9,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
In Montagnola steht die Weinlese an, ein geradezu festliches Ereignis, und auch Moira, Luca und Luna packen mit an. Doch als im Weinberg unterhalb der Kirche Sant’Abbondio ein menschlicher Schädel gefunden wird, ist das Vergnügen vorbei. Der Tote, ein Jugendfreund von Ambrogio, verschwand vor Jahrzehnten - und es gibt Hinweise darauf, dass Moiras Vater der Täter sein könnte. Sie beginnt zu ermitteln, um Ambrogio zu entlasten, doch dann gibt es einen zweiten Todesfall und sie muss Ereignisse aufklären, die beinahe fünfzig Jahre zurückliegen. Kann sie nach so langer Zeit noch die Wahrheit herausfinden?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2025
In Montagnola steht die Weinlese an, ein geradezu festliches Ereignis, und auch Moira, Luca und Luna packen mit an. Doch als im Weinberg unterhalb der Kirche Sant’Abbondio ein menschlicher Schädel gefunden wird, ist das Vergnügen vorbei. Der Tote, ein Jugendfreund von Ambrogio, verschwand vor Jahrzehnten – und es gibt Hinweise darauf, dass Moiras Vater der Täter sein könnte. Sie beginnt zu ermitteln, um Ambrogio zu entlasten, doch dann gibt es einen zweiten Todesfall und sie muss Ereignisse aufklären, die beinahe fünfzig Jahre zurückliegen. Kann sie nach so langer Zeit noch die Wahrheit herausfinden?
Mascha Vassena wurde 1970 geboren, studierte Kommunikationsdesign, war Mitherausgeberin einer Literaturzeitschrift und organisierte Poetry Slams. Nach dem Studium arbeitete sie als freie Journalistin und Redakteurin in Hamburg. Für ihre Texte erhielt sie mehrere Auszeichnungen, u. a. den Hamburger Literaturförderpreis und ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude. Von ihr sind bislang der Erzählband RÄUBER UND GENDARM sowie fünf Romane erschienen. Neben dem Schreiben hält sie Workshops für Autor:innen und ist als freie Literaturagentin tätig. Seit 2004 wohnt sie mit ihrer Familie am Luganer See und möchte nie mehr weiter als einen Spaziergang vom Wasser entfernt leben.
MASCHA VASSENA
Der SCHÄDEL vonSANT’ABBONDIO
Moira Rusconi ermittelt
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © Mascha Vassena 2025. Dieses Werk wurde vermittelt
durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und
Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon
zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder
-Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Michelle Stöger, München
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
Einband-/Umschlagmotiv: © Maurice Lesca/shutterstock,
funboxphoto/shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-7439-0
eichborn.de
luebbe.de
lesejury.de
Der Abschied fiel ihm schwerer, als er gedacht hatte. Kurz überlegte er, ob er sein Vorhaben aufgeben sollte. Er konnte seine Meinung noch ändern und niemand würde jemals erfahren, was er geplant hatte.
Zögernd stand er in der Mitte des dunklen Zimmers, in das nur vom Korridor her ein wenig Licht fiel, und ließ seinen Blick über die vertrauten Möbel und Gegenstände gleiten. Das Bett, in dem er schlief, seit er elf gewesen war. Auf dem Kopfkissen lag der kurze Brief, den er schließlich doch geschrieben hatte, um seine Familie nicht im Unklaren zu lassen. Den Schreibtisch, an dem er früher seine Hausaufgaben gemacht hatte. Seine Mineraliensammlung, die er in der zweiten Klasse begonnen und irgendwann aufgegeben hatte. Den Kastanienbaum vor seinem Fenster, über den er Hunderte Male nachts heimlich nach draußen geklettert war. Der Gedanke, all das für lange Zeit − vielleicht nie mehr − wiederzusehen, erzeugte einen ziehenden Schmerz, mit dem er nicht gerechnet hatte. Dennoch: Er hatte seine Entscheidung getroffen.
Mit einem entschlossenen Atemzug schulterte er den Armeerucksack, der alles enthielt, was er brauchen würde. Seine Hand lag schon auf der Klinke, da wandte er sich noch ein letztes Mal um, ging zum Regal und nahm den Ammoniten heraus, den er vor vielen Jahren selbst aus dem Stein befreit und poliert hatte. Er steckte ihn in die Hosentasche und barg den glatten Stein in seiner Hand. Das sollte sein Glücksbringer sein. Und Glück würde er brauchen.
Er trat auf den Flur, schloss leise die Tür hinter sich und lauschte kurz, dann schlich er nach unten. Auf der Hälfte der Treppe scharrte sein Stiefel über eine steinerne Stufe, und obwohl im Wohnzimmer das Radio lief, erstarrte er und hielt den Atem an. Nichts geschah. Weiter. Am Fuß der Treppe fiel ein Streifen Licht aus der Stube schräg über den Fliesenboden mit dem blassgrünen Sternenmuster und bis zur Haustür. Er nahm es als Zeichen, dass er das Richtige tat. Doch etwas hielt ihn noch zurück. Einmal noch wollte er die Stimmen seiner Eltern hören. Er verharrte an der Tür zum salotto, begierig auf ein Wort, doch außer den Mandolinenklängen aus dem Radio war nichts zu hören. Sie schwiegen miteinander, wie meistens.
Ihm wurde bewusst, dass er zu spät kommen würde, deshalb riss er sich los und verließ das Haus. Seine Schritte auf der gepflasterten Straße klangen überlaut und ihm war, als säße ihm ein Nachtmahr im Genick. Er beschleunigte seinen Gang. Die vertrauten Bäume und Häuser zogen vorbei, doch er hielt den Blick jetzt auf den Asphalt gerichtet. Allmählich stieg ein triumphierendes Gefühl in ihm auf: Er ging seinen Träumen, seiner Zukunft entgegen. Und er würde es nicht alleine tun müssen.
Das Dorf blieb hinter ihm zurück. Er marschierte die Straße entlang, bis die Zypressen auftauchten, die das Gotteshaus bewachten, dunklen Flammen gleich. Mondlicht ergoss sich über die Dächer von Kirchenschiff und Pfarrhaus, alles Übrige verschmolz zu einer dunklen Masse. Die abschüssige Straße trug ihn nun wie von selbst, und bald stand er zwischen den Bäumen, deren Spitzen sich hoch über seinem Kopf beinahe berührten.
Sein Herz klopfte im Takt seiner Schritte, als er die schnurgerade Allee entlang auf die Kirche zuging, bis er in ihren Schatten trat. Vorbei am linken Seitenschiff, um das Pfarrhaus zu vermeiden, bis hinter die Sakristei. Hier war es dunkel wie in einer Krypta. Er ging langsam voran, bis er an die Mauer stieß, die die Kirche von den tiefer liegenden Weinbergen trennte. Weit unten im Tal glommen einige Lichtpunkte.
»Bist du da?«, flüsterte er ins Dunkel.
Eine schemenhafte Gestalt löste sich aus den Schatten.
»Ich bin hier«, sagte eine vertraute Stimme. Er machte einen Schritt auf die Gestalt zu und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch die Worte kamen nie über seine Lippen, denn strahlende Helligkeit explodierte in seinem Kopf.
Und alle Träume endeten.
Die Weinreben zogen sich in regelmäßigen Reihen über das sanft ansteigende Gelände, als wäre jemand mit einem riesigen Kamm hindurchgefahren. Zwischen den Rebstöcken leuchteten rote Kisten aus Plastik, die die abgeschnittenen Trauben enthielten. Moira setzte die Schere an, knipste eine weitere pralle Traube von der Rispe, dann richtete sie sich auf und lächelte. Die unterschiedlichen Kopfbedeckungen der vielen Freiwilligen, die den Cavadinis bei der Weinlese halfen, ragten über die Weinstöcke heraus, verschwanden und kamen wieder hoch, ein Ballett von Strohhüten, Baseballkappen und Kopftüchern.
