Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922 - Hannes Leidinger - E-Book

Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922 E-Book

Hannes Leidinger

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Beschreibung

Die Herrschaft von Nikolaus II. endete mit der Februarrevolution 1917. Das Zarenreich ging unter. In den folgenden Machtkämpfen entfaltete sich erschreckende Gewalt, die alle Regionen und Gesellschaftsgruppen des Imperiums betraf. In der opferreichen Zeit der "Übergangswirren", aus denen die kommunistische Sowjetunion hervorgehen sollte, standen sich unterschiedliche Parteien, Ideologien, nationale Kräfte, soziale Schichten und ausländische Interventionsmächte gegenüber. Neben den politischen und militärischen Entwicklungen zeichnet das Buch auch das Alltagsleben der Menschen in der Katastrophe nach. Was unter der Bezeichnung "Russischer Bürgerkrieg" bekannt ist, bedarf einer grundlegend anderen Charakterisierung. Die Reihe "Kriege der Moderne", herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, stellt die wichtigsten militärischen Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen vor und erläutert ihre geschichtlichen Ursachen und politischen Folgen. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Hannes Leidinger

Der Russische Bürgerkrieg 1917–1922

Reclam

Kriege der Moderne

 

Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

 

Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0870-01)

 

 

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung: Bewaffnete Soldaten der Roten Armee auf einem Panzerzug. picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961818-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011308-0

www.reclam.de

Inhalt

1 Höllenszenen2 Das KonfliktgemengeDie letzten Jahre des ZarenreichesAutoritätsverlust und MachtwechselFöderalismus, Autonomie, SeparatismusDie Intervention der MittelmächteDie Intervention der AlliiertenDie internen Konflikte und die Probleme der WeißenDie Stabilisierung der bolschewistischen Herrschaft3 Waffengänge und WendepunkteGrundlinienAnfänge des »Bürgerkrieges«Die militärische Rolle der ausländischen MächteDie großen OffensivenStaaten- und NationalitätenkämpfeDer lange Weg zur Ruhe4 Leben in der KatastropheDer Tod in ZahlenDer große RauschVerfall, Elend, Hunger»Wir und die Anderen«Der Aufbau der neuen bolschewistischen MachtFeindbild ReligionDie »alte Welt«Ist-Zustand und Zukunftsperspektiven5 Zusammenfassung und AusblickLaboratorium der Gewalt – Konglomerat der KonflikteBegriffe und DefinitionsversucheDer Sieg der Roten und die Folgen des »Bürgerkrieges«AnhangZeittafel1914191719181919192019211922LiteraturhinweiseAbbildungsnachweisSachregister

[7]1 Höllenszenen

Kellerraum im Haus des Nikolaj IpatjewIpatjew, Nikolaj in Jekaterinburg, in dem die Zarenfamilie in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 ermordet wurde

Er bat um eine Wiederholung dessen, was er gerade vernommen hatte. Mehr aber als ein verstörtes, stotterndes »Was?« brachte er nicht mehr hervor. Kurz darauf trafen Nikolaj RomanowRomanow, NikolajNikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar), den früheren Zaren Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar), gleich mehrere Kugeln. Der einst beinahe allmächtige Herrscher des russischen Imperiums sank taumelnd, mit leerem Blick und blutüberströmt zu Boden. Die bewaffneten Männer hatten seinen Tod beschlossen, mit Billigung ihrer Anführer und Vorgesetzten. Und nicht nur er, sondern auch seine Frau, seine Kinder und seine letzten Getreuen sollten sterben. Der Koch Iwan CharitonowCharitonow, Iwan, der Diener Alexej TruppTrupp, Alexej und die Hofdame Anna DemidowaDemidowa, Anna erlitten ebenfalls tödliche Verletzungen.

Die Barbarei der Exekutionen wurde durch ein infernalisches Durcheinander noch gesteigert. Einige der tödlichen Projektile flogen als Querschläger im Raum herum. Ein Schütze verletzte sich an der Hand. Der sich bekreuzigenden Zarin wurde in den Kopf geschossen. Hirnmasse und Blut spritzten aus ihrem zerschmetterten Schädel. Der Lärm [8]wurde ohrenbetäubend, Pulverdampf und Staubschwaden nahmen allen die Sicht. Jakow JurowskijJurowskij, Jakow, der Leiter des Hinrichtungskommandos, ordnete eine Unterbrechung an. Die Türen des Kellerraums, aus dem das Schluchzen, die Schreie und das Stöhnen der noch lebenden Opfer drangen, öffneten sich.

