Der Schatten des Werwolfs - Cecilia Ventes - E-Book + Hörbuch

Der Schatten des Werwolfs E-Book und Hörbuch

Cecilia Ventes

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Beschreibung

Ungarn 1858. Máté Marusi kehrt nach 20 Jahren im Wiener Exil in die Heimat zurück und besucht seine Schwester Máriska und ihre Familie. Im Gepäck trägt er eine schwere Last, die geradezu Sinnbild ist für die Bürde, die ihm durch einen Fluch auferlegt wurde. Bald nach seiner Ankunft geschehen unerklärliche Dinge, Menschen und Tiere werden grausam getötet, was an die Opfer der "Bestie von Wien" gemahnt, doch Wien ist fern … Die feinfühlige Máriska ahnt, dass in der undurchsichtigen Familiengeschichte die Wahrheit über Mátés Schwermut zu finden ist. Ihr Ehemann Dominik, ein stolzer Graf mit politischen Ambitionen, steht dem Schwager abweisend gegenüber, denn er spürt die Gefahr, die von dem Bruder seiner Frau ausgeht. Bald schon spitzen sich die Ereignisse zu. Die Familie und auch das Hauspersonal geraten an ihre psychischen und physischen Grenzen, als sie von einem riesigen Untier bedroht werden. Und das ist nur der Anfang …

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Seitenzahl: 776

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Zeit:17 Std. 32 min

Sprecher:Brigitte Carlsen

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Der Schatten des Werwolfs

Der Schatten des Werwolfs

Inhaltverzeichnis

Prolog

Der Besucher

Die Ankunft

Der erste Abend

Schlaflose Nacht

Kurzreise nach Pest-Buda

Máté offenbart sein Leben

Unangemeldeter Besuch

Die Geschäftsreise

Dominik und sein Getreuer Amalrich Jodokus

Der verlassene Gutshof

Der nächste Morgen

Im Büro von Dominik

Die Verzweiflung greift um sich

Mátés Geständnis

Der alte Gutshof

Dominiks Anweisung

Die Nacht der Wahrheit

Der Fluch des Werwolfs

Die Nerven liegen blank

Dominik offenbart sich

Der Tag danach

Máriskas Geständnis

Dominik stellt Máté zur Rede

Heilige Worte

Zweifel schleichen sich an

Ungereimtheiten im verlassenen Gutshof

Dominiks Machenschaften

Schicksalshafte Verwandlung

Gefährliche Nacht

Die Flucht nach Pest-Buda

Verzweifelte Suche

Ein neuer Vertrauter

Dominiks teuflischer Plan

Die Ereignisse überschlagen sich

Spurensuche

Das Ziel rückt näher

Die Ermittlungen beginnen

Das Telegramm

Hinweissuche in Pest-Buda

Neue Erkenntnisse

Die Aussprache

Das geheimnisvolle Verschwinden

Erneute Aufregung

Alte Verbindungen

Ein unbekanntes Reiseziel

Licht im Dunkeln

Das Zusammentreffen

Innere Zerrissenheit

Der unausweichliche Weg

Der Verdacht

Entsetzen und Verzweiflung

Das Spiel beginnt

Das Schicksal schlägt Haken

Die Rückkehr nach Pest-Buda

Die Familie steht zusammen

Die Zeit drängt

Der Tag der Verwandlung

Tiefes Bedauern

Die Wahrheit bahnt sich ihren Weg

Ein kluger Schachzug

Die Rückkehr

Der geheimnisvolle Brief

Gefährliche Botschaft

Die Versuchung

Die Heimkehr

Eigene Wege

Wettlauf gegen die Zeit

Verführerisches Angebot

András kehrt zurück

Die letzte Chance

© 2020 DINIER verlag, Am Richtsberg 22, 35039 Marburg

[email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne ausdrückliche Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung. Alle Rechte vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage 2020

Umschlaggestaltung: Dream Design-Cover and Art

Korrektorat/Lektorat: Marlies Lüer und Elisabeth Dinier

Druck und Bindearbeiten: Bookwire. Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH. Kaiserstr. 56, 60329 Frankfurt am Main

Titel: Der Schatten des Werwolfs

Untertitel: Trügerische Machenschaften

eISBN: 978-3-947032-10-5

Auch erhältlich als Taschenbuch:

ISBN: 978-3-947032-09-9

www.cecilia-ventes.de

www.dinier-verlag.de

facebook.com/ceciliaventesschriftstellerin

Dieses Buch ist ein Roman. Die Charaktere und die Handlung sind von mir frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und keineswegs von mir beabsichtigt.

Cecilia Ventes

Prolog

Ein Mensch zu sein, von ganz anderer Natur, mit tief verborgenen Geheimnissen, bedeutet, einen langen Weg der Einsamkeit gehen zu müssen. Eine Andersartigkeit zu besitzen, die diesen Menschen dazu bringt, sich mehr und mehr zurückzuziehen, um den entgegengebrachten Vorurteilen zu entfliehen, bedeutet, das wahre Ich zu beschützen und nicht verlieren zu dürfen.

Eine unwillkommene, fremde Besonderheit mit in die Wiege gelegt zu bekommen, die den Verstand und den Körper zeitweise in ein anderes Dasein verwandeln, bedeutet, der Gewissheit nicht trauen zu können. Und wird dies alles zu einer Last, die die Seele langsam erdrückt, nennt man es einen Fluch.

Der Besucher

Der graue Februartag 1858 war immer noch von Nebelschwaden durchzogen, als die abendliche Dunkelheit sich von den Wäldern Szamárhegys heranschlich.

Máriska Utazási stand am Fenster des Wohnzimmers und schaute sehnsuchtsvoll auf den verschneiten Hof des Landguts. Der Winter zog sich dieses Jahr lange hin, denn das Eis und die tiefen Temperaturen wollten so gar nicht weichen. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit ihrem Bruder in jungen Jahren im Schnee herumtollte. Zwanzig Jahre war es nun her, dass er und ihre Mutter einfach das Haus verlassen hatten und nach Wien gegangen waren. Damals war er siebzehn und sie neunzehn Jahre alt gewesen. Und heute, am 26. Februar 1858, kam er endlich zurück nach Ungarn. Wie würde er wohl aussehen? Wie würde es sich anfühlen, vor ihm zu stehen und ihn in die Arme schließen zu dürfen? Mit dem langsamen Verabschieden der Helligkeit vom Tag kroch die Kälte in das Zimmer. Sie zog sich ihre Stola fester um die Schultern und schüttelte ihr langes, tailliertes Kleid mit den Stickereien am Rocksaum etwas auf. Das Pendel der alten Standuhr schlug 16 Uhr. Sie wurde ungeduldig. Ihr Blick schweifte in den liebevoll angelegten Garten, durch die alte Baumallee, die den direkten Weg zum kunstvoll geschmiedeten Eisentor am Grundstückseingang wies.

„Und? Sieht man schon jemanden kommen?“, fragte Orsolya Gombos, die Haushälterin und Köchin der Familie Utazási neugierig, während sie sich durch den Türspalt schob und aus ihren faltigen Augenlidern lächelnd zu Máriska sah.

Orsolya kannte Máriska und Máté schon von Kindesbeinen an. Die siebzigjährige, rundliche Frau, die aus Leidenschaft kochte und aß, war bereits im Dienst von Máriskas Eltern gewesen. Die ältere Dame steckte sich ihren geflochtenen Haarkranz zurecht. Die Frau mit den langen, schwarzgrau melierten Haaren war eine Art Ersatzmutter für die Hausherrin geworden.

Ein Seufzer entwich ihr, als sie ebenfalls aus dem Fenster in die verschneite Landschaft blickte. Aber bevor sich Wehmut über die Vergangenheit in ihr breitmachen konnte, zog sie hektisch das dunkelrote Kleid von Ihrer Ziehtochter zurecht, drehte diese einmal um die eigene Achse, fuhr mit den Fingern durch deren langes, welliges, schwarzes Haar und strich die dunkle Strickstola gekonnt faltenfrei.

„So ist es richtig. Du sollst ordentlich aussehen, wenn dein Bruder kommt und nicht wie ein zerknäulter Stofflappen“, erklärte sie ihr Herumgezupfe und wischte sich dabei eine kleine Träne von der Wange. Die Freude, dass er nun wieder zurückkam, wühlte sie auf.

Máriska legte liebevoll ihren Arm um die kleinere Frau, und so verharrten nun beide in Sehnsucht nach dem Besucher am Fenster.

Barsch und laut ertönte die Stimme von Dominik, als er in das Schreibzimmer eintrat.

„Nur weil ihr aus dem Fenster starrt, kommt die Kutsche nicht früher. Wir essen, wie jeden Abend, um halb sechs. Daran wird sich auch heute nichts ändern. Außer, dass die Speisen aufgrund unseres hohen Besuchs hoffentlich etwas opulenter und notgedrungen auch raffinierter ausfallen werden als üblich.“

Der zynische Unterton des Gutsbesitzers war nicht zu überhören.

Orsolya blickte zu Máriska, die beruhigend über deren Arm streichelte und sagte:

„Ich rufe dich, sobald ich das Klirren des Pferdegeschirrs höre. Ignoriere einfach, was er sagt.“

Die Haushälterin verließ das Zimmer, aber nicht ohne ihre Empörung über die Bemerkung des Hausherrn durch ein lautes „Tse“ kundzutun.

