Die Tote im Luganer See - Mascha Vassena - E-Book

Die Tote im Luganer See E-Book

Mascha Vassena

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im beschaulichen Luganer See wird eine Leiche gefunden, und die Tote ist niemand Geringeres als die einst berühmte Chansonsängerin Livia. Doch wer hatte einen Grund, die alte, zurückgezogen lebende Dame zu töten?

Wieder bitten Jugendliebe und Leiter der örtlichen Gerichtsmedizin Luca Cavadini und Ispettrice Moretti die Dolmetscherin Moira Rusconi bei dem Fall um Unterstützung. Die Ermittlungen führen sie in ein Geflecht aus dubiosen Geschäften, Rachegelüsten und Familiengeheimnissen. Und während ihr Vater Ambrogio sich in der Casa Rusconi mit ihrer anspruchsvollen Mutter abmüht, stellt Moira eigenmächtig Nachforschungen an und bringt sich dabei unwissentlich in Lebensgefahr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 411

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344

ÜBER DIESES BUCH

Im beschaulichen Luganer See wird eine Leiche gefunden, und die Tote ist niemand Geringeres als die einst berühmte Chansonsängerin Livia. Doch wer hatte einen Grund, die alte, zurückgezogen lebende Dame zu töten? Wieder bitten Jugendliebe und Leiter der örtlichen Gerichtsmedizin Luca Cavadini und Ispettrice Moretti die Dolmetscherin Moira Rusconi bei dem Fall um Unterstützung. Die Ermittlungen führen sie in ein Geflecht aus dubiosen Geschäften, Rachegelüsten und Familiengeheimnissen. Und während ihr Vater Ambrogio sich in der Casa Rusconi mit ihrer anspruchsvollen Mutter abmüht, stellt Moira eigenmächtig Nachforschungen an und bringt sich dabei unwissentlich in Lebensgefahr.

ÜBER DIE AUTORIN

Mascha Vassena wurde 1970 geboren, studierte Kommunikationsdesign, war Mitherausgeberin einer Literaturzeitschrift und organisierte Poetry Slams. Nach dem Studium arbeitete sie als freie Journalistin und Redakteurin in Hamburg. Für ihre Texte erhielt sie mehrere Auszeichnungen, u. a. den Hamburger Literaturförderpreis und ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude. Von ihr sind bislang der Erzählband RÄUBER UND GENDARM sowie fünf Romane erschienen. Neben dem Schreiben hält sie Workshops für Autor:innen und ist als freie Literaturagentin tätig. Seit 2004 wohnt sie mit ihrer Familie am Luganer See und möchte nie mehr weiter als einen Spaziergang vom Wasser entfernt leben.

MASCHA VASSENA

Die TOTE imLUGANER SEE

Moira Rusconi ermittelt

EICHBORN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.

Eichborn Verlag

Originalausgabe

© Mascha Vassena 2022. Dieses Werk wurde vermitteltdurch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Michelle Stöger, München

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Umschlagmotiv: © trabantos/shutterstock

Karte Innenklappen: © Christl Glatz | Guter Punkt, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4263-4

eichborn.de

luebbe.de

lesejury.de

PROLOG

Mit mildem Erstaunen nahm sie zur Kenntnis, dass sie fiel. Kopf voran schlitterte sie auf dem Rücken an der mit Gestrüpp bewachsenen Steilwand hinab wie auf einer Rutsche. Für einen Augenblick erfüllte sie die Euphorie einer Dreijährigen im Rausch des Dahingleitens. Kurz darauf blieb sie an einem Felshöcker hängen und wurde dann mit Schwung in die Luft hinausgetragen, drehte sich und prallte mit dem Bauch wieder auf die Schräge. Ihr Nachthemd rutschte nach oben, sodass Zweige, Felskanten und Dornenranken über ihre bloße Haut scharrten, doch es tat überhaupt nicht weh. Vielleicht war gar nicht sie es, die fiel, sondern sie sah jemand anderem dabei zu. Nach einem Moment der Verwirrung darüber, wo sie sich befand, war sie wieder bei sich.

Sie sah nach oben und erblickte hoch über sich die Villa. Die pausbäckigen Engelsköpfe, die das Gesims unter der Dachtraufe säumten, glotzten höhnisch auf sie herab, und auf einmal stieg eine ungeheure Wut in ihr auf. So durfte es nicht enden. Jetzt kam sie auf den Gedanken, die rasende Fahrt aufzuhalten, indem sie ihre Hände in den Untergrund krallte. Ihre Fingernägel splitterten und sie riss zwei kleine Büschel Gras aus der dünnen Erdschicht, doch sie war zu schnell und ihre schwachen arthritischen Hände, die blass und schwammig wirkten wie zwei kleine, weißliche Kraken, konnten ihren Sturz nicht aufhalten. Wie zart und schlank waren diese Hände einmal gewesen, doch das war lange her. Ihre Haut fühlte sich auf einmal kühler an, und ihr wurde bewusst, dass ein gieriges Gebüsch mit langen Krallenzweigen ihr das Nachthemd vom Leib gerissen hatte. Wenn einer der Nachbarn sie so sah!

Ihre Gedanken brachen ab, als sie unerwartet die Oberfläche des Sees erreichte und ins Wasser eintauchte. Es schloss sich um sie wie kaltes grünliches Aspik. Ein zerfleddertes Taschentuch trieb vorbei. Unter ihr glitt ein Schwarm kleiner Fische im Zickzack dahin. Sie sah ihnen einen Augenblick lang fasziniert zu, bevor ein Brennen in der Lunge sie daran erinnerte, dass sie Luft holen musste. Sie reckte die Arme nach oben und versuchte, mit Schwimmbewegungen an die Oberfläche zu gelangen, doch ihr fehlte die Kraft. In ihrer Lunge baute sich ein Druck auf, dem sie nicht mehr lange standhalten würde. Sie wandte den Blick nach oben, wo wie durch grünes Glas getrübt der blaue Himmel stand, und atmete ein.

1

Die Kuhglocke, die in der Casa Rusconi Besucher ankündigte, bimmelte.

»Luna, komm runter, Nelly ist da!«

Moira öffnete die Haustür, doch vor ihr stand nicht etwa ihre Mutter, sondern ein Hüne mit Rauschebart und buschigen Augenbrauen, bekleidet mit einer erbsengrünen Uniform aus kurzen Hosen, einem Poloshirt und einer Baseballkappe. Moira empfand spontanes Mitleid für den armen Menschen, der laut seines Namensschilds »D. Conti« hieß, und von seiner Firma gezwungen wurde, in diesem Aufzug fremden Leuten gegenüberzutreten.

»Paket für Luna Rusconi.« Der Riese hielt Moira einen Karton entgegen, der fast genauso groß war wie sie. Moira umfasste das Paket automatisch. Es wog beinahe nichts.

»Was ist denn da drin?«

Der Paketbote grinste. »Sie haben es doch bestellt.«

»Ist für mich!« Luna drängelte sich von hinten an Moira vorbei und schnappte sich das Paket.

»Halt, ich brauche noch eine Unterschrift!«

»Das übernehme ich.« Moira quittierte den Empfang.

»Kann ich Ihnen bei der Hitze eine gazzosa anbieten?«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Das wäre sehr freundlich, ich habe mein Wasser schon aufgebraucht und keine Zeit, mir neues zu kaufen.«

Moira beeilte sich, ihm eine Flasche Holunderlimonade mit einem Strohhalm darin zu bringen. »Hier, die können Sie beim Fahren trinken.«

»Wenn mal alle Kundinnen so nett wären wie Sie!« Der Lieferant nahm die Flasche entgegen und tippte mit dem elektronischen Stift an seine Kappe. »Schönen Tag noch!«

Moira schloss die Tür und ging in die Küche, wo ihre Tochter auf dem Boden hockte und dabei war, den Karton aufzureißen. Ambrogios Katzen Luise, Herta und Ingeborg saßen im Halbkreis um sie herum und beobachteten mit zuckenden Ohren, was vor sich ging.