»Na, kannst du noch?« Luca, dessen Eltern der Weinberg gehörte und der sich für die Ernte von seinem eigentlichen Job als leitender Rechtsmediziner des Kantons Tessin freigenommen hatte, kam auf sie zu. Er trug eine mit dunkelblauen Beeren gefüllte Kiste vor sich, und Moira verkniff sich eine Bemerkung darüber, wie gut die Muskeln seiner Arme zur Geltung kamen, nur deshalb, weil ihre Tochter Luna in der nächsten Reihe zugange war.
»Anstrengender, als ich dachte«, antwortete sie und rieb sich den Rücken, der vom ständigen Bücken schmerzte. Ihr rechter Arm fühlte sich taub an.
»Wir machen bald Mittagspause, du armes Ding.« Luca drehte sich zur Seite und gab ihr einen Kuss.
»Mein Vater hat mir Weinlese als das großartigste Ereignis des Jahres angepriesen. Das dürfe ich auf keinen Fall versäumen, es sei die Essenz des Tessiner Lebens«, sagte Moira grimmig.
Luca lachte. »Ist es auch: Harte Arbeit von früh bis spät.«
»Nicht für meinen Vater.« Moira nickte hinüber zu den Bierbankgarnituren, die am unteren Rand des Weinbergs im Schatten eines mächtigen Kampferbaums standen. Ambrogio hatte sich bereits vor einer guten Stunde dort niedergelassen und sich ein großzügiges Glas Cavadini-Merlot eingeschenkt.
»Aber es sei ihm gegönnt«, fuhr sie fort. »Ich bin ja froh, wenn er sich nicht überanstrengt.«
Ambrogio hatte sich zwar gut von seinem kleinen Schlaganfall im Frühjahr erholt, doch Moira machte sich trotzdem ständig Sorgen um seine Gesundheit. Natürlich ließ sie sich das nicht anmerken, sondern betonte immer wieder, sie sei nicht sein Babysitter.
»Genau.« Luca gab ihr noch einen Kuss, wobei die Haare, die ihm ins Gesicht fielen, ihre Nasenspitze kitzelten. »Und halte durch – das Risotto meiner Mutter schmeckt nach getaner Arbeit doppelt so gut.«
»Ehrensache.« Moira sah ihm nach, als er seinen Weg zwischen den Reben hindurch fortsetzte. Seine Figur war nicht mehr ganz so jugendlich wie damals, als sie vor über zwanzig Jahren ihre erste Liebe miteinander erlebt hatten, aber sie wurde niemals müde, ihn anzusehen. Und genoss es umso mehr, weil sie das auch ganz offiziell durfte, seit Luca sich vor Kurzem von seiner Frau getrennt hatte. Die Umstände waren zwar unerfreulich gewesen – doch welche Trennung war das nicht?
Sie blieb noch einen Moment stehen, streckte sich und hob den Blick zur Kirche von Sant’Abbondio, die oberhalb des Weinbergs aufragte: eine dunkle Silhouette vor dem blauen Septemberhimmel. Auf dem dazugehörigen Friedhof lag Hermann Hesse begraben, Ambrogios literarischer Hausgott. Moira wusste nicht mehr, wie oft sie schon die Geschichte gehört hatte, dass er als Kind einst auf den Knien des großen Schriftstellers gesessen hatte.
»Mama, alles okay?« Lunas Gesicht schob sich durch die Reben, von Weinblättern umkränzt.
»Ich brauchte nur eine kurze Pause«, sagte Moira.
»Ja, zum Knutschen«, stellte Luna fest.
»Es ist doch okay für dich, dass Luca und ich jetzt zusammen sind?« Moira klang alarmierter als beabsichtigt.
»Luca ist super. Von mir aus könnt ihr so viel rumknutschen wie ihr wollt.«
»Herzlichen Dank.« Moira schüttelte lächelnd den Kopf. Dann arbeiteten sie weiter, und nach einigen Minuten war sie wieder so im Rhythmus der Weinlese, dass sie ihren steifen Rücken vergaß. Die herbstliche Sonne lag weich auf ihrem Nacken, im Hintergrund erklangen gut gelaunte Stimmen, die sich scherzhafte Bemerkungen zuwarfen. Konzentriert füllte sie noch eine ganze Kiste, bevor Lucas Mutter Silvana zum Mittagessen rief. Sie hatte die dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen Haare hochgesteckt, trug eine weiße Küchenschürze über Jeans und Flanellhemd und schwenkte eine Schöpfkelle.
Die Helfer und Helferinnen, die sich im Weinberg verteilt hatten, strömten an den langen Holztischen zusammen. Lunas Wolfsspitz namens Liam, den sie aus dem Tierheim gerettet hatte, wedelte allen um die Beine, bis sie sich niedergelassen hatten. Vittorio Cavadini, Lucas Vater, entkorkte mehrere Flaschen Wein und stellte sie neben die Wasserkaraffen auf die Tische. Luca half seiner Mutter, das Risotto zu verteilen, das diese in einem Kupferkessel über einem offenen Feuer zubereitet hatte. »Die Freiwilligen aus der Deutschschweiz lieben das«, hatte sie Moira am Morgen mit einem Augenzwinkern verraten. »Es wirkt so authentisch.«
»Rutsch mal.« Luca quetschte sich zu Moira auf die Bank und legte den Arm um sie. Mit einem warmen Gefühl im Bauch lehnte sie sich an ihn und genoss den Moment. Eine leichte Brise säuselte durch die Zweige des Kampferbaums, die Freiwilligen prosteten sich zu, es wurde gescherzt und gelacht. Ambrogio erzählte am anderen Tischende mit ausholenden Gesten eine seiner Anekdoten. Liam schoss zwischen den Rebstöcken hin und her und jagte erfolglos Vögeln nach. Moira machte sich über das Risotto her, das nach Safran und Zwiebeln duftete. Es hatte genau die richtige Konsistenz, sämig und weich.
»Woran liegt es nur, dass im Freien alles noch besser schmeckt?«, sagte sie zwischen zwei Löffeln.
»Daran, dass du wirklich gearbeitet hast, statt nur am Schreibtisch zu sitzen«, neckte Luca sie.
»Das sagt der Richtige! Ich glaube, wir sind einfach dafür gemacht, uns in der Natur aufzuhalten. Im Freien ist man irgendwie näher bei sich selbst.«
Nach dem Essen konnte man sich bei Silvana einen Kaffee aus einer riesigen Thermoskanne holen. Die Aushilfen posierten vor dem pittoresken Hintergrund des Rebbergs und fotografierten sich gegenseitig. Ihr raues Schweizerdeutsch mischte sich mit dem melodiösen Italienisch der einheimischen Angestellten, die den Tisch abräumten und zum Nachtisch jedem ein Stück tortadella nonna servierten. Mit viel »Oh« und »Ah« nahmen alle ihre Plätze wieder ein und vergaßen nicht, den appetitlich aussehenden Kuchen mit der dicken Schicht Puderzucker und den darauf verstreuten Pinienkernen abzulichten, bevor sie sich an dessen Vernichtung begaben.
Moira blieb mit ihrem Kaffeebecher in der Hand etwas entfernt stehen und beobachtete Liam. »Amore, wenn du nicht bald kommst, esse ich deinen Kuchen!«, rief Luca ihr zu, doch sie winkte ab. »Mach nur, ich kriege beim besten Willen nichts mehr runter.« Normalerweise hätte sie sich ihre Lieblingstorte trotzdem nicht entgehen lassen, doch Silvana würde bestimmt ein paar Stücke für später aufheben. Sie nippte den heißen Kaffee in kleinen Schlucken und lächelte, als der Hund erneut zwischen den Reben hervorschoss. Er hatte irgendwo einen alten, schmutzigweißen Ball aufgetrieben, den er beim Rennen fest im Maul hielt.
»Liam, komm!«, rief Luna, die so tat, als jagte sie ihm nach. »Bring mir den Ball!« Sie blieb stehen und klopfte sich auf die Oberschenkel. Der Wolfsspitz hielt inne, sah sich um und jagte dann auf sie zu, sein grau-schwarzer Pelz bauschte sich. Einen Meter vor Luna bremste er, legte den zerdrückten Ball ins Gras und wackelte mit dem Hinterteil, um sie zum Spiel aufzufordern.