Dominik stellte sich neben seine Frau und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus den seitlich zurückgesteckten Haaren gelöst hatte. Er liebte ihre braunen, kindlich aufschauenden Augen und ihre feinen gleichmäßigen Gesichtszüge. Der groß gewachsene, schlanke Mann hatte seine edle Kleidung, die er üblicherweise für offizielle Anlässe im königlichen Freistaat trug, angezogen. Er wollte damit demonstrieren, dass dieser Besuch etwas Besonderes war, aber eben auch den Stand dieser Familie widerspiegeln. Der sogenannte Klein- oder Bauernadel hatte es in diesen Zeiten immer noch schwer, denn die politischen Rahmenbedingungen waren nach dem ungarischen Freiheitskrieg, der am 13. August 1849 mit der Kapitulation der Revolutionsarmee in Világos bei Arad geendet hatte, im Umbruch und hatten sich für ihn nicht zum Guten geändert. Trotzdem blieb Dominik Utazási den Gepflogenheiten seines Standes treu und legte weiterhin Wert auf seinen Adelstitel, auch wenn dieser nicht mehr die Anerkennung fand, wie vor dem Krieg. Das politische Geschick des Grafen, seine Bildung und das stolze Auftreten hatten ihn bereits frühzeitig in eine wichtige Position der Stadtvertretung gebracht. Das hatte ihm geholfen, Hab und Gut in diesen unruhigen Zeiten zu retten. Jetzt schon reichte sein Einfluss bis in die unterschiedlichen Kammern des Landes, die über Verordnungen entschieden, das Zuteilen von Geldmitteln sowie andere Angelegenheiten regelten. Für Dominiks Familie war das Einkommen gesichert und folglich das Gutshaus, wie auch der dazugehörende Grund und Boden. Allerdings beunruhigten ihn die stetig geführten politischen Diskussionen und Verhandlungen zwischen Ungarn und Österreich. Der Krieg war schon länger vorbei, aber die Versprechungen seitens Kaiser Franz Josephs I. aus dem Haus Habsburg-Lothringen, mussten noch erfüllt werden. Die politischen Lager waren bemüht, dennoch war das Verhältnis brenzlig und eine unüberlegte Geste oder Handlung würde genügen, um die Magyaren gegen Österreich wiederholt aufzubringen. Da war er sich sicher.

Máriska interessierte sich für diese politischen und diplomatischen Machenschaften wenig. Zu wenig – wie ihr Gemahl befand. Er sah es zwar gar nicht gerne, wenn sie sich in politische Angelegenheiten einmischte oder sich dazu in der Öffentlichkeit äußerte, aber er empfand den Austausch mit ihr über ihre Meinungen höchst interessant – zumindest in den eigenen vier Wänden. Es eröffnete ihm ganz neue Denkansätze. Er hätte sich eine Frau gewünscht, die bei offiziellen Anlässen schwieg oder ihm zustimmte, und zwar an den richtigen Stellen eines Gesprächs. Dies schien allerdings nicht machbar, und so mied er es, wenn möglich, sie bei öffentlichen oder politischen Treffen an seiner Seite zu haben. Die Äußerungen seiner Frau entsprangen selten dem strategischen Ansinnen seiner diplomatischen Arbeit oder dem Wissen über die aktuellen Geschehen, somit waren sie für ihn wenig hilfreich, zumindest in Bezug auf seine Karriere. Trotzdem liebte er sie, vielleicht gerade deshalb. Sie dachte und entschied mit ihrem Herzen und nicht mit dem Kopf. Für sie war deshalb alles viel einfacher, als es durch die Politik dargestellt und mit durchschaubarer Doppelmoral diskutiert wurde. In Dominiks Augen war ihre Welt klein, übersichtlich und auf liebevoller Naivität gegründet. Máriska schwieg oft über ihre Gedanken und ließ ihn in seinem Glauben über ihre Person. Dennoch liebte auch sie ihren Mann. Er war fürsorglich und kümmerte sich um das Wohl und Ansehen der Familie. Das beeindruckte sie, ebenso seine Entschlossenheit, wenn er etwas in Angriff nahm. Seine liebevolle und verletzliche Seite zeigte er selten, aber sie erkannte, wenn Verstand und Herz gegeneinander kämpften und letztendlich das Kalkül siegte. Die Familie ging auch ihr über alles, besonders ihre beiden Kinder stellten ein besonderes Glück für sie dar. Sie hielt ihrem Mann den Rücken frei und regelte alles im Haus und um den Hof.

Ein Poltern auf den Treppenstufen im Hausgang unterbrach die innige Zweisamkeit des Ehepaares.

„Erster!“, rief die sechzehnjährige Bianká laut, als sie die Tür aufriss und in das Zimmer sprang. Ihr siebzehnjähriger Bruder Bálint folgte gleich darauf, packte sie, rang sie nieder, setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und legte sie über seine Knie.

„Du hast geschummelt, dafür kriegst du jetzt eine Tracht Prügel!“, stellte er bestimmend, aber mit einem Lachen fest.

Bianká, die über dem Schoß ihres Bruders hing, verschränkte ihre Arme und fragte:

„Darf er das überhaupt, Mama?“

Der Graf fand diese albernen Spielchen in diesem Alter völlig fehl am Platz.

„Wir bekommen Besuch, also benehmt euch gefälligst entsprechend den Erwartungen und du, Bálint, besonders“, fauchte er und strich sich seinen feinen Schnurbart zurecht.

Bálint und Bianká stellten sich sofort aufrecht hin und schwiegen für ein paar Sekunden, dann platzte es aus Bianká heraus.

„Wann kommt denn nun unser Onkel? Ich bin ja so gespannt.“

„Wenn er da ist, traust du dich vor Ehrfurcht sowieso nichts zu sagen, sondern wirst rot, wenn er dich anspricht“, hänselte ihr Bruder.

„Das ist deine Erziehung“, kommentierte der Hausherr das unaufgeforderte Reden seiner Kinder und schaute dabei herablassend zu seiner Frau.

Máriska ignorierte dies und nahm ihre beiden Kinder in den Arm. Bálint hatte sich schon zu einem stattlichen jungen Mann entwickelt, der bereits einen Kopf größer war als seine Mutter. Der sportliche Sohn trat ganz in die Fußstapfen des Vaters, was den Ehrgeiz anging. Bianká beschäftigte sich lieber mit anderen Dingen als mit der Schule. Ihre Noten waren gut, aber sie bevorzugte es, im Hintergrund zu bleiben, wie es sich für ein anständiges Mädchen gehörte und es ihrem Vater auch gefiel. Er wollte eine gebildete Tochter, die sich allerdings nicht zu so einer aufmüpfigen Frau entwickeln sollte wie ihre Mutter, denn so ein Wesenszug minimierte das Interesse der heiratswilligen Männer aus gutem Hause.

Máriska gab ihren Kindern einen Kuss auf die Wange.

„Ich hoffe, dass er bald kommt. Nicht nur damit euer Vater pünktlich sein Essen bekommt, sondern ich endlich von meiner Aufregung erlöst werde.“

Sie musterte ihren Sohn und erkundigte sich besorgt:

„Geht es dir heute wieder besser, Bálint?“

Er nickte.

„Hoffentlich, diese Fieberschübe und Krämpfe beunruhigen mich doch sehr, auch wenn sie wohl in deiner Familie üblich sind“, sagte Dominik.

„Es scheint nur noch Pfuscher als Ärzte zu geben. Wissen nix, aber wollen das Unwissen auch noch bezahlt haben. Es freut mich jedenfalls, dass es dir heute wieder besser geht, mein Sohn. Hoffen wir, dass es so bleibt.“

Er lächelte seinen Nachkommen zuversichtlich an.

„Lasst mich bitte mit eurer Mutter allein. Wir haben noch etwas zu bereden“, befahl er dann. Die Kinder folgten und polterten in gleicher Weise die Treppe hinauf, wie sie vorher heruntergepoltert waren. Der väterliche Blick verriet erneut, dass ihm das nicht gefiel.

„Sei doch nicht so. Sie sind genauso gespannt und aufgeregt. Außerdem sind sie zu Hause und noch …“

Sie zögerte, es auszusprechen.

„ … Kinder. Wie schnell ist diese schöne Zeit vorbei.“

„Kinder? Wenn es wieder Krieg geben sollte, geht Bálint zum Militär …“, konterte er schroff und wurde gleich aufgeregt unterbrochen.

„Hör auf! Ich will das nicht hören! Mich interessieren diese verdammte Politik und das Feilschen um Macht und Länder nicht. Bevor ich mein Kind in einen Krieg ziehen lasse, sperre ich es lieber im Keller ein. Wir hatten das alles schon einmal und ich bin nicht erpicht darauf, dass es erneut geschieht. Nur, weil sich die sogenannten Staatsmänner nicht vernünftig unterhalten können, wird mein Kind nicht zum Mörder gemacht.“

Sie versuchte, sich wieder zu fangen, und drehte die Öllampe auf dem Tisch auf. Die Dämmerung hatte den Raum dunkel werden lassen. Sie wechselte das Thema. „Ich weiß, dass du von seinem Besuch nicht begeistert bist.“

Ein abfälliges, kurzes Lächeln zeigte sich auf Dominiks Gesicht.

