Der Schatten in mir - Christian Milkus - E-Book

Der Schatten in mir E-Book

Christian Milkus

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Beschreibung

Wem kannst du vertrauen, wenn du selbst dein größter Feind bist? "Ich heiße Salya, und ein Schatten liegt auf meiner Seele. Ich verletze mich selbst, um diese Welt ertragen zu können." Eines Tages wird Schwarzbach, ein kleines Dorf mitten im Wald, von einem Diener der Finsternis heimgesucht. Bald darauf geschehen schreckliche Dinge: Wölfe werden zu Bestien, Menschen sterben. Hilflos muss Oberhaupt Kolen mit ansehen, wie seine Nachbarn den verfluchten Ort zu verlassen drohen. Die junge Salya vernimmt den Ruf der Götter. Zum ersten Mal in ihrem Leben verlässt sie ihre Heimat, um jenem Ruf zu folgen. Doch kann ausgerechnet sie ihrem Dorf helfen? Zantul, der Gott der Finsternis, hat sie längst als