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Costa Rica 1888. Noch immer träumt die verwitwete Dorothea von ihrer großen Liebe, dem Journalisten Alexander. Trost findet sie durch ihre Kinder: Als jüngster Kaffeebaron des Landes übernimmt Federico die Leitung der Farm, während Olivia als Tänzerin weltweit Triumphe feiert. Enkelin Margarita dagegen tritt in Dorotheas Fußstapfen und besucht die Malakademie in New York, wo sie sich als Frau in einer Männerdomäne behaupten muss und gegen Vorurteile zu kämpfen hat. Um den Rat ihrer Großmutter einzuholen, reist sie zu ihr - jedoch nicht allein.
Dorothea hingegen erhält eine schicksalshafte Nachricht. Darf sie doch noch auf ein spätes Glück hoffen?
Fortsetzung der erfolgreichen Costa-Rica-Saga von Anna Paredes
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Seitenzahl: 588
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Costa Rica 1888. Noch immer träumt die verwitwete Dorothea von ihrer großen Liebe, dem Journalisten Alexander. Trost findet sie durch ihre Kinder: Als jüngster Kaffeebaron des Landes übernimmt Federico die Leitung der Farm, während Olivia als Tänzerin weltweit Triumphe feiert. Enkelin Margarita dagegen tritt in Dorotheas Fußstapfen und besucht die Malakademie in New York, wo sie sich als Frau in einer Männerdomäne behaupten muss und gegen Vorurteile zu kämpfen hat. Um den Rat ihrer Großmutter einzuholen, reist sie zu ihr - jedoch nicht allein.
Dorothea hingegen erhält eine schicksalshafte Nachricht. Darf sie doch noch auf ein spätes Glück hoffen?
Fortsetzung der erfolgreichen Costa-Rica-Saga von Anna Paredes
Über Anna Paredes
Anna Paredes ist eine deutsche Autorin. Mit ihren historischen Romanen, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, hat sie sich ein internationales Publikum erobert. Unter dem Pseudonym Alexandra Guggenheim befasst sie sich mit der Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts. Die im Aufbau Verlag unter dem Namen Agnès Gabriel erschienenen Romane haben die Modeschöpfer Christian Dior und Elsa Schiaparelli sowie die Malerin Berthe Morisot zum Thema. Die Autorin lebt in Hamburg.
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Titelinformationen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Prolog
BUCH I Erfordernis
MAI 1877
JUNI 1877
JULI 1877
JULI BIS AUGUST 1877
SEPTEMBER 1877
OKTOBER 1877
NOVEMBER BIS DEZEMBER 1877
FEBRUAR BIS APRIL 1878
MAI BIS JULI 1878
DEZEMBER 1878 BIS JANUAR 1879
MÄRZ 1879
APRIL BIS MAI 1879
BUCH II Erkenntnis
AUGUST 1885
SEPTEMBER 1885
OKTOBER BIS DEZEMBER 1885
JANUAR BIS FEBRUAR 1886
MÄRZ BIS AUGUST 1886
JUNI 1887
JUNI 1887
AUGUST BIS DEZEMBER 1887
MÄRZ BIS MAI 1888
JUNI BIS JULI 1888
SEPTEMBER BIS OKTOBER 1888
BUCH III Erfüllung
APRIL BIS AUGUST 1889
OKTOBER BIS NOVEMBER 1889
SEPTEMBER BIS DEZEMBER 1890
JANUAR 1891
FEBRUAR BIS MÄRZ 1891
MAI BIS JUNI 1891
JULI 1891
SEPTEMBER 1891
OKTOBER BIS DEZEMBER 1891
JANUAR 1892
JANUAR 1892
Epilog
Nachwort
Personen
Impressum
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Anna Paredes
Der Ruf des Göttervogels
Roman
Zu Hause angekommen, ließ sie sich in ihrem Sessel auf dem Balkon nieder, legte die Zeichenutensilien auf das Tischchen neben sich und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. An diesem Morgen wollte sie sich einen ungewöhnlichen Vorschlag zu eigen machen und auf ihre Weise träumen. Mit dem Kreidestift träumen.
Sie schlug die erste Seite des Skizzenbuches auf. Ihre Hand flog über das Papier. Mit raschen, sicheren Strichen zeichnete sie ein Paar, das zwischen mannshohen Farnen und Palmen entlangschlenderte und sich an den Händen hielt. Einige Seiten weiter waren beide nackt und umschlangen sich in inniger Umarmung. Immer neue Variationen schuf sie von miteinander verschmelzenden Mündern und zärtlichen Berührungen, von gegenseitiger Verführung und Hingabe. DieKörper sprachen eine unmittelbare, sinnenfreudige Sprache.
Ein unbefangener Betrachter hätte die Szenen vermutlich für Adam und Eva im Paradies gehalten, wenn auch in einer ungewöhnlich freizügigen Interpretation, wie sie kein Museum der Welt der Öffentlichkeit präsentiert hätte. In solcher Offenherzigkeit hatte sie selbst es noch nie auf einer Leinwand gesehen und erst recht nicht selbst gezeichnet.
Mit dem Geliebten in Leidenschaft für immer vereint zu sein wäre gegen die Gebote der Bibel gewesen. Doch sie tat nichts Verbotenes. Lust und gegenseitiges Verlangen zu zeichnen war kein Frevel gegen Gott. Alles geschah allein durch die Kraft der Phantasie, die ihrer Seele Flügel verlieh. Ihr Herz klopfte vor Aufregung so laut, dass sie befürchtete, man könne es in den entlegensten Zimmern des Hauses noch hören.
Wie in einem Schaffensrausch füllte sie binnen wenigen Stunden ein ganzes Skizzenbuch. Danach hielt sie inne und zögerte den Moment hinaus, jede einzelne Szene der Reihe nach zu betrachten. Langsam, ganz langsam blätterte sie durch die Seiten, legte die Fingerspitzen an die Lippen und liebkoste das Papier, fuhr lächelnd die Konturen der Körper nach, verwischte zärtlich die Kreide an jener Stelle, wo die Leiber der beiden Liebenden eins wurden. Sie schloss die Augen und vernahm die Geräusche des Urwaldes, roch den Duft von warmer, feuchter Erde, spürte das Moos unter dem nackten Körper.
Mit einem wohligen Seufzer riss sie Seite um Seite aus dem Buch heraus und zerpflückte sie in winzig kleine Fetzen, legte alle zusammen in die Porzellanschale, in der sie sonst ihre Haarnadeln aufbewahrte, und zündete das Papier mit einem Streichholz an. Sah zu, wie die Flamme hell aufloderte, wartete, bis sie erlosch und nur noch schwarzbraune Bröckchen übrig blieben. Dann trat sie mit der Schale an die Balkonbrüstung und blies die Reste in den Wind. Dabei empfand sie Erleichterung und tiefen inneren Frieden.
Wann immer sie den Wunsch verspürte, konnte sie jederzeit neue Bilder schaffen und sich ins Paradies träumen. Danach trüge ein Windzug die Asche davon, und niemand erführe je ihr Geheimnis.
Die Regenzeit hatte dieses Jahr früh und mit ungewöhnlich heftigen Gewittern begonnen. Bereits Anfang März hatten tropische Schauer die Bäche, die auf den Höhen der Kordilleren entsprangen, in reißende Flüsse verwandelt, hatten Strauchwerk und dicke Äste ins Meer gespült. Das Wasser war jedoch auch Lebenselixier in diesem grünen Paradies. Es schenkte den Feldern reiche Ernten und den Menschen ihre Lebensgrundlage. Der fruchtbare Vulkanboden und das gleichmäßig milde Klima, das weder Frost noch Hitze kannte, hatten hier, auf der Hochebene rund um die Hauptstadt San José, dem Kaffeeanbau seit mehr als fünf Jahrzehnten zu besonderer Blüte verholfen. Und den Plantagenbesitzern zu Reichtum und Macht. Denn die Begierde der Europäer und Südamerikaner nach dem schwarzen Gold, wie die Einheimischen die Kaffeebohnen nannten, war von Jahr zu Jahr gestiegen.
Hoffentlich bleibt es an Federicos Geburtstag trocken, damit wir im Garten feiern können, bangte Dorothea in Gedanken. Ähnliche Überlegungen waren ihr auch Jahre zuvor durch den Kopf gegangen, als sie, die junge Haus- und Zeichenlehrerin aus Deutschland, ihre Hochzeit mit Antonio Ramirez Duarte geplant hatte, dem einzigen Sohn und Erben des bedeutendsten Kaffeebarons Costa Ricas. Die Trauung hatte an einem Samstag im Juni stattgefunden, mitten in der Regenzeit. Doch zur Erleichterung aller Beteiligten hatte sich der Himmel an jenem Tag wolkenlos und in strahlendem Blau gezeigt. Niemand hatte nasse Füße befürchten müssen.