„Er hat sich zwanzig Jahre nicht blicken lassen, hat immer irgendwelche Ausflüchte gefunden, nicht kommen oder uns empfangen zu können. Wieso ausgerechnet jetzt? Er lebt als gebürtiger Magyar in Wien. In einer Zeit, wo immer noch alle Ungarn gegen Österreich aufstehen sollten und alles im Umbruch ist, reist er aus sentimentalen Gründen, einfach mal so, ungehindert von Österreich nach Ungarn zu seiner Schwester. Die explosive Atmosphäre zwischen den Ländern scheint ihn nicht abhalten zu können. Findest du das nicht seltsam, Liebes? Gut, er hat dir auf deine Briefe immer geantwortet, aber dennoch nie von sich aus an dich geschrieben. Nicht mal zu deinem Geburtstag. Und den Tod deiner Mutter … da war er wohl zu angeschlagen, um diesen zeitnah zu erwähnen.“

Die Gräfin schaute ihren Mann trotzig an.

„Warum kannst du dich nicht einfach mal mit mir freuen? Wieso musst du immer alles hinterfragen? Vor allen Dingen politisch? Ich habe mich solange danach gesehnt, ihn wiederzusehen. Es gibt so viele Fragen, die er mir jetzt vielleicht beantworten kann. Warum ist Mama damals mit ihm weggegangen und nie zurückgekehrt? Wieso haben sich unsere Mutter und unser Vater trotzdem ab und zu getroffen und sich Briefe geschrieben? Warum sind Papa und ich nicht auch einfach nach Österreich ausgewandert?“

„Das hätte noch gefehlt!“

Sie pausierte und nahm die Hände ihres Mannes in ihre.

„Bitte Dominik, alles hat seine Zeit, und vielleicht ist jetzt die Zeit für seinen Besuch gekommen. Versuche, die Politik heute Abend aus dem Spiel zu lassen. Lerne ihn doch erst einmal kennen. Das muss ich doch auch, vielleicht ist er ja wie ein fremder Mensch für mich.“

„Davon gehe ich aus. Was weißt du denn schon über ihn?“

„Ich möchte trotzdem, dass er sich hier wohl fühlt, und zwar nicht als Gast, sondern als mein Bruder und als Familienmitglied. Kannst du das nicht verstehen?“

Dominik atmete tief durch. Er hatte kein gutes Gefühl, was diesen Besuch betraf. Die Umstände seiner Rückkehr, die lange Zeit seiner Abwesenheit, sein seltsamer Ruf in Wien, die lückenhafte und von Gerüchten umwobene Familiengeschichte der Márusis, die ihn schon bei seiner Frau gestört hatte, als er sie ehelichte, machten ihn skeptisch. Schweren Herzens nickte er, küsste sie auf die Stirn und entgegnete beim Verlassen des Zimmers:

„Ich versuche es, Liebes.“

Die Ankunft

Aus dem Fenster der Kutsche blickend, verfingen sich seine Gedanken in den vorbeiziehenden Bildern der Vergangenheit. Der aufgewirbelte Schnee der Kutschenräder, der Geruch der heimatlichen Luft und der Anblick der vertrauten Natur weckten Erinnerungen an seine Kindheit, die Familie, die Nachbarn und ließen das Gefühl von Geborgenheit in ihm aufkommen. Aber er spürte auch Angst vor dem stärker werdenden Heimatgefühl, das sich sowohl in eine schöne, aber auch schmerzliche Melancholie verwandelte.

„Ich sehe eine Kutsche. Er kommt! Er kommt!“, rief Máriska aus Leibeskräften durchs Haus.

Hastig lief sie vom Wohnzimmer zur Haustür und riss diese freudig auf. Rechtzeitig, bevor es dunkel wurde, fuhr die Droschke endlich in den Hof ein. Máté schaute vorsichtig aus dem Fenster, während er die Baumallee bewunderte, durch die sie trabten. Das Gefährt nahm eine ausladende Kurve und so konnte er rasch seinen Blick über das restliche Grundstück schweifen lassen. Das dreistöckige weiße Herrscherhaus mit kleinen Erkern an den Außenzimmern und prunkvollem Treppenaufgang thronte förmlich am Ende des Anwesens. Es war prachtvoller gebaut als es für eine Familie, die aus dem Kleinadel stammte, üblich war. Die großzügige Aufgangstreppe erhob sich über den gemauerten Bereich, wo die Kriechkeller untergebracht waren. Links, etwas abseits des Hauses, befand sich ein gemauerter Pferdestall.

Die Kinder sprangen die Stufen im Hausgang herab und stellten sich sogleich neben ihre Mutter, die bereits vor dem Gebäude auf der letzten Treppe stand. Aufgeregt wischte sich Máriska unauffällig ihre zittrigen und feuchten Hände an ihrem Rock ab. Der Hausherr schritt langsam mit einer beschwichtigenden Handbewegung vor seine Familie, um als erster den Gast begrüßen zu können. Orsolya zog, eilig aus der Küche kommend, den fünfundvierzig Jahre alten Haushelfer Ervin Abonyi hinter sich her. Keinesfalls wollte sie die Ankunft des jungen Herrn verpassen. Ervin stopfte sich, während er lief, noch die restliche Griebenpogatsche in den Mund, die er eigentlich in Ruhe, noch vor seinem Feierabend, hatte essen wollen. Er war ein gemütlicher Geselle. Nichts brachte den kräftigen, wortkargen Mann aus der Ruhe. Beide Angestellten platzierten sich oben an der Haustür.

Die Räder der Kutsche gelangten zum Stehen. Máté hörte sein Herz aufgeregt schlagen; dennoch bemühte er sich beim Aussteigen, einen gelassenen Eindruck zu machen.

Er trug einen Zylinder und hatte einen sehr edlen schwarzen Mantel an. Der gutaussehende und stolz wirkende Mann zog seine Kopfbedeckung ab und verneigte sich vor der Familie. Der Besucher war eine eigentümliche Erscheinung. Nicht unsympathisch, denn seine strahlend blauen Augen wirkten gütig, aber darin spiegelte sich auch eine befremdliche Tiefgründigkeit. Die etwas längeren, nach hinten gekämmten, dunklen Haare ließen ihn verwegen wirken. Herzlich und doch auf seltsame Weise distanziert lächelte er und löste, ohne es zu wollen, Faszination bei den Umherstehenden aus. Máriskas Freude raubte ihr die Fähigkeit zu sprechen, und so starrte sie ihren Bruder nur bewundernd an. Máté bemerkte dies und blickte mit einem verschmitzten Lächeln beschämt zu Boden. Dominik setzte gerade zur Begrüßung an, da ertönte ein lauter und gellender Freudenschrei. Orsolya tippelte so schnell sie konnte die Treppe herunter und fiel dem jungen Herrn weinend vor Freude in die Arme.

„Ich halte das nicht aus. Ich muss Sie umarmen, junger Herr. Ich habe Sie so viele Jahre nicht gesehen. Ich bin so glücklich, ich bin so glücklich.“

Beherzt zog sie ihn an sich und drückte ihn fest. Er erwiderte freudig die Geste und ließ die vielen Küsse der stämmigen Frau gerne über sich ergehen.

„Orsolya, immer noch so temperamentvoll und herzlich wie damals“, stellte er mit seiner angenehmen Stimme vergnügt fest.

Aufgeregt schob sie ihren verrutschten Haarkranz zurecht und bückte sich nach dem Zylinder, der dem jungen Herrn bei der überfallartigen Begrüßung aus der Hand gefallen war.

Máté gab ihr einen Handkuss.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals in förmlicher Weise angesprochen haben. Ich denke nicht, dass wir das jetzt einführen sollten, Orsolya, oder?“

„Du darfst dich wieder in die Küche scheren, Orsolya!“, unterbrach der Graf diese überschwängliche Glückseligkeit.

Die Haushälterin überhörte dies geflissentlich. Sie packte den Besucher am Ärmel und führte ihn direkt zu Máriska, um seine Hände in ihre zu legen.

„Das ist deine Schwester, junger Herr. Erkennst du sie wieder? Ist sie nicht eine hübsche Dame geworden?“, fragte die kleine Frau in einem sanften Tonfall und zog die Gräfin von der letzten Stufe auf den Boden.

Die Geschwister sahen sich an, und endlich schien der Bann der Zurückhaltung gebrochen. Máté küsste seine Schwester und beide umarmten sich so innig, als wenn sie sich nie wieder loslassen wollten.

Zufrieden lächelnd, klopfte die Haushälterin den Schnee vom Zylinder, den sie im Arm hielt, und fügte träumerisch hinzu:

„So, wie aus dir ein stattlicher Mann geworden ist. Ach ja, und es ist doch irgendwie wie früher, oder? Ich erinnere mich noch genau, wie ich dich …“

Mit einem Räuspern unterbrach Dominik den Redefluss seiner Hausdame. Er schäumte innerlich vor Wut. Diese mollige Haushälterin hatte sich einfach undiszipliniert vorgedrängelt und seine Stellung in diesem Haus missachtet. Aber seine Erziehung ließ ihn sein gutes Benehmen nicht vergessen. So schmunzelte er, wenn auch gequält, als Orsolya winkend an ihm vorbeilief und säuselte:

„Den Zylinder hänge ich schon mal auf und gehe natürlich auch sofort in die Küche, damit wir pünktlich das Essen auf dem Tisch haben, nicht wahr, Herr Graf?“

Die beiden Jugendlichen verkniffen sich ihr Lachen über Orsolyas Verhalten. Die alte Dame zwinkerte ihnen zu und zeigte unauffällig auf das andere Geschwisterpaar, das sich immer noch umarmte.

„Genau wie ihr zwei, wenn ihr euch gerade mal wieder leiden könnt“, flüsterte sie glücklich, doch erschreckte dann fürchterlich mit Dominiks ungehaltenem Ausruf:

„Küche!“

„Ist ja gut!“, kollerte sie zurück und verschwand.