»Braver Hund!« Luna bückte sich, um das Spielzeug aufzuheben, zuckte jedoch unvermittelt zurück und taumelte einige Schritte nach hinten. »Mama!«
Eine Schlange! war ihr erster Gedanke. Moira ließ ihren Becher fallen und rannte los. »Mama!«, wimmerte Luna noch einmal und zeigte mit zitternder Hand ins Gras. Moira sah genauer hin. Vor ihr lag kein Ball, den spielende Kinder vor langer Zeit in den Weinberg geschossen hatten, und auch keine Schlange, sondern ein menschlicher Schädel, der sie aus schlammverkrusteten Augenhöhlen anstarrte.
»Der Hund muss ihn eben erst ausgegraben haben«, sagte Luca, nachdem er sich den Fund aus der Nähe angesehen hatte, ohne ihn jedoch zu berühren. »Es klebt noch überall feuchte Erde.«
»Vielleicht eine alte Grabstätte unter dem Weinberg?«, sagte Moira, doch Luca schüttelte den Kopf. »Der Goldzahn im Oberkiefer spricht dafür, dass der Schädel noch nicht besonders alt ist. Ich frage mich, ob wir da, wo Liam ihn ausgegraben hat, auch den Rest des Skeletts finden.«
»Sehen wir doch nach.«
Luca schüttelte den Kopf. »Darum muss sich die Polizei kümmern. Wir könnten wichtige Spuren zerstören, wenn wir überall herumtrampeln. Ich melde das direkt.« Er zog sein Handy aus der Hosentasche. »Commandante Ferrone? Dr. Cavadini hier. Ich möchte einen Leichenfund melden. Genauer gesagt, haben wir bisher nur den Schädel.« Er machte in sachlichen Worten genaue Angaben über die Umstände und den Fundort. »Sie kommen selbst? Gut, wir warten.«
Moira war alles andere als erfreut darüber, dass der Capo Area sich persönlich einen Überblick verschaffen wollte. Ferrone mochte sie nicht, seit sie zum ersten Mal als Dolmetscherin für die Kantonspolizei gearbeitet hatte und machte keinen Hehl daraus. Er war der Ansicht, sie mische sich zu sehr in die Ermittlungen ein, was zugegebenermaßen der Wahrheit entsprach. Doch durch ihre Neugier und Hartnäckigkeit hatte sie dazu beigetragen, mehrere Todesfälle aufzuklären. Nur wusste Ferrone das nicht zu schätzen. Und es machte ihn wahnsinnig, dass er sie nicht einfach loswerden konnte, weil Staatsanwältin Arianna Manzoni ihre schützende Hand über Moira hielt. Daher vermied er normalerweise den direkten Kontakt, doch Luca hatte ihren Namen am Telefon nicht erwähnt.
»Sie sind in zwanzig Minuten da«, sagte er. »Bis dahin sorgen wir dafür, dass niemand in den Weinberg zurückkehrt oder den Schädel anrührt.« Er ging hinüber zu seinen Eltern, die zusammen mit den Freiwilligen unter dem Kampferbaum warteten. Einige Leute hatten sich wieder gesetzt, doch die heitere Stimmung war verflogen. Moira wandte sich zu ihrem Vater, der den Arm schützend um Luna gelegt hatte. Liam lag angeleint neben ihnen im Gras. Auch wenn der Gesichtsausdruck eines Hundes nicht leicht zu deuten war, schien er höchst zufrieden, weil sein Fund so viel Aufsehen erregt hatte.
»Wie geht’s dir, Strubbelchen?« Sie strich Luna über die Wange. »Du bist immer noch ganz blass.«
»Ich bin nur im ersten Moment erschrocken. Eigentlich ist es das Coolste, was passiert ist, seit wir hier wohnen. Wenn ich das in der Schule erzähle!«
»Ich verstehe, dass du das aufregend findest«, sagte Moira. »Aber denk mal daran, dass dieser Schädel zu einem Menschen gehört hat. Der sich am Leben erfreut hat so wie du und ich. Die Person hatte Eltern, die sie vielleicht vermissen. Sie hatte ein Lieblingsessen und eine Lieblingsfarbe und ein Lieblingslied. Sie war fröhlich und traurig und manchmal wütend. Vielleicht besaß sie Haustiere, die sie liebhatte, so wie du Liam und die Katzen.«
Luna senkte den Kopf und sagte kleinlaut: »Du hast recht. Sorry.«
»Alles gut, ich wollte dich nur darauf hinweisen.«
»Was passiert denn jetzt?«, erkundigte sich Ambrogio und strich sich nach alter Gewohnheit über seinen grauen Bart, der in den letzten Wochen wieder gewachsen war und ihm beinahe bis auf die Brust reichte. Damit und den zu einem kurzen Pferdeschwanz gebundenen Haaren sah er mehr denn je aus wie das Mitglied einer Senioren-Rockergang als ein emeritierter Literaturprofessor. Dieses Image pflegte er ebenso sorgfältig wie die beiden schweren Motorräder in seiner Garage.
»Wir warten auf die Polizei.«
»Hilfst du dann wieder, den Fall aufzuklären?«, fragte Luna.
»Vielleicht, wenn eine Dolmetscherin gebraucht wird. Aber wir wissen ja noch gar nicht, ob es einen Fall gibt. Die Person könnte auch eines natürlichen Todes gestorben sein.«
»Und ist dann in ein Loch im Weinberg gefallen, das sich von selbst über ihr geschlossen hat«, brummte Ambrogio. »Daran habe ich doch gewisse Zweifel.«
Luna unterdrückte ein Kichern.
»Ja, kann sein«, sagte Moira. »Trotzdem sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ich frage mich, wer der oder die Tote wohl gewesen ist. Ist irgendjemand aus dem Dorf verschwunden?«
»Woher willst du wissen, dass es jemand aus Montagnola ist? Es könnte genauso gut ein Landstreicher sein. Oder ein Tourist.«
»Natürlich, war nur so eine Idee. Wenn Luca den Schädel untersucht hat, kann er bestimmt mehr sagen.«
Ihr Vater ging nicht weiter darauf ein, sondern sagte: »Ich finde übrigens, Luna muss das alles nicht mitbekommen, sie ist schon genug verstört. Besser, ich bringe sie nach Hause.«
»Ich will aber alles mitkriegen«, protestierte Luna.
»Ich glaube, im Gefrierschrank ist noch Käsekuchen-Eiscreme«, sagte Ambrogio. »Ist das nicht deine Lieblingssorte?«
Das genügte, um Lunas Widerstand zu brechen. »Okay, von mir aus. Aber du musst mir dann alles erzählen, Mama!«
»Allmählich wird es auffällig, dass Sie bei jedem zweiten Leichenfund in der Gegend anwesend sind.« Commandante Maurizio Ferrone starrte Moira mit reglosen Krokodilaugen an und wandte sich dann ab, ohne auf ihre Antwort zu warten. Hinter seinem Rücken warf sie Ispettrice Chiara Moretti einen genervten Blick zu, die mit den Achseln zuckte und die Augen verdrehte. Moira hatte Chiara schon bei mehreren Fällen als Dolmetscherin unterstützt, und sie waren inzwischen gut befreundet.
Ferrone postierte sich mit verschränkten Armen vor dem erdverkrusteten Schädel und starrte ihn schweigend an als führte er ein stummes Zwiegespräch mit dem Verstorbenen. Niemand wagte, seine Kontemplation zu stören. Moira wartete zusammen mit den Cavadinis und den Freiwilligen in einigem Abstand. Nach mehreren Minuten winkte Ferrone Luca zu sich und stellte ihm anscheinend einige Fragen. Moira konnte nicht verstehen, was er sagte, doch Luca erklärte wohl, wie es zu dem Fund gekommen war.