»Ist das ein Board zum Stand-Up-Paddling?«, fragte Moira.

»Viel besser.« Ihre Tochter warf einen Pappfetzen beiseite, und die drei Katzen stürzten sich darauf wie auf einen Streifen Speck.

Luna holte eine flache, unregelmäßige Form aus dem Karton. Moira hatte immer noch keinen Schimmer, worum es sich handeln mochte.

»Ta-daa!« Luna drehte das Ding um. »Sag Hallo zu Lady Gaga!« Sie präsentierte Moira ein lebensgroßes Bild der Sängerin, das auf eine Hartschaumplatte aufgezogen war. Die Ränder waren so geschnitten, dass sie dem Umriss der Figur folgten.

Moira lachte. »Fühlst du dich so einsam hier im Dorf? Du findest schon noch Leute, mit denen du etwas unternehmen kannst. Aber bis dahin ist Lady Gaga nicht die schlechteste Gesellschaft.«

Luna legte den Kopf schief. »Haha, sehr lustig. Das ist Nellys und mein neues Instagramprojekt. Unsere Follower brauchen was Neues, sonst gehen unsere Klickzahlen zurück. Wir fotografieren uns mit Gaga überall, wo wir hingehen.«

»Zum Lido nimmst du sie aber besser nicht mit«, antwortete Moira. »Die Gute sieht nicht besonders wasserfest aus. Hast du deine Badesachen gepackt?«

»Yes!« Luna deutete auf einen pinkfarbenen Rucksack, der zu ihren Haaren passte.

»Na, dann los. Wir holen deine Großmutter im Hotel ab. So, wie ich sie kenne, ist sie noch nicht mal losgelaufen.«

Luna lehnte Lady Gaga ans Küchenbuffet, schnappte ihren Rucksack und folgte Moira. Sie nahmen den alten Jeep von Moiras Vater.

»Schade, dass Opa nicht mitwill.«

»Ich verrate dir ein Geheimnis: Er kann nicht schwimmen. Als kleiner Junge ist er mal in den See gefallen und fast ertrunken. Seitdem hält er sich von Wasser lieber fern.«

Moira manövrierte den Wagen durch den Dorfkern, wo die Straße so eng war, dass entgegenkommende Autos warten mussten. Nur zwei Minuten später hielten sie vor dem Stella della Collina, das sich äußerst großspurig »Hotel« nannte, aber in Wirklichkeit eine bescheidene Pension war. Im Bellavista, dem wesentlich besseren Hotel im Dorf, war so kurzfristig kein Zimmer mehr frei gewesen.

Nelly trat gerade aus dem Haus, in ein buntes Batikgewand gehüllt und von einem wagenradgroßen Strohhut gekrönt. Luna stieg aus, gab ihrer Großmutter einen Kuss und wechselte auf den Rücksitz.

Während die beiden Pläne für ihren gemeinsamen Instagram-Account schmiedeten, konzentrierte Moira sich auf den Verkehr. Sie fuhren hinunter nach Lugano und dann am See entlang, vorbei am städtischen Strandbad in Richtung des kleinen Ortes Castagnola, der beinahe mit Lugano zusammengewachsen war. Auf der Strecke hatte man einen herrlichen Blick über den See, bevor stuckverzierte Villen und moderne Wohnanlagen die Aussicht blockierten.

Moira hatte Glück und konnte den Jeep auf einem der wenigen Parkplätze abstellen. Von dort aus mussten sie noch zehn Minuten zu Fuß am See entlanglaufen und erreichten dann das kleine Strandbad, das noch immer ein Geheimtipp der Einheimischen war.

Moira, Luna und Nelly zahlten an der Holzhütte, die auch als Bar diente, und suchten sich einen Liegeplatz auf der Wiese direkt am Seeufer. Luna warf sich sofort begeistert in eine Hängematte, die zwischen zwei Bäumen baumelte.

»Willst du nicht ins Wasser?«, fragte Moira.

»Den Platz gebe ich nicht wieder auf.« Luna steckte sich Kopfhörer in die Ohren und tippte auf ihrem Smartphone herum.

Auch Moiras Mutter war nicht dazu zu bewegen, ins Wasser zu gehen.

»Ich schwimme nur in Pools, mein Schatz«, sagte sie liebenswürdig. »Wenn ich nicht sehe, was unter mir herumkreucht, grause ich mich. Wer weiß, was da alles herumschwimmt! Ich arbeite lieber an meiner Sonnenbräune.« Sie zog sich das Batikkleid über den Kopf, stopfte es in ihre Tragetasche und breitete ein Strandhandtuch aus.

»Aber creme dich gut ein«, sagte Moira, bevor ihr einfiel, dass ihre Mutter erwachsen war. Was sie nicht davon abhielt, den Rat ihrer Tochter zu ignorieren. »Früher haben wir auch keine Sonnencreme benutzt.«

Moira betrat den Steg, der am Ufer entlangführte, und von dem aus man direkten Zugang ins Wasser hatte. Eine junge Frau stieß sich gerade vom Sprungbrett ab und hechtete mit einem eleganten Köpfer ins Wasser. Moira kam sich ein wenig bieder vor, weil sie die sichere Leiter wählte und sich Stück für Stück ins Wasser hinabließ, das sogar jetzt im Juni noch so kalt war, dass es im ersten Moment beinahe wehtat.

Doch war man erst einmal drin und hatte sich an die Temperatur gewöhnt, fühlte es sich herrlich an. Moira schwamm vom Ufer weg, wo sich weniger Badegäste tummelten. Die weite Wasserfläche, die sich vor ihr ausdehnte bis zum gegenüberliegenden Ufer, wo grüne Hügel steil anstiegen, berauschte sie geradezu. Sie drehte sich auf den Rücken, spreizte Arme und Beine ab und ließ sich treiben. Mit den Ohren unter Wasser wurde es ganz ruhig und still in ihr. Es war ein wunderbares Gefühl, so ganz bei sich zu sein. Die Wellen, die Berge, der Himmel – so konnte man sich eins mit der Welt fühlen und alle Probleme vergessen. Wobei Moira nichts einfiel, was sie hätte vergessen wollen. Es sei denn, man betrachtete die Sache mit Luca als Problem. Musste ihre Jugendliebe ausgerechnet der leitende Rechtsmediziner des Kantons sein? Auch wenn es spannend gewesen war, ihm als Dolmetscherin bei der Aufklärung des Eiskeller-Mordes zu helfen. Sie seufzte und überlegte, ob sie auf seine Liebeserklärung vor einigen Wochen hätte eingehen sollen. Andere Frauen hatten auch keine Skrupel, Affären mit verheirateten Männern zu unterhalten. Und Luca war seit Javiers Tod der erste Mann, bei dem sie sich so fühlte, wie sie sich bei einem Mann fühlen wollte. Martin, mit dem sie die letzten Jahre zusammengelebt hatte … der war im Nachhinein betrachtet eine Vernunftentscheidung gewesen, auch wenn ihr das erst nach der Trennung bewusst geworden war.

Sie drehte sich wieder um und schwamm mit kräftigen Zügen eine Runde an der weiß-roten Begrenzungskette entlang, die den Badebereich vom Rest des Sees trennte. In einiger Entfernung fuhr ein mit jungen Leuten besetztes Motorboot vorbei, einem auffälligen Modell aus glänzend lackiertem Wurzelholz, das sicher ein Vermögen wert war. Moira wunderte sich immer wieder, wie viele reiche Leute es anscheinend in Lugano gab. Doch fühlte sie keinen Neid, sondern war vollkommen zufrieden damit, sich mit Muskelkraft fortzubewegen und das Wasser um sich herum zu spüren.