Der Hausherr fand, dass dies nun der richtige Moment war, um sich für seine Begrüßungsworte Gehör zu verschaffen. Er streckte dem Angekommenen die Hand entgegen.

„Ich heiße Sie herzlich willkommen, Herr Schwager, und freue mich sehr, dass unsere Wege sich endlich kreuzen. Treten Sie ein, ich lasse Ihr Gepäck sofort auf das Zimmer bringen und stelle Ihnen meine Familie und die Bediensteten vor. Vielleicht machen wir das besser im Haus, es ist hier doch etwas kühl. Orsolya kennen Sie ja bereits, insofern kann ich mir diese Bekanntmachung schon sparen. Schlechtes Personal bekommt man halt vererbt, das Gute kann man sich selbst aussuchen.“

Niemand kommentierte seine Bemerkung, sondern man ging höflich darüber hinweg. Nur Bianká flüsterte ihrem Bruder zu:

„Hoffentlich hat sie das jetzt nicht gehört, sonst ist Papas Suppe heute Abend versalzen.“

Die Männer begrüßten sich freundlich, und die Familie begab sich in das Haus. Dominik ergriff die Hand seiner Frau und zog sie näher zu sich, als er seinem Schwager die Anwesenden vorstellte. Bianká fand ihren Onkel sehr interessant, aber aufgrund ihrer Schüchternheit traute sie sich gar nicht, ihn richtig bei ihrem Begrüßungsknicks anzusehen. Bálint verneigte sich vor seinem Onkel und gab ihm ebenfalls die Hand.

Der Kutscher war derweil vom Bock geklettert und begann die Koffer und das restliche Gepäck aus der Kutsche zu laden. Sein Gesicht war kaum zwischen seiner tiefsitzenden Mütze, dem Schal und dem hochgestellten Kragen seines dicken – zu großen – Mantels zu erkennen. Unauffällig hatte er die Familie die ganze Zeit beobachtet. Ervin nahm von ihm gerade einen Koffer auf der Treppe entgegen, als Máriska plötzlich wieder im Türrahmen stand.

„Möchten Sie nicht hereinkommen? Sie können sich gerne aufwärmen und etwas essen und trinken.“

Der Kutscher erschrak und drehte sich sogleich mit einem Kopfschütteln von ihr weg, um einen weiteren Koffer anzureichen.

Freundlich wandte sie sich ihm noch einmal zu.

„Aber Sie können wirklich gerne …“

„Lass ihn“, ertönte die Stimme ihres Bruders.

Er nahm seine Schwester an der Hand.

„Er übernachtet im Gasthaus und fährt dann morgen wieder zurück. Für ihn ist gesorgt. Er hat mich schon des Öfteren begleitet, deshalb weiß ich, dass er eher in Gesellschaft befangen ist und das Alleinsein vorzieht.“

„Auf Wiedersehen! Kommen Sie gut nach Hause. Gott möge Sie beschützen“, rief Máriska winkend dem Fuhrmann noch zu, bevor ihr Bruder sie in das Haus zog.

Der seltsame Kutscher verneigte sich dankend, ohne dabei aufzusehen. Ervin begutachtete die vier Koffer und die zwei Taschen, die er schon an die Tür getragen hatte.

„Was hat der junge Herr bloß in diesem einen Koffer, der ist ja schwer wie Blei“, richtete er die Frage an den Kutscher. Unverhofft stand Máté im Türrahmen und erwiderte:

„Ich helfe Ihnen nachher. Jetzt stellen wir meine Sachen vielleicht erst einmal im Gang ab.“

Beide Männer hievten das Reisegepäck in den Flur. Der Droschkenfahrer entfernte sich still und kletterte auf seinen Sitz. Genau in dem Moment, als Máté die Eingangstür eilig schließen wollte, traf sein Blick durch den Türspalt auf den des Kutschers, der ihn eindringlich und fordernd ansah. Máriskas Bruder verharrte kurz, bevor er sich abwendete und die Haustür ins Schloss fallen ließ. Er wartete den Peitschenknall ab, mit dem sich die Kutsche in Bewegung setzte. Dann atmete er tief durch.

Der erste Abend

Wie gewünscht, hatte die Familie pünktlich zu Abend gegessen. Die Teller waren leer und die Stimmung ausgelassen. Dominik mied Themen zur aktuellen politischen Lage oder der Familiengeschichte der Márusis. Man beschränkte sich auf Erinnerungen von früher, den Träumen und Plänen der beiden Kinder sowie amüsante Geschichten aus der Stadt Wien. Das Kaminfeuer knisterte vor sich hin und strahlte eine wohlige Wärme im Wohnzimmer aus. Üblicherweise wurde im Esszimmer gegessen, aber heute, an diesem besonderen Tag, hatte der Graf gewünscht hier zu speisen. Das Zimmer war größer und mit herrlichen, verzierten Möbeln bestückt. Besonders fielen der Schrank mit Büchern und eine Vitrine mit kunstvoll gearbeiteten Porzellanfiguren an der Längsseite des Zimmers gegenüber dem Kamin, auf. Die Tafel war aufwendig mit dem schönsten Geschirr gedeckt worden.

Bianká beobachtete ihren Onkel. Sie hing förmlich an seinen Lippen, wenn er Geschichten aus der Hauptstadt Wien erzählte. Auf Fragen von ihm antwortete sie nur verhalten. Ihr Bruder Bálint hingegen löcherte den Besucher mit Fragen zu dessen beruflichen Geschäften, dem Leben in Wien und vor allen Dingen dem Nachtleben und den Theatern. Dominik gab sich Mühe, seinem Schwager unvoreingenommen zuzuhören. Trotzdem entging ihm nicht, dass Máté hin und wieder in eine Art Nachdenklichkeit verfiel und dabei die Anwesenden auf seltsame Weise beobachtete.

Orsolya kam ins Wohnzimmer und war erfreut, die leeren Teller zu erblicken. Glücklich grinste sie in die Runde.

„Ich sehe, es hat allen geschmeckt. Wenn es recht ist, würde ich abräumen und nach einer kleinen Pause den Nachtisch bringen.“

Doch bevor sie einen Teller anfassen konnte, sprang der junge Herr auf und setzte sie auf seinen Stuhl.

„Ich bin gleich wieder da“, rief er in die Runde, während er aus dem Zimmer huschte. Die Anwesenden schauten ihm verwundert nach. Gleich darauf schleppte er einen großen Lederkoffer herein und stellte diesen ab. Er wandte seinen Blick zu seiner Schwester und fing, sichtlich bewegt, an zu reden:

„Ich habe lange über die Worte nachgedacht, die ich nach meiner Ankunft sagen werde und habe eine kleine Dankesrede verfasst, weil ich überhaupt empfangen und nach dieser langen Zeit, ohne nähere Erklärungen, kommen durfte. Aber ich muss gestehen, dass mein erster Besuch nach zwanzig Jahren und das erste Aufeinandertreffen mit euch allen und Ihnen, Herr Graf, sich ganz anders dargestellt und angefühlt hat, als die Möglichkeiten, die ich in meinem Kopf durchgespielt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es nach so vielen Jahren nicht doch etwas gibt, das uns trennt. Das machte mir Angst. Aber jetzt bin ich glücklich, dass ich diesen Schritt gewagt habe. Ich kann nur Danke sagen für den herzlichen und warmen Empfang. Danke, für die Gastfreundschaft und die Erlaubnis, Graf Dominik, hier sein zu dürfen. Ich weiß, dass gerade Sie mir sehr skeptisch gegenüberstehen. Ich kann nur hoffen, …“

Máté schaute in diesem Moment zum Hausherrn und nahm selbst das Zittern in seiner Stimme wahr.

„… dass ich Sie als Schwager nicht enttäuschen werde. Es ist schön, wieder im Kreise der Familie zu sein.“

Dominik hob sein Glas und prostete:

„Auf die Familie, lieber Máté. Ich denke, an dieser Stelle sollten auch wir beide auf eine vertraute Ansprache wechseln und uns beim Vornamen nennen dürfen.“

„Gerne, verehrter Schwager.“

Máriska schenkte auch Orsolya ein Glas Wein ein und die gesamte Familie stieß an.

„Ich habe für jeden ein kleines Geschenk mitgebracht“, kündigte der Besucher an und stellte hurtig sein Glas auf dem Tisch ab.

Er bückte sich, um den am Boden stehenden Koffer zu öffnen. Dominik überreichte er, fast unterwürfig, eine Flasche Wein und ein paar gute Zigarren sowie eine wertvoll gearbeitete Gürtelschnalle. Der Hausherr kommentierte dies wortlos durch das anerkennende Hochziehen seiner Augenbraue und einem Schmunzeln.

„Eine sehr gute Wahl, Schwager. Ich fühle mich geehrt. Vielen Dank.“

Dann griff Máté wieder in den Koffer und kniete sich vor Bianká. Er legte ihr zwei Stücke Haarseife in die Hände, die einen besonderen Duft verströmten und eine große Schatulle auf ihren Schoß. Bedächtig streichelte er über ihre schönen, langen Haare.