Nachdem er geendet hatte, nickte der Capo Area knapp und begab sich in Richtung der dunkelblauen Limousine, mit der er und Chiara angekommen waren.
»Ispettrice Moretti, kümmern Sie sich um die Angelegenheit«, bestimmte er im Laufen. »Die Kriminaltechnik soll den Weinberg absperren. Suchen Sie nach weiteren Überresten.« Auf Moiras Höhe blieb er stehen. »Und Sie halten sich gefälligst aus den Ermittlungen heraus, solange wir keine Dolmetscherin benötigen. Ist das klar?«
»Ich kann mir gar nicht leisten, umsonst zu arbeiten. Aber ich stehe natürlich gerne zur Verfügung, falls die Polizei mir einen offiziellen Auftrag geben möchte.« Sie verbiss sich ein Grinsen. Ferrone funkelte sie an, dann ließ er sie stehen, stieg in den Wagen und entschwand.
Chiara übernahm sofort die Führung. So zart und klein sie aussah, so energisch konnte sie werden, auch wenn sie innerlich nicht ganz so selbstsicher war, wie sie auftrat. Nun sprach sie mit Luca und verkündete danach, dass die Erntehelfer gehen durften. »Signora und Signor Cavadini bleiben bitte noch hier. Moira, du auch.«
Während die Freiwilligen in den weißen Kleinbus stiegen, den ein Mitarbeiter der Cavadinis lenkte, setzte sich Moira zusammen mit Lucas Eltern an den nun verwaisten Mittagstisch. Die halbvollen Teller und Gläser, zwischen denen Baguettestücke lagen, verstärkten den tristen Eindruck.
Nach einer halben Minute sprang Lucas Mutter nervös auf und begann, den Tisch abzuräumen. Vittorio hatte sich eines der halbvollen Gläser herangezogen und nahm gleich mehrere Schlucke Wein. Moira bemerkte, dass seine Hand zitterte.
»Geht es dir gut?«
Vittorio wandte ihr sein zerfurchtes Gesicht unter dem ausgeblichenen blauen Fischerhut zu. »Wie wird es einem wohl gehen, wenn gerade auf dem eigenen Grund und Boden ein Toter gefunden wurde?« Er schüttelte den Kopf und nahm gleich noch einen Schluck.
»Hast du eine Vermutung, wer das sein könnte?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Vittorio heftig.
»Ich verstehe, dass dich das aufwühlt.« Moira legte kurz eine Hand auf seinen Oberarm. »Aber die Polizei wird herausfinden, wer es ist, mach dir keine Sorgen.«
»Sorgen mache ich mir vor allem um meine Ernte. Wenn die Polizei hier alles absperrt, verfaulen mir die Trauben am Stock.«
»Das dauert bestimmt nicht lange. Wahrscheinlich könnt ihr morgen schon weitermachen.«
»Hoffen wir es.«
Kurze Zeit später hielt ein dunkler Transporter auf dem Weg unterhalb des Weinbergs. Mehrere Personen stiegen aus, öffneten die Hecktüren, schlüpften in weiße Kapuzenoveralls und holten dann Taschen und Kisten aus dem Laderaum. Die Kriminaltechnik. Chiara winkte, um ihnen den Einsatzort anzuzeigen. Daraufhin entfaltete sich eine Art forensische Choreografie: Alle wussten genau, was sie zu tun hatten. Zwei Leute sperrten den gesamten Weinberg mit einer dicken Rolle schwarz-gelben-Plastikbandes ab, weitere reichten Chiara und Luca Einweghandschuhe und Plastikbeutel mit Zipverschluss. Eine Frau mit einer digitalen Spiegelreflexkamera fotografierte den Schädel von allen Seiten. Erst dann hob Luca ihn vorsichtig auf und ließ ihn in den Plastikbeutel gleiten, den Chiara aufhielt. Sie verschloss ihn und übergab ihn einem der Techniker, dann kamen sie wieder an den Tisch.
»Alles in Ordnung?«, fragte Luca mit besorgter Miene. »Mamma, setz dich doch, wir räumen nachher zusammen auf.«
»Ich muss mich irgendwie beschäftigen.« Silvana stopfte die benutzten Papierteller in einen schwarzen Müllbeutel.
»Ich will nur kurz mit Ihnen besprechen, wie es weitergeht und Ihnen einige Fragen stellen«, sagte Chiara.
Silvana setzte sich zögernd neben Vittorio und ergriff seine Hand. Die beiden taten Moira leid. Nur, weil zufällig eine Leiche auf ihrem Grund gefunden worden war, hatten sie jetzt eine Menge Unannehmlichkeiten am Hals.
Chiara setzte sich dem Paar gegenüber und holte Stift und Notizblock hervor. »Haben Sie eine Vermutung, wer der oder die Tote sein könnte?«
Silvana und Vittorio verneinten. Auf Chiaras Bitte hin erzählten sie in allen Einzelheiten, wie Lunas Hund den Schädel angeschleppt hatte. Auch Luca und Moira berichteten aus ihren Perspektiven.
»Bene, der Ablauf scheint klar, da gibt es keine Unstimmigkeiten.« Chiara blies die Wangen auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wir werden jetzt nach weiteren Leichenteilen und möglichen Spuren suchen. Das wird wahrscheinlich einige Tage dauern, da das gesamte Gelände durchkämmt werden muss. Die Kriminaltechnik wird praktisch alles umgraben und durchsieben.«
»Beschädigen Sie bloß nicht meine Weinstöcke!«, rief Vittorio aufgebracht. »Die hat zum Teil schon mein Urgroßvater gepflanzt.«
»Wir tun, was wir können, aber garantieren kann ich Ihnen das leider nicht. In dem Fall erhalten Sie aber Schadensersatz.«
»Diese Weinstöcke kann man nicht mit Geld ersetzen, Signorina.«
Chiara hob bedauernd die Hände. »Ich weiß, aber darauf können wir bei der Aufklärung eines Todesfalls keine Rücksicht nehmen. Es tut mir leid, Signor Cavadini. Ich weise die Leute aber an, möglichst behutsam vorzugehen.«
Vittorio brummte etwas Unverständliches. Unten an der Straße wurde eine Autotür sehr laut zugeschlagen, und als sich die Köpfe der Anwesenden drehten, schien es Moira, als wechselten ihr Vater und Vittorio einen bedeutungsvollen Blick. Sie kam nicht dazu, sich darüber zu wundern, denn jetzt kam Ispettore Ravi Chaudvhary hinter einem Gebüsch hervor. Sobald er irgendwo auftrat, fühlte man sich wie auf einem Filmset. Der Polizist sah aus wie die Hauptfigur einer Krimiserie: groß, durchtrainiert, intensiver Blick. Wie meistens trug er schwarze Jeans und ein T-Shirt, die tiefschwarzen Haare hatte er auf dem Hinterkopf zu einem Knoten zusammengedreht.
»Buongiorno a tutti«, sagte er und warf sein Filmstarlächeln in die Runde. Chiaras Augen leuchteten bei seinem Anblick auf. »Ciao, amo…« Sie korrigierte sich: »Buongiorno, Ispettore.«
»Ich soll Sie später zurück nach Lugano bringen, Ispettrice Moretti.« Ravis Augen glitzerten schalkhaft.
Luca stöhnte. »Lasst doch das Theater. Wir wissen schließlich alle, dass ihr ein Paar seid.«
»Nicht im Dienst«, sagte Chiara streng, konnte sich jedoch ein Lächeln nicht verkneifen. Sie berichtete Ravi, wie der Schädel entdeckt worden war.
»Das heißt, momentan können wir nicht viel mehr tun als die Anwohner zu befragen, ob irgendwann in den letzten Jahrzehnten etwas Ungewöhnliches in diesem Weinberg bemerkt wurde?« Ravi schnaubte. »Nicht gerade aussichtsreich.«
»Vielleicht landen wir ja einen Treffer in der DNA-Datenbank.« Chiara blickte Luca fragend an.