Als sie genug hatte, schwamm sie zurück zum Steg und kletterte an Land. Sie wollte gerade zum Liegeplatz zurückkehren, als sich das Tuckern eines Bootes näherte und sie lautes Rufen hörte. Moira wandte sich um. Das elegante Boot von vorhin steuerte gerade die Anlegestelle des Strandbads an. Ein Junge, der kaum älter als siebzehn sein konnte, warf hektisch ein Tau um den Poller und zurrte es fest. Auch die anderen Passagiere waren sehr jung und in heller Aufregung. Seltsamerweise lachten sie nicht, wie man erwartet hätte, wenn eine Clique einen Ausflug unternahm. Eine Jugendliche kauerte im Heck, hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte laut, eine weitere stand neben dem Bootslenker und schwenkte die Arme. »Wir brauchen Hilfe!« Der zweite Junge sah blass und verstört aus. »Da treibt jemand im See!«, rief er den Leuten auf dem Steg mit Panik in der Stimme zu. »Ich weiß nicht, ob sie noch lebt!«

Sein Freund stieg eilig die Treppe an der Anlegestelle zur Terrasse hinauf. Sofort versammelte sich eine Traube Badegäste um ihn. Stimmen wurden laut, man rief und redete durcheinander.

Moira wandte sich dem Jugendlichen zu, der auf dem Boot geblieben war. »Was ist passiert?«

Er hob verwirrt die Schultern. »Keine Ahnung, aber da hinten treibt jemand mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Wir wären beinahe darübergefahren.«

»Ist die Person tot?«

»Ich glaube schon. Bin nicht sicher.« Er legte sich die Hand auf die Stirn, als wollte er nachprüfen, ob er Fieber hatte.

Moira nickte ihm zu. »Fahrt nicht weg.« Sie rannte, nass wie sie war, über den Rasen zum Kassenhäuschen, wo etliche Leute auf ihre Getränke warteten, die noch nichts von dem Aufruhr am Steg mitbekommen hatten. »Permesso, es gibt einen Notfall!«, rief Moira und drängte sich zur Theke durch. Die Frau, die sich um die Bestellungen kümmerte, sah sie erstaunt an. »Sie müssen sich hinten anstellen.«

»Ein Notfall!«, wiederholte Moira. »Ein paar Jugendliche sagen, sie haben im See eine reglose Person gesichtet. Aber vielleicht lebt sie ja noch! Rufen Sie die Ambulanz, und die Polizei gleich dazu.«

»Madonna!« Die Bewegungen der Frau wurden hölzern, als wollte sie mehrere Dinge gleichzeitig tun. Sie stellte die Espressotasse, die sie in der Hand hielt, so heftig ab, dass Kaffee über den Rand schwappte, drehte sich um und riss den Hörer von einem Wandapparat, der neben dem Kühlschrank hing.

Moira sah sich jetzt ebenfalls von Leuten in Badekleidung umzingelt, die von ihr wissen wollten, was passiert war. »Ich weiß es nicht«, sagte sie mehrmals, worauf die Leute sich zurückzogen wie eine Welle und in Richtung des Stegs schwappten. Die vordersten lehnten sich über das Geländer, die dahinter stellten sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Eine Frau mit einem großen gelben Strohhut stieß melodramatische, spitze Schreie aus.

»Wir müssen sie bergen!«, rief jemand.

Ein stämmiger Mann, aus dessen rotem Trägershirt beeindruckend viel Brusthaar quoll, arbeitete sich mit Schwimmbewegungen durch die Menschenansammlung. »Lasst mich durch, Leute! Ich bin der Bademeister! Ich muss zum Rettungsboot!«

Man machte ihm beinahe widerwillig Platz, hinter ihm schloss sich die Menge wieder.

»Ambulanz und Polizei sind unterwegs«, sagte die Bedienung. Moira wandte sich zu ihr um. »Danke. Hoffen wir, dass die Jugendlichen sich geirrt haben und die Frau noch lebt.«

Obwohl sie selbst neugierig war, gesellte Moira sich nicht zu den Gaffenden, sondern kehrte zum Liegeplatz zurück. Der Bademeister schien die Situation im Griff zu haben und sie wollte nicht im Weg stehen. Luna schlief noch immer in der Hängematte, doch Nelly war aufgestanden und beschattete ihre Augen mit einer Hand, um besser erkennen zu können, was an der Anlegestelle vor sich ging.

»Was ist denn das für ein Aufruhr?«

Moira erklärte ihr knapp, was passiert war. Erst jetzt merkte sie, dass sie weiche Knie hatte und ihre Hände zitterten.

»Gott, wie schrecklich!«

Zusammen beobachteten sie, wie der Bademeister mit einem Ruderboot hinausfuhr. Moira glaubte, weiter draußen einige Male etwas Helles im unruhigen Wasser aufschimmern zu sehen. Trotz des Sonnenscheins fröstelte sie auf einmal.

»Hoffentlich ist es kein Kind«, sagte Nelly.

Es schien ewig zu dauern, bis der Mann im Boot die Ruder einzog und sich seitlich über den dem Ufer abgewandten Rand des Bootes beugte. Er schien tatsächlich etwas aus dem Wasser zu hieven. Moira sah es ins Boot gleiten wie einen großen, weißen Fisch, und hinter der Bordwand verschwinden. Der Bademeister nahm die Ruder wieder auf und machte sich auf den Rückweg.

Noch bevor er die Anlegestelle erreichte, trafen mehrere uniformierte Beamte der polizia communale ein, und fast gleichzeitig ein Ambulanzschiff. Zwei Sanitäter in orangefarbenen Westen brachten eine Bahre und ihre Notfallkoffer an Land. Als das Ruderboot in Reichweite kam, halfen sie dem Bademeister, es festzumachen und trugen dann den Körper ans Ufer. Von der Größe her schien es sich um ein Kind zu handeln. Die Polizei scheuchte die Schaulustigen beiseite. Moira konnte nun doch ihre Neugier nicht mehr zähmen und ging, ein schwummeriges Gefühl im Magen, über die Liegewiese näher an das Geschehen heran, wobei sie jedoch darauf achtete, weder der Polizei noch den Sanitätern im Weg zu stehen.

2

Die Tote war kein Kind, sondern eine kleine alte Frau mit dünnem, rot gefärbtem Haar. Allzu lange konnte sie nicht im Wasser gelegen haben, denn bis auf einige Abschürfungen sah sie aus, als schliefe sie. Obwohl sie so zierlich war, verlieh der Tod ihr eine Ehrfurcht gebietende Aura, ähnlich der einer Marmorstatue.

Die Sanitäter legten sie auf eine Bahre, breiteten ein grünes Tuch über sie und schoben sie in den Schatten eines Baumes. Es war sehr schnell klar geworden, dass Wiederbelebungsmaßnahmen hier keinen Sinn mehr hatten.

»Können Sie die Frau nicht wegbringen?«, fragte die Kassiererin. Aber einer der Sanitäter schüttelte den Kopf. »Wir warten jetzt auf die Kantonspolizei und die Rechtsmedizin.«

Erstere traf wenig später ein, und Moira war erleichtert, dass Ispettrice Chiara Moretti dabei war. »Was machst du denn hier?« Chiara sah sie erstaunt an.

»Reiner Zufall. Ich bin mit meiner Mutter und meiner Tochter zum Baden hier.«

Chiara verzog mitleidig das Gesicht. »Da habt ihr euch den falschen Tag ausgesucht.«

»Ja, leider«, sagte Moira. »Zum Glück hat Luna nichts von alldem mitgekriegt.«

Sie versuchte, ihr Strandhandtuch, in das sie sich eingewickelt hatte, so zu verknoten, dass sie es nicht ständig festhalten musste. Dann erzählte sie Chiara, was passiert war.

»Danke für die Information. Dann spreche ich jetzt noch mit dem Bademeister und den Jugendlichen, die sie entdeckt haben.«

»Alles klar. Vielleicht sehen wir uns mal auf einen Cappuccino?«, sagte Moira.

»Total gerne. Ich hab nur zurzeit ein bisschen viel am Hals. Meiner nonna geht es nicht gut, sie braucht jetzt ständig Betreuung. Und Ravi will ich ja auch ab und zu sehen.« Chiara senkte den Blick und ihre Wangen röteten sich leicht.