Kurz darauf setzten die Schützen ihr blutiges Treiben fort. Jewgenij BotkinBotkin, Jewgenij, der Leibarzt der kaiserlichen Familie, hatte sich noch einmal erhoben und fand nun den Tod. Weitere Schüsse prallten indes an den Kleidern der Zarenkinder ab, doch die in ihre Gewänder eingenähten Juwelen schützten sie nur kurz. Ein besonders rücksichtsloser Gehilfe JurowskijsJurowskij, Jakow stach mit dem Bajonett auf den dreizehnjährigen Zarewitsch AlexejZarewitsch Alexej (Sohn Nikolaus' II.) ein. Die noch unverletzten Töchter OlgaOlga (Tochter Nikolaus’ II.), TatjanaTatjana (Tochter Nikolaus' II.) und AnastasiaAnastasia (Tochter Nikolaus’ II.) klammerten sich schreiend aneinander. TatjanaTatjana (Tochter Nikolaus' II.) traf nun ein Schuss in den Hinterkopf, OlgaOlga (Tochter Nikolaus’ II.) ein weiterer ins Gesicht. Auf MariaMaria (Tochter Nikolaus’ II.) und AnastasiaAnastasia (Tochter Nikolaus’ II.) gingen die Mörder mit Bajonett und Pistolen los. Nach zehnminütiger Raserei glaubten die Mörder, alles sei vorüber. Doch beim Hinaustragen der Leichen begannen zwei Mädchen zu keuchen. Wieder kam das Bajonett zum Einsatz. Einige Täter übergaben sich, liefen davon. Jakow JurowskijJurowskij, Jakow, der unterdessen die Sicherung der Wertsachen, vor allem der Edelsteine, überwachte, konstatierte trocken, dass das Umbringen keine leichte Sache sei.

Um drei Uhr morgens, am 17. Juli 1918, verließ ein mit Leichen beladener Lastwagen das »Haus zur besonderen Verwendung«, wie die Täter den Schauplatz der Metzelei in Jekaterinburg im Ural nannten. Die sterblichen Überreste verschwanden im nahegelegenen Wald.

Ein Porträt von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) und seiner Familie anlässlich des dreihundertjährigen Thronjubiläums der Romanows 1913

Am selben Tag, um 23 Uhr, wurden die erst kürzlich aus Jekaterinburg in den rund 160 Kilometer entfernten Bergbauort Alapajewsk gebrachten Verwandten des Zaren geweckt. Die sechs Angehörigen der Romanow-Dynastie ließen sich widerstandslos abführen, mit einer Ausnahme: Der Cousin des letzten Monarchen, Sergej MichailowitschSergej Michailowitsch, sträubte sich gegen sein Schicksal, das die anderen – ebenso wie die meisten Opfer von Jekaterinburg – ebenfalls erahnten. Ein Handgemenge entstand, ein Schuss in den Oberarm machte den Widerspenstigen gefügig. Der bereitstehende Pferdekarren brachte die Großfürstinnen und Großfürsten zu einer Eisenmine. SergejSergej Michailowitsch widersetzte sich erneut. Durch einen Kopfschuss starb er vor den Augen der übrigen Opfer. Anschließend wurden die Frauen mit Gewehrkolben niedergeschlagen [9]und in einen Schacht gestoßen. Danach widerfuhr den Männern dasselbe Schicksal. Die Täter aber erschraken: Anders als sie es erwartet hatten, lebten die Malträtierten noch. Stimmen waren zu hören. Also wurden Granaten in den Schacht geworfen. Doch nun drang der Psalm »Hilf deinem Volk« an die Ohren der Mörder. Schließlich füllten sie die Mine mit Holz und zündeten es an. Im dichten Rauch erklang nach wie vor der Gesang – bis es still wurde.

Um die Geschehnisse im Ural entstand eine oft pietätlose »Schaurigkeitsindustrie«, die mit Verklärungen und Idealisierungen der Opfer einherging. Zu Recht erinnern manche Historiker und Historikerinnen daran, dass damals sehr viele andere Menschen unter mindestens ebenso schrecklichen, wenn nicht schlimmeren Umständen zu Tode kamen. Dennoch sind die Vorgänge in Jekaterinburg und Alapajewsk aussagekräftig, weil sie das Ausmaß und den Charakter der Gewalteskalation in [10]jenen Jahren, speziell in den Regionen des untergegangenen Romanow-Imperiums, vor Augen führen. Der Furor der Revolutionäre traf unterschiedslos Frauen, Männer und Kinder, Gesunde und Gebrechliche, Junge und Alte. Die Qualen der gefolterten und ermordeten Zarenfamilie standen für den Massenterror, der letztlich zur Auslöschung ganzer Gesellschaftsschichten führte. Die Schicksale der Romanows waren beispielhaft, die Morde von Alapajewsk und Jekaterinburg keine Einzelfälle. Zuvor hatte man bereits Großfürst MichailMichail (Großfürst, Bruder Nikolaus’ II.), den jüngsten Bruder von Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar), gemeinsam mit seinem Sekretär bei Perm erschossen. Monate später starben Cousins des Zaren in der Peter-und-Paul-Festung in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg. Zwar konnten andere Mitglieder der einstigen Herrscherdynastie entkommen, doch die neuen Machthaber, die Bolschewiki unter der Führung von Wladimir Iljitsch LeninLenin, Wladimir Iljitsch, wollten die gesamte Großfamilie ausrotten.

LeninLenin, Wladimir Iljitsch (1870–1924) spricht vor Arbeiter- und Soldatenräten. Der Parteiführer der Bolschewiki hieß eigentlich Wladimir I. Uljanow und war seit dem Ende der 1890er Mitglied der russischen Sozialdemokratie. Bis 1917 befand er sich zumeist in der Emigration, zuletzt während des Ersten Weltkrieges in der Schweiz.

Die unter der Führung LeninsLenin, Wladimir Iljitsch stehende Partei der Bolschewiki bildete sich 1903 durch die Spaltung der 1898 gegründeten russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich am Marxismus orientierte. Der Begriff »Bolschewiki« bedeutet im Deutschen ›Gruppe mit der Mehrheit‹ bzw. ›Mehrheitler‹ und ging auf ein knappes Abstimmungsergebnis beim Parteitag 1903 in Brüssel und London zurück. LeninsLenin, Wladimir Iljitsch Anhängerschaft hatte ansonsten keineswegs eine Majorität der russischen Sozialdemokraten hinter sich. 1918 entschieden sich die Bolschewiki für eine Umbenennung: Von nun an hießen sie Kommunistische Partei Russlands, ab 1925 Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU). Den Beinamen »Bolschewiki« führten sie noch bis 1952.

[11]Die Radikalität war gewiss einem ideologischen Extremismus geschuldet, der die Exzesse jener Jahre wesentlich verschärfte. Aber Fanatismus und ein ins Pathologische gesteigerter Machtmissbrauch allein genügen keinesfalls als Erklärung. Es waren nicht bloß LeninsLenin, Wladimir Iljitsch Gefolgsleute und einige seiner sadistischsten Vollstrecker, die jegliche Hemmungen verloren. Gegner wie Befürworter der alten Ordnung erfasste ein in weiten Teilen der Bevölkerung seit Langem verbreiteter Hass. Auch das veranschaulichen die Ereignisse von Jekaterinburg: Als die Zarenfamilie Ende April 1918 an ihrem letzten Internierungsort eintraf, erwartete sie eine wütende Menge. Schon damals wurde ihr Tod gefordert. Es ist keine Überraschung, dass viele der Romanows, die mit der ständigen Gefahr der Lynchjustiz konfrontiert waren, seit geraumer Zeit mit dem Schlimmsten rechneten.

Georgij LwowLwow, Georgij J. (Fürst) (1861–1925) war vor dem Ersten Weltkrieg unter anderem als liberaler Parlamentsabgeordneter aktiv. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Paris.

Ein anderer Prominenter, der in Jekaterinburg festgehalten wurde, war Fürst Georgij LwowLwow, Georgij J. (Fürst). Er hatte es für kurze Zeit sogar zum russischen Premierminister gebracht. Nach seiner Amtszeit verzweifelte er an der um sich greifenden Brutalität, die das Land heimsuchte. LwowLwow, Georgij J. (Fürst) wollte darin die Rache der über Jahrhunderte Unterdrückten erkennen. Und er war nicht der einzige, der so dachte. Der Schriftsteller Maxim GorkiGorki, Maxim betrachtete die meisten Russen als »Sklaven von gestern«, die erst spät von der Leibeigenschaft befreit worden waren und sich nun, da sie Macht über andere erlangt hatten, einer zügellosen Gewaltherrschaft hingaben. Gerade Gebildete und Angehörige der russischen Oberschicht [12]trugen auf solche Weise den gängigen Klischees vom »Moskowiterreich« Rechnung. Die jahrhundertealte Gegenüberstellung von der höheren Zivilisation des Westens und der Rückständigkeit und Brutalität, dem Schmutz und der Anarchie des Ostens hatte in den Augen vieler Zeitgenossen sowohl in Russland als auch im Ausland durchaus ihre Berechtigung.

Die Entwicklungen ab 1917 schienen unzählige vorhandene Ressentiments zu bestätigen. Diese konnten sich mit nationalistischen und rassistischen Strömungen verbinden und beeinflussten letztlich auch die späteren nationalsozialistischen Mordfantasien vom »slawischen Untermenschentum«.

Parallel dazu steigerte sich ein bereits allgegenwärtiger Judenhass. Die Pogrome der Vergangenheit lebten auf dem Territorium des untergegangenen Zarenreiches in neuen, bislang ungekannten Dimensionen wieder auf. Nicht wenige glaubten, die »Mosaischen« hätten den Monarchen und seine Familie abgeschlachtet. Jakow JurowskijJurowskij, Jakow, hieß es, sei der Jude »Jankel JurowskijJurowskij, Jakow«. LeninsLenin, Wladimir Iljitsch Schergen hielt man für Exponenten der jüdischen Weltverschwörung.

[13]Langlebige und grenzüberschreitende Stereotypen des Antisemitismus, verbunden mit dem Feindbild des »jüdischen Bolschewismus«: ein Plakat zur Ausstellung »Der ewige Jude« in München, eröffnet am 8. November 1937

[14]Das Schreckbild des »jüdischen Bolschewismus«, das weit über Russland hinaus Wirkung zeigte, entbehrte jedoch jeder Grundlage. Zwar hatten sich angesichts des offenen Antisemitismus im früheren Zarenreich zahlreiche Juden Reformen erhofft, und manche hatten sich deswegen oppositionellen und revolutionären Kräften angeschlossen. Abgesehen von einigen prominenten Parteiführern blieben Juden aber auch in diesen Bewegungen in der Minderheit. Vielmehr wurden die meisten Angehörigen der jüdischen Bevölkerung als politisch Unbeteiligte vollkommen unschuldige Opfer von Gerüchten, Vorurteilen und Feindseligkeiten. JurowskijJurowskij, Jakow und die meisten anderen wiederum, die im »Haus zur besonderen Verwendung« Dienst getan hatten, waren ethnisch gesehen Russen und hielten übrigens – trotz ihrer Hinwendung zu den atheistischen LeninLenin, Wladimir Iljitsch-Anhängern – noch mehrheitlich am christlich-orthodoxen Glauben fest. Dass bis heute maßgebliche Kirchenkreise in Russland die Schreckenstat von Jekaterinburg als Beispiel eines »jüdischen Ritualmordes« deuten und damit antisemitischen Verschwörungstheorien Vorschub leisten, erscheint daher absurd.

Ein Körnchen Wahrheit steckt hingegen in der oft kolportierten Behauptung, die Gräueltaten seien Fremden bzw. Ausländern anzulasten. Es dienten ungarische Soldaten in jenen Wachmannschaften, die die Zarenfamilie im Auge behalten sollten. Auch spricht manches dafür, dass sich ein Österreicher dem Mordkommando JurowskijsJurowskij, Jakow angeschlossen hatte. Wie aber waren Staatsbürger der Habsburgermonarchie in den fernen Ural gelangt? Und wie war es möglich, dass sich vor den Toren Jekaterinburgs 1918 vor allem Tschechen als militärische Gegner der Bolschewiki formierten? Darauf wird in der Folge genauer einzugehen sein.