»Genau kann ich es natürlich jetzt noch nicht sagen, aber dem Anschein nach lag dieser Schädel sehr lange in der Erde. Die Böden hier sind lehmhaltig, hervorragend für üppige Weine, lassen also wenig Sauerstoff an einen toten Körper. Trotzdem sind am Schädel auf den ersten Blick keine Reste von Haut, Fleisch oder Haaren festzustellen. Grob geschätzt würde ich sagen, dass er seit dreißig Jahren oder länger hier lag.«
»Santo Dio!« Silvana blickte mit großen Augen in die Runde. »Wir haben seit Jahrzehnten Trauben von einer Leiche gekeltert!«
»Tesoro, so kann man das nicht sehen«, protestierte Vittorio, doch Silvana ließ sich nicht von dieser Idee abbringen. »Die Rebstöcke haben sich von den Überresten genährt.«
»Mamma, da wir die Trauben von allen Rebstöcken mischen, ist Leiche höchstens in homöopathischer Dosierung pro Flasche nachzuweisen«, sagte Luca und zwinkerte Moira zu.
»Du!« Silvana hob die Arme und warf eine übrig gebliebene Plastikgabel nach ihrem Sohn, traf jedoch nicht.
»Wir sollten eine neue Edition herausbringen: Cadavere rosso«, flachste Luca.
»Das ist keineswegs zum Lachen, bitte etwas mehr Pietät!« Chiara verschränkte die Arme und erinnerte für einen Moment an Commandante Ferrone. Nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass er ihr leiblicher Vater war, auch wenn sie das gerne für sich behielt. »Ich sehe mir jetzt mal an, wo der Schädel herkommt«, fuhr sie fort. »Moira, begleitest du mich?«
»Aber der Capo Area hat gesagt, ich soll mich nicht einmischen.«
»Siehst du ihn hier irgendwo?« Chiara blickte sich um.
»Nein.«
»Gut, gehen wir.«
Es dauerte nicht lange, bis sie das Loch fanden, das Liam gebuddelt hatte. Es lag am oberen Rand des Weinbergs, nicht weit von der Mauer, die den Hang zur höher gelegenen Kirche abstützte. Hier herrschte ein Wildwuchs aus Gräsern, Blumen und Gestrüpp, was erklären mochte, dass bisher niemand auf den Schädel gestoßen war. Immerhin musste Silvana sich nun keine Sorgen mehr wegen des Totenweins machen, denn die Wurzeln der Rebstöcke reichten sicher nicht so weit.
Eine Frau von der Kriminaltechnik kniete schon vor dem Loch und sah auf, als sie Chiara und ihre Entourage aus Moira, Ravi und Luca kommen hörte. Moira fielen ihr hageres Gesicht und die weit auseinanderstehenden Augen auf, die an ein Kaninchen erinnerten.
»Ciao, Diana, habt ihr schon etwas gefunden?« Chiara beugte sich vor, um in das Loch zu spähen. »Ganz schön tief.«
»Ja, der Hund hatte Ausdauer. Wir haben bisher nur den Unterkiefer und etwas Müll, der wohl von oben hinuntergeworfen wurde. Keine weiteren Knochenteile, auch keine Kleidungsfetzen oder Schmuck. Aber wir müssen auch Millimeter für Millimeter vorgehen. Es wird ein paar Tage dauern, bis wir die nähere Umgebung untersucht und alles gesichert haben.«
»Könnte es sein, dass der restliche Körper woanders begraben ist?«, fragte Luca.
Diana zuckte die Achseln. »Das kann ich noch nicht sagen. Möglich wäre es.«
»Kann ich den Unterkiefer gleich mitnehmen?« Luca deutete auf eine Kiste, in der mehrere beschriftete Plastikbeutel lagen.
»Wenn Sie mir das quittieren.«
Sie kehrten zu den Biertischen unter dem Baum zurück, wo immer noch Silvana und Vittorio saßen. Sie hielten sich an den Händen und wirkten wie Gestrandete auf einer einsamen Insel.
»Ich denke, das war es für heute«, sagte Chiara. »Tut mir leid für die Umstände, Signor Cavadini. »Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn das Areal wieder freigegeben ist.«
»Dann ist es wahrscheinlich zu spät«, antwortete Vittorio düster und stand auf. »Ich kümmere mich besser um das, was wir schon geerntet haben.«
»Soll ich euch fahren?«, fragte Luca, doch sein Vater winkte ab. »Sind ja nur ein paar Schritte.«
Moira stellte sich neben Luca und blickte den beiden nach. »Kommt es denn wirklich darauf an, ob die Trauben ein paar Tage früher oder später geerntet werden?«
»Allerdings. Sie entwickeln sonst zu viel Zucker und das wollen wir bei einem trockenen Wein natürlich vermeiden. In ein paar Tagen können wir aus allem, was hier noch hängt, bestenfalls noch Traubensaft machen.«
»So lange wird es hoffentlich nicht dauern«, sagte Chiara. »Wir fahren zurück in die Stadt. Moira, tut mir leid, dass wir dich dieses Mal nicht einsetzen können.«
»Ich kann ja trotzdem mal Augen und Ohren offen halten.«
Die Polizistin nickte. »Danke, das wäre sehr hilfreich.«
Moira und Luca gingen Hand in Hand in Richtung Casa Rusconi. Die Zypressen der langen Allee, die von der Straße zur Kirche von Sant’Abbondio führte, stachen in den Himmel wie mahnende Finger. Erst jetzt hatte Moira Zeit, ihren Gefühlen Raum zu geben. So ging es ihr häufig: Befand sie sich inmitten einer Situation, funktionierte sie einfach, die Emotionen kamen erst später, wenn alles vorbei war.
»Es ist so traurig, dass dieser Mensch jahrzehntelang in der Erde vergaben lag, während seine Angehörigen wahrscheinlich nach ihm gesucht haben«, sagte sie nachdenklich. »Ob sie es irgendwann aufgegeben haben oder heute noch hoffen, dass er oder sie irgendwann zurückkommt?«
»Manche Leute haben niemanden, der nach ihnen sucht.« Luca drückte ihre Hand ein wenig fester.
»Ich weiß. Ich frage mich, ob wir nach so langer Zeit den Täter oder die Täterin noch finden können. Irgendwie habe ich das Gefühl, das sind wir diesem Menschen schuldig.«
»Wir wissen noch nicht, ob es ein Tötungsdelikt war. Es könnte auch einen Unfall gegeben haben – jemand hat das Opfer versehentlich angefahren und dann im Weinberg vergraben. Vielleicht war es ja ein Tourist, der sich Hesses Grab ansehen wollte.« Luca nickte hinüber zum Eingangsportal des kleinen Friedhofs, der gegenüber der Kirche auf der anderen Seite der Via Collina d’Oro lag. »Oder es war ein natürlicher Tod, den jemand verschleiern wollte. Wenn ich den Schädel genau untersucht habe, wissen wir hoffentlich mehr. Ich hole zu Hause nur mein Laptop und fahre ins Institut.«
Moira freute sich, dass er Ambrogios Gästehaus schon als Zuhause bezeichnete. Sie wohnten dort auf engstem Raum zusammen, seit Luca vor einigen Wochen seine Frau verlassen hatte.
»Du erzählst mir dann doch, was du herausfindest, oder?«
Luca sah sie von der Seite an. »Dass Ferrone sich ziemlich deutlich ausgedrückt hat, als er meinte, du sollst dich raushalten, interessiert dich nicht, schätze ich?«
»Richtig. Ich halte doch nicht die Füße still, wenn sozusagen vor meiner Haustür eine Leiche gefunden wird. Und Chiara zählt auf mich, wie du gehört hast. Mein Vater kennt die Leute hier im Dorf sein ganzes Leben lang, und ich kriege vieles mit, was hier läuft. Es wäre dumm, das nicht zu nutzen.«
»Gib zu: du kannst es nicht abwarten, wieder auf Verbrecherjagd zu gehen.« Er blieb stehen und grinste sie an. »Du bist ein verrücktes Huhn, und dafür liebe ich dich.« Er küsste sie und sagte dann: »Ich kann dich sowieso nicht davon abhalten, also ja, ich berichte dir, was ich herausfinde. Zufrieden?«
»Voll und ganz!«
Sie bogen in die Via Valdoro ein. Hier befand sich die Casa Rusconi, von Ambrogios Großeltern erbaut, ein unverputztes Natursteinhaus mit zwei Stockwerken. Je näher sie kamen, umso penetranter stach ihnen ein beißender Gestank in die Nasen, und als sie vor dem Haus ankamen, entdeckte Moira, dass die Müllsäcke, die zur Abholung am nächsten Tag bereitstanden, aufgeschlitzt worden waren. Der Inhalt war über die ganze Garageneinfahrt verteilt.