»Seid ihr endlich zusammen? Ich freue mich für dich – und für Ravi natürlich erst recht. Melde dich einfach, wenn du Zeit hast. Ich bin noch eine Weile hier, bevor wir nach Deutschland zurückfahren. Ansonsten eben bei meinem nächsten Besuch.«

Sie verabschiedeten sich, und Moira machte sich auf den Rückweg zu Luna und Nelly. Dabei musste sie die Bahre mit der alten Frau darauf passieren. Außer den Sanitätern beugte sich ein dunkelhaariger Mann in einem weißen Overall über die Tote. Moiras Herz klopfte auf einmal sehr heftig und in ihrem Magen bitzelte eine Brausetablette mit Himbeergeschmack. Sie musste sein Gesicht nicht sehen, sondern erkannte Luca allein an seiner Haltung. Außerdem war es wenig überraschend, dass er als Rechtsmediziner ebenfalls hier war.

Aber sie sprach ihn nicht an und entschuldigte das vor sich selbst mit der Ausrede, dass sie ihn schlecht bei der Untersuchung einer Leiche stören konnte. Stattdessen schlich sie sich hinter seinem Rücken vorbei, als hätte sie etwas verbrochen.

Nelly und Luna hatten den Platz gewechselt und saßen auf zwei Liegestühlen ganz hinten auf der Wiese. Anscheinend war Nelly so schlau gewesen, Luna von dem Trubel fernzuhalten. Moira verspürte ihrer Mutter gegenüber ein ungewohntes Gefühl der Dankbarkeit.

Die beiden blickten ihr fragend entgegen. Moira setzte sich zu ihrer Tochter auf die Liege und erklärte, was passiert war.

»Wirklich furchtbar!« Nelly zog die Schultern hoch. »Wenn ich mir vorstelle, ich wäre beim Schwimmen mit der Leiche zusammengestoßen!«

Moiras Gefühl der Dankbarkeit verflüchtigte sich.

»Das malen wir uns lieber nicht im Detail aus«, sagte sie und nickte möglichst unauffällig in Lunas Richtung.

Nelly wedelte ihre Worte mit der Hand beiseite. »Du bist doch einiges gewohnt, seit du für die Polizei gearbeitet hast.«

Moira erwiderte nichts, sondern wandte sich Luna zu, die ihre angezogenen Beine umschlungen hielt und sich ihr Badetuch mit dem Seepferdchenmotiv über die Schultern gelegt hatte, als fröre sie.

»Alles in Ordnung, Strubbelchen?« Moira legte ihr den Arm um die Schultern.

»Ja, klar.« Luna fuhr sich mit einer Hand durch ihren pinkfarbenen Schopf. »Das war ja nur eine fremde Frau.«

Lunas Lächeln kam Moira etwas gezwungen vor, aber sie sagte nichts, sondern drückte ihre Tochter kurz an sich.

»Ich würde sagen, wir fahren nach Hause.«

Sie packten ihre Sachen zusammen und liefen in Richtung Ausgang. Chiara, die gerade bei einem jungen Paar stand, bemerkte sie und unterbrach das Gespräch.

»Moira, kannst du mir kurz helfen? Die beiden hier sprechen kein Italienisch. Und der Dolmetscher, den ich angefordert habe, taucht einfach nicht auf.«

Moira sah ihre Mutter an. »Fährst du Luna nach Hause? Ich komme nach, wenn ich fertig bin.«

Nelly nickte und Moira gab ihr den Wagenschlüssel.

Das junge Paar stammte aus Portugal und hatte, wie sich herausstellte, nichts Relevantes mitbekommen. Danach half sie Chiara bei der Befragung weiterer Touristen aus Deutschland, den USA, Spanien und Finnland. Die Finnen sprachen erfreulicherweise perfekt Englisch, denn Moira kannte nur ein einziges finnisches Wort, Kalsarikännit, was bedeutete, sich alleine zu Hause in Unterwäsche zu betrinken. In dieser Situation wäre es wenig hilfreich gewesen.

Das Ergebnis der Befragungen war kläglich. Niemand hatte eine alte Frau ins Wasser gehen sehen, niemand außer den Jugendlichen hatte den Leichnam im Wasser bemerkt. Nach und nach leerte sich das Gelände – kaum jemand hatte noch Lust, weiter zu baden.

Moira ließ sich zur Stärkung an der Bar einen doppelten Espresso aufbrühen. Die Barfrau trank mit, allerdings einen doppelten Grappa. Sie stammte aus der Deutschschweiz und war ziemlich blass für jemanden, der in einer Badeanstalt arbeitete.

»Heute Nacht kriege ich sicher kein Auge zu.« Sie zog die Schultern nach vorne und schüttelte sich, genau wie Moiras Mutter. Als wollte man den Tod abschütteln, bevor er einen ebenfalls erwischte. Auch Moira selbst hatte dieses unwillkürliche Entsetzen vor dem Tod gespürt, als sie die Leiche betrachtet hatte.

»Ist doch merkwürdig, dass wir uns vor einem Körper grausen, nur weil er nicht mehr lebt«, sagte Moira nachdenklich. »Es ist ja genau derselbe Körper wie vorher.«

»Nur, dass er tot ist«, sagte die Barfrau. »Und steif. Und am Verwesen.«

»Aber das ist genauso natürlich wie geboren zu werden.«

»Das finde ich genauso grausig.«

»Gutes Argument«, sagte Moira.

Chiara trat neben sie. »Ich bin hier durch. Danke, dass du mir geholfen hast. Keine Ahnung, wo dieser Dolmetscher abgeblieben ist.«

»Gut, dann fahre ich nach Hause. Nimmst du mich mit in die Stadt?«

»Ich kann dich ein Stück mitnehmen. Aber ich fahre direkt ins rechtsmedizinische Institut. Dottore Cavadini will die Sektion sofort durchführen, und ich muss als Vertreterin der Polizei dabei sein.« Chiara seufzte. »Ehrlich gesagt, ist das mein erstes Mal. Sonst hat das immer jemand übernommen, der im Rang höher als ich steht. Ich habe richtig Angst, umzukippen.« Sie sah Moira mit einem Hundeblick an. »Würdest du mir einen Riesengefallen tun und mitkommen?«

Moira verschluckte sich an ihrem Kaffee. »Die lassen mich da doch gar nicht rein.«

»Wenn ich dich mitbringe, schon. Und Luca wirft dich bestimmt nicht raus. Bitte!«

Moira musste ein Grinsen zurückhalten. Die Inspektorin tat ihr Bestes, um taff zu wirken, aber im Grunde war sie weich wie Buttertoffee. Sie selbst war allerdings auch weit weniger abgebrüht, als sie sich manchmal wünschte.

»Bei einer Obduktion dabei zu sein, würde mich schon interessieren – aber ich bin auch nicht sicher, ob ich das verkrafte.« Moira leerte ihre Espressotasse, um Zeit zu gewinnen. Die Gelegenheit war einmalig, die Neugier siegte. »Okay, ich komme mit.«

Während sie zum Parkplatz gingen, wurde es ihr dann doch etwas mulmig. Worauf hatte sie sich nur eingelassen?

3

Das Institut für Rechtsmedizin befand sich in einem zweistöckigen Backsteinbau auf dem Gelände des kommunalen Krankenhauses. Chiara wusste, wo sie hinmussten, und führte Moira in einen Vorraum, wo sie hellblaue Papierkittel, medizinische Hauben und Latexhandschuhe anzogen.

»Damit unsere Haare und Kleidungsfasern nichts verfälschen«, erklärte ihnen die Frau, die ihnen die Sachen aushändigte.

Chiara atmete tief durch und lächelte Moira unsicher an. »Na gut, bringen wir es hinter uns.«

»Das schaffst du«, sagte Moira. »Und beim zweiten Mal ist es dann schon Routine.«

Moira zuckte zusammen, als die Tür zum Flur geöffnet wurde. Sie war angespannter, als sie sich eingestehen wollte.