„Deine Mutter hat mir geschrieben, dass du wunderschöne Haare hast, die du gerne frisierst und in besonderem Maße pflegst. Das ist für dich, liebe Nichte.“

Verschämt roch sie mit einem Lächeln an den Seifen. Unsicher sah sie zu ihrem Vater, der ihr ermunternd zunickte und somit signalisierte, das Geschenk annehmen zu dürfen. Sie legte vorsichtig die Seife zur Seite und öffnete die wunderschöne Schatulle. Diese enthielt einen vergoldeten Kamm mit wertvollen Verzierungen, eine ebenso mit Edelsteinen verzierte Haarbürste, passend dazu zwei Steckkämme und einen Reif für die Haare. Die Augen seiner Nichte strahlten. Sie strich mit ihren Händen über die funkelnden Accessoires. Überrascht über den wertvollen Inhalt, starrten alle wortlos auf die Schatulle.

„Aber lieber Onkel, das ist doch viel zu kostbar für mich. Das hat Sie doch ein Vermögen gekostet.“

Er hielt einen Finger vor ihren Mund und sprach:

„Es kommt von Herzen und allein das ist wichtig. Ich hoffe, es gefällt dir.“

„Es ist wunderschön“, hauchte sie gerührt.

„Es ist vergoldetes Silber mit echten Steinen. Es wird dir sehr gut stehen. Solltest du, warum auch immer, einmal in Not geraten, kannst du es verkaufen. Oder irgendwann an deine Kinder weitergeben. Ich war so viele Jahre weg. Ich habe etwas gutzumachen.“

Sie fiel, ungeachtet ihrer üblichen Zurückhaltung, ihrem Onkel um den Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er erwiderte die Umarmung und blickte seine Nichte entzückt an. Biankás Gesichtszüge erinnerten ihn sehr an die seiner Mutter Boglarká, als sie noch jung gewesen war. Bálint war erheitert über die Reaktion seiner Schwester und mimte, wie sie ihre Haare demnächst kämmen würde. Máriska schubste ihn mit dem Zeigefinger an. Ihr Blick forderte ihn klar auf, dies gefälligst zu unterlassen.

„Jetzt bist du dran, mein lieber Neffe.“

Er zog ein Paar Reitstiefel und eine Kassette aus dem Koffer.

„Über dich habe ich gehört, dass du ein ausgezeichneter Reiter bist und schon viele Preise gewonnen hast. Nicht nur, dass deine alten Stiefel abgetragen sind, laut deiner Mutter dürften sie auch etwas eng geworden sein.“

Er hielt dem jungen Mann die Reitstiefel entgegen, der diese mit freudigem Blick entgegennahm.

Die Stiefel waren aus feinem Leder gearbeitet und hatten an der Seite Riemen mit Metallverzierungen. Dann übergab ihm sein Onkel die Schatulle.

„Ruhig Blut, es ist kein Haarschmuck.“

Der Neffe lachte.

„Hu, da bin ich aber beruhigt.“

In der Kassette war ein Schreibset aus Ebenholz und vergoldeten Metallteilen. Es bestand aus einem Brieföffner, verschiedenen Federn und einem Tintenfässchen. Auch Wachs und ein Siegel mit den Initialen von Bálint Utazási lagen im Inneren. Máté klopfte ihm auf die Schulter und meinte:

„Du bist ehrgeizig und wissbegierig. Schreibe und lerne, soviel du nur kannst.“

Bálint war überwältigt, bedankte sich und umarmte seinen Onkel voller Freude.

Dann wendete sich dieser mit einem tiefen Seufzer an Orsolya.

„Ich weiß, dass du sehr bescheiden bist und es vieles gibt, das man dir schenken könnte. Du würdest es dankend annehmen, aber es würde dich nicht wirklich glücklich machen. Also habe ich gegrübelt und mir gedacht, ich schenke dir etwas von sehr ideellem Wert, das du auch nutzen kannst und mit dem du etwas verbindest. Ich hoffe, es ist in deinem Sinne.“

„Oh, du hast auch an mich gedacht, junger Herr? Das wäre nicht nötig gewesen. Mir ist das wirklich unangenehm“, äußerte sich die Haushälterin beschämt.

Dominik nippte an seinem Glas und konnte sich einen zynischen Kommentar nicht verkneifen.

„Das stimmt. Es wäre wirklich nicht nötig gewesen.“

Máté ignorierte die Bemerkung und zog fünf wunderschöne Kleider aus dem großen Koffer. Diese breitete er liebevoll über den freien Stühlen am Tisch aus. Alle waren sehr fein gearbeitet und mit Spitzen verziert. Drei von ihnen stachen durch eine besondere Eleganz hervor, die anderen zwei waren ebenso hochwertig gewebt, aber traditionell geschnitten und eher für den Alltag gedacht.

„Sie gehörten einst unserer Mutter. Ich habe ein paar ihrer schönsten Kleider aus Sentimentalität aufgehoben. Die anderen habe ich verschenkt.“

Orsolya war gerührt und wischte sich die Tränen von der Wange.

„Boglarká war viel schlanker als ich. Ich befürchte, die Kleider werden mir gar nicht passen“, schluchzte sie.

„Mama hatte in den letzten Jahren etwas an Fülle zugelegt. Du kannst dir sicher sein, dass ich die Kleider nicht mitgebracht hätte, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass sie passen würden.“

Orsolya kämpfte gegen ihre Gerührtheit an, aber verlor. Ungehindert brach sie in Tränen aus und fiel dem jungen Herrn in die Arme.

„Jetzt geht das wieder los“, brummte der Graf.

„Bitte, Dominik. Es gibt Menschen, die sind sensibel“, forderte Máriska ihren Mann zur Zurückhaltung auf.

„Ja, genau. Ich bin sensibel, und mir ist das peinlich, wenn jemand so nett zu mir ist“, jammerte die Haushälterin in einem herzzerreißenden Tonfall.

Máté fühlte sich unbeholfen und wusste so gar nicht, wie er die alte Dame wieder freudig stimmen konnte. Nun erinnerte er sich wieder daran, dass Orsolya schon immer sehr mitfühlend und nah am Wasser gebaut war. So streichelte er ihren Arm, während er sein Taschentuch reichte.

„Orsolya, beruhige dich doch. Ich wollte dir doch nur eine Freude machen. So bringst du mich ganz in Verlegenheit.“

Wieder weinte sie, schnäuzte und klammerte sich an Máté.

„Ich freue mich doch. Ich freue mich sogar sehr …Vielen Dank. Ich bin nur so gerührt. Diese Kleider sind so wunderschön, und dass ich sie nun tragen darf, ehrt mich sehr.“

Dominik bemerkte mit einem garstigen Lachen:

„Wenn sie für jede Träne, die sie in diesem Haus schon vergossen hat, ein Gramm abgenommen hätte, könnte sie vor Leichtigkeit an der Zimmerdecke herumfliegen.“

Schlagartig verstummte die Haushälterin und setzte sich aufrecht auf den Stuhl, tupfte sich stolz ihre Tränen weg und schwieg. Sie schluchzte noch einmal und erklärte beleidigt:

„So wird man in diesem Haus gezwungen, seine wahren Gefühle zu unterdrücken.“

„Geht’s denn jetzt wieder?“, wollte der junge Herr wissen.

Die Getroffene nickte wehleidig. Bianká tätschelte ihre Hand und hielt sie tröstend fest.

Jetzt waren alle gespannt, was Máté für Máriska mitgebracht hatte. Er überreichte seiner Schwester eine große Schmuckschatulle und legte dann mehrere Stapel Briefe, die mit Stoffschleifen zusammengebunden waren, auf den Tisch. Die Gräfin ahnte, um welche Briefe es sich handelte und um welchen Schmuck. Bedächtig strich sie über die Sachen. Bedrückt sprach er:

„Ich hätte sie dir schon viel früher geben sollen. Es sind die Nachrichten von unserem Vater an unsere Mutter. Ich kenne sie alle auswendig. Vielleicht darf ich die Zeilen von unserer Mama an unseren Papa auch einmal lesen?“

Máriska nickte und fasste seine Finger.

„Selbstverständlich darfst du das. Denn auch ich habe alle aufgehoben, die ich fand, und in eine Schatulle gelegt.“

Er führte ihre Hand an den Schmuckkasten und öffnete ihn gemeinsam mit ihr.

„Ich habe nichts herausgenommen. Und tragen werde ich ihn mit Sicherheit auch nicht. Mama hat ihn mir zu Lebzeiten geschenkt, weil sie dachte, ich benötige ihn eines Tages, um den Inhalt zu Geld zu machen. Nie wurden Teile dafür gebraucht, deshalb sollen die Schmuckstücke dir gehören“, äußerte er sanft.

Máriskas Blick glitt über die wertvollen Ketten, Ringe, Ohrringe und Broschen.

„Das ist alles wunderschön – ein Vermögen. Woher hatte Mama so viel Geld? Von wem hat sie den Schmuck denn bekommen?“, fragte seine Schwester besorgt.

„Ein paar Erbstücke von unseren Großeltern, ein paar Dinge von unserem Vater, aber das meiste von mir, als ich es mir leisten konnte. Wir haben auch schlechte Zeiten gesehen und es gab Probleme, die verhinderten, meine Geschäfte so zu führen, wie es erforderlich gewesen wäre. Aber wie gesagt, ich brauche diese Sicherheit nicht mehr und will diese Erinnerungsstücke für solche Zwecke auch nicht nutzen. Es soll alles dir gehören.“

Orsolya gluckste und schluckte ihre Betroffenheit hinunter.

„Na also, es geht doch“, murmelte der Graf mit einem Grinsen, ohne zu Orsolya zu schauen. Máriska sah ihren Bruder an und umarmte ihn fest.

„Danke! Ich werde auf diesen Schatz achtgeben und ihn als Rückhalt für Krisenzeiten ansehen. Er gehört uns beiden.“

„Nein, es ist ein Geschenk für dich und deine Familie.“

Dominik begutachtete die auf dem Tisch liegenden Sachen und machte sich seine eigenen Gedanken darüber.