»Verdammte Krähen!«
Doch Luca schüttelte den Kopf. »Das waren keine Krähen, schau dir die glatten Schnitte an. Da war jemand mit einer Schere am Werk.«
»Wer sollte so etwas machen?«
Luca hob nur die Augenbrauen.
»Valentina? Wirklich?« Sobald sie sie ausgesprochen hatte, wurde Moira klar, dass die Frage überflüssig war. Dies war genau das, was Lucas Noch-Ehefrau tun würde, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.
»Ich rede morgen mit ihr. So etwas geht natürlich gar nicht.«
»Lass es lieber. Wenn ihr wieder streitet, lässt sie dich Alessio nicht sehen und solange ihr keine offizielle Besuchsregelung habt, sitzt sie am längeren Hebel. Ich räume das nachher weg, und wir tun einfach so, als wäre nichts passiert.«
»Okay.« Luca seufzte. »Ist wahrscheinlich klüger.«
Sie betraten das Haus und zogen ihre Jacken aus. Wie üblich schoss Luise unter dem Dielenschrank hervor und stürzte sich auf Lucas linken Schuh. Dann verhakten sich ihre Krallen im Schnürsenkel, und sie maunzte kläglich, bis Moira sich hinkniete und sie befreite. Sie nahm die kleine rot getigerte Katze auf den Arm, die sich an ihr Sweatshirt schmiegte und zu schnurren begann.
»Papà? Luna?«
»In der Küche«, kam es zurück. Die beiden hatten es sich an dem großen, stets unordentlichen Esstisch bequem gemacht. Zwischen ihnen lag ein »Fang den Hut«-Spielbrett.
»Haben wir unter der Treppe gefunden«, verkündete Luna. »Es ist total witzig, Mama!«
Moira lächelte. »Ich weiß, das haben Nelly und ich oft gespielt als ich noch klein war.«
Luca öffnete die Glastür zum Garten. »Ich hole schnell den Rechner und bin gleich wieder weg. Ich nehme die Seitenpforte. Also bis heute Abend. Könnte spät werden.«
Moira gab ihm einen Kuss und sah ihm nach, wie er über die Wiese hinüber zum Gästehäuschen lief, mit dem ihm eigenen unbekümmerten Schlendern. Die Gefühle von Liebe und Dankbarkeit, die sich in ihr ausbreiteten, wurden von Luna grob gestört: »Und, habt ihr den Rest der Leiche gefunden?«
Sie wandte sich um und setzte Luise auf den Tisch, die sofort begann, Lunas benutzte Eiscremeschale auszuschlecken.
»Noch nicht. Außerdem finde ich, das ist kein geeignetes Thema für ein fünfzehnjähriges Mädchen.«
»Gruseliger als die Fälle von Todesstill kann das auch nicht sein.«
»Ist das eine Serie?«, fragte Ambrogio.
»Mein Lieblings-True-Crime-Podcast«, erklärte Luna. »Letzte Woche gab es diesen Fall, bei dem eine Frau spurlos verschwand und als ihr Haus verkauft wurde, hat man sie in einem zugemauerten Wassertank in ihrem Keller gefunden. Ihr eigener Neffe hat das getan, weil er sie beerben wollte.«
»Schauderhaft. Ich finde besser, ihr spielt noch eine Runde ›Fang den Hut‹.«
»Ich kann nicht, ich bin mit Noah verabredet.«
Ambrogio und Moira legten gleichzeitig die Köpfe schräg. »Wer ist Noah?«
»Aus meiner Klasse. Er und seine Eltern sind gerade hergezogen, deshalb war er zum Schulanfang noch nicht da. Ich habe versprochen, ich helfe ihm, den Stoff nachzuholen. Außerdem ist er so cool! Er hat Dreadlocks, so richtig lange, und seine Eltern haben damit null Problem!«
»Ich hätte damit auch keins.« Moira wollte betonen, dass sie mindestens genauso cool war wie die Eltern dieses Noah.
Luna strahlte. »Dann darf ich mir auch Dreadlocks machen?«
»Klar, wenn du willst. Und ich möchte Noah und seine Eltern kennenlernen, damit ich weiß, mit wem du deine Zeit verbringst.«
»Boah, wie peinlich ist das denn? Ich bin doch kein Kleinkind!« Luna war so laut, dass Luise erschrocken vom Tisch sprang.
Bisher hatte Luna nicht den besten Instinkt bewiesen, was die Auswahl ihres Freundeskreises anging. Moira dachte kurz an Valerie Eger, die glücklicherweise inzwischen ein exklusives Internat in der Innerschweiz besuchte. »Das ist mir egal. Wenn du deinen Klassenkameraden besuchen willst, komme ich mit. Außerdem gehört es sich, dass man neu Zugezogene im Dorf willkommen heißt.«
Luna blähte ihre Backen auf und pustete genervt. »Na gut, dann komm eben mit. Ich muss mich aber noch fertig machen.« Sie stand auf und Liam, der unter dem Tisch gelegen hatte, erhob sich wie ihr Schatten. Die beiden verschwanden nach oben, während Moira die Espressokanne ausspülte. »Auch einen Kaffee?«
»Nein, danke.« Ambrogio stand mit einem leisen Ächzen auf. »Ich muss Ingeborg und Herta die Krallen kürzen.«
Er wühlte in der Krimskrams-Schublade des Küchenbuffets herum, bis er die Krallenzange gefunden hatte. »Wünsch mir Glück.«
»Ich lege schon mal Verbandszeug bereit.«
Moira war es nur recht, ein paar Minuten nur für sich zu haben. Sie füllte Kaffeepulver in den Aluminiumfilter, schraubte die Kanne zu und stellte sie auf den Gasherd. Kurz darauf zeigte das vertraute Fauchen, dass der Kaffee fertig war. Sie trank den beinahe zähflüssigen Kaffee in winzigen Schlucken aus einer dickwandigen Espressotasse, blickte dabei in den Garten hinaus und lächelte, als eine orangefarbene Schwanzspitze durch das hohe Gras zog. Elfriede, eine der fünf Katzen ihres Vaters und ihr besonderer Liebling, war auf der Jagd.
Ihr kam der Blick in den Sinn, den ihr Vater und Vittorio beim Anblick des Schädels ausgetauscht hatten. Da war etwas, das sie beide wussten und der Polizei absichtlich nicht mitgeteilt hatten. Sie durfte nicht vergessen, Ambrogio darauf anzusprechen. Dann fiel ihr ein, dass sie noch denselben ausgeleierten grünen Jogginganzug trug wie zur Weinlese: Wenn sie sich Noahs Eltern vorstellte, sollte sie zumindest einigermaßen präsentabel aussehen und nicht wie eine Strauchdiebin.
Sie ging über die Terrasse zum Gästehaus, das etwa zwanzig Meter vom Haupthaus entfernt im unteren Drittel des großen Gartens lag. Das Innere bestand aus einem winzigen Flur, dem Hauptraum mit Kamin, einem kleinen Bad und einer Schlafgalerie. Seit sie und Luca zusammen hier hausten, herrschte Platzmangel: Auf dem Esstisch stand das anatomische Modell eines Kopfes neben ihren Wörterbüchern, stapelte sich medizinische Fachliteratur neben einem Tongefäß, das Moira in einem Keramikkurs getöpfert hatte. Über einer Stuhllehne lag ihre Kletterausrüstung, an der Tür hingen in mehreren Schichten Lucas und ihre Kleider, auf dem Sofa hockte neben einem Haufen Jacken das lebensgroße Plüschskelett, das Luca nicht mehr im Institut aufbewahren durfte, und neben dem Kamin lehnten mehrere Sportbogen und Köcher mit Pfeilen – Moira hatte nicht einmal gewusst, dass Luca Bogensport betrieb, bevor er bei ihr eingezogen war.