»Buongiorno!« Arianna Manzoni, die Staatsanwältin, trat in den Vorraum. »Moira, Sie hätte ich hier nicht erwartet. Dolmetschen Sie wieder für uns?«

»Inoffiziell. Ich war zufällig vor Ort.«

»Wie unschön für Sie. Würden Sie denn gerne wieder für die Kantonspolizei tätig werden?«

Moira warf Chiara einen schnellen Blick zu. Die nickte eifrig.

»Schon. Aber ich glaube, Commissario Ferrone wäre davon wenig begeistert. Außerdem fahre ich bald wieder zurück nach Deutschland.«

»Verstehe. Nun, wir werden sehen, was sich ergibt.«

Die Staatsanwältin hing ihr violettes Jackett auf einen Bügel, zwängte sich in einen der Overalls und krempelte die für sie viel zu langen Ärmel und Hosenbeine hoch.

Sie betraten den Sektionssaal. Es roch nach Desinfektionsmittel und darunter lag, kaum wahrnehmbar, ein süßlich-strenger Geruch wie von verdorbenem Hackfleisch. Boden und Wände waren weiß gefliest wie ein Zoogehege und wurden von mehreren Deckenlampen gleichmäßig ausgeleuchtet. Luca stand an einem der drei Tische, an deren Kopfenden sich Waschbecken befanden. Vermutlich, um das Blut direkt wegzuspülen.

Auf dem Tisch vor Luca lag die Tote aus dem See, jetzt ganz nackt. Moira versuchte, an ihr vorbeizusehen.

»Dottore, sehen Sie mal, wen ich mitgebracht habe«, sagte Chiara.

Luca drehte sich um. Erst wirkte er überrascht, dann lächelte er. Moira lächelte automatisch zurück. Sie fühlte sich plötzlich noch flatteriger, und das lag nicht an der bevorstehenden Obduktion.

»Hey, das ist aber eine nette Überraschung.« Luca begrüßte zuerst die Staatsanwältin, dann Chiara und Moira.

»Ich brauchte jemanden als Unterstützung«, sagte Chiara. »Ich hoffe, das ist in Ordnung.«

»Kein Problem. Wenn du dir den Anblick zutraust.« Er sah Moira fragend an.

»Wenn mir schlecht wird, kann ich ja rausgehen.« Die Tür öffnete sich und eine weitere Frau betrat den Saal. Luca stellte sie als seine Sektionsassistentin Raffaella Sartorius vor.

»Wir praktizieren das Vier-Augen-Prinzip«, sagte er. »Alle Beobachtungen müssen durch eine zweite Fachperson abgesichert werden.«

Chiara, die Staatsanwältin und Moira stellten sich so, dass sie nicht im Weg waren, und die Obduktion begann. Moira war erleichtert, dass die Leiche zunächst nur äußerlich begutachtet wurde. Dadurch erhielt sie etwas Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen. Der Körper der alten Frau wirkte zerbrechlich und schutzlos auf dem kalten Metalltisch. Jetzt fielen Moira auch die zahlreichen oberflächlichen Verletzungen auf, die die Haut der Toten überzogen. Luca umrundete die Leiche Schritt für Schritt und sprach seine Beobachtungen in ein Diktiergerät. Raffaella, ein Klemmbrett und einen Stift in der Hand, blieb immer dicht neben ihm.

»Wasserleiche, weiblich, 70 bis 80 Jahre alt. Etwa einen Meter fünfundfünfzig groß. Kleidung: hellblaues Nachthemd aus Satin mit Spitzeneinsatz am Ausschnitt, das mehrere Löcher und Risse aufweist. Hautfarbe weiß. Allgemeinzustand gut, leichtes Untergewicht. Keine Tätowierungen. Impfnarbe am linken Oberarm. Operationsnarbe am linken Knie. Pigmentflecken auf Händen und Unterarmen. Keine auffälligen Geburtsmale. Keine Schmuckstücke vorhanden. Zahnstatus: Nicht bestimmbar. Die dritten Zähne fehlen. Waschhaut an Handinnenflächen und Fußsohlen mittel ausgeprägt.« Luca nahm einen Finger der Leiche in die Hand und drückte ihn prüfend, dann zog er an einem dünnen Strang der rot gefärbten Haare. »Fingernägel und Haare fest. Abschürfungen an Knien, Bauch und Händen, vor allem an den Fingerknöcheln. Möglicherweise handelt es sich um Treibspuren.«

Luca neigte sich nun tief über den Oberkörper der Toten. »Jeweils ein kleines Hämatom an beiden Oberarmen, Durchmesser etwa fünfzehn Millimeter. Sonst keine Verletzungen erkennbar, Atemwege frei.« Er legte das Diktiergerät weg und drehte gemeinsam mit Raffaella die Leiche auf den Bauch. »Abschürfungen auch am gesamten Rücken, der Form nach Schleifspuren. Treibspuren unwahrscheinlich. Breites, schmales Hämatom quer über den unteren Rücken. Jeweils vier kleine Hämatome an der Rückseite der Oberarme, Durchmesser etwa fünfzehn Millimeter.« Luca richtete sich auf und wandte sich an seine Assistentin. »Ist dir noch etwas aufgefallen?«

Raffaella schüttelte den Kopf. »Du hast alles erwähnt, glaube ich. Da ist nur eine Sache … Die Frau kommt mir irgendwie bekannt vor. Das Gesicht habe ich schon mal gesehen, ich kann es nur nicht einordnen.«

»Das fällt dir hoffentlich noch ein. Den Zahnstatus können wir nicht bestimmen und ihre Narben sind nicht ungewöhnlich. Misst du bitte noch die Temperatur und die Körpergröße?«

Die Assistentin legte Klemmbrett und Stift beiseite, nahm etwas Längliches von einem Stahltablett und beugte sich über den Leichnam. Moira konnte nicht sehen, was sie genau tat, und war darüber auch ganz froh.

Luca blickte zu ihr und Chiara herüber.

»Wir beginnen jetzt mit der inneren Leichenschau. Das heißt, wir öffnen den Körper.«

Chiara räusperte sich. »In Ordnung.« Ihre Stimme klang belegt. Moira nickte nur.

Die sachliche Prozedur veränderte Moiras Blick auf den Leichnam. Er war kein Mensch mehr, sondern ein Beweisstück, eine Black Box, die möglicherweise das Geheimnis um den Tod der alten Frau preisgeben würde.

Chiara ging es wohl anders: Sie war blass und versuchte, an der Leiche vorbeizulinsen, ohne ganz wegzusehen. Aber sie hielt sich tapfer.

Luca untersuchte jedes Organ genau, dann entnahm die Sektionsassistentin Gewebeproben.

»Sie hat Wasser in der Lunge, aber es ist so gut wie keine Schaumpilzentwicklung in den Atemwegen erkennbar«, sagte sie. »Wydler- und Fritz-Zeichen ebenfalls kaum vorhanden. Das bedeutet, sie ist ertrunken und war dabei entweder schon bewusstlos oder wurde es, kurz nachdem sie im Wasser gelandet ist.«

»Danke dir«, sagte Luca freundlich. »Wir sind durch.«

Er zog sich die Handschuhe aus, warf sie in einen Mülleimer und desinfizierte sich die Hände. Dann kam er herüber.

»Der Todeszeitpunkt ist schwer einzugrenzen, aber wenn ich die Wassertemperatur berücksichtige, die in tieferen Schichten auch um diese Jahreszeit sehr kühl sein kann, hat sie zwischen zwei und vier Tagen im Wasser gelegen.«

Manzoni rieb sich das Kinn. »Sie ist also ertrunken. Wäre denkbar, dass sie absichtlich ins Wasser gegangen ist? Oder wurde sie gestoßen?«

»Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass hier ein atypisches Ertrinken vorliegt. Wie gesagt, war sie wahrscheinlich schon bewusstlos, als sie unterging. Oder jemand hat sie unter Wasser gedrückt. Sie hat Hämatome am Kopf, die sowohl von Schlägen als auch von einem Sturz herrühren können. Dann muss sie allerdings mehrfach aufgeprallt sein, bevor sie ins Wasser gefallen ist. Die kleinen Hämatome an ihren Oberarmen deuten darauf hin, dass jemand sie festgehalten hat – aber ob es sich dabei um einen Streit handelte oder einen Rettungsversuch, kann ich nicht sagen. Rätsel gibt mir das Hämatom auf, das sich quer über ihren Rücken zieht. Es könnte kurz nach dem Tod entstanden sein. Oder davor. Aber woher es stammt, ist unklar. Die Abschürfungen an den Händen könnten dadurch verursacht worden sein, dass der Körper durch Strömungen am Grund des Sees entlanggeschleift wurde, die am restlichen Körper von Felsen, an denen sie entlanggetrieben ist.«

Moira schauderte. Der Luganer See war bis zu dreihundert Meter tief.

Luca fuhr sich durch die Haare. »Ich nehme an, die Staatsanwaltschaft wird ein Todesermittlungsverfahren einleiten?«

»Wird sie.« Manzoni nickte energisch.

»Gehen wir in mein Büro.«

Sie folgten ihm in einen Nebenraum. Lucas Büro hatte zwei große Fenster. An der gegenüberliegenden Wand stand ein langer Schreibtisch, der mit Büchern und Aktenmappen überhäuft war. Irgendwo dazwischen stand ein Laptop. In einer Ecke gab es ein Waschbecken und auf einem Beistelltisch stand eine kleine Espressomaschine – natürlich nicht für Kapseln, sondern mit Siebträger. Moira musste lächeln, als sie das Plüschskelett bemerkte, das auf dem Besucherstuhl thronte.

»Geburtstagsgeschenk von der Belegschaft«, sagte Luca. »Ich wollte es eigentlich Alessio mitbringen, aber Valentina war der Ansicht, es sei zu gruselig für ihn.«

Moira fand überflüssig, dass er seine Frau und seinen kleinen Sohn erwähnte. Oder wollte er ihr damit etwas mitteilen?

Auch er schien sich unbehaglich zu fühlen, denn er sah auf den Boden, räusperte sich und fuhr in sachlichem Ton fort: »Ich stelle jetzt den Totenschein aus, mache das Sektionsprotokoll mit allen relevanten Informationen fertig und schicke es an die Staatsanwaltschaft.«

Manzoni und Chiara unterschrieben die schematische Zeichnung, auf der die Verletzungen eingetragen waren.

»Santo cielo, ich weiß, wer das ist!«, rief in diesem Moment Raffaella aus dem Sektionssaal. Sie wartete, bis alle um sie versammelt waren und sagte: »Das ist Livia, die Sängerin.« Sie blickte eindringlich in die Runde. »Il passerotto nella neve? La Vagabonda? Non ti lascierò mai?«

Moira sagten die Titel nichts, und auch Chiara machte ein ratloses Gesicht, aber Manzoni bekam sofort große Augen. »DIE Livia?«

Raffaella nickte eifrig. »Meine nonna liebt ihre Lieder und hat sie mir immer vorgespielt, als ich noch klein war.«

»Genau wie meine Mutter«, sagte Luca. »Die Nachricht, dass ihr Idol tot ist, muss ich ihr schonend beibringen. Offen gestanden wusste ich gar nicht, dass Livia noch am Leben war.«

»Sie hat sehr zurückgezogen gelebt, in einer Riesenvilla in Morcote. Angeblich hat sie seit fast zwanzig Jahren niemand mehr gesehen«, mischte sich Manzoni ins Gespräch.

Alle sahen sie an und sie wurde rot. »Bei meinem Zahnarzt im Wartezimmer liegen immer solche Klatschblätter aus.«

Moira verkniff sich ein Grinsen. In der Nähe einer Leiche lachte man nicht.

4

Wie sehr die Ereignisse sie mitgenommen hatten, merkte Moira erst, als sie die Tür der Casa Rusconi hinter sich zuzog. Einige Augenblicke lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen und schloss die Augen. Auf einmal erschien es ihr ganz und gar unwirklich, dass sie bei einem Leichenfund dabei gewesen war und an deren Obduktion teilgenommen hatte. Luca zu sehen, fiel in eine andere Kategorie, hatte sie aber ebenfalls angestrengt.

Sie schlüpfte nicht aus ihren Sandalen, weil sich unter dem Garderobenschrank eine rote Schwanzspitze bewegte. Luise lag wieder einmal auf der Lauer, um ihr Revier zu verteidigen. Schicksalsergeben tappte Moira in Richtung Küche, zuckte aber dennoch zusammen, als die Katze sich auf ihre Füße stürzte und ihre Krallen hineinschlug. Glücklicherweise hielt der breite Fußriemen den größten Schaden fern.

Mit der Katze am Fuß humpelte Moira in die Küche und fuhr schreiend zurück, weil direkt hinter der Tür eine Gestalt auf sie wartete. Dann erkannte sie, dass sie sich vor Lady Gaga erschreckt hatte, die jemand gemeinerweise vor dem Wandschrank platziert hatte. Moira schnappte nach Luft und schluckte. Sie sah sich nach Luise um, die sich auf dem Tisch in Sicherheit gebracht hatte und sich seelenruhig die Pfote leckte.

»Ihr fieses Volk«, rief Moira. Zur Antwort erhielt sie ein boshaftes Kichern, dann hüpfte Luna durch die Terrassentür herein.

»Na endlich! Ich hab Ewigkeiten da draußen gewartet, dass du nach Hause kommst!« Luna umarmte sie mit dem ihr eigenen Ungestüm, der ebenso unerwartet zutage trat wie ihre abweisende Seite. Sie war vor Kurzem fünfzehn geworden, und man wusste nie, welcher Gemütszustand in ihrem Inneren gerade vorherrschte.

Moira legte die Arme um ihre Tochter und sog deren Geruch nach Kokosshampoo und Puder ein. Das tat gut nach den Gerüchen in der Gerichtsmedizin, die ihr noch immer in der Nase klebten.

Aber schon löste sich Luna wieder von ihr und nahm ihre Hand. »Komm mit, ich muss dir was zeigen.«

Sie zog Moira hinüber ins Wohnzimmer. Bereits im Flur hörte man lautes Schnauben und Grunzen.

»Hat sich ein Wildschwein in den salotto verirrt?«, fragte Moira alarmiert.

Luna prustete. »So ähnlich!«

Moira stieß die halb geöffnete Tür ganz auf und wurde Zeugin eines denkwürdigen Anblicks: Auf dem Dielenboden lag eine Art Futon, darauf bäuchlings ihr Vater Ambrogio. Nelly hockte, gewandet in ihr buntes Batikkleid, auf seinem Rücken und bearbeitete mit ihren bloßen Füßen seinen Schulterbereich.

Sie hob den Kopf und strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. »Schön, dass du wieder da bist! Du kommst als Nächstes dran!«

Seit Nelly im Vorjahr im Thailand-Urlaub einen Massagekurs belegt hatte, war niemand in ihrer Umgebung davor gefeit, als Übungsobjekt herhalten zu müssen.

Moira sah auf die beiden hinunter. »Nein, danke. Und papà hatte erst vor Kurzem einen Schlaganfall. Ich weiß nicht, ob das das Richtige für ihn ist.«

»Doch, das ist großartig«, keuchte Ambrogio. »Endlich fühlt sich mein Rücken nicht mehr an wie ein Brett.«

»Dann ist es ja gut.«

»Wie war es denn noch?«, erkundigte sich Nelly, während sie weiter mit ihren Fersen Ambrogios Rücken durchwalkte. »Das hat ja Stunden gedauert.«

»Ich war noch bei der Obduktion dabei«, sagte Moira.

»Aber du bist doch gar nicht mehr bei der Polizei.«

»Ich war nie bei der Polizei«, korrigierte Moira sie. »Ich habe nur auf Honorarbasis als Aushilfsdolmetscherin gearbeitet.«

Ihre Mutter wischte das mit einer Handbewegung beiseite. »Immerhin haben sie dir zu verdanken, dass der Fall gelöst wurde. Haben sie denn schon herausgefunden, wer die arme Frau im See war?«

»Ja, allerdings eher zufällig. Eine Sängerin namens Livia. Sie war wohl in den Sechzigern und Siebzigern ganz erfolgreich.«

Ambrogio hob den Kopf. »Livia? DIE Livia?«

»Ich weiß nicht, ob es noch andere gibt. Sie hat hier im Tessin gelebt.«

Nelly hatte aufgehört, Ambrogios Nacken zu massieren, stieg jetzt von ihm herunter und stand auf.

»Mein Gott, dass sie so ein Ende nehmen musste.«

Moira sah zwischen ihren Eltern hin und her. »Was ist denn los?«

Ambrogio rappelte sich ächzend auf. »Wir haben sie gekannt. Und du hast sogar schon auf ihrem Schoß gesessen.«

Kurz darauf saß Moira mit ihren Eltern am Küchentisch und schenkte ihnen einen Grappa ein. Beide waren blass und schienen es nötig zu haben.

Ambrogio kippte sein Glas unzeremoniell hinunter und seufzte kummervoll. »Ich kann das immer noch nicht glauben.« Nelly tätschelte seinen Arm. »Ich auch nicht, mein Lieber. Einfach furchtbar, trotz allem.«

»Woher kanntet ihr Livia denn so gut?«

Ihr Vater räusperte sich. »Sie hat Deutschstunden bei mir genommen, um ihren Akzent loszuwerden. Die Plattenfirma wollte sie damals über das Tessin und Italien hinaus bekannter machen und hatte deutschsprachige Lieder für sie schreiben lassen. Zwei oder drei Mal hat sie uns hier besucht. Du warst zu klein, um dich daran zu erinnern, aber irgendwo gibt es noch ein Foto von dir, wie du auf Livias Schoß sitzt.«

»Das ist ja verrückt.« Jetzt war auch Moira nach einem Grappa.

»Angefangen hatte es, weil ich mich mit ihrer Cousine Augusta anfreundete«, sagte Nelly. Ihre Finger drehten das leere Glas. »Die war damals eine Art Assistentin und hat Livia überall hinbegleitet. Wir haben uns ganz banal auf dem Wochenmarkt kennengelernt, waren ungefähr gleichalt, und ich kannte kaum jemanden, nachdem ich hierhergezogen war.

Livia war damals schon richtig berühmt und meistens auf Tournee. In diesen Phasen blieb Augusta bei Livias Mutter, der es gesundheitlich nicht gut ging. Sie lebten in einem schönen Haus in Viganello. Das hatte natürlich Livia ihr gekauft. Dort habe ich sie ein paar Mal getroffen, wenn sie ihre Mutter besuchte.« Nellys Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. »Wenn Livia kam, brachte sie immer so einen Hauch der großen Welt mit. Sie war so mondän und selbstsicher – man wäre nie darauf gekommen, dass sie in bitterster Armut aufgewachsen ist. Augusta und ich waren ja deutlich jünger als sie und haben sie maßlos bewundert. Wir waren leicht zu beeindrucken.« Nelly lachte leise. Moira wurde bewusst, wie wenig sie vom Leben ihrer Mutter wusste.

»Hast du irgendwelche Infos zu Livias Familie?«

Nelly zuckte die Achseln. »Dein Vater kannte sie weit besser als ich.« Sie öffnete die Tür zum Garten und trat auf die Terrasse.

Ambrogio zog die buschigen Augenbrauen hoch und legte die Stirn in Falten. »Ich habe ihr nur Deutschunterricht gegeben. Über Persönliches haben wir nie gesprochen. Aber es trifft einen immer, wenn jemand stirbt, den man früher einmal kannte. Dann wird einem bewusst, dass man selbst bald an der Reihe ist.«

»Hattet ihr denn die ganze Zeit über noch Kontakt?«

Ambrogio blickte auf die Tischkante. »Nein, der ist im Sande verlaufen, nachdem die Deutschstunden beendet waren. Livia war ja meistens unterwegs, und deine Mutter und ich waren mit uns selbst beschäftigt. Ich hatte die Stelle in Zürich angenommen und ihr seid wenig später nach Deutschland zurückgegangen.«

Er sah Moira von unten herauf an und hob die Schultern. »Dass ich euch habe gehen lassen, ist das, was ich in meinem Leben am meisten bereue.«

Moira lächelte ihren Vater an und strich über seine Hand. »Aber jetzt sind wir alle hier zusammen, und das zählt doch auch.«

»Da hast du recht, tesoro.« Ambrogio stand auf. »So, ich muss mal meinen Abendrundgang zu den Bienenstöcken machen. Ich habe in den letzten Tagen einen Fuchs im Garten herumschleichen sehen.«

Er ging hinaus und Moira hörte ihn auf der Terrasse kurz mit Nelly sprechen. Dann kam ihre Mutter wieder herein.

»Ich musste diesen Schreck erst einmal verdauen«, sagte sie betont munter und lächelte ein wenig schief. »Dumm, ich weiß. Schließlich kannte ich Livia nicht einmal besonders gut.«

Sie holte ein Glas aus dem Buffetschrank, ließ sich am Spülbecken Wasser ein und trank in großen Schlucken.

»Was wurde eigentlich aus Augusta?«, fragte Moira.

»Zu der habe ich den Kontakt verloren, als du auf die Welt kamst. Danach hatte ich keine Zeit mehr, am Lido Cocktails zu schlürfen oder abends Essen zu gehen.«

»Du hast während der Schwangerschaft Cocktails getrunken?«

Nelly zuckte mit den Schultern. »Haben damals alle getan. Offensichtlich hat es dir nicht geschadet.«

»Pures Glück! Hast du wirklich nie wieder von ihr gehört?«

»Damals war es nicht so einfach, in Kontakt zu bleiben wie heute. Und ich war hier ganz schön eingespannt zwischen meinen Mutterpflichten, dem Haushalt und dem ganzen Rest.« Sie seufzte in Erinnerung daran.

Luna steckte den Kopf durch die Tür. »Alles in Ordnung bei euch?«

»Aber natürlich, mein Schatz!«, sagte Nelly in ihrem gewohnt munteren Tonfall und stand auf. »Weißt du was? Wir klettern jetzt auf den Dachboden. Da müssen noch die alten Platten von Livia sein. Und ein Plattenspieler. Hast du sowas überhaupt schon mal gesehen?«

»Nur im Internet. Wer ist Livia? Gibt es auf dem Dachboden noch mehr altes Zeug?«

»Wenn dein nonno nicht ausgemistet hat, was ich stark annehme, lagern da oben die Schätze von Generationen.«

»Super!« Luna hüpfte auf der Stelle und schoss dann die Treppe hinauf.

Nelly lachte. »So ein Irrwisch!«

»Gebt Bescheid, wenn ihr Hilfe braucht.«

Moira fütterte die Katzen, dann schenkte sie sich ein Glas Wein ein und setzte sich ins Wohnzimmer. Kurz danach war auch Ambrogio zurück.

»Dieser Fuchs hat meine Gartenschuhe zerbissen«, klagte er. »Jetzt wagt er sich schon bis ans Haus heran.«

»Müssen wir uns Sorgen um die Katzen machen?«

»Die wissen sich schon zu wehren.« Ambrogio ließ sich auf seinem bevorzugten Platz auf dem Sofa nieder, der schon ganz durchgesessen war.

Auf der Treppe polterte es, dann kamen Luna und Nelly herein, zwischen sich eine verstaubte Umzugskiste. Sie stellten sie auf dem Couchtisch ab. Nelly wischte mit dem Handrücken den Staub weg und öffnete den Deckel.

»Ich will!« Luna holte vorsichtig einen alten Reiseplattenspieler mit Deckel aus der Kiste, dann mehrere Langspielplatten.

»Wahnsinn, das Ding ist antik«, sagte sie ehrfürchtig.

»Ich wusste gar nicht, dass das bei mir herumsteht«, sagte Ambrogio.

Luna ließ sich von ihm erklären, wie das Gerät funktionierte und legte dann eine der Platten auf. Eine rauchige Frauenstimme, die gelegentlich ins Heisere kippte, erklang. Sie sang auf Italienisch etwas von einem Ausflug ans Meer. Moira nahm die Hülle und betrachtete sie. Auf der Vorderseite war eine sehr junge Frau abgebildet, die ein hellgrünes Minikleid trug und deren rotes Haar zu einer Außenrolle frisiert war. Ihre Augen hatte sie dick mit schwarzem Kajal umrandet.

Das Album trug den schlichten Titel »Livia«. Moira versuchte, die strahlende junge Frau mit dem gebrechlichen Körper auf dem Sektionstisch in Einklang zu bringen, aber es gelang ihr nicht. Konnte man überhaupt sagen, dass man nach fünfzig oder mehr Jahren noch derselbe Mensch war? Sie selbst hatte das Gefühl, sich allein in den letzten fünfzehn Jahren so stark verändert zu haben, dass sie mit ihrem früheren Ich fremdelte. Wenn sie zurückblickte, fand sie sich naiv, sorglos und sogar ein wenig oberflächlich. Wahrscheinlich lag es daran, dass man nicht wusste, was einem noch bevorstand. Die junge Frau auf dem Plattencover war sicher voller Pläne gewesen, ohne zu ahnen, dass sie eines Tages ihr Ende am Grund eines Sees finden würde.

5

»Kann ich reinkommen?« Moira steckte ihren Kopf durch die halb geöffnete Tür von Gabriellas Krankenzimmer im städtischen Krankenhaus von Lugano.

»Ich bin wach.« Gabriella Motta saß aufrecht im Bett, von mehreren Kissen gestützt. Moira erschrak über die Blässe und die dunklen Ringe unter den Augen der Gastwirtin. Doch sie ließ sich nichts anmerken und lächelte unbekümmert.

»Ich bin so froh, dass man dich endlich besuchen kann. Wie fühlst du dich?« »Wie man sich so fühlt, wenn man dem Tod knapp von der Schippe gesprungen ist«, sagte Gabriella trocken. »Tut mir wirklich leid, was dir passiert ist.«

Gabriella winkte ab. »Du kannst ja nichts dafür. Schreckliche Sache mit dem Toten im Eiskeller.« Moira zog den Besucherstuhl neben das Krankenbett und setzte sich. »Ja, furchtbar. Reden wir nicht mehr darüber, ich will das alles so schnell wie möglich vergessen. Wie läuft es in der Osteria?« »Momentan ist sie noch geschlossen.«

»Ihr müsst unbedingt bald wieder öffnen! Wenn die Gäste erst einmal weg sind, kommen sie so schnell nicht wieder.«

»Alle im Dorf wissen, was passiert ist. Die werden wiederkommen, spätestens wenn du zurück bist. Und mein Vater und Vittorio planen schon eine Weinprobe für nächstes Wochenende.«

Gabriella ließ sich in die Kissen sinken. »Immerhin etwas. Ich schaue, dass ich so schnell wie möglich wieder auf die Beine komme. Momentan bin ich schon völlig erledigt, wenn ich nur die paar Schritte bis zur Toilette laufe.«

»Das wird wieder.« Moira versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Bald stehst du wieder im Il Mulino hinter dem Tresen. Und bis dahin kümmern wir uns um den Laden, versprochen.«

Gabriella nickte. Sie wirkte erschöpft, daher stand Moira auf und verabschiedete sich.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle genoss Moira den weiten Blick auf das Dächermeer von Lugano, den See und die umliegenden Hügel, der wie immer jede Schwere von ihr nahm. Während sie auf den Bus ins Zentrum wartete, klingelte ihr Telefon. Chiara. Sie klang atemlos.

»Bist du beim Joggen?«, fragte Moira.

»Nein, wieso? Aber ich habe gute Nachrichten: Mein Vater will dich wieder als Dolmetscherin für die Mordkommission.«

Moira brauchte einige Augenblicke, um ihre Antwort zu formulieren. »Das ist schmeichelhaft, und prinzipiell habe ich auch Lust, aber ich kann nicht. Meine Tochter ist ja für die Ferien hier, und wir wollen alles Mögliche unternehmen.«

»Oh.« Man hörte Chiara die Enttäuschung an. »Das ist schade. Wir haben so gut zusammengearbeitet – das musste auch mein Vater einsehen. Und wir bräuchten unbedingt wieder jemanden im Team, der dolmetschen kann.«

»Dafür habt ihr doch genug andere Leute.«

»So viele auch nicht. Und die machen einfach nur ihren Job. Mit uns beiden war das anders. Wir haben uns prima ergänzt. Du siehst die Dinge aus einem ganz anderen Blickwinkel als ich.«

Moira knabberte an ihrem Daumennagel. »Reizen würde es mich schon. Meine Mutter war übrigens mit Livias Schwester befreundet.«

»Siehst du! Das meine ich. Bitte, ich hab keine Lust, mit jemand anderem zusammenzuarbeiten!«

»Gib mir einen Moment. Ich ruf dich zurück.«

Moira legte auf und wanderte vor dem Wartehäuschen hin und her, während sie überlegte, wie sie sich entscheiden sollte. Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, wäre ihr nichts lieber gewesen als wieder zusammen mit Chiara zu ermitteln. Sie hatte in menschliche Abgründe geblickt und war sogar ernsthaft in Gefahr geraten – aber sie hatte seit Jahren nicht mehr so viel Abwechslung in ihrem Leben gehabt.

Moira verschob die Entscheidung und fuhr nach Hause – das genau genommen das Zuhause ihres Vaters war, aber sie fühlte sich schon so heimisch im Dorf und der Casa Rusconi, als lebte sie seit Langem dort.

Luna war wohl auf ihrem Zimmer, sodass Moira in Ruhe mit ihren Eltern reden konnte. Die beiden saßen mit einer Flasche Weißwein auf einer alten Armeedecke im Garten. Nelly war barfuß, trug ein weißes Kleid und einen breitkrempigen Strohhut. Ihr Lachen, so klar wie das einer jungen Frau, mischte sich mit der Bassstimme von Ambrogio. Die beiden wirkten so vertraut miteinander, dass Moira unwillkürlich in einiger Entfernung stehenblieb und sie betrachtete. Ambrogio beugte sich vor und zupfte Nelly einen Grashalm vom Kleid, sie legte kurz die Hand auf seinen Arm. Dann stießen sie mit ihren Gläsern an und prosteten sich zu.

Moira fragte sich, wie wohl ihrer aller Leben verlaufen wäre, hätten ihre Eltern sich nicht getrennt. Wahrscheinlich hätte sie den Job in Lima nicht angenommen, Javier nicht kennengelernt, Luna nicht gekriegt. Auch Javiers Verlust wäre ihr erspart geblieben. Möglicherweise hätte sie einen ganz anderen Beruf ergriffen, ihren Jugendschwarm Luca geheiratet und ihr Leben hier im Tessin verbracht. Sie überlegte, ob dieses Leben besser gewesen wäre, wurde jedoch unterbrochen, denn ihre Eltern hatten sie entdeckt und winkten ihr zu. Moira setzte sich zu ihnen auf die Picknickdecke.

»Du hättest dir ein Glas mitbringen sollen. Hier.« Nelly hielt Moira ihr eigenes hin. Der Wein schmeckte kühl und frisch. Dem Pegel der Flasche nach zu urteilen, hatten ihre Eltern schon reichlich davon genossen.

Moira erzählte den beiden von Chiaras Angebot.