Die Gräfin klatschte auf einmal in die Hände.

„So, wegräumen, wir haben noch Nachtisch, der auf uns wartet.“

Sie stellte die Schatulle behutsam auf ein Schränkchen und legte die Briefe darauf. Bianká faltete mit Orsolya die Kleider wieder zusammen und trug diese in das Zimmer der Haushälterin. Auch Bálint räumte seine Geschenke weg.

Die Familie gestaltete sich einen angenehmen Abend. Máriska war klug genug, mit ihren Fragen bis zum nächsten Tag zu warten, wenn die Kinder in der Schule und Dominik bei der Arbeit waren. Als der Hausherr mit seiner Gattin und seinem Schwager endlich allein war, brannte ihm jedoch eine Frage unter den Fingernägeln.

„Jetzt wo die Kinder und die schreckhafte Orsolya im Bett sind, möchte ich dich noch etwas fragen. Du wohnst in Wien. Ich habe gehört, dort soll ein Irrer sein Unwesen treiben. Wieso schafft die Polizei es nicht, diesen Menschen zu fassen? Weißt du da mehr drüber? Seit Jahren geht das nun schon so, dass er auftaucht, wieder für längere Zeit verschwindet, dann wieder in Erscheinung tritt … und niemand kann ihn fassen. Wie ist so etwas möglich? Ist doch eine eigenartige Geschichte.“

Máté zuckte mit den Schultern.

„Ich habe auch davon gehört, und die Zeitungen sind hin und wieder voll davon. Dieser Mörder ist schon lange in der Gegend von Wien unterwegs, aber es gibt sehr viele Nachahmer, sodass nicht immer klar ist, ob es sich um die ein und dieselbe Person handelt, die ihr Unwesen treibt. Die Redakteure machen aus diesen traurigen Ereignissen phantasievolle Geschichten und Mutmaßungen, um ihre Zeitungen zu verkaufen. Wenn die Hälfte von dem stimmt, was geschrieben wird, wäre das schon viel. Warum interessiert dich das?“

Dominik nippte an seinem Glas Wein.

„Na ja, sollten sich unsere familiären Verbindungen festigen und die politische Lage uns nicht in die Quere kommen, bin ich mir sicher, dass meine Frau und die Kinder bestimmt gerne einmal nach Wien reisen würden. Aber wenn ich Angst haben müsste, dass jemandem von uns etwas zustoßen könnte, weil ein unbändiger Irrer seinem Treiben nachgeht, würde ich mir das doch sehr wohl überlegen. Gerade weil sich die Meldungen im Moment darüber häufen. Da macht man sich als Familienvater schon so seine Gedanken.“

Sein Schwager antwortete leise:

„Das kann ich gut verstehen.“

Der Graf bemerkte lächelnd:

„Und jetzt, wo ich dich kennengelernt habe, ist mir nicht wohl dabei, zu wissen, dass solch ein Mörder dir vielleicht nachts begegnet, wenn du wieder mal zu Hause in Wien im Dunkeln unterwegs bist. Wir alle werden zukünftige Nachrichten aus Wien sorgenvoller, wie auch interessierter aufnehmen als bisher.“

Schlaflose Nacht

Máté stand an der Waschschüssel und ließ sich noch einmal Wasser übers Gesicht laufen. Beim Abtrocknen sah er in den Spiegel und konnte so, am Fenster hinter ihm, kleine Eisblumen entdecken, die von der Nachttischlampe mit schummrigem Licht angeleuchtet wurden. Der wandseitige Vorhang hatte sich unglücklich hinter den aufwendig gearbeiteten Sekretär gehakt. Er zog sein geöffnetes Hemd aus und legte es rechts über die Jacke, die bereits über einem Stuhl hing. Es war ein langer Tag gewesen, aber jetzt erst fühlte er seine Müdigkeit in den Knochen, denn die wohlige Wärme des kleinen Ofens zu seiner linken knisterte beruhigend und entspannte seine Muskeln. Er ging zum Fenster und zog die dicken Vorhänge etwas zusammen, damit die Kälte abgehalten wurde. Einen Spalt ließ er offen, um den Himmel sehen zu können. Danach setzte Máté sich auf die Bettkante und ließ seinen Blick schweifen, während er seine Schuhe auszog. Es war sehr sauber. An der gegenüberliegenden Wand vom Bett, stand rechts von der Tür ein hüfthoher Wäscheschrank. Darauf befand sich ein kunstvoll bestickter Läufer mit akribisch aufgereihten Porzellanreitern. Ein Gemälde, welches ihre Eltern zeigte, hing darüber. Er beugte sich über das Bett, um seine Taschenuhr auf dem Nachttisch abzulegen. Der alte Schrank links neben der Tür zauberte ein kurzes Schmunzeln auf seine Lippen, denn es war ein Möbelstück aus seinem früheren Kinderzimmer. Die abgesprungene Ecke der Messingverkleidung am Schlüsselloch machte es unverkennbar. Es war still. Anders als in Wien bedeutete die Nacht hier Dunkelheit und nächtliche Ruhe. Keine Musik, die von einschlägigen Etablissements beim Öffnen der Türen durch die Straßen hallte, keine Hufgeräusche, die die Nachtschwärmer vom Theater zurückbrachten oder ähnliches. Es war einfach nur still. Wie lange würde er hier wohl verweilen? Er starrte lange und intensiv das Bild der Eltern an. Dann ließ er sich mit einem verzweifelten Seufzer rückwärts auf das Bett fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. Seine Gedanken rasten. Der Abend war gut gelaufen und er hatte ihn genossen. Schlimmer noch, er hatte sich nach langer Zeit wieder einmal zu Hause und aufgehoben gefühlt. Dieses Gefühl musste schleunigst wieder verdrängt werden.

Máriska kuschelte sich zu ihrem Mann ins Bett und gab ihm einen Kuss.

„Danke, Dominik. Ich weiß, dass du dich heute Abend sehr gezügelt hast.“

Er legte sein Buch zur Seite.

„Das kannst du laut sagen. Die teuren Geschenke, dieser immer wieder abgleitende Blick ins Nichts … und wie er dich ansieht. Und übrigens auch Bianká. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Du bekommst zwei Tage Zeit, dann will ich mehr über ihn wissen, und zwar von dir oder ihm. Wenn nicht, lasse ich Nachforschungen anstellen.“

„Hast du das nicht eh schon? Du wärst nicht der, der du bist, wenn du nicht schon alle Hebel in Bewegung gesetzt hättest, um etwas über ihn herauszufinden. Du kannst mir wahrscheinlich mehr über ihn erzählen, als ich dir.“

„Vielleicht.“

Mit diesem Worte löschte er seine Nachttischlampe. Máriska drehte ihre Lampe heller und meinte trotzig:

„Darf ich dann auch erfahren, was du weißt?“

„Ich würde jetzt gerne schlafen, Liebes. Lass uns in zwei Tagen reden“, gähnte er und tätschelte kurz ihre Hand.

„Du hast nichts herausgefunden. Jedenfalls nichts, was so spektakulär wäre, dass es sich lohnt, darüber zu reden, stimmt´s?“, versuchte sie, sein Desinteresse an diesem Gespräch zu erklären.

„Ich habe genug über ihn, um ein Buch schreiben zu können, aber ich will Fakten und keine Gerüchte, Geschichten oder Mutmaßungen. Deshalb warte ich ab, was meine politisch Getreuen über ihn herausfinden werden. Vielleicht wissen wir dann auch endlich, was er hier will. Schöner wäre natürlich, er würde einfach selbst etwas Relevantes über sich erzählen. Dieses abgedroschene Gefasel über die alten Zeiten ist doch Ablenkung. Sollte ich mich in ihm täuschen, werde ich mich für das, was ich von ihm gehalten habe, entschuldigen. Behalte ich recht und er ist ein Hochstapler, ein Betrüger, der sein Geld auf unrechtmäßige Weise erwirbt und jetzt pleite ist, bin ich gespannt, was er zu seiner Verteidigung und dem Grund seines Kommens vorzubringen hat. Ich will niemanden unter meinem Dach beherbergen, der kriminell und käuflich ist, herumschnorrt oder vielleicht sogar für Österreich spioniert und damit dem Ruf unserer Familie schadet. Es reicht mir schon, was über eure Familie Seltsames gemunkelt wurde. Ich hoffe, dein Bruder gibt keinen Anlass, dass diese Sachen alle wieder aufgerollt oder neu diskutiert werden.“

Seine Frau löschte trotzig das Licht.

„Manchmal frage ich mich, warum du mich überhaupt geheiratet hast, wenn dir dein Leumund so wichtig und meine Familie dir nur peinlich ist.“

Dominik reagierte darauf gar nicht mehr. Er kannte die immer wiederkehrenden Diskussionen um die Familiengerüchte und ihren getroffenen Stolz zur Genüge.

Der Mond streute sein Licht über die schneebedeckte, wilde Landschaft von Szamárhegy. Eine beißende Kälte schob die letzten Wolken am Himmel zur Seite und ließ den sternenklaren Himmel zum Vorschein kommen. Die gefrorene Oberfläche des Schnees glänzte zwischen den Silhouetten der kahlen Bäume wie Silber, und die Schatten der Zweige legten sich krallenartig auf den Weg zum Gutshof, während aus den Wäldern das Knurren und das Heulen der Wölfe zu hören war.