Sie lächelte. Es war eng, aber sie mochte, dass ihre und Lucas Sachen sich mehr und mehr vermischten. Ihr erschien es als Ausdruck ihrer Beziehung, die umso enger wurde, je besser sie sich kennenlernten. Allerdings fluchte sie gleich darauf, als sie versuchte, in dem Durcheinander etwas zum Anziehen zu finden. Nach einigem Herumsuchen entschied sie sich für das knallblaue Sommerkleid. Es war ein für die Jahreszeit warmer Tag und mit einer dicken Strickjacke würde sie nicht frieren. Dazu die schwarzen Schnürstiefel, die sie zu fast allem trug. Das rote Bandana, das ihre Haare zurückhielt, konnte bleiben. Eindruck schinden konnte sie in diesem Aufzug nicht, aber falls Noahs Eltern reiche Snobs sein sollten, legte sie darauf auch keinen Wert.
Sie kehrte in die Küche zurück, wo sie ihren Vater antraf, der wieder in der Krimskrams-Schublade wühlte, eine Hand mit einem Stofftaschentuch umwickelt. »Die Pflaster sind im Badezimmerschrank«, sagte Moira, holte die Packung und verarztete die Kratzwunden. Ambrogio setzte sich an den Küchentisch und schenkte sich von dem Wein ein, der noch vom Vortag auf dem Tisch stand.
Moira trat auf den Flur und rief nach Luna.
»Komme gleich«, tönte es dumpf aus dem oberen Badezimmer. Erst jetzt kam Moira der Gedanke, dass ihre Tochter sich möglicherweise in diesen Noah verliebt hatte. Hoffentlich brach dieser Typ Luna nicht das Herz. »Der ist besser mal ein Netter«, murmelte sie vor sich hin.
Weitere zehn Minuten später kam Luna endlich nach unten, und Moiras Vermutung bestätigte sich: Ihre Tochter hatte sich geschminkt, zum zweiten oder dritten Mal in ihrem Leben. Normalerweise war ihr das zu aufwendig. Ihre Frisur hatte sie noch sorgfältiger zerstrubbelt als sonst und einzelne Strähnen mit Wachs betont. Sie trug schwarz-weiß-karierte Leggins und darüber abgeschnittene Jeansshorts, dazu ein Nirvana-T-Shirt mit dem Smileylogo der Band als Motiv.
»Wie sehe ich aus?« Luna drehte sich einmal um sich selbst und blickte Moira erwartungsvoll an.
»Klasse, wie immer. Du musst dich aber nicht schminken, um hübsch auszusehen.«
Luna verdrehte die Augen. »Ich weiß das, Feminismus und so. Kannst du bitte aufhören, mir Vorträge zu halten?«
Den ganzen Weg über beschwerte sie sich, wie peinlich es sei, mit seiner Mutter bei einem Schulfreund aufzutauchen, doch Moira blieb hart. »Ich verspreche, dass ich dich nicht blamiere, das muss reichen.«
Der Weg führte sie aus dem Dorfkern hinaus in die Randbereiche, wo vor allem ältere Einfamilienhäuser mit Gärten standen. Hinter einem Lattenzaun schnatterte eine ganze Herde Gänse, die gerade von einem alten Mann gefüttert wurden. Sie umdrängten ihn so stürmisch, dass er ins Wanken geriet, und veranstalteten einen Höllenlärm. Moira hielt lächelnd inne, beobachtete die Szene einen Moment lang und rief über den Zaun: »Sie haben aber viele Verehrerinnen!«
Das hagere Gesicht des Mannes wandte sich ihr zu, dann kam er mit erstaunlich raschen Schritten an den Zaun, gefolgt von seinem Federvieh. »Verschwinden Sie!« Er fuchtelte mit der rechten Hand. »Sie haben hier nichts zu suchen, das ist Privatgrund!«
Moira wich vor seinem verzerrten Gesicht zurück. »Ich bin doch gar nicht auf Ihrem Grundstück.«
»Verdammte Touristen, stecken überall ihre Nase hinein! Fort mit Ihnen, oder ich rufe die Polizei!« Er hatte plötzlich einen Stock in der Hand, der wohl am Zaun gelehnt hatte, und stach zwischen den Zaunlatten hindurch nach Moira. Die Gänse schnatterten noch lauter.
»Mama, gehen wir«, drängte Luna hinter ihr.
»Gleich, nur ganz kurz noch.« Sie wandte sich an den Alten: »Erstens bin ich keine Touristin, sondern lebe hier, und zweitens wollte ich nur nett sein. Und von mir aus können Sie gerne die Polizei rufen – die werden Sie nämlich auslachen.«
Der alte Mann lief rot an. »Ich werde Sie wegen Belästigung und Beleidigung anzeigen!«
War sie zu weit gegangen? Hoffentlich bekam er keinen Herzinfarkt. »Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Abend«, sagte sie betont freundlich und setzte ihren Weg fort. Der Alte schimpfte hinter ihnen her, doch Moira drehte sich nicht mehr um.
»So ein Spinner«, sagte Luna.
»Wahrscheinlich ein einsamer Sonderling. Ich hätte mich gar nicht provozieren lassen sollen.«
Ungefähr hundert Meter weiter blieb Luna stehen.
»Hier wohnen Noah und seine Eltern.«
Das Haus wirkte schlicht, höher als breit mit seinen drei Stockwerken, war dunkelrot verputzt, mit weißen Simsen und Fenstereinfassungen. Auf dem Vorplatz stapelten sich Zementsäcke neben einer Schubkarre und mehrere alte Fensterläden lehnten an der Mauer. An der Haustür hing ein Holzschild mit hellroten, handgemalten Buchstaben: Rebecca, Nick & Noah Baker. Das machte einen sympathischen ersten Eindruck. Die Klingel war entfernt worden, es standen lediglich einige Kabel aus dem dafür vorgesehenen Loch, also betätigte Moira den Türklopfer.
»Just two seconds!«, rief eine weibliche Stimme aus einem der Fenster im ersten Stock. Kurz darauf öffnete eine Frau in einer farbverklecksten Latzhose die Tür. Moira hätte sich also keine Sorgen um ihre Kleidung machen müssen.
»Hi, ich bin Rebecca«, sagte sie auf Englisch. »Sorry, mein Italienisch reicht nur, um eine Pizza zu bestellen, aber ich arbeite dran. Wir duzen uns, okay? Ist einfacher. Please come in, Ladies!« Im Hausflur redete Rebecca gleich weiter. »Ich freue mich, dass du mitgekommen bist, Moira. Ich kenne buchstäblich noch keine Menschenseele hier.« Sie hob die Stimme und rief die Treppe hinauf: »Sweetie! Your friend has arrived!«
Ein schlaksiger Jugendlicher mit schulterlangen Dreadlocks kam die Treppe herunter. »Mom, du sollst mich nicht Sweetie nennen, das ist peinlich.« Er grinste, reichte Moira die Hand. »Hi, ich bin Noah.«
»Und ich Moira. Du hast aber gute Manieren.«
Noah grinste und nickte zu seiner Mutter hinüber. »Zumindest etwas hat sie mir beigebracht.«
Moira war beruhigt: Die Bakers waren eine ganz normale Familie, und jetzt fragte sie sich selbst, was sie befürchtet hatte. Dreadlocks waren inzwischen eine völlig übliche Frisur, nicht nur bei Jugendlichen. Sie wurde wohl allmählich spießig.
»Können wir nach oben?«, fragte Luna, die sich schon die ganze Zeit vor Verlegenheit wand.
»Na klar. Aber um elf bist du zu Hause, okay?« Moira verkrampfte sich ein wenig, wie immer, wenn sie diese Sätze sagte, die sie selbst in ihrer Jugend so gehasst hatte.
»Keine Sorge, Noah begleitet sie natürlich«, sagte Rebecca. »Aber willst du nicht auf einen Tee bleiben? Ich schmachte danach, mal wieder ein Frauengespräch zu führen.«
Moira nahm die Einladung gerne an. Noahs Mutter war ihr sofort sympathisch gewesen, und sie hatte im Tessin auch noch keine richtige Freundin gefunden.
»Wie man sieht, sind wir noch dabei zu renovieren«, sagte Rebecca, als sie den unverputzten Flur hinuntergingen. »Mein Mann macht vieles selbst, und wir dachten, es sei clever, das nach dem Einzug zu erledigen, weil wir vor Ort wären. In Wirklichkeit ist es ein dauernder Ausnahmezustand. Letzte Woche hatten wir tagelang kein warmes Wasser.«
Moira fielen die Fliesen auf, die ein Muster aus salbeigrünen Sternen hatten. »Was für ein wunderschöner alter Boden!«
Rebecca lachte. »Er war unter einem unglaublich hässlichen PVC versteckt.«
»Und hat sich genau deswegen so gut erhalten.«
»Wenn man es so betrachtet, ein Segen! Aber wir hätten beinahe das Haus nicht gekauft, weil es so furchtbar aussah. Du hättest die Tapeten sehen sollen! Grün-gelbes Blumenmuster!«
Rebecca führte Moira in eine Küche, die einer Baustelle glich. Die orangefarbene Küchenzeile musste noch aus den siebziger Jahren stammen. Über ihren Köpfen spannte sich das Lattenwerk einer abgehängten Decke, die die Raumhöhe um ein Drittel verringerte und den Stuck an der eigentlichen Decke verborgen hatte. Der Esstisch bestand aus einem alten Türblatt, das man über zwei Sägeböcke gelegt hatte, drumherum ein Sammelsurium aus Sitzgelegenheiten vom Gartenstuhl bis zu einem umgedrehten Farbeimer.
»So leben wir momentan«, seufzte Rebecca, während sie den Schnellkocher mit Wasser füllte.
»Ich bin sicher, es wird fantastisch aussehen, wenn alles fertig ist«, erwiderte Moira. »Diese alten Häuser bergen oft wahre Schätze.«
»Das stimmt.«
»Habt ihr die Nachbarn schon kennengelernt? Wir hatten auf dem Weg hierher eine ziemlich denkwürdige Begegnung«, sagte Moira und erzählte von dem Mann mit den Gänsen.
Rebecca nickte. »Jacopo Balestra. Mit dem hatten wir auch schon Ärger. Er beschwert sich bei jeder Kleinigkeit und hat sogar schon ein paarmal die Polizei gerufen, weil wir seiner Meinung nach keinen Schuttcontainer vor dem Haus abstellen dürften oder die Renovierungsarbeiten zu laut sind. Ich glaube, auf diese Art versucht er, sein langweiliges Leben etwas interessanter zu gestalten. Aber selbst trötet er Tag und Nacht auf einem Saxofon herum. Musikalisches Talent hat er ganz sicher keins!«
Sie lachten und bald darauf saßen sie am Tisch, tranken Earl Grey mit Sahne und erzählten sich ihre Lebensgeschichten. Rebecca hatte eine Professur für Ökonomie und internationale Politik an der Universität in Lugano angenommen, während ihr Mann Nick sich vorerst um die Renovierung und den Haushalt kümmerte. »Eigentlich war es Nick, der unbedingt ins Tessin wollte. Seine Mutter stammt aus der Gegend, und er bildet sich immer ein, er hätte italienisches Temperament. Dabei ist er so gutmütig wie ein Highland-Rind.«
Moira hatte lange niemanden getroffen, mit dem das Gespräch so mühelos dahinfloss. Es war, als würden Rebecca und sie sich schon lange kennen, und es tat gut, mit jemandem Zeit zu verbringen, mit dem man sich in Einklang fühlte. Vielleicht hatte sie eine neue Freundin gefunden.
Als gegen sieben Uhr Rebeccas Mann Nick mit einer großen Einkaufstüte aufgetaucht war, hatte Moira sich verabschiedet, obwohl die Bakers sie zum Essen eingeladen hatten. Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass ihr Vater ganz alleine zu Hause saß. Selbst wenn die Katzen ihm Gesellschaft leisteten, würde er sich freuen, wenn er nicht alleine zu Abend essen musste.
Nach Sonnenuntergang stieg jetzt im Oktober bereits herbstliche Kühle auf, und Moira fröstelte trotz Strickjacke in ihrem Sommerkleid. Die Luft hatte diese gewisse Schärfe, die bereits den Winter ankündigte. Unterwegs begegneten ihr nur zwei Leute, die ihre Hunde ausführten, alle anderen saßen wohl beim Abendessen oder schon vor den Fernsehgeräten. Als sie an der Osteria Il Mulino vorbeikam, wo eine Menge los zu sein schien, spähte sie durch eines der Fenster. Zu ihrer Überraschung war ihr Vater weit davon entfernt, einsam in seinem Kämmerlein zu hocken. Er saß nämlich an einem der Tische und unterhielt sich mit zwei alten Herren, die Moira nicht kannte.
Sie drückte die Tür auf und betrat die Gaststube. Das warme Licht, der Duft nach Gewürzen und Bratensoße, leises Geschirrklappern und entspanntes Stimmengewirr empfingen sie. Die meisten der dunklen, massiven Holztische waren besetzt. Gabriella wusste, wie man eine gastliche Atmosphäre schuf – im Il Mulino fühlte man sich wie im eigenen Wohnzimmer, nur besser, weil man jederzeit nette Gesellschaft und gutes Essen vorfand.
Jetzt hatte Gabriella sie entdeckt und winkte. Moira schlängelte sich zur Theke und küsste die Wirtin auf beide Wangen.
»Carissima, schön, dass du den Weg in meine Osteria nicht vergessen hast.« Gabriella zwinkerte.
»Ich weiß, ich war länger nicht hier, aber das wird sich ändern. Ich habe meine Wohnung in Deutschland aufgelöst und bin jetzt dauerhaft im Tessin.«
»Ich freue mich! Komm doch mal nachmittags vorbei, dann habe ich mehr Zeit zum Plaudern.« Gabriella nahm ein Tablett mit Biergläsern und eilte zu einer lauten Tischrunde am Fenster. Moira ging zu ihrem Vater und seinen Freunden hinüber.
»Schön, dass du nicht alleine daheimsitzt.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Matteo, Bruno – das ist meine Tochter Moira«, sagte Ambrogio zu seinen beiden Gesprächspartnern. »Moira, das sind Matteo und Bruno Lanfranchi, Urgesteine, so wie ich – von uns gibt es nicht mehr allzu viele hier im Dorf, nicht wahr, Bruno?«
»Piacere, sehr erfreut«, sagte Matteo, der ungefähr im Alter ihres Vaters war, ohne aufzustehen oder ihr die Hand zu reichen. Es klang etwas verwaschen, seine schwammigen Wangen und trüben Augen verrieten, dass er regelmäßig viel Alkohol trank. Bruno, der wesentlich älter war, starrte Moira finster an. »Hast du den Hühnerstall geputzt, wie ich dir gesagt habe?«, sagte er mit herrischer Stimme, die seinem gebrechlichen Äußeren widersprach. »Wenn du dich nicht beeilst, setzt es was!«
»Papà, das ist nicht Daria, sondern Ambrogios Tochter.« Matteo sah entschuldigend zu Moira auf. »Er verwechselt manchmal Personen miteinander.«
»Das macht doch nichts.« Moira lächelte, wunderte sich aber insgeheim, was ihren Vater mit diesen beiden Männern verband.
»Bruno ist der Vater von Daria, du weißt schon, vom Hesse-Museum«, erklärte Ambrogio.
»Ja, natürlich. Dann sind Sie ihr Bruder?«