Offensichtlich wirkten sehr viele verschiedene Faktoren in jenen Sommertagen des Jahres 1918 zusammen. Innere Aufstände bedrohten LeninsLenin, Wladimir Iljitsch Regime ebenso wie ausländische Kräfte. Wenige Tage nach dem Zarenmord eroberten die erwähnten Tschechen Jekaterinburg. Ein ohnehin zur Gewalt neigendes, nun um sein Überleben kämpfendes kommunistisches Regime schreckte jetzt erst recht nicht mehr vor äußerstem Terror zurück. Die Grausamkeiten trugen dabei bisweilen Züge eines finalen Racheaktes vor dem befürchteten eigenen Untergang. Auch das ist eine durchaus berechtigte Lesart der Jekaterinburger Mordnacht.

[15]Aber wie steht es mit den nicht zuletzt von gebildeten Russen vertretenen Ansichten über einen im eigenen Land besonders verbreiteten Hang zur Barbarei? Entsprechende Mythen ranken sich gerade auch um das Ende der Zarenfamilie und die Gewalt der Bolschewiki. Dennoch ist das gefährliche Gemisch aus Vorurteilen, Aggressionen und Katastrophennachrichten, das sich unter anderem im Sommer 1918 offenbarte, wohl weniger auf eine bestimmte Mentalität, sondern auf allgemeine Eskalationsdynamiken und Gewaltspiralen zurückzuführen. Dergleichen ist auch andernorts gerade für bewaffnete Auseinandersetzungen mit einer starken Einbindung der Zivilbevölkerung und namentlich für Bürgerkriege mit bisweilen drastischen Tendenzen zur weltanschaulichen Polarisierung typisch gewesen.

»Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.« Dieser Satz des preußischen Generals und Militärtheoretikers Carl von ClausewitzClausewitz, Carl von ist wohl einer seiner meistzitierten. Daraus lässt sich ableiten, dass der Griff zu den Waffen kaum jemals von sozialen Einwirkungen zu trennen ist. Der Krieg ist eben »nie ein isolierter Akt«, wie ClausewitzClausewitz, Carl von gleichfalls festhielt. Vielleicht konnte er noch nicht ahnen, wie sehr er mit Blick auf die Welt nach ihm Recht behalten sollte. Der industrialisierte »Volkskrieg« der Massenheere, der fast alle gesellschaftlichen und materiellen Ressourcen in den betroffenen Ländern verschlang, mutierte tendenziell zu einem »totalen Krieg«. Aus ihm – das darf niemals vergessen werden – gingen in der »europäischen Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs ab 1914 Revolutionen hervor. Damit begann in Russland eine der schlimmsten Menschheitstragödien, die sich schwerlich zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen lässt: Das einstige Zarenreich versank in Chaos und enthemmter Gewalt.

Mehr noch als der ohnehin kaum begrenzbare Schlagabtausch regulärer Armeen auf dem eigentlichen Schlachtfeld ist jeder Bürgerkrieg dazu prädestiniert, die Grenzen zwischen zivilen und militärischen Bereichen zu verwischen. Allerdings lässt sich das Geschehen im untergehenden bzw. untergegangenen Zarenreich bis 1922 nur unzulänglich mit den Worten »Russischer Bürgerkrieg« erfassen. Auch das wird genauer zu behandeln sein.

Kenner der Ereignisse sprechen oft lediglich von der »Zeit der Wirren«, da sich die Konflikte nicht auf eine Konfrontation zwischen »Roten« und »Weißen« reduzieren lassen. Rote, das waren zunächst die [16]Bolschewiki und jene, die sich der Regierung LeninsLenin, Wladimir Iljitsch anschlossen bzw. ihr zuarbeiteten. Letztere gehörten auch anderen sozialistischen Parteien an, die den neuen Machthabern zumindest zeitweilig folgten, bis sie gleichfalls zu Opponenten wurden. Die Weißen wiederum schlugen im Kern einen scharf antibolschewistischen Kurs ein. Die damit gemeinten Gruppierungen setzten sich vorwiegend aus ehemaligen Offizieren der Zarenarmee zusammen und vertraten reaktionäre, konservative und nationalliberale Positionen. Daneben gab es aber auch »rötliche« antibolschewistische Streitparteien, »grüne« Bauernrebellen, Bauernarmeen, Agrarsozialisten, Autonomisten und Separatisten, jeweils mit ihren regionalen und nationalen Farben, Banden und Warlords, die sich bisweilen unter den schwarzen Fahnen des Anarchismus sammelten. Die politische Farbpalette veranschaulicht das bunte Gemisch des Konfliktgemenges.

[17]Zu dieser vorwiegend internen Fragmentierung kamen häufig noch Akteure aus dem Ausland hinzu. Im (ehemaligen) Zarenreich, und vor allem in seinen Randgebieten, waren am »Bürgerkrieg« neben den genannten Tschechen, Ungarn und Österreichern auch Nachbarstaaten wie das Deutsche Reich und einstige Verbündete Russlands wie Frankreich und Großbritannien beteiligt. All dies muss mit berücksichtigt werden, gerade vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen.

Darüber hinaus ist die globale Wirkung der Ereignisse in den Gebieten des früheren Zarenreichs relevant. Die Russische Revolution von 1917 und die Machtergreifung LeninsLenin, Wladimir Iljitsch sind von weltgeschichtlicher Bedeutung, denn der Kommunismus wurde auf längere Sicht zu einer der einflussreichsten Ideologien des 20. Jahrhunderts. Staaten, deren Herrschaftssysteme sich auf ihn beriefen, prägten über Jahrzehnte das internationale Geschehen. Die Folgen sind bis heute spürbar. Zugleich erinnern die bewaffneten Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg an gegenwärtige, schwer durchschaubare Konflikte mit vielen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren.

LeninLenin, Wladimir Iljitsch bei der Einweihung des MarxMarx, Karl-EngelsEngels, Friedrich-Denkmals in Moskau 1918. Rechts neben ihm Jakow SwerdlowSwerdlow, Jakow, ein hochrangiges Mitglied der bolschewistischen Partei, der als Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der Räte und formelles Staatsoberhaupt Sowjetrusslands ebenfalls in die Ermordung der Zarenfamilie verwickelt war

Im Folgenden soll dieser vielschichtige »Bürgerkrieg« auf drei Ebenen beleuchtet werden. Erstens gilt es einen Überblick über die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen zu geben (Kapitel 2). Zweitens sollen die militärischen Kontrahenten, das Kriegsbild und die Waffengänge einer Analyse unterzogen werden (Kapitel 3). Schließlich kommt die Perspektive »von unten« zur Sprache, damit die Leserinnen und Leser ein plastisches (Schreckens-)Bild vom Alltag in diesen blutigen Zeiten gewinnen können (Kapitel 4). Eine chronologische Darstellung gibt das Buch also zugunsten dreier thematischer Längsschnitte auf. Einige bedeutende Geschehnisse und Entwicklungen werden in den drei Kapiteln daher wiederholt, aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet.

[19]2 Das Konfliktgemenge

»Schlag die Weißen mit dem roten Keil« – Das Plakat des russischen Avantgardisten El LissitzkijLissitzkij, Eliezer »El« aus dem Jahr 1919 vereinfacht trotz unterschiedlicher Rezeption eine in Wahrheit komplexe Mischung verschiedener politischer, sozialer und militärischer Auseinandersetzungen.

Die letzten Jahre des Zarenreiches

Nicht wenige Beobachter sagten das Ende des Zarenreichs bereits vor dem Ersten Weltkrieg voraus, und noch mehr empfanden den Nieder- und Untergang des Reichs im Nachhinein als unvermeidlich und folgerichtig. Gegen diese Sichtweisen spricht allerdings die Tatsache, dass geschichtliche Entwicklungen selten zwangsläufig sind. Der Sturz des letzten Zaren Nikolaus II.Nikolaus II. (Nikolaj Romanow, russ. Zar) war keine ausgemachte Sache. Die Agrarkrise seit der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 sowie die Unruhen in den wachsenden Städten und insbesondere unter der Arbeiterschaft wiesen jedoch auf die Schwäche des Staatsapparates hin.