Máté wurde durch sein eigenes Schreien wach und schreckte hoch. Schweißgebadet und zitternd setzte er sich im Bett auf und rang nach Luft. Das Mondlicht schien ihm durch den kleinen Vorhangspalt ins Gesicht. Er rannte geradewegs zum Fenster und öffnete es hektisch. Er versuchte tief einzuatmen. In diesem Moment stürmte die Gräfin in sein Zimmer.

„Máté, was ist denn passiert?“

Sie hatte eine Lampe in der Hand und erfasste sofort, dass sein Bett leer war. Ihr Blick wanderte umgehend zum Fenster. Er hielt sich am Fensterbrett fest und sank in die Knie. Máriska eilte ihm zu Hilfe. Sie stellte hektisch ihre Öllampe auf dem Schreibtisch ab und nahm ihn in die Arme. Sein Nachtgewand war völlig durchnässt.

„Gott, was ist denn passiert? Du hast so fürchterlich geschrien.“

Dominik stand plötzlich im Türrahmen und fragte skeptisch:

„Soll ich einen Arzt holen? Brauchst du Hilfe, Schwager?“

Dabei entfachte er die Lampe auf dem Nachttisch. Máté schüttelte den gesenkten Kopf.

„Ich habe nur schlecht geträumt. Das ist alles. Es tut mir leid, wenn ich euch geweckt habe.“

„Mama! Was ist denn los?“, ertönte Bálints Stimme ängstlich vom oberen Stockwerk herunter.

Dominik murrte:

„Ich gehe zu den Kindern. Bleib du hier und kümmere dich um deinen Bruder!“

Als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf seltsame Zeichnungen, die unter dem Bett hervorschauten. Wirre Zeichnungen von Augen, die etwas anstierten und Hände, die sich ausstreckten, sowie verschwommene Gesichter mit aufschreienden Mündern. Schweigend ging er aus dem Zimmer.

Máriska streichelte ihren Bruder und sagte:

„Du musst das Nachthemd ausziehen und dich abtrocknen. Ich bringe dir ein anderes und überziehe dein Bett, sonst erkältest du dich.“

Sie schloss das Fenster, holte ein frisches Nachthemd und saubere Bettwäsche aus dem Schrank.

Mitfühlend betrachtete sie ihren Bruder.

„Willst du mir vielleicht etwas erzählen?“

Er wich ihrem Blick aus und griff nach der Bettwäsche.

„Lass, ich mach das schon. Du musst wegen mir nicht …“

„Was muss ich nicht?“, unterbrach sie ihn.

Auch sie entdeckte nun die seltsamen Bilder neben dem Bett und wollte sich danach bücken. Máté trat die Zeichnungen erschrocken unter den Nachttisch.

„Das sind nur Skizzen für Theaterszenen.“

Sie schubste ihren Bruder auf den Stuhl, zog ihm das Nachtgewand über den Kopf, drückte ihm ein Handtuch zwischen seine Hände und befahl in einem sehr mütterlichen, aber bestimmenden Tonfall:

„Los, abtrocknen! Du bist wie ein kleiner Junge, schlimmer noch. Glaubst du, ich bin blind? Du siehst aus, als wenn du ein Gespenst gesehen hättest. Schweißgebadet und völlig blass.“

Während er sich trockenrieb, überzog sie das Kopfkissen und das dicke Federbett neu. Ebenso das Laken wechselte sie in Windeseile.

Er zog sich gerade das frische Nachthemd an, da warf sie ihm ein Handtuch über den Kopf und rubbelte damit seine Haare trocken.

„Lass das! Ich bin keine sieben Jahre mehr alt und kann das selbst“, grummelte er. Sie zog das Tuch weg.

„Ist das auf dem Papier das, wovon du träumst?“

Er griff nach ihren Händen.

„Es tut mir so leid, Máriska. Ich wollte euch nicht erschrecken, aber ich … ich.“

Er wusste nicht, wie er es erklären sollte. Ein dicker Kloß machte sich in seinem Hals breit und seine Gefühle holten ihn ein. Den Tränen nahe versuchte er, den fordernden Blicken seiner Schwester auszuweichen.

„Ich möchte nicht, dass du wieder gehst. Hörst du? Im Gegenteil. Ich will, dass du bleibst und mir sagst, was dich bewegt und bedrückt. Ich bin deine Schwester, Máté. Du hast früher bei mir im Bett geschlafen, weil du Angst vor Gewitter hattest. Wir haben uns gegenseitig Dreck nachgeworfen, wenn wir stritten. Ich habe dir das Reiten beigebracht, dich getröstet, wenn du gefallen bist, und später haben wir im Herbst die Äpfel vom Nachbarn gestohlen und heimlich verspeist. Es brach mir das Herz, als Mama mit dir weggegangen ist und ich nicht wusste, warum. Ich gebe dich doch jetzt nicht wieder so einfach her. Wenn du in Not bist, dann sag mir doch bitte, was dich quält.“

Er nahm sie ganz fest in den Arm und schluchzte:

„Ich habe fürchterliche Träume, Máriska. Etwas jagt mich Nacht für Nacht. Ich versuche wegzulaufen, aber es folgt mir überall hin. Es hetzt mich durch die Dunkelheit über schmale Pfade, Felsen, Klippen, bis zu meiner völligen Erschöpfung. Dann stürzt es sich auf mich und nimmt mir die Luft. Oder es stößt mich in eine unendliche Tiefe. Ich habe deswegen schon viele Ärzte aufgesucht, aber alle sagen, es sind nur Träume und ich soll verstehen, was sie mir sagen wollen. Manchmal suchen sie mich zweimal in der Nacht heim. Ab und zu träume ich, dass ich zerschmettert auf den Klippen im Meer liege und die Wellen mich langsam und behutsam ins Wasser ziehen. Es ist ein wunderschönes Gefühl der Ruhe und des Friedens. Wenn ich wach werde, ist alles so, wie es vorher war.“

Máriska erschrak vor dem, was ihr Bruder da von sich gab. Sie zog ihn auf die Matratze und beide setzten sich. Er griff ihre Hand.

„Ich bin einfach unruhig, aber nicht verrückt. Das sind die Folgen meines Geschäftslebens und die Anspannung. Mach dir keine Sorgen.“

Máté schien auf einmal wie ausgewechselt und wieder sehr gefasst. Er begab sich ins Bett, lehnte sich ans Kissen und deckte sich bis zur Hälfte zu. Diesen Moment nutzte sie und griff besorgt nach den Zeichnungen unter dem Nachttisch. Er wollte ihr die Papiere wegziehen, aber sie hielt diese fest und musterte die wirren Gemälde. Diese Kunstwerke wirkten auf den Betrachter nicht nur angsteinflößend und bedrohlich, sondern man hatte das Gefühl, hineingezogen zu werden. Die darauf abgebildeten Augen bohrten sich unaufhörlich in die Seele und die Gedanken jener, die sie ansahen. Schlagartig legte Máriska die Bilder zur Seite.

„Du bist ein wahrer Künstler und so ein stattlicher Mann. Wirkst so stolz, so entschlossen, aber tief in dir drin, da scheint es ganz anders zu sein“.

In diesem Moment blickte er traurig zu ihr.

„Du hast ein Zuhause, Máriska. Menschen, die dich lieben und die du liebst. Einen Rückhalt, etwas, dass dir Freude schenkt und dich stark macht. Du hast so wunderbare Kinder und einen sehr besorgten Mann. Auch wenn er mich nicht sonderlich mag, ist sein Ansinnen doch immer auf dich und eure Familie gerichtet. All das habe ich nicht und werde es auch nie haben. Das macht mein Leben einfach unruhig und hinterlässt Sehnsüchte.“

„Na hör mal. Du bist doch noch im besten Alter. Ich weiß ja nicht mal, ob es jemanden in deinem Leben gibt, den du liebst.“

„Gibt es nicht.“

„Gab es jemand?“

„Hier und da.“

„Jetzt lasse dir doch nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen“, empörte sie sich.

„Nein, heute Abend nicht. Erzähle mir lieber eine Gutenachtgeschichte oder etwas aus deinem glücklichen Leben.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Nur weil es nach außen glücklich aussieht, muss es nicht so sein. Ich habe viele Sorgen, Máté. Mein Sohn kämpft mit einer Krankheit. Die Unstimmigkeiten zwischen Österreich und Ungarn könnten wieder zu einem Krieg führen. Das ist ein Thema zwischen Dominik und mir, das uns immer wieder streiten lässt und mehr und mehr trennt. Ich will meinen Sohn nicht in den Krieg schicken, um Menschen zu töten, die er doch gar nicht kennt, nur weil jemand sagt, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo das so sein soll. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass er erschossen werden könnte und ein Jahr später sich Politiker vielleicht die Hände reichen und den Sieg oder Frieden feiern werden. Obwohl noch das Blut unserer Kinder und unserer Männer an ihren Händen heruntertropft. Ich verstehe das alles nicht, und ich kann nicht nachvollziehen, warum wir Mütter das zulassen. Ein Haufen alter Männer bestimmt, wen wir zu lieben oder zu hassen haben, wen wir bekämpfen und wen nicht. Und was machen wir? Wir folgen diesen Anweisungen. Ich habe doch mit keinem Österreicher Streit! Warum wollen sie uns nicht einfach unsere Kultur und unser Leben lassen, sondern zwingen uns, unsere Heimat zu verändern? Irgendwann muss doch Ruhe einkehren. Wie oft wollen wir noch Streitigkeiten aus der Vergangenheit zum Anlass nehmen, um neue Kriege zu führen? Warum kann nicht alles so bleiben, wie es jetzt gerade ist? Je größer ein Gebiet wird und je mehr Menschen darin wohnen, desto schwieriger wird es, allen Ansprüchen gerecht zu werden, und die Folge wird sein, dass man versucht, alles zu vereinheitlichen. Wenn es Ländern schlecht geht, dann kann man ihnen doch helfen. Warum müssen wir sie gleich politisch oder wirtschaftlich erobern? Ich habe Angst um meinen Sohn, um meine Kinder und um meine ganze Familie – unbändige Angst. Ich kann mit niemandem darüber reden, weil ich mit meiner Meinung allein bin. Dominik wirft mir vor, dass ich keine Ahnung habe von Politik und Diplomatie; dabei will ich nur, dass es uns allen gut geht und Frieden unter den Menschen herrscht. Verstehst du das?“

Máté wischte irritiert seiner Schwester die Tränen von der Wange.

„Und jetzt komme ich noch und reiße vielleicht alte Wunden wieder auf und mache dir mit meinen Träumen zusätzlich Sorgen.“

Sie schüttelte den Kopf und guckte ihren Bruder eindringlich an.

„Ich habe keine Angst vor Sorgen oder Problemen, solange ich helfen kann. Aber ich werde wahnsinnig, wenn meine Liebe auf steinigen Boden fällt und sie nichts, aber auch gar nichts bewirkt. Oder mir der Einfluss und das Wissen fehlen. So wie bei einem Krieg oder einer Krankheit.“

Er nahm die Hand seiner Schwester und streichelte sie. Máriska kam näher und lehnte sich mit einem traurigen Lächeln an ihn.

„Ich brauche dich vielleicht mehr, als du es ahnst, weil du anders bist, Máté. Ich habe es an deinen Briefen gemerkt. Du richtest nicht gleich, du versuchst nur zu verstehen, was man schreibt und denkt. Auch wenn ich eine Familie habe, bin ich mit meinen Ängsten doch allein. Meine Kinder will ich damit nicht belasten … und Dominik … der findet, dass ich mich um andere Dinge kümmern soll.“

Die Geschwister schwiegen und verharrten für einige Minuten Schulter an Schulter. Máté war überrascht und schockiert. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass seine Schwester sich so einsam und hilflos fühlte. Sie stand auf und sammelte die Bettwäsche ein.

„Möchtest du vielleicht noch einen Tee zum Aufwärmen und Beruhigen? Ich bringe dir gerne einen.“

Er verneinte schmunzelnd.

„Du hast schon genug für mich getan. Gehe jetzt lieber zu deinem Mann. Ich denke, dass wir morgen noch genug Zeit zum Reden haben. Wir sollten jetzt erst mal schlafen und ich versuche, einfach nicht zu träumen.“

Sie knäulte die Bettwäsche unter dem Arm zusammen und nahm ihre Lampe.

„Danke, Máriska“, sprach er leise.

Sie drehte sich um und nickte.

„Keine Ursache.“

Leise schloss sie die Tür hinter sich. Er löschte das Licht und schaute zum Mond. Es brachte ihn völlig durcheinander, dass sie ihm das Gefühl gegeben hatte, gebraucht zu werden. Während seine Gedanken kreisten, schlief er ein.

Kurzreise nach Pest-Buda

So wie jeden Morgen traf sich die Familie pünktlich um viertel vor sieben am Frühstückstisch. Orsolya hatte bereits alles vorbereitet und den Kindern sowie Dominik die Brote und Obst zum Mitnehmen an den jeweiligen Platz gestellt. Da sie zuhause geschlafen hatte, wusste sie noch nichts von dem nächtlichen Zwischenfall.

Wie gewöhnlich fuhr Ervin um halb acht mit der Kutsche vor. Dominik gelangte so zur Arbeit und die Kinder zur höheren Schule nach Esztergom. Es war noch dunkel und kalt, aber es hatte nicht neu geschneit und so waren die Wege mit der Kutsche weiterhin gut befahrbar. Als Máriska ihren Mann und die Kinder draußen auf der Treppe verabschiedete, lief Máté schnell in die Küche.

„Orsolya, wie komme ich am schnellsten nach Pest-Buda?“

Die Haushälterin sah ihn erschrocken an und fragte:

„Was willst du denn da? Du willst doch nicht schon wieder abreisen?“

„Nein, ja doch, aber nur geschäftlich. Wie komme ich am schnellsten hin und möglichst heute wieder zurück?“

Máriska war unbemerkt in die Küche gekommen und richtete ihre Augen traurig auf ihren Bruder.

„Mit der Kutsche nach Esztergom und dann weiter mit dem Zug nach Pest-Buda. Eine schnellere Möglichkeit gibt es nicht. Du hättest eben mitfahren können. Was ist denn los?“

Aufmunternd erwiderte er ihren Blick und beteuerte:

„Mir ist da eine Idee gekommen und wenn du magst, kannst du gerne mitfahren.“

„Ich dachte, wir wollten uns heute unterhalten. In Ruhe und ganz allein“, befand sie enttäuscht.

„Das machen wir. Ich verspreche es dir, aber gerade deshalb muss ich vorher noch etwas erledigen, damit ich meinen Kopf frei habe“, sprach er tröstend.

Máriska blieb nichts anderes übrig, als es so hinzunehmen. Máté war derweil in seinem Zimmer verschwunden und tauchte erst wieder auf, als Ervin mit der Kutsche zurückkam. Somit konnte dieser gleich wieder drehen und den jungen Herrn zur Kreisstadt fahren. Dort gab der Reisende ein Telegramm auf und fuhr mit dem nächsten Zug nach Pest-Buda.

András Horvát saß im Kaffeehaus und las die Zeitung. Beim Umblättern blickte er hier und da über den Rand, um zu sehen, was sich auf den Straßen von Pest-Buda so abspielte. Er war etwa im gleichen Alter wie Máté. Allerdings war sein Teint etwas dunkler als der seines Freundes und die Gesichtszüge sehr markant männlich. Seine nach hinten gekämmten, tiefschwarzen, gewellten Haare und die skeptisch blickenden tiefbraunen Augen ließen ihn nicht auf Anhieb sympathisch wirken, sondern hatten etwas Beunruhigendes und gleichzeitig Respekteinflößendes. Seine großen Koteletten machten sein Gesicht hager. Er strich mit Daumen und Zeigefinger an seinem langen Schnurbart entlang. Endlich trat Máté ein. Hektisch hing er seinen Mantel und den Hut an die Garderobe. Ohne zu warten, bis jemand auf ihn zukam und ihn zu einem Tisch leitete, bestellte er gleich am Tresen der Kuchentheke einen Kaffee und stürzte dann förmlich auf seinen Bekannten zu. Als sich beide Männer gegenübersaßen und András in seiner Melange rührte, blickte dieser seinen Freund erwartungsvoll an.

„Ich brauche deine Hilfe, András. Nur noch einmal“, flüsterte Máté aufgebracht.

„Wieso habe ich das geahnt?“, stellte dieser, wenig verwundert, mit seiner tiefen Stimme unhöflich fest.

Empört konterte Máté:

„Wieso so vorwurfsvoll? Es geht immerhin um mein Leben, nicht um deins. Und nicht nur um meins, sondern auch …“

Sein Gegenüber beugte sich etwas über den Tisch und sprach:

„Auch um meins! Ich bin dein Freund. Schon seit Jahren. Ich sehe, wie du dich quälst, wie du leidest, wie dein Leben bisher fern des normalen Lebensstroms abläuft. Immer auf Rückzug bedacht, immer im Dunkeln, keine Frau beständig an deiner Seite, keine Freunde und immer auf der Flucht vor dir selbst. Glaubst du, mir macht das Spaß, dich so zu sehen und immer Angst haben zu müssen, dass du dir oder jemand anderem irgendwann etwas antun könntest? Das ist jetzt deine Chance, Máté. Du wolltest ein neues Leben und wir wissen jetzt, wie es gehen kann. Also, was hält dich nach so vielen Jahren Leid davon ab, den geplanten Weg zu Ende zu gehen? Das ist es doch, weshalb du dich mit mir treffen wolltest, oder?“

Die Bedienung brachte ein Kännchen Kaffee und goss ihn ein. Máté legte seine Hände an die wärmende Tasse.

„Ich benötige noch etwas Zeit. Nur ein bisschen, ich will sie einfach besser kennenlernen.“

„Wieso?“, keifte András und fuhr im gleichen Atemzug fort:

„Das macht es doch nur noch schlimmer. Du kannst dir jetzt kein Mitgefühl leisten, denk an ein befreites Leben. Es steht dir nach so langer Zeit zu.“

„Herr Gott, es ist meine Familie. Ich habe ein Gewissen“, schleuderte er seinem Freund bissig, aber leise entgegen.

„Das sagst du! Jahrelang hast du sie nicht treffen wollen. Hast dich zurückgezogen und nur auf Drängen deiner Schwester auf Briefe geantwortet – und jetzt? Jetzt ist es plötzlich deine Familie?“ András Augen spiegelten Unverständnis.

„Es war schon immer meine Familie, und warum ich sie nicht treffen wollte, weißt du nur zu gut. Der Grund, weshalb ich jetzt hingereist bin, ist … eher verwerflich“, befand Máté traurig und rührte seinen Kaffee um.

Nach einer kurzen Pause legte András seine Zeitung zur Seite, rückte seinen Stuhl näher an den Tisch und erklärte in ruhigem Tonfall: