester Jeongsu?

»Eingeschlafen?«

»Während Oberschwester Heejin Unterricht gegeben hat, war ich so müde, dass ich mich in einem anderen Zimmer hingelegt habe. Ich war erschöpft von den zwei Geburten, bei denen ich gestern assistiert habe.«

»Geburten, so so«, knurrte der Kommandant. »Warum eine Mutter gerade Euch vertrauen sollte, ist mir schleierhaft. Wo Ihr doch so fahrlässig mit dem Leben anderer umgeht …«

»Kommandant, ich würde keiner der Schwestern je ein Haar krümmen. Wir verstehen uns alle gut. Ich helfe ihnen beim Lernen. Oft treffen wir uns spät nachts oder früh am Morgen für Nachhilfestunden. Bitte bleibt ruhig und überdenkt die Sache noch einmal. Auch ich möchte für meine toten Schülerinnen Gerechtigkeit.«

»Ich bin ruhig«, zischte er. »Und ich werde noch herausfinden, was Ihr vor mir versteckt. Ich weiß, dass Ihr etwas verheimlicht.« Seine Silhouette tat einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. »Vor zwölf Jahren habt Ihr mir schon einmal etwas verheimlicht und ich bin sicher, Ihr tut es schon wieder.«

Am liebsten hätte ich Kommandant Song durch das Fenster zugerufen, dass er seine Zeit verschwendete. Schließlich konnte er jeden in Hanyang, der Hauptstadt Joseons, fragen: Alle würden Schwester Jeongsu nur als freundlich und gutmütig beschreiben. Selbst Prinzessin Hyegyeong hatte erst heute Morgen noch wohlwollend von ihr gesprochen. Der echte Mörder lief nach wie vor frei herum …

Ich erstarrte. Meine Nackenhaare stellten sich auf; ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam drehte ich mich um, in der Hoffnung, nur den graublauen Himmel über der finsteren Landschaft zu sehen. Doch stattdessen stand dort eine Gestalt in Strohsandalen, verstaubter weißer Hose und mehrfach geflickter Jacke. Der Puls rauschte in meinen Ohren, als ich der ruhigen Miene eines schlammbeschmierten Gesichts begegnete, das halb im Schatten lag. Die schrägen, geschwungenen Brauen zeichneten sich deutlich auf seiner gebräunten Haut ab. Das Haar hatte er sich auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden. Er war hager und hochgewachsen und den hohlen Wangen nach musste er ziemlich ausgehungert sein. Ein einfacher Bauer oder Diener. Wahrscheinlich wollte er sich im Hyeminseo behandeln lassen.

»Was tust du hier?«, flüsterte ich.

Seine Stimme war so stoisch wie der Blick, mit dem er meinen erwiderte. »Dies ist ein Tatort.«

Wahrscheinlich arbeitet er für die Polizei, dachte ich. Vielleicht ein Dienstbote. Er konnte jeden Moment Alarm schlagen, dass sich eine Verdächtige im Hinterhof herumtrieb.

»Ich bin Krankenschwester. Der Wachmann hat mich hereingelassen.« Ich hielt seinem Blick stand. »Du kannst ihn gerne fragen.«

»Du arbeitest also im Hyeminseo?«

»Im Palast. Aber ich war mal Schülerin hier.«

Er runzelte die Stirn »Kennst du die Verdächtige da drin?«

Bei dem Wort Verdächtige zuckte ich zusammen. »Das ist meine Mentorin.«

»Deine Mentorin …« Er drehte den Kopf in die Richtung von Kommandant Song, von dem mich nur eine dünne Papierschicht trennte. »Der Kommandant wird alles andere als erfreut sein, wenn er herausfindet, dass ihn die Schülerin der Hauptverdächtigen belauscht hat.«

»Ich habe nicht gelauscht!«, platzte es aus mir heraus. »Ich wollte gerade gehen. Ich habe mich bloß gefragt, woher die Stimmen kommen. Außerdem hat mich der Polizist am Tor hereingelassen. Du kannst ihn ja selbst fragen …«

»Fesselt sie.« Kommandant Songs Stimme ging mir durch Mark und Bein. »Und sperrt sie in den Zellentrakt. Wir werden sie später am Morgen befragen.« Dann wandte sich seine Silhouette wieder Schwester Jeongsu zu. »Wenn Ihr kooperiert, wird das ein kurzes Verhör und Ihr könnt schon nach ein paar Tagen ins Hyeminseo zurückkehren. Wie schon gesagt, das hängt alles von Eurer Kooperationsbereitschaft ab.«

Es folgte das Rascheln von Stoff – ohne ein Geräusch des Widerstands: Schwester Jeongsu ließ sich bereitwillig abführen. Dann entfernten sich die knarrenden Schritte aus dem Raum, gefolgt von der Stimme des Kommandanten, die von irgendwo auf der anderen Seite des Hyeminseo ertönte. »Wachtmeister Gwon, fahrt mit dem Zeugenverhör fort. Der Rest von euch hält weiter nach der Tatwaffe Ausschau.«

Ich wandte mich wieder dem Dienstboten zu. »Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.«

»Ich glaube, du solltest mir zum Haupthof folgen.«

»Nein.« Ich versuchte wegzugehen, doch er machte einen so plötzlichen Ausfallschritt, dass ich nach nur einem Schritt direkt vor seiner Brust stand und meine Nase beinahe seine schmutzige Kleidung streifte. »Lass mich vorbei. Ich bin Palastschwester.«

»Jeder, der irgendwie mit dem Tatort in Verbindung steht, muss verhört werden.«

»Aber ich habe ja gar nichts mit dem Tatort zu tun! Ich bin gerade erst angekommen!«

»Tja, das kannst du dem Kommandanten erzählen …«

»Warte.« Meine Gedanken überschlugen sich. Ich kramte in der Schürzentasche und zog eine Münze heraus, die ich ihm hinhielt. »Hier, nimm.«

Er betrachtete die schimmernde Münze. »Auf Bestechung steht die Todesstrafe.«

Langsam atmete ich aus und unterdrückte ein Fluchen. »Was willst du dann? Irgendetwas muss es doch geben!«

»Beweise.« Schlicht und ergreifend. »Nichts weiter.« Er war also ein aufrichtiger Dienstbote; höchstwahrscheinlich galt seine Treue dem Kommandanten.

»Lässt du mich gehen, wenn ich dir ein entscheidendes Detail über den Fall verrate? Dann kannst du dem Kommandanten sagen, du hättest es selbst herausgefunden.«

»Ich bezweifle, dass du irgendetwas von Bedeutung zu sagen hast …«

Meine Garima flatterte im Wind. Sein Blick folgte dem schwarzen Seidenstück, das um meinen Scheitel tanzte. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Rücken; anscheinend hatte er seine Meinung geändert. »Na schön. Erzähl mir, was du weißt.«

Ich steckte die Münze wieder ein und hielt inne, um mich zu sammeln. Dabei blätterte ich gedanklich durch sämtliche medizinische Fallbeispiele, die ich gelesen und auswendig gelernt hatte. Und während ich Ausschau nach dem Kommandanten und den anderen Polizisten hielt, sagte ich schließlich: »Stichwunden sind nie sauber. Meistens findet man im direkten Umkreis mehrere Schnitte und Einstichstellen. Beim vierten Opfer, bei der Frau in der dunkelblauen Uniform, ist mir allerdings sofort aufgefallen, was fehlt: Abwehrverletzungen. Sie wurde durch einen einzigen Stich in die Kehle getötet. Das war ein gezielter Angriff. Der Mörder wusste genau, an welcher Stelle er den tödlichsten Schaden zufügen konnte. Ich finde das äußerst aufschlussreich. Außerdem rührt diese Wunde von einer kleineren Tatwaffe her als die, mit der die anderen Opfer ermordet wurden.«

Als mir auffiel, dass er mich ohne ein Wort, ohne zu blinzeln, aus dunklen Augen anstarrte, hielt ich in meinem Gedankengang inne. Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten.

»Woher weißt du das alles?«, fragte er leise.

»Ich bin Krankenschwester.«

»Genau. Du bist Krankenschwester – keine Ermittlerin.«

»Uinyeos ermitteln den Zustand des menschlichen Körpers …«

Ganz in der Nähe knirschten Schritte im Schnee.

»Was?« Kommandant Songs Stimme zerriss die kühle Morgenluft. »Ihr habt einer Frau Zutritt zum Tatort gewährt? Wo steckt sie jetzt?«

Mein Herz schlug schneller, als ich den Dienstboten ansah. Mit nur einem einzigen Wort konnte er mich an den Kommandanten verraten …

»Du solltest jetzt gehen«, flüsterte er stattdessen.

Sofort rannte ich auf die Steinmauer zu, die das Hyeminseo umgab und die viel zu hoch war, um sie zu erklimmen. Über meine Schulter warf ich dem Diener einen verlegenen Blick zu. »Könntest du mir bitte über die Mauer helfen?«

Er versteifte sich. »Wie genau stellst du dir das vor?«

»Zum Beispiel, indem du mich auf deinen Rücken steigen lässt?«

»Auf den Rücken?«

»Beeilung«, zischte ich, »er kommt!«

Er rührte sich nicht.

Ich seufzte und murmelte: »Dann klettere ich eben alleine hoch.«

Nachdem ich mir die klammen Handflächen am Rock abgewischt hatte, nahm ich Anlauf und sprang, sodass ich die eisigen Ziegel zu fassen bekam. Mit aller Kraft zog ich mich daran hoch und schrammte mit den Knien über die Mauer, doch dann glitten meine Finger ab und ich stand wieder auf dem Boden.

»Eine Palastschwester?« Kommandant Songs Stimme klang nun deutlich näher. »Wie hat sie ausgesehen?«

Ich musste von hier weg. Und zwar sofort.

Also nahm ich mich zusammen und wagte einen weiteren Versuch. Als ich mich an der Mauer hochzog, gelang mir ein Blick auf die andere Seite. Ich strengte mich so sehr an, dass sich Schweiß auf meiner Stirn bildete. Meine Arme zitterten, die Finger schmerzten. Und plötzlich spürte ich ein Paar Hände um die Hüften, die mich mit Leichtigkeit hoch genug hoben, damit ich ein Bein über die Mauer schwingen konnte. Als ich mich an den Schindeln festhielt und umwandte, begegnete ich dem ernsten, düsteren Blick des jungen Mannes.

»Halte dich fern, wenn du kannst.« In seiner Tonlage schwang sowohl eine Warnung als auch eine Herausforderung mit. »Wenn du dein Leben nicht ruinieren willst, dann lass dich besser nicht noch einmal von mir an einem Tatort erwischen.«

Unsicher, was er damit meinte, runzelte ich kurz die Stirn.

»Selbstverständlich«, flüsterte ich zurück. »Ich bezweifle, dass wir uns je wieder über den Weg laufen werden.«

Ich erhaschte noch einen letzten Blick auf Kommandant Songs hohen Polizeihut, bevor ich mich über die Mauer schob und auf der anderen Seite auf dem Boden landete, wo ich meinen Rücken mit klopfendem Herzen an die Wand drückte. Der Kommandant tuschelte mit seinen Untergebenen, dann folgte das Knirschen ihrer Schritte, als sie sich über den Schnee entfernten. Erleichtert seufzte ich auf: Jetzt war ich in Sicherheit. In der nachfolgenden Stille jedoch brach die Realität mit voller Wucht über mich herein.

Vier Frauen waren ermordet worden. Die eine hatte ein ausgerissenes Haarbüschel in der Hand gehabt, die andere Blut unter den Fingernägeln: Ein schwaches Echo ihres verzweifelten Überlebenswillens, der sie nicht vor dem Tod hatte bewahren können.

Wer konnte nur so grausam, so abgrundtief böse sein?

Ich wischte mir über das Gesicht und schaute mich um. Alles sah aus wie immer: das Meer aus Lehmhütten mit den schneebedeckten Strohdächern, die schmutzigen Straßen, die sich durch die Hauptstadt wanden, und die dunklen Bergkämme, in deren schützendem Talkessel wir uns befanden. Und dennoch fühlte es sich so an, als wäre ich über die Mauer geklettert und geradewegs in einem Albtraum gelandet. Die Luft war erfüllt vom Geruch des Grauens und die Gesichter der Toten, die sich in meine Netzhaut gebrannt hatten, verliehen dem Blau des Himmels einen rötlichen Schimmer.

Was wirst du jetzt tun? Der Gedanke an Schwester Jeongsu ließ mich nicht mehr los. Was wirst du bloß tun?

Ich lief los und geriet ein wenig ins Stolpern, wann immer meine Knie nachgaben. Ich suchte nach Jieun, aber als ich sie nirgends finden konnte, machte ich mich auf den Heimweg in Richtung Osttor. Alles kam mir durcheinander, merkwürdig und viel zu scharf umrissen vor. Als ich an einem Fleischer vorbeikam, der sein Beil gerade auf ein gehäutetes Tier niedersausen ließ, zuckte ich zusammen und brach fast in Tränen aus.

Wer hatte diese Frauen getötet? Was könnte den Mörder zu dieser Tat getrieben haben? Durch den Tränenschleier betrachtete ich die Menschen, an denen ich vorbeikam: schmutzige, zerfurchte Gesichter von Männern, Frauen und Kindern, deren schwarze Augen mich mit wachsamen Blicken verfolgten.

Die Welt, die ich betreten hatte, schien schreckliche Geheimnisse vor mir zu verbergen.

2

Die Kerze war heruntergebrannt. Da es noch so früh am Morgen war, wollte ich nicht den gesamten Haushalt wecken, indem ich auf der Suche nach einer neuen Kerze aus meinem Zimmer stolperte. Dae-Hyeon, mein fünfjähriger Bruder, schlief sicher noch tief und fest, und was Mutter anbelangte …

Tja, da ich ihr angespanntes Schweigen, während sie auf Vater wartete, nicht ertrug, ging ich ihr meistens aus dem Weg. Er kam nur selten zu Besuch. Stattdessen verbrachte er die Zeit lieber mit seiner Frau oder seiner neuen Konkubine. Mutter war für ihn nebensächlich.

Leise schob ich mein niedriges Tischchen näher ans Fenster und wiederholte dabei flüsternd mein Mantra: »Ich werde nie wie Mutter sein.«

Ich würde nicht lieben, ehe ich nicht zuerst und am meisten von allen geliebt würde.

Und wenn ich nicht an erster Stelle stehen konnte, dann wollte ich lieber ganz darauf verzichten.

Auf keinen Fall würde ich wie Mutter schweigend dahinsiechen, während sich die Welt um mich herum weiterdrehte. Nein, ich war fest dazu entschlossen, meine Gedanken zum Ausdruck zu bringen und mir Gehör zu verschaffen. Also schrieb ich weiter an meinen Brief an Kommandant Song. Im Licht des Morgenhimmels glitt die schwarze Tinte über das Papier und hinterließ ordentliche, kleine Buchstaben. Um sie nicht zu verwischen, hatte ich mir die weiten Ärmel hochgekrempelt.

Ich war bereits auf der vierten Seite angelangt und beteuerte gerade Schwester Jeongsus Gutmütigkeit und ihre Unfähigkeit zu töten. Währenddessen ertappte ich mich dabei, wie ich immer tiefer in die Vergangenheit reiste. Plötzlich war ich wieder acht Jahre alt und kauerte zitternd vor dem Gibang, wo mich meine Mutter mitten im Winter ausgesetzt hatte, weil sie der Meinung gewesen war, aus mir könne nichts anderes werden als eine Gisaeng, eine ausgebildete Unterhaltungskünstlerin und Kurtisane. Sie hatte mir aufgetragen, dort zu warten, bis die Madam – die mich zunächst abgewiesen hatte – ihre Meinung ändern und mich doch aufnehmen würde. Doch die Türen des Hauses waren verschlossen geblieben. Niemand hatte mich hereingeholt, bis Schwester Jeongsu sich vor mich hingekniet und mein eiskaltes Gesicht in ihre warmen Hände genommen hatte.

»Ich bin eine Uinyeo.« Das waren ihre ersten Worte an mich gewesen. »Jetzt bist du nicht mehr allein.« Sie hatte mich den ganzen Weg zum Hyeminseo getragen.

Damals war Schwester Jeongsu gerade einmal achtzehn Jahre alt gewesen.

So alt wie ich jetzt.

Nachdem ich ein paarmal innehalten musste, um die Schmerzen aus meinen krampfenden Fingern zu massieren, blickte ich endlich aus dem Fenster und stellte fest, dass es draußen schon hell war. Da ich, wie viele Palastschwestern, nur jeden zweiten Tag arbeitete, hatte ich heute frei. Also blieb mir genug Zeit, das Polizeiverhör zu verfolgen, das heute stattfinden würde, solange die Zeugenaussagen noch frisch waren.

Ich nahm einen Schluck von meinem Gerstentee, der inzwischen erkaltet war, und brachte die letzte Zeile meines langen Briefes an Kommandant Song zu Papier:

Würdet Ihr Schwester Jeongsu so gut wie ich kennen,dann wärt Ihr ebenfalls von ihrer Unschuld überzeugt.

Sobald die Tinte getrocknet war, faltete ich den Brief. Anschließend machte ich mich kurz frisch, tauschte die Uniform gegen Alltagskleidung ein und ging zügig los. Innerhalb einer halben Stunde hatte ich das Festungstor erreicht.

Während eine der Wachen meine Erkennungsmarke kontrollierte, hob ich den Kopf. Hoch oben auf dem Mauergang drehte ein rot gekleideter Soldat seine Runden. Ich fragte mich, was er wohl von dort oben aus erblickte und ob das Königreich nach einer so blutigen Nacht anders aussah.

Der Wachposten gab mir die Marke zurück. »Ihr dürft passieren.« Seine Worte verharrten kurz als weiße Wolke in der kalten Luft.

Mit geschärften Sinnen und in höchster Alarmbereitschaft schritt ich sogleich durch das Tor. Der Mörder trieb hier noch immer sein Unwesen. Zu beiden Seiten erstreckten sich endlose Hüttenreihen, bevölkert von Menschen in weißen Gewändern und mit müden, ausgemergelten Gesichtszügen, die Pfeife rauchten. Ein paar Kinder rannten an mir vorbei und schubsten mich beiseite. Ich kam an Frauen vorbei, die Körbe auf dem Kopf und Babys auf dem Rücken trugen. Manche von ihnen hatten ein älteres Kind im Schlepptau, das schwer mit Strohbündeln beladen war.

»Macht Platz!«, riefen ein paar Diener. »Macht Platz für unseren Herrn!«

Es war Vorschrift, sich vor passierenden Adeligen in den Dreck zu werfen. Also bog ich in die schmale Pimatgol-Gasse ein, die Leute wie ich nahmen, um sich in so einem Fall nicht die sauberen Kleider schmutzig machen zu müssen. Sobald ich in der Nähe des Polizeireviers angekommen war, huschte ich zurück auf die Hauptstraße und hielt inne.

Eine Menschenmenge, die sich vor einer Mauer zusammendrängte, erregte meine Aufmerksamkeit. Das Getuschel war schwer zu überhören; die Finger, die auf ein dort angebrachtes Flugblatt zeigten, kaum zu übersehen. Anonyme Flugblätter wurden nur dann verteilt, wenn die Unterdrückten etwas zu sagen hatten, jedoch wussten, dass ein Wort in der Öffentlichkeit ihre Hinrichtung zur Folge haben würde.

»Was steht da?«, fragte ein Bauer.

»Keine Ahnung«, flüsterte ein anderer, »ich kann nicht lesen.«

»Keiner von uns kann lesen! Was steht denn da?«

Ich schlängelte mich durch die Menge und sah nach. Das Flugblatt war in Hanja verfasst. Diese Schriftzeichen waren ausschließlich den Hochgeborenen und Mächtigen vorbehalten. Aber da ich klassisches Chinesisch lesen konnte, trat ich ein paar Schritte näher heran – und erstarrte.

Der Kronprinz ermordete …

Plötzlich teilte sich die Menge. Geschrei und erschrockenes Keuchen erklang, als ein Haufen schwarz gekleideter Gestalten mit ebenso schwarzen Hüten mitten ins Gedränge hineinplatzte und dabei Knüppel schwang. Die Polizei war eingetroffen. Ein Polizist stieß mich so fest gegen die Mauer, dass meine Zähne zusammenschlugen. Trotzdem spürte ich den Schmerz nicht, denn die Worte, die ich soeben gelesen hatte, und die Angst, die in den Augen der Polizisten aufblitzte, als sie das Flugblatt abrissen, betäubten mich.

Meine Beine gaben nach und ich sackte gegen die Wand. Vor meinem geistigen Auge manifestierte sich wieder das dämmrige Gemach des Kronprinzen, in dem seine Abwesenheit bedrückend in der Luft hing. Seine Hoheit hatte den Palast bei Nacht und Nebel verlassen und war als Zeuge eines Massakers zurückgekehrt.

Der Kronprinz ermordete … wen? Wen hatte er ermordet?

Im Polizeirevier angekommen, erblickte ich vor dem Pavillon einen leeren Verhörstuhl. Mitten auf der erhöhten Holzterrasse saß Kommandant Song.

Er war ein großer, brummiger alter Mann mit struppigem weißem Bart. Den Ellenbogen hatte er auf die Armlehne gestützt, mit den Fingern trommelte er gegen seine Wange. Er wartete – und nicht nur er, sondern alle Schaulustigen, die sich um den Verhörstuhl versammelt hatten.

»Du siehst krank aus.«

Als ich mich erschrocken umblickte, begegnete ich einem tief liegenden Augenpaar mit ausgeprägten Schlupflidern. Es gehörte zu Schwester Inyeong, der Palastschwester, die ich vor dem Tatort gesehen hatte. Sie war Mitte zwanzig, hochgewachsen und schlank, und ihr Gesicht wirkte so blass wie Blütenblätter im Mondschein – was vielleicht auch an dem Jibun-Puder lag, den sie noch dicker aufgetragen hatte als sonst.

Ihr zartes Erscheinungsbild stand allerdings in starkem Kontrast zu dem kräftigen Griff, mit dem sie mich beiseitezog, fort von einem der vorbeigehenden Polizisten.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragte ich.

»Seit Verhörbeginn.«

»Es hat also schon angefangen?«

»Alle Zeugen haben bereits ausgesagt, auch die Familienangehörigen der Verdächtigen.«

Ihre Betonung des letzten Wortes ließ darauf schließen, dass sie Schwester Jeongsus Schuld ebenfalls anzweifelte. »Du hältst meine Mentorin also für unschuldig?«, fragte ich zögerlich.

»Deine Mentorin?« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich bin eine Zeugin. Ich war diejenige, die das Verbrechen gemeldet hat.«

Ich zog die Brauen hoch. »Was ist denn passiert?«

»Lange Geschichte«, murmelte sie. »Vor Ende der Ausgangssperre habe ich gemerkt, dass mein Trunkenbold von Vater verschwunden war, also bin ich losgezogen, um ihn aus der Spielhölle zu holen, in der er sich so oft herumtreibt. Ich wollte nicht, dass er das wenige, das er hat, auch noch verschleudert. Wäre ja nicht das erste Mal. Vor allem im Anbetracht der anhaltenden Hungersnot …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn abgeholt, aber weil er so wütend auf mich war, ist er allein nach Hause gegangen. Und da habe ich sie gesehen: Hofdame Ahnbi. Sie ist die Straße entlanggerannt. Hat verängstigt ausgesehen und ständig über die Schulter geschaut, ohne anzuhalten und die Polizisten auf Streife um Hilfe zu bitten.«

»Und jetzt ist sie tot«, flüsterte ich, halb zu mir selbst. »Ich vermute, die Polizei weiß bereits, dass sie keine einfache Palastangestellte, sondern eine Hofdame war?«

»Ja, das habe ich ihnen gesagt …« Sie schweifte ab und ihr Blick wurde glasig, als würde sie die Stunden vor dem Morgengrauen vor ihrem geistigen Auge abspulen. »Ich bin Hofdame Ahnbi gefolgt. Schließlich wusste ich ja, dass es ihr verboten war, sich außerhalb der Palastmauern herumzutreiben. Doch dann habe ich sie aus den Augen verloren. Und als ich sie nach kurzer Suche nicht finden konnte, habe ich beschlossen, wieder nach Hause zu gehen. Da habe ich eine Frau schreien gehört.«

Zitternd atmete Inyeong aus. »Als ich angekommen bin, war alles ruhig. Das Tor stand offen, also habe ich einen Blick in den Innenhof gewagt. Und dann habe ich gesehen …« Während ihre Stimme verklang, presste sie sich den Handrücken vor den Mund und sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. »In meinem ganzen Leben habe ich nie etwas dermaßen Schreckliches gesehen.«

In diesem Moment brach die Menschenmenge in wildes Getuschel aus. Ich folgte den Blicken der Leute bis zu Schwester Jeongsu, die nun vorgeführt wurde. Sie trug nicht mehr die Uinyeo-Uniform, sondern ein schlichtes weißes Kleid. Schneeflocken wirbelten so leise wie ihre Schritte durch die Luft. Die Zeit schien beinahe stillzustehen, als ich versuchte, die Frau wiederzuerkennen, die mich mein halbes Leben lang unterrichtet hatte – die, zu der ich so sehr aufschaute. Als ich noch ein Kind gewesen war, hatte sie mich an eine Fee erinnert, die von den Wolken herabgestiegen war, mit einem Gesicht so leuchtend wie der Mond und Augen so strahlend wie die Sterne am wolkenlosen Nachthimmel. Aber heute wirkte sie verschlossen, wie ein Schatten ihrer selbst.