Diesmal allerdings stand nicht Dorothea im Mittelpunkt, sondern ihr Sohn. In sechs Wochen würde Federico einundzwanzig Jahre alt werden. Dann würde er die Nachfolge seines verstorbenen Großvaters Pedro Ramirez Garrido antreten und jüngster Kaffeebaron sowie rechtmäßiger Besitzer der größten Plantage Costa Ricas werden. Ein solch großes Fest war auf der Hacienda Margarita lange nicht mehr gefeiert worden. Genauer gesagt seit Federicos Taufe.
Behände schritt Dorothea die drei Stufen der Veranda hinunter. Das tief gezogene, mit Palmstroh gedeckte Dach bot den Hausbewohnern Schutz bei jeder Witterung. Selbst bei stärkstem Regen konnte man sich in den schweren Korbsesseln niederlassen und den Nachmittagstee einnehmen. Ganz in ihre Gedanken vertieft, schlenderte Dorothea durch den Park, den ein gefragter englischer Gartenarchitekt im Auftrag ihres Schwiegervaters entworfen hatte. Die Anlage erinnerte an die für den britischen Staatsmann und Schriftsteller Lord Chesterfield errichtete Parkanlage in dessen Sommerresidenz.
Sie ging bis zu der Stelle, wo ein Rosenpavillon zu Mußestunden mit einem guten Buch einlud, spürte den weichen Rasen unter ihren Füßen, der von fachkundigen Gärtnern gepflegt wurde. Am Pavillon angekommen, wandte sie sich um, kniff die Augen zusammen und stellte sich vor der Kulisse des imposanten Herrenhauses mit der weißen Fassade und den grünen Schlagläden eine ausgelassene Festgesellschaft vor.
Die jungen Herren trügen schwarze Anzüge mit Weste und weißen Stehkragenhemden sowie einen Plastron. So nannte sich die breite, vorn geknotete Seidenbinde, deren lose Enden kreuzweise übereinandergelegt und von einer Perlennadel festgehalten wurden. Diese neuartige Krawatte galt in Paris als dernier cri, hatte Federico ihr erläutert und stolz sein jüngst erworbenes Exemplar aus silbergrauer Seide vorgeführt. Er hatte es zu seinem Geburtstag beim besten Cravatier der französischen Hauptstadt bestellt.
Mit eng anliegenden Oberteilen und Röcken, die unterhalb der Hüften im Rücken bauschig zusammengerafft waren, würden die Mädchen und jungen Frauen einem farbenprächtigen Blütenmeer ähneln. Dorothea trug seit jeher und allen Modeströmungen zum Trotz schlichte, schmal fallende Kleider mit Taillenband, die ihre schlanke Silhouette vorteilhaft betonten. Weswegen sie den Tournüren, wie sich die unbequemen Gesäßpolster aus Stahl und Rosshaar nannten, nichts abgewinnen konnte.
Mit Ausnahme der Indianer, die vor Urzeiten als Erste das Land besiedelt hatten, waren die Costa Ricaner stolz auf ihre spanischen Vorfahren. Wer in San José etwas auf sich hielt wie alle reichen, neureichen und einflussreichen Familien, der orientierte sich in Modefragen allerdings am französischem Stil. Nicht anders als die gesamte europäische Hautevolee.
Sie würde Zeltplanen quer vor der Veranda aufspannen und dort die Tische decken lassen, beschloss Dorothea. Sollte sich an nämlichem Tag ein Wolkenguss über die Feiernden ergießen, würde dennoch kein einziger Regentropfen in der Suppe landen. Und die Dienstmädchen würden die Speisen auf kürzestem Weg von der Küche über die Veranda tragen. Eine helle Kinderstimme riss Dorothea aus ihren Überlegungen.
»Großmama, bekomme ich zum Fest denn auch ein neues Kleid?«
Lachend breitete Dorothea die Arme aus, ergriff ihre Enkelin unter den Achseln, hob sie hoch und drehte sich mehrmals mit ihr im Kreis.
Margarita jauchzte auf, ein Zopf löste sich und schaukelte über dem Ohr. »Nicht aufhören! Mehr! Mehr!«
Schwer atmend blieb Dorothea stehen und setzte die protestierende Enkelin sanft, aber entschlossen auf dem Boden ab. Mit der einen Hand griff sie sich an die Stirn, die andere stemmte sie in die Hüfte. »Puh, mehr schaffe ich nicht! Mir wird schon ganz schwindelig.«
Die Siebenjährige reckte die zarten Mädchenarme hoch, die Ärmel des duftigen zartgrünen Musselinkleides rutschten ihr bis über den Ellbogen. »Komm, ich stütze dich. Ich bin stark.«
»Lass nur, mein Kätzchen, es geht schon wieder. Aber lange kann ich dich bestimmt nicht mehr heben. Du bist recht groß und schwer geworden.«
Dorothea strich über das zarte rosige Kindergesicht. Margarita schmiegte ihre Wange in die Handinnenfläche der Großmutter, ihre Stimme bekam einen schmeichlerischen Klang.
»Bitte, Großmama, sag Ja! Ich habe vorhin mit Miss Watson meine Sonntagskleider aus dem Schrank geholt. Sie reichen mir nur noch bis hierhin …« Margarita streckte ihr rechtes Bein vor und deutete mit dem Finger auf eine Stelle irgendwo zwischen Knie und Knöchel. »Miss Watson meint, ich soll mir ein weißes Spitzenkleid nähen lassen, das kann ich später auch noch zur Kommunion tragen. Aber eigentlich will ich lieber ein rotes Kleid haben.«
»Nun, deine Gouvernante ist wirklich eine patente und praktisch denkende Person. Aber weil sowohl der Geburtstag deines Onkels als auch deine erste heilige Kommunion zwei ganz besondere Feste sind, wollen wir nicht kleinlich sein. Was hältst du von meinem Vorschlag? Die Schneiderin fertigt dir zu Federicos Ehrentag ein rotes Kleid an, das kannst du auch am Nachmittag nach der Kommunionsfeier tragen. Und für den Kirchgang lassen wir ein weißes nähen. Mit einem Spitzenschleier.«
Margarita stieß einen Jubelschrei aus und hüpfte vor Freude von einem Bein auf das andere. Der zweite Zopf löste sich, und beide wippten gleichmäßig im Takt. »Aber der Schleier muss bis zum Boden reichen … Danke, Großmama! Ich will schnell wieder zu Miss Watson. Sie zeigt mir die Schritte für den Wiener Walzer. Onkel Federico hat doch versprochen, mit mir zu tanzen.«
Mit nachsichtigem Lächeln blickte Dorothea der Enkelin hinterher, wie sie mit wehenden Röcken und halb auf den Waden hängenden Strümpfen davonstob. Margarita liebte ihren dreizehn Jahre älteren Onkel. Er war für sie sowohl Bruder- als auch Vaterersatz. Margarita konnte das große Ereignis kaum erwarten. Seit Wochen schon sprach sie kaum von etwas anderem.
Auch Dorothea freute sich. Darauf, dass Leben und Fröhlichkeit auf die Plantage zurückkehrten. Lange Zeit war es hier viel zu still und zu eintönig gewesen. Nach dem Tod ihres Ehemannes und dem der Schwiegereltern sowie dem Fortgang ihrer Tochter Olivia fanden sich nur noch drei Familienmitglieder zu den Mahlzeiten am großen Tisch im Speisezimmer ein. Ihr Sohn, die Enkelin und sie selbst. Doch irgendwann, so malte sie sich aus, würden sich neue Gesichter dazugesellen. Wenn Federico eine eigene Familie gründete und Kinderlachen das Haus von Neuem erfüllte.
Dorothea sah eine Frau auf der Veranda stehen, die ihr zuwinkte. Sie beschattete die Augen und blinzelte. Im Näherkommen erkannte sie Esmeralda, ihre Vertraute und rechte Hand. Die junge Frau war seit mehr als zehn Jahren auf der Hacienda tätig. Antonio hatte sie seinerzeit eingestellt und mit dieser Entscheidung die bestmögliche Wahl getroffen. Esmeralda war freundlich, zuverlässig und vorausschauend. Sie hatte eine Nachfahrin der costaricanischen Ureinwohner und einen ehemaligen Sklaven von den amerikanischen Baumwollfeldern als Eltern. Mit ihrer kakaofarbenen Haut und dem krausen Haar, das sich kaum bändigen ließ, war sie von eigenwilliger Schönheit und hatte Dorothea schon mehrere Male Modell gesessen. Esmeralda schmückte ihr Haar gern mit bunten Schleifen über den Ohren und im Nacken, am liebsten jeden Tag in einer anderen Farbe. An diesem Tag hatte sie sich für leuchtendes Gelb entschieden, das Dorothea an eine saftige reife Zitrone erinnerte.
»Komm, Esmeralda! Setzen wir uns und überlegen in Ruhe, was noch vorzubereiten ist«, schlug Dorothea vor. Sie liebte es, am Nachmittag ihren Tee auf der Terrasse einzunehmen. So hatte sie es zu Lebzeiten ihres Mannes Antonio begonnen und diese Tradition auch nach seinem Tod fortgeführt. Denn der costa-ricanische Kaffee war ihr bei Weitem zu stark und zu bitter. Dem Schwiegervater hingegen, das wusste sie sehr wohl, hätte diese Getränkewahl ganz und gar nicht gefallen. Als Kaffeebaron hatte er das englische Spülwasser, wie er den Tee zu nennen pflegte, zutiefst verabscheut. Glücklicherweise war Pedro nie Zeuge dieser unziemlichen Angewohnheit geworden, da er stets bis zum Einbruch der Dunkelheit seinen Geschäften nachgegangen war. Sein Bureau war nur einen Steinwurf vom Herrenhaus entfernt in einem eigenen Gebäude untergebracht gewesen.
Auf dem blau lackierten Holztisch hatte die Köchin ein Kännchen frisch gebrühten Earl Grey bereitgestellt. Dorothea schenkte Esmeralda, die mit leisem Nicken dankte, und sich selbst ein. Dann zog sie Stift und Notizbuch aus der Rocktasche. Auf die Vorderseite des Büchleins hatte sie eine Bromelienblüte gezeichnet und darunter 6. Juni 1877 geschrieben. Federicos einundzwanzigster Geburtstag. Sie schlug die Seite mit dem Lesebändchen auf.
»Heute Morgen habe ich mit der Köchin die Menüfolge besprochen. Vorweg gibt es eine rote Linsensuppe mit Kokosnussmilch und frischem Koriander, danach Huhn, Rindfleisch und Fisch aus dem Ofen mit verschiedenen Gemüsen, außerdem süße und herzhaft gefüllte Tortillas, Empanadas mit Käse und Hackfleisch und als Nachspeise frische Früchte sowie Mangotorte. Kommen wir zur Tischwäsche. Haben wir überhaupt genug Damastdecken?«
»Mehr als genug, Doña Dorothea. Wenn wir die hundert Gäste auf zehn Tische verteilen, brauchen wir zehn Decken. Ich habe mir die Stoffe angesehen und streng darauf geachtet, dass nirgends ein Fleckchen oder ein Loch zu sehen ist. Alle Tischdecken sind frisch gewaschen und gestärkt und liegen bereits zusammengefaltet im Hauswirtschaftsraum.«
»Sehr gut.« Dorothea schlug eine weitere Seite auf und fügte eine kurze Notiz ein. »Was ist mit Gläsern und Geschirr? Alles muss makellos sein, kein noch so kleines Eckchen darf herausgebrochen sein. Nicht auszudenken, wenn sich ein Gast den Finger am Tellerrand schneidet oder sich womöglich die Lippe am Glas verletzt! Der Skandal wäre unausweichlich.«
Mit ständigem Lächeln, die Hände im Schoß locker aufeinandergelegt, saß Esmeralda im Sessel. Ihre ganze Haltung drückte Gelassenheit und Zuversicht aus. Sie sprach bedächtig und mit eigenartigem melodischem Klang, als sänge sie. »Seien Sie unbesorgt, Doña Dorothea! Mit zwei Hausmädchen habe ich das Familienservice und die Römergläser überprüft. Die schadhaften Teile haben wir aussortiert und in den besten Porzellanladen der Stadt zum Ausbessern gebracht. Dann können Sie die Teile noch für den Alltag verwenden.«
»Sehr gut, Esmeralda.« Auch wenn ihr genug Haushaltsgeld zur Verfügung stand, so verabscheute Dorothea doch jede Form von Verschwendung. »Kommen wir zum Blumenschmuck. In die Eingangshalle und in den Salon gehören die chinesischen Bodenvasen mit Strelitzien und Palmenwedeln. Und als Tischdekoration finde ich geflochtene kleine Kränze mit roten Orchideenblüten am schönsten. Für jeden Gast sollte ein Gebinde an seinem Platz liegen.« Sie kniff die Augen leicht zusammen, um besser lesen zu können, und blätterte in dem Büchlein. »Welchen Punkt haben wir noch? … Ach ja, das Silberbesteck.«
»Die Küchenmädchen wissen Bescheid. Sie werden alles so blank polieren, dass Sie sich darin spiegeln können.«
»Du bist ein Goldstück, Esmeralda. Wie käme ich nur ohne eine so tüchtige Kraft wie dich zurecht?«
Verschämt senkte die junge Frau den Blick. »Die Arbeit bei Ihnen bereitet mir so viel Freude, Doña Dorothea … All meine Freundinnen beneiden mich um diese Anstellung.«
Dorothea klappte das Notizbuch zu, als ihr noch etwas einfiel. »Wie geht es eigentlich deiner jüngsten Nichte? Sie war doch längere Zeit krank.«
Esmeralda hob den Kopf und blickte ihre Herrin erstaunt, dann aber kummervoll an. »Das wissen Sie noch? Ach, meine Schwester macht sich große Sorgen. Cristina nimmt und nimmt nicht zu. Wenn sie etwas gegessen hat, erbricht sie es oft danach gleich wieder. Sie wird bald zwei Jahre alt und wiegt kaum mehr als ein ausgewachsener Kater.«
»Ich bitte unseren Hausarzt, die Kleine zu untersuchen. Vielleicht findet er heraus, was ihr fehlt. Um das Honorar mach dir keine Gedanken! Das regele ich mit dem Doktor. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig«, fügte Dorothea rasch hinzu, als sie sah, dass Esmeralda zusammenzuckte. Sie wusste, ihre Angestellte gab den größten Teil des Lohnes ihrer jüngeren Schwester, die nach dem plötzlichen Tod des Ehemannes mit drei kleinen Kindern allein dastand und die Familie mit Näharbeiten nur mühsam über Wasser hielt.
Esmeralda drückte die Hand ihrer Herrin. »Dann möchte ich Ihnen im Namen meiner Schwester herzlich danken, Doña Dorothea. Wenn Sie mich entschuldigen wollen. In der Wäscherei muss ich nachsehen, ob Schürzen und Häubchen der Dienstmädchen für das Fest schon gestärkt und gebügelt sind.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung lehnte Dorothea sich in den Korbsessel zurück. Die Vorbereitungen waren in vollem Gang. Es würde ein unvergleichliches Fest werden, wie es sich für die Familie Ramirez geziemte, die Besitzer der größten Kaffeeplantage im Land. Die Gäste sollten noch lange von diesem Tag sprechen.
Abermals schlug sie das grünlederne Notizbuch auf und blätterte gedankenverloren die Seiten um. Zwei schwierige Fragen galt es noch zu klären. Wer von den Honoratioren und Hochwohlgeborenen in San José musste eingeladen werden? Wer saß mit wem an welchem Tisch? Für die Sitzordnung war Fingerspitzengefühl vonnöten, schließlich mussten verfeindete Familien weit genug voneinander platziert werden. Sie wünschte sich Antonio an ihrer Seite. Auf seinen Rat hatte sie sich immer verlassen können. Er fehlte ihr, seit nahezu fünf Jahren, als er – noch vor seinem Vater – für immer gegangen war.
Mittlerweile musste Dorothea sämtliche Entscheidungen für das größte gesellschaftliche Ereignis des Jahres allein treffen. Sie seufzte tief auf. Ganz sicher würde Juan Sánchez Alonso ihr weiterhelfen, der langjährige Verwalter der Hacienda, und auch Gabino Margas Toselli, der Notar der Familie Ramirez und Sohn eines Jugendfreundes ihres Schwiegervaters. Pedro hatte nach dem Tod seines einzigen Sohnes den Notar zum Vormund des minderjährigen Enkels ernannt, bis Federico das einundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatte. Ob der Schwiegervater seinen nahenden Tod gespürt hatte?
Seither hatten diese beiden Männer gemeinsam mit ihrem Schutzbefohlenen die Geschicke der Hacienda gelenkt. Doch würde Federico die Verantwortung, die demnächst auf seinen Schultern lastete, auch allein meistern, obwohl ihm die Erfahrung des Alters fehlte? Besaß er das kaufmännische Geschick des Großvaters und die Offenheit für Neuerungen und Veränderungen wie sein Vater?
Als Dorothea an diesem Abend zu Bett ging, betete sie zu Gott, er möge schützend seine Hand über ihre Familie und alle halten, die auf der Hacienda lebten und arbeiteten. Deren Glück war auch ihr Glück, und dafür wollte sie alles in ihrer Macht Stehende tun.
Was aber war mit ihrem eigenen Glück, das sie so inständig herbeisehnte? Durfte sie überhaupt noch auf Erfüllung hoffen, nachdem sie den geliebten Mann hatte ziehen lassen? Weil er eine Familie hatte und Dorothea weder einer Ehefrau den Mann noch Kindern den Vater wegnehmen wollte. Doch für Sentimentalitäten war jetzt keine Zeit. Es galt, den Ehrentag des Sohnes zum schönsten in seinem bisherigen Leben zu machen.
Mit jedem Tag füllte Dorothea ihr Notizbuch um einige Seiten mehr. Immer wieder fiel ihr etwas Neues ein, um das sie sich kümmern musste. Um die Musiker, die zum Tanz aufspielen würden, um die weißen Handschuhe, die die Hausdiener tragen sollten, wenn sie zur Begrüßung der Gäste frische Säfte auf Silbertabletts servierten, um rote Bromelien, die die Angestellten tragen sollten, die Männer am Revers, die Frauen im Haar … Federico hatte versprochen, sich darum zu kümmern, dass genug chilenischer Rotwein, französischer Cognac, irischer Whiskey und beste kubanische Zigarren im Haus waren.
Dorothea ließ sich auf der grün lackierten Holzbank unter dem Kalebassenbaum nieder, um sich von den kräftezehrenden Planungen auszuruhen. Wer zum ersten Mal hierherkam, bemerkte die Bank erst auf den zweiten Blick, verschmolz sie doch ganz mit der Natur ringsum. Dies war ihr Lieblingsplatz, und sie genoss stets aufs Neue den weiten Blick über die Kaffeefelder, die bis weit hinter die Hügel am Horizont reichten. Ihr Schwiegervater hatte die Hacienda als junger Mann gekauft und über die Jahre immer mehr erweitert. Er hatte sie nach seiner verstorbenen Mutter benannt, und nun trug seine Urenkelin denselben Namen: Margarita.
Zu dieser Jahreszeit waren die Kaffeekirschen an den Sträuchern noch winzig klein und grün. Doch bald schon würden sie größer und prall werden und ihre Farbe von einem blassen zu einem kräftigen Orange und dann zu einem leuchtenden Rot wechseln, bevor im Dezember die Ernte begann. Eine fröhliche Kinderstimme riss Dorothea aus ihren Gedanken. Margarita lief die Anhöhe herauf, in der einen Hand ein Buch, in der anderen ein Stück Kuchen.
»Liest du mir vor, Großmama? Ich habe die Geschichte schon gaaanz lange nicht mehr gehört.« Margarita kletterte auf die Bank und stopfte sich die Reste des Bananenkuchens in den Mund. Die Köchin war ganz vernarrt in die Kleine und nutzte jede Gelegenheit, ihr Leckereien zuzustecken, wie Dorothea herausgefunden hatte.
Schmunzelnd blickte sie auf das Buch mit dem abgegriffenen Umschlag und den Kinderfingerabdrücken. Es war die Lieblingslektüre ihrer Tochter Olivia, als diese in Margaritas Alter gewesen war: Die Heinzelmännchen von Köln. Das Buch hatte Dorothea kurz nach der Geburt der Tochter bei einem Buchhändler in der Stadt bestellt. Fast ein ganzes Jahr hatte sie auf die Schiffslieferung aus Deutschland warten müssen. Zu Olivias Freude hatte sie seinerzeit die Seitenränder mit eigenen lustigen Zeichnungen versehen.
Dorothea schlug das Buch auf und erinnerte sich, wie sie als Zehnjährige in Köln diese Ballade kennen und lieben gelernt hatte. Das Herz wurde ihr warm, weil sie der Enkelin ausgerechnet diese Geschichte vorlesen sollte. Denn wie schon deren Mutter Olivia verstand auch Margarita Deutsch. Allerdings sprach Dorothea ihre Muttersprache nur dann, wenn sie mit Tochter oder Enkelin allein war. Ihre Schwiegereltern hätten solche Worte nie geduldet, und auch Federico hatte nie etwas davon wissen wollen. Ihr Sohn fühlte sich als echter Costa Ricaner in der Nachfolge der spanischen Invasoren. Was, wie Dorothea nur allzu gut wusste, auf den Einfluss seines über alles geliebten Großvaters Pedro zurückging.
Sie begann zu lesen. »Beim Bäckermeister war nicht Not, / Die Heinzelmännchen backten Brot. / Die faulen Burschen legten sich. / Die Heinzelmännchen regten sich …«
Margarita hatte ganze Passagen im Kopf und klatschte vor Begeisterung in die Hände, wenn sie diese fehlerfrei rezitieren konnte. »Und ächzten daher / Mit den Säcken schwer. / Und kneteten tüchtig / Und wogen es richtig …« Plötzlich stockte sie und legte die Stirn in Falten. »Gibt es die Heinzelmännchen wirklich, Großmama?« Margarita fragte mit so ernster Miene, dass Dorothea unwillkürlich lachen musste.
»Nein, mein Schatz, das ist ein Märchen.«
»Oh, wie schade! Aber es wäre doch so schön … Stell dir vor, die Männchen schreiben die Einladungen für die Gäste und backen Kuchen und Pasteten … und du musst nicht mehr so viel nachdenken und hast den ganzen Tag Zeit für mich. Und wir können zusammen im Park ein Picknick machen, und meine Freundinnen kommen auch, und wir machen Dreibeinlauf und spielen mit Murmeln.«
Habe ich Margarita in letzter Zeit etwa vernachlässigt, weil ich mich so intensiv um das Fest gekümmert habe, fragte Dorothea sich schuldbewusst. Bin ich eine schlechte Großmutter?
»Wie sieht es in Köln aus?«, wollte Margarita wissen.
Dorothea atmete auf. Offenbar musste sie doch keine Gewissensbisse haben. Aber Margaritas Frage nagte an einer alten Wunde in ihrem Innern. Weder ihren beiden Kindern noch der Enkelin hatte sie je Einzelheiten über ihre Kindheit und Jugend erzählt. Sie brauchten nicht zu erfahren, wie sehr sie unter der Gleichgültigkeit der Eltern gelitten, wie verzweifelt sie um deren Liebe und Anerkennung gekämpft hatte. Vergeblich. Doch das sollte allein ihre wehmütige Erinnerung bleiben. Und so suchte Dorothea nach einer unverfänglichen Antwort.
»Du musst dir vorstellen, mein Kätzchen, Köln ist eine ganz alte Stadt. Fast zweitausend Jahre alt und viel größer als San José. Sie liegt an einem großen Fluss, am Rhein. Auf Dampfschiffen werden Waren stromaufwärts und stromabwärts gebracht. Menschen aus ganz Europa reisen hierher, um die Stadt zu besichtigen. Besonders wegen der großen Kathedrale, an der seit Jahrhunderten gebaut wird und die noch immer nicht fertig ist. Aber sie wird einmal wunderschön aussehen. Die Häuser sind aus Stein gemauert und höher als bei uns, manchmal haben sie drei oder vier Stockwerke. Auch die Kirchen sind alt und haben bunte Fenster. Im Innern sind Heiligenfiguren, Gemälde und vergoldete Altäre zu bewundern.«
Margarita machte große Augen und hörte aufmerksam zu, kaute dabei auf der Unterlippe. »Aus richtig echtem Gold? Aber wenn es dort so schön ist, warum bist du nicht in Köln geblieben, Großmama?«
Mit einem unhörbaren Seufzer zog Dorothea die Enkelin an sich und schmiegte ihre Wange an das glänzende dunkle Haar, das dem Olivias ähnelte und in dem sich Antonios Erbe widerspiegelte. Wohingegen sie ihrem Sohn die helle Haarfarbe vererbt hatte. Und dann musste sie schmerzlich an den Mann denken, den sie glühend geliebt und auf verhängnisvolle Weise verloren hatte. Deshalb war sie aus Köln geflohen und hatte am anderen Ende der Welt eine neue Heimat gefunden. Weil sie die Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen wollte. Aber auch davon sollte Margarita nie etwas erfahren, und so antwortete ihr Dorothea so heiter und unbefangen wie möglich.
»Die Winter in Deutschland sind lang und hart. Manchmal liegt mehrere Monate lang Schnee auf den Straßen. Im Rhein treiben Eisschollen stromabwärts. Dann können keine Schiffe mehr fahren. Die Menschen heizen mit Holz, damit sie es in den Wohnungen warm haben, und draußen tragen sie dicke, schwere Mäntel, dazu Mützen, Schals und Handschuhe.« Obwohl sommerliche Temperaturen herrschten, lief Dorothea bei der Erinnerung ein kalter Schauer über den Rücken. »Ich habe mich immer nach Sonne und Wärme gesehnt und bin sehr froh, dass ich nach Costa Rica gekommen bin. Denn sonst gäbe es dich nicht, mein Schatz, und deine Mama und Federico auch nicht.«
Margarita schlang die Arme um Dorotheas Hals und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange. »Ich hab dich lieb, Großmama.«
Endlich war er gekommen, der große Tag. Margarita hatte vor Aufregung kaum geschlafen, und auch Dorothea war mehrere Male in der Nacht aufgewacht und hatte sich bang gefragt, ob sie womöglich etwas Entscheidendes vergessen hatte. Würde das Fest gar in einem Fiasko enden?
Sämtliche Angestellten, die Männer in der einen, die Frauen in der anderen Reihe, standen in der großen Diele Spalier, um dem neuen Dienstherrn ihre Ehrerbietung zu bezeugen. Von einem Gemälde, das ihn im Alter von etwa dreißig Jahren zeigte, blickte Pedro Ramirez Duarte, Federicos Großvater und Gründer der Plantage, mit ernster, beinahe abweisender Miene auf die Szenerie herab.
»Unsere herzlichsten Glückwünsche zum einundzwanzigsten Geburtstag, Don Federico.«
»Allzeit Glück und Gottes Segen.«
»Mögen Sie fortan die Hacienda Margarita mit dem gleichen Geschick wie dem Ihres Großvaters selig lenken.«
Federico lächelte huldvoll, schüttelte jedem Einzelnen die Hand und versprach allen Mitarbeitern einen Monatslohn zusätzlich. Mit stolzgeschwellter Brust schritt er ins Speisezimmer und nahm erstmals in dem prachtvoll geschnitzten Armlehnstuhl am Kopfende des Tisches Platz, an dem vormals sein Großvater gesessen hatte.
Dorothea hatte den Frühstückstisch eigenhändig mit orangefarbenen Rosen geschmückt. Margarita brachte ihrem Onkel ein Ständchen und schenkte ihm ein Bild, das sie ohne fremde Hilfe aus gepressten Blütenblättern gestaltet hatte. Federico zeigte sich sichtlich gerührt, wirbelte die Kleine im Kreis herum und drückte ihr einen Kuss auf beide Wangen.
»Ich werde das Bild rahmen und über meinen Schreibtisch hängen. Du bist und bleibst meine Lieblingsnichte.«
Margarita zog die Stirn kraus. Ihre Mimik zeigte, dass sie angestrengt nachdachte. »Wieso, hast du noch eine andere Nichte?«
Federico tippte Margarita mit dem Finger auf die Nase. »Nein, aber selbst wenn ich ein Dutzend hätte, wärst du meine Lieblingsnichte.«
Gerührt beobachtete Dorothea die zu Herzen gehende Szene, achtete ihrerseits darauf, den Sohn nur flüchtig zu umarmen, weil ihm jegliche mütterliche Zärtlichkeit unangenehm war. Ein leises Zittern durchfuhr ihre Hand, als sie ihm eine mit Saphiren verzierte goldene Taschenuhr überreichte. Ihr persönliches Geschenk zum fünfzigsten Geburtstag ihres verstorbenen Ehemannes. Wie durch ein Wunder hatte der kostbare Zeitmesser Antonios tödlichen Sturz vom Felsen unbeschadet überstanden. Seither hatte Dorothea die Uhr wie einen Schatz gehütet und sie für den Sohn bei demselben Schweizer Uhrmacher in der Stadt reinigen und polieren lassen, bei dem sie sie Jahre zuvor erstanden hatte.
Ohne die Miene zu verziehen, klappte Federico den Deckel auf und gleich darauf wieder zu, kaum dass er dem kunstvoll emaillierten Innern einen Blick schenkte. Die Stunden waren mit römischen Ziffern in Tag- und Nachtstunden eingeteilt, die Mitte, wo Sekunden- und Stundenzeiger befestigt waren, zierte ein geflügeltes Pferd.
Nachlässig steckte Federico die Uhr in die Jackentasche. »Du entschuldigst mich, Mutter. Ich will nachsehen, ob die Rotweinflaschen schon dekantiert sind.« Federico eilte aus dem Zimmer, so ungestüm, als sei er auf der Flucht. Zumindest kam es Dorothea so vor. Sie unterdrückte einen Seufzer. Denn hätte es sich um ein Erinnerungsstück aus dem Nachlass des Großvaters gehandelt, Federico hätte sicherlich freudiger reagiert. Zu ihrem Bedauern war das Verhältnis zu seinem Vater nie herzlich oder eng gewesen.
Während Margarita sich mit der englischen Gouvernante in ihr Zimmer zurückzog, um sich das Haar flechten zu lassen und ihr neues rotes Kleid anzuziehen, schritt Dorothea die festlich gedeckten Tische ab, prüfte mit kritischem Blick, ob die Dienstboten gute Arbeit geleistet hatten. Houssen im gleichen cremeweißen Farbton wie die Tischdecken verliehen den Stühlen ein elegantes Aussehen. Das Silber war auf Hochglanz poliert. Die mit Blätterranken kunstfertig geschliffenen Wasser- und Weingläser funkelten in der Sonne. Damastservietten in Form eines aufgespannten Fächers zierten die Teller. Der Blumenschmuck harmonierte vortrefflich mit dem Blütenmuster auf dem Geschirr. Alles zeugte von überlegter Planung und erlesenem Geschmack. So wie es dem Ansehen und dem Ruf der Familie Ramirez entsprach. Antonio und ihre Schwiegereltern wären gewiss mit ihr zufrieden gewesen.
Zurück im Schlafzimmer, legte Dorothea ihr Festgewand an, ein Kleid aus Moiréseide mit gefälteltem Stehkragen und schmal fallendem Rock, der ihre hochgewachsene, schlanke Figur wirkungsvoll betonte. Sie zog eine samtbezogene Schatulle aus der Kommode und suchte ein Armband und einen Ring mit Türkisen und Diamanten heraus. Den Schmuck hatte ihr Antonio zur Geburt des lang ersehnten Stammhalters Federico geschenkt.
Dorothea stellte sich vor den Spiegel und verharrte dort reglos. Zu Jahresbeginn war sie einundfünfzig Jahre alt geworden, und noch immer hätte man sie aus der Ferne für eine junge Frau halten können. Doch sie gewahrte sehr wohl feine Linien um Augen und Mund in einem Gesicht, das sie selbst nie als schön empfunden hatte. Mit der hohen Stirn, den geschwungenen Brauen, der schmalen Nase und dem Mund, dessen Lächeln die blaugrauen Augen nur selten erreichte, hätte ein außenstehender Betrachter ihr Antlitz jedoch als ebenmäßig und fein bezeichnet.
Während ihrer Ehejahre, als es sich noch ziemte, Farbe zu tragen, hatte sie gern Kleiderstoffe in Tönen gewählt, in denen sich die Farbe ihrer Augen widerspiegelte. Doch seit dem Tag, an dem Antonio verstorben war, trug sie Schwarz, wie es der Anstand erforderte und ihren Witwenstand kennzeichnete. Doch Schwarz war nicht gleich Schwarz, es gab unzählige Nuancen, die ihr geschultes Malerauge allemal zu unterscheiden wusste. Gelegentlich lockerte sie ihr Aussehen dadurch auf, dass sie verschiedenartige Stoffe für ein Kleidungsstück verwendete, die das Licht unterschiedlich reflektierten. Was zu einem ganz eigenen, durchaus reizvollen Effekt führte. Dazu eigneten sich besonders die mannigfaltigen Gewebearten von Seide wie Organza, Chiffon, Taft, Satin, Brokat oder Crêpe de Chine. Hin und wieder ließ sie auch am Halsausschnitt einen Silber- oder Goldknopf befestigen oder winzige schillernde Perlen in den Ärmelsaum einnähen.
Ansonsten kümmerte sie sich wenig um Kleidung und wäre nie auf den Gedanken gekommen, eins jener französischen Modemagazine zu abonnieren wie fast alle Frauen der höheren Gesellschaft in San José. Seit Jahrzehnten trug sie nahezu unverändert den gleichen Schnitt, was zu gelegentlichem Getuschel hinter ihrem Rücken führte. Das scherte sie allerdings herzlich wenig. Lieber nutzte sie die Zeit für Wichtigeres. Für die Erziehung ihrer Enkelin, die Hauswirtschaft auf der Hacienda Margarita und für die Indianerinnen, die sich in das von ihr gegründete Heim geflüchtet hatten.
Aus den verschiedensten Gründen waren die jungen Frauen in die Casa Santa Maria gekommen. Sei es, dass sie von ihren Ehemännern verprügelt oder von ihren Familien verstoßen worden waren. Oder weil sie Waisen geworden waren, für die sich niemand verantwortlich fühlte. Im Heim fanden sie Schutz und eine Arbeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten konnten. Außerdem lernten sie Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Töpferwaren, die die jungen Frauen nach alter Tradition herstellten und mit Motiven ihrer Vorfahren verzierten, galten als exotische Dekorationsgegenstände und wurden vorzugsweise von eingewanderten Europäern gekauft.
»Großmamaaa! Die Gäste fahren vor!«, vernahm sie eine aufgeregte Mädchenstimme und bemerkte im Spiegel Margarita, die ihren dunklen Haarschopf durch den Türspalt streckte.
»Bin schon fertig, mein Kätzchen. Komm, jetzt wollen wir ausgiebig feiern!«
Ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel spannte sich über der Hacienda Margarita. Fröhliche Gesänge und die Klänge von Geigen, Gitarren und Marimbas schallten über die Kaffeefelder. Die feuchtwarme Luft mischte sich mit dem Parfum der Saison, einer Mischung aus Veilchen und Vanille, den die Damen reichlich aufgetragen hatten, während die Herren Düfte von Muskatnuss und Zedernholz verströmten. Dieses Toilettenwasser allerdings war schon seit ewigen Zeiten unverändert und erfreute sich gleichbleibender Beliebtheit. Nur zu gern ließ sich Dorothea von der gelösten Stimmung anstecken. Alles verlief nach Plan.
Zu Beginn begrüßte Federico die Gäste mit einer launigen Ansprache, danach ergriff Dorothea das Wort. Im Namen ihres verstorbenen Mannes und ihres Schwiegervaters dankte sie dem Vormund ihres Sohnes, Notar Margas Toselli, sowie dem Verwalter der Hacienda Margarita, Señor Sánchez Alonso. Mit Rat und Tat hatten sie dem Unmündigen zur Seite gestanden und ihn auf seine künftigen Aufgaben vorbereitet. Beide Männer trugen eigens für diesen Tag maßgeschneiderte Anzüge und hatten Tränen der Rührung in den Augen.
Noch nie hatte Dorothea vor so vielen Menschen gesprochen, und sie war erleichtert, als ihr die Sätze fehlerfrei über die Lippen gekommen waren. Nachdem der Beifall für ihre Worte verklungen war, spürte sie nahezu körperlich, wie eine Last von ihr abfiel, nun, da Federico die Volljährigkeit erreicht hatte und für sein Tun selbst verantwortlich war. Bereitwillig überließ sie dem Sohn die Bühne und suchte nach anregenden Gesprächspartnern. So plauderte sie vergnügt mit dem Sekretär des Innenministers und erläuterte ihm, für wie notwendig und dringlich sie die Errichtung von Schulen in den entlegenen Dschungeldörfern der Indigenas erachtete. Dann ließ sie sich von einem ebenfalls aus Köln eingewanderten Ingenieur von dem ehrgeizigen Plan berichten, den Dom innerhalb der nächsten drei Jahre fertigzustellen. Zu ihrer Freude traf sie auf eine Schulfreundin Olivias, die mittlerweile mit einem Justizbeamten verheiratet war und die sich lebhaft daran erinnerte, wie sie als Kind in diesem Park gespielt hatte.
Dorothea untersagte sich jeden Zweifel, ob ihr Sohn die notwendige Reife für seine künftigen Aufgaben besaß. An diesem Tag wollte sie nur mütterlichen Stolz empfinden. Amüsiert beobachtete sie, wie alle Frauen unter dreißig Federicos Nähe suchten, sich durch eine vorwitzige Bemerkung, ein Klappern mit dem Fächer oder einen koketten Augenaufschlag hervorzutun versuchten. Und wie die über Vierzigjährigen ihren Töchtern vielsagende Blicke zuwarfen, verstärkt durch einen aufmunternden Stoß in die Rippen. Zwar besaß Federico nicht die Strahlkraft seines Vaters, bei dem allein durch eine Handbewegung oder ein Zucken des Mundwinkels Frauen jeden Alters dahingeschmolzen waren. Doch Federico hatte ein ansprechendes Äußeres, trug den Namen Ramirez und war der reichste Erbe weit und breit. Über diesen unbestreitbaren Vorzug machte sich Dorothea nicht die geringsten Illusionen.
Die Musiker, zwei Bongo-, zwei Gitarren- und ein Marimbaspieler, formierten sich. Walzermelodien erklangen. Nachdem Federico den Reigen mit ihr, seiner Mutter, eröffnet hatte, drängten sich alle Frauen, mit dem Geburtstagskind zu tanzen.
Zuerst glaubte Dorothea an einen Zufall, doch dann musste sie sich eingestehen, dass auch sie eine begehrte Tanzpartnerin war. Wobei vor allem Witwer und Junggesellen gesetzteren Alters sie zu einer Polka oder Mazurka aufforderten. Señor Sánchez Alonso, der Verwalter, hatte vor Aufregung Schweißperlen auf der Stirn und schielte immer wieder zu seiner Ehefrau hinüber, einer drallen Matrone in einem viel zu engen fliederfarbenen Kleid mit voluminösen Ärmeln, deren Eifersucht an den zusammengekniffenen Lippen überdeutlich zu erkennen war.
»Ich hätte nicht gedacht, dass eine Frau in deinem Alter den Männern noch den Kopf verdrehen kann«, raunte Federico seiner Mutter bei einer Walzerdrehung ins Ohr.
Dorothea konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Das unerwartete Lob des Sohnes schmeichelte ihr, sie gab sich charmant und schlagfertig, wahrte aber zu jedem Gesprächs- und Tanzpartner eine feine Distanz. Lächelte über allzu plumpe Annäherungsversuche hinweg. Als sie die Schuhspitze eines beleibten Bankiers schmerzhaft auf ihrem Fuß spürte, musste sie leise seufzend an Antonio denken. Ihr Mann war ein begnadeter Tänzer gewesen, und in seinen Armen war sie im Walzerschritt gleichsam dahingeschwebt.
»Ich danke Ihnen für die herrliche Quadrille, Señor.« Mit diesen Worten entzog sich Dorothea ihrem Tanzpartner, einem kurzatmigen kleinen Hotelbesitzer aus Puntarenas, der sie mit schmachtendem Blick und schweißnassen Händen ungeschickt über den Rasen geführt hatte. Nach einem Blick zum Himmel keimte Unruhe in ihr auf. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, und noch immer war Olivia nicht eingetroffen. Die Tochter hatte ihren Besuch schon vor Wochen angekündigt, wollte den großen Tag gemeinsam mit der Familie begehen.
Wie oft hatte Dorothea sich seither ausgemalt, ihr Kind endlich wieder in die Arme zu schließen. Olivia, die wilde und eigensinnige Tochter, die ein unkonventionelles, völlig selbstständiges Leben führte. Fern der Heimat, in immer anderen Städten, in immer anderen Betten. Olivia, die sie offenbar allzu sehr geliebt und behütet hatte, sodass die Tochter diese Umklammerung schon mit sechzehn Jahren gelöst hatte, um sich in eine unglückliche Ehe zu stürzen. Eines Tages war sie dann mit einer Theatertruppe davongezogen, um sich ihren Traum von Freiheit zu erfüllen. Um später dann allein, nur von einem Gitarrenspieler begleitet, auf der Bühne zu tanzen. Während sie, Dorothea, die vaterlose Enkelin aufzog.
Um sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen, entfernte Dorothea sich gemessenen Schrittes aus dem Park und ging hinüber zu dem Platz vor dem Herrenhaus, wo die Kutschen anzuhalten pflegten. Doch von Olivia war weit und breit nichts zu sehen. Enttäuscht wandte sich Dorothea um, wollte schon zu den Feiernden zurückkehren. Da bemerkte sie Margarita, die zusammengekauert auf den Stufen zum Eingang hockte. »Was ist mit dir, mein Kätzchen? Ich habe nach dir gesucht. Du wolltest doch so gern die Etüde vorspielen, die du mit Señor Morado Flores eingeübt hast.«
Margarita wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und zog einen Flunsch. »Erst wenn Mama hier ist. Sie hat doch geschrieben, dass sie kommt.«
Das also war der Grund für Margaritas Traurigkeit. Nur zu gut verstand Dorothea den Kummer der Enkelin. Margarita hing an ihrer Mutter, hätte sie am liebsten immer in der Nähe gewusst. Zwar schenkte Dorothea der Enkelin alle Liebe und Fürsorge, die ein heranwachsendes Kind benötigte, aber die Mutter konnte sie ihr nicht ersetzen.
»Ja, das hat sie versprochen. Mama ließe sich ein so wichtiges Fest nie entgehen. Sie wird bestimmt bald hier sein.«
»Und wenn nicht?«
Margarita sprach aus, was Dorothea insgeheim befürchtete, doch sie musste und wollte sich der Enkelin gegenüber in Zuversicht üben. »Lass uns noch ein wenig warten! Sicherlich hatte sie unterwegs einen ungeplanten Aufenthalt und treibt die Muliführer umso mehr zur Eile an. Vielleicht möchtest du deinen Onkel doch noch mit der Etüde überraschen. Und wenn deine Mama angekommen ist, spielst du sie ein zweites Mal, nur für sie allein.«
Margarita verschränkte die Arme vor der Brust und starrte trotzig auf ihre weißen Lederstiefeletten, an denen Gras und Erde klebten. »Nein, erst muss Mama kommen. Sonst spiele ich nicht.«
Seufzend gab Dorothea sich geschlagen. Sie reichte der Enkelin die Hand und ging mit ihr in die Küche, wo die Köchin nichts lieber tat, als Margarita einen Rosinenkrapfen zuzustecken. Das Rezept stammte aus Dorotheas rheinischer Heimat.
»Hm, fein! Ich will Negro ein Stückchen davon abgeben.« Im nächsten Augenblick war Margarita mit wehendem Rock flugs durch die Küchentür entschwunden. Auf dem Rücken von Negro, dem Pony ihrer Mutter, hatte Margarita kürzlich mit ihren ersten Reitversuchen begonnen.
Mit gerunzelter Stirn blickte Dorothea der Enkelin hinterher, wie sie in ihrem mohnroten Kleid zu den Stallungen lief. Dann aber mischte sie sich wieder unter die Feiernden, suchte Ablenkung bei zwangloser Plauderei, die sie jedoch zunehmend anstrengte. Denn immer wieder glitten ihre Gedanken ab. Womöglich war Olivia mit der Eisenbahn verunglückt und lag in irgendeinem Hospital in Amerika, schwer verletzt und unfähig, eine Nachricht zu verfassen. Oder das Schiff war auf einen Felsen aufgelaufen, und alle Passagiere waren ertrunken. Vielleicht war sie aber auch wohlbehalten in Puntarenas angekommen, danach jedoch im Dschungel zusammen mit dem Muliführer überfallen und ausgeraubt worden.
Nur mit Mühe vermochte Dorothea ihre innere Unruhe hinter einer heiteren Maske zu verbergen. Wenn es um ihre Tochter oder Enkelin ging, versetzte sie jede kleinste Unregelmäßigkeit in Angst und Schrecken. Immerzu hatte sie Angst um die beiden, wollte sie beschützen und vor allem Übel bewahren. Es schien, als setze von einer Sekunde zur anderen ihr gesunder Menschenverstand aus, und sie bestand nur noch aus Furcht, Verzagtheit und Hilflosigkeit.
»Wo steckt eigentlich meine Nichte? Sie hat mir doch eine Etüde versprochen. Und getanzt haben wir auch noch nicht miteinander«, vernahm sie plötzlich Federicos Stimme. Er hatte eine pummelige junge Dame im Arm, der der Tanz und wohl auch die Aufregung rote Flecken auf die Wangen getrieben hatten, so als hätten die Masern sie befallen.
»Ich sehe rasch nach ihr. Zur Feier des Tages wollte sie Negro einen Krapfen bringen.«
Der Stallbursche schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Doña Dorothea, Señorita Margarita ist nicht mehr hier. Bestimmt schon seit über einer Stunde.«
Dorothea folgte dem Lauf des Baches, der die Hacienda von Ost nach West durchschnitt, wo Margarita gern zwischen den hohen Schilfgräsern spielte und Steinchen ins Wasser warf. Sie überquerte die Holzbrücke und kehrte am jenseitigen Ufer in den Park zurück. Sah sich im Rosenpavillon um und suchte schließlich hinter der hohen Kakteenhecke, wo Federico für seine Nichte an einem Brotfruchtbaum eine Schaukel befestigt hatte. Doch von Margarita entdeckte sie nirgends eine Spur.
Eins der Dienstmädchen ging mit einem Tablett herum und reichte den Gästen frisch gepressten Orangen- und Ananassaft. Dorothea nahm ein Glas und fragte wie beiläufig nach dem Verbleib der Enkelin.
»Ich habe vorhin gesehen, wie die kleine Señorita die Treppe zum Obergeschoss hinauflief. Vermutlich ist sie in ihrem Zimmer.«
Wie sie es schon bei der Tochter gehalten hatte, klopfte Dorothea an Margaritas Tür. Sie selbst hatte es als Kind gehasst, wenn die Eltern plötzlich unangekündigt in ihrem Zimmer gestanden hatten, meist wegen irgendwelcher Unannehmlichkeiten, die natürlich mit äußerster Dringlichkeit zu besprechen gewesen waren. Dorothea klopfte ein weiteres Mal, presste ein Ohr an die Tür. Von drinnen war kein Laut zu vernehmen.
»Margarita?« Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen. Also musste die Enkelin in ihrem Zimmer sein. Aber warum sperrte sie sich ein? Vielleicht aus Kummer, weil die Mutter immer noch nicht gekommen war? Dorothea versuchte einen lockenden Tonfall. »Margarita, Kätzchen, lässt du mich hinein? Dein Onkel schickt mich, er möchte dich zum Tanz auffordern.«
Ganz langsam zählte Dorothea bis zehn, dachte kurz daran, Federico als moralische Unterstützung zu Hilfe zu rufen, da hörte sie, wie der Schlüssel sich leise quietschend im Schloss bewegte.
Dann öffnete sich die Tür eine Handbreit. Über Margaritas rosige Kinderwangen rollten dicke Tränen. Dorothea beugte sich hinunter, zog die Enkelin an sich und strich ihr über das Haar.
»Mama ist immer noch nicht da. Sie kommt heute bestimmt nicht mehr.« Margarita schluchzte und rieb sich die triefende Nase an Dorotheas Schulter.
»Morgen betrachten wir den Globus im Bibliothekszimmer. Dann zeige ich dir, wie weit es von Amerika bis nach Costa Rica ist. Vielleicht wehte der Wind zu schwach, und der Kapitän fluchte fürchterlich. Oder ein Sturm kam auf, und das Schiff musste in einer geschützten Bucht das Unwetter abwarten. Wer auf Reisen geht, weiß nie genau, wann er ans Ziel kommt. Es muss einen triftigen Grund geben, weswegen Mama noch nicht bei uns ist.«
»Mama hat mich nicht lieb, deswegen ist sie nicht gekommen!«
Erschrocken über die Heftigkeit, mit der Margarita ihren Kummer hinausschrie, drückte Dorothea die Kleine noch fester an die Brust. »Aber nein, mein Herz, so etwas darfst du nicht denken! Deine Mutter liebt niemanden mehr als ihre süße kleine Tochter. Das weiß ich ganz sicher, weil sie es mir oft gesagt und auch geschrieben hat.«
Das Schluchzen hörte nicht auf. Margarita bekam einen Schluckauf, der zu neuerlicher Tränenflut führte. Dorothea zog ein Taschentuch hervor, um das nasse Gesichtchen zu trocknen. Schließlich nahm sie sogar den Saum eines von Margaritas Unterröcken zu Hilfe, weil das Spitzentuch gar nicht so viele Tränen auffangen konnte.
»Sag, meine Kleine, oder hast du vielleicht sonst noch Kummer?«
Jäh verstummte Margarita. Breitbeinig setzte sie sich in ihren Kindersessel mit Blumenmuster, den sie sich zu ihrem letzten Geburtstag innigst gewünscht hatte, verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen fest aufeinander.
»Magst du es mir nicht sagen?«
»Die Mädchen sind hässlich zu mir! Besonders Susana und Antonieta«, platzte es aus Margarita heraus.
Dorothea nickte ahnungsvoll. Also hatte sie richtig vermutet – es gab noch ein weiteres Problem. Margarita hatte Ärger in der Schule.
»Das finde ich gar nicht nett von den beiden. Was sagen sie denn zu dir?«
»Sie sagen … sie sagen, meine Mutter ist eine Lebedame und lässt sich von Männern aushalten.«
Nur mit größter Anstrengung gelang Dorothea ein begütigendes Lächeln. Erschrocken fragte sie sich, wie siebenjährige Mädchen sich mit einem derartigen Thema befassen konnten. So etwas konnten sich die Kinder nicht selbst ausgedacht haben, das hatten sie ganz sicher von den Erwachsenen aufgeschnappt. Dass die hochwohlgeborene Gesellschaft von San José wenn schon keine Achtung, so doch zumindest ein Mindestmaß an Verständnis für den Beruf einer Tänzerin zeigen würde, davon war Dorothea nie ausgegangen. Doch was sie hier hörte, war eindeutig zu viel des Guten.
»Weißt du überhaupt, was eine Lebedame ist?«, fragte sie mit betont heiterer Stimme. Margarita schüttelte den Kopf und wischte sich die triefende Nase am Ärmel ab.
»Eine Lebedame ist …« Dorothea suchte nach einer kindgerechten Erklärung, die den pikanten Sachverhalt in einem milden Licht darstellte. Denn selbstredend war Olivia keine Kurtisane, auch wenn die Anspielungen genau in diese Richtung zielten. Und auf finanzielle Zuwendungen von Männern war die Tochter dank ihrer Herkunft erst recht nicht angewiesen. Schließlich war Olivia eine Ramirez! Dorothea setzte sich auf die Bettkante, und Margarita kroch flink zu ihr auf den Schoß.
»Wenn in früheren Zeiten eine junge Frau besonders gut singen, tanzen oder ein Instrument spielen konnte, dann kam es manchmal vor, dass ein Herzog oder sogar der König sie fragte, ob sie auf seinem Schloss wohnen wollte. Um ihn und seine Freunde zu unterhalten und die Langeweile zu vertreiben. Die junge Frau ließ sich also keineswegs aushalten, sondern sie bekam für ihre Arbeit einen Lohn. Ähnlich wie heutzutage eine Kaffeepflückerin, eine Schneiderin oder ein Dienstmädchen. Aber weil diese Frau wie eine hochstehende Dame edle Kleider trug und in einer eleganten Wohnung mit Seidentapeten lebte, waren viele Menschen neidisch und nannten sie eine Lebedame.«
Margarita schniefte und zog geräuschvoll die Nase hoch. »Ich will auch eine Lebedame werden in einem weißen Schloss und mit einer goldenen Kutsche. Und dann spiele ich jeden Morgen dem König auf dem Klavier vor.«
»Mein Schatz, stell dir das nicht so einfach vor. Es kann ziemlich anstrengend sein, einen König oder Herzog bei Laune zu halten. Denn wenn eine Sängerin oder Tänzerin den großen Herrscher langweilte, wurde sie nach Hause zurückgeschickt, und in Windeseile zog eine andere auf seinem Schloss ein.«
Margarita lehnte den Kopf an die Schulter der Großmutter und spielte mit deren linker Hand, drehte an dem kleineren der beiden Eheringe so lange, bis der weiß funkelnde Stein genau in der Fingermitte saß. Antonio hatte seinerzeit die Goldringe ausgesucht und für seine Braut einen Diamanten einfassen lassen – als Symbol seiner beständigen und aufrichtigen Liebe, wie er mit zitternden Lippen erklärt hatte. Dorothea unterdrückte einen Seufzer und vergrub die Nase in dem weichen, nach Jugend und Unschuld duftenden Kinderhaar.
»Weißt du, meine kleine Margarita, deine Mama ist eine große und berühmte Künstlerin. Sie ist schon in vielen Ländern aufgetreten. Hunderte von Menschen kommen Abend für Abend ins Theater, um sie auf der Bühne zu sehen. Deine Mama verdient mit ihrer Kunst so viel Geld wie sonst nur Männer. Und sie muss sich weiß Gott nicht von irgendjemandem etwas schenken lassen. Du darfst stolz sein auf eine Mutter, wie sie keine deiner Freundinnen hat.«
Margarita schluchzte nicht länger und hörte mit großen Augen aufmerksam zu. »Das werde ich Susana und Antonieta morgen in der Schule erzählen, dass meine Mama eine berühmte Künstlerin ist und ihre nicht. Sie sollen richtig neidisch werden.«
Mit einem Gefühl der Genugtuung, dessen sie sich nicht schämte, drückte Dorothea der Enkelin einen Kuss auf die Wange. »Wir fragen deine Mama, ob sie uns künftig Zeitungsartikel schickt, in denen über ihre Auftritte berichtet wird. Miss Watson wird sie mit dir zusammen übersetzen.«
Plötzlich hatte es Margarita eilig. Sie sprang von Dorotheas Schoß und trippelte zur Tür. »Schnell, Großmama, ich will Klavier spielen! Und getanzt haben Onkel Federico und ich auch noch nicht.«
Alle Augen richteten sich auf Margarita, als sie sich an den Flügel im Salon setzte, die kurzen schmalen Finger über die Tasten gleiten ließ und auswendig eine Etüde von Franz Liszt vortrug. Mit geschlossenen Augen lauschte Dorothea den Klängen, lächelte mit leisem Stolz. Die Enkelin spielte mit einer Selbstsicherheit, die sie selbst nie erreicht hatte, auch wenn sie durchaus als begabte Klavierspielerin gelten konnte. Und obwohl Margarita erst sieben Jahre zählte, war ihr Spiel einfühlsam, temperamentvoll und obendrein fehlerfrei.
Beifall brandete auf, als die junge Pianistin geendet hatte. Sie rutschte vom Schemel und lief mit seligem Lächeln zu ihrem Onkel, der sich zu ihr hinunterbeugte und sie überschwänglich auf beide Wangen küsste.
»Bravo, das war großartig! Verehrte Gäste, falls Sie die Künstlerin noch nicht kennen – meine Nichte Margarita. Darf ich nun zum Tanz bitten, junge Dame?«
Auf Federicos Fingerzeig hin intonierte die Kapelle einen Walzer. Die Gäste bildeten einen Kreis und beobachteten schmunzelnd den jungen Mann und das kleine Mädchen, wie sie zunächst noch ungelenk, dann immer sicherer ihre Schritte in Übereinstimmung brachten und sich zum Takt der Musik wiegten und drehten. Ein Paar tat es ihnen nach, dann wurden es immer mehr, und bald schon schwangen sich alle, die einen Partner fanden und sich ohne Gehstock bewegen konnten, im Dreivierteltakt.
Unauffällig tupfte sich Dorothea einige Tränen aus den Augenwinkeln. Tränen der Freude, weil Margarita über ihren Schatten gesprungen war und auch ohne die Anwesenheit der geliebten Mutter vorgespielt hatte. Und weil Enkelin und Sohn so gut miteinander auskamen. Aber auch Tränen der Enttäuschung, denn sie hatte sich so sehr nach Olivia und einem Fest im Kreis der Familie gesehnt, die ohnehin klein geworden war. Und ebenso Tränen der Wehmut, weil ihr verstorbener Ehemann Antonio dieses wunderbare Fest nicht miterleben konnte.
Auch drei Tage nach dem großen Fest war Olivia noch immer nicht auf der Hacienda erschienen. Dennoch wollte Dorothea Zuversicht ausstrahlen und sich die quälende Sorge um den Verbleib der Tochter nicht anmerken lassen. Insbesondere der Enkelin wegen.
Doch in der Nacht, wenn sie allein im Bett lag, holten ihre Träume sie ein. Dann sah sie ein Mädchen, das beinahe aussah wie Margaritas Zwillingsschwester. Auf seinem Ponyhengst galoppierte es über die Wege zwischen den weiten Kaffeefeldern, kletterte auf Bäume oder balancierte auf dem Brückengeländer über den Bach. Olivia, ihre wilde, über alles geliebte Tochter, um deren Leben sie einst gebangt hatte. Eine qualvoll lange Woche, als Olivia an einem unbekannten Ort festgehalten worden war. Von Verbrechern, die ein unschuldiges Mädchen entführt hatten, um menschenwürdigere Arbeitsbedingungen für die Kaffeepflücker auszuhandeln. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, lediglich mit einer kurzen Pause für eine karge Mahlzeit, hatten sich die Männer während der Erntezeit auf den Feldern geschunden. Während Pedro, ihr Schwiegervater und Gründer der Plantage, zum wohlhabendsten und einflussreichsten Kaffeebaron des Landes aufgestiegen war.
Diese Menschen hatten ein Unrecht begangen, um ein anderes Unrecht zu beenden. Doch die Entführer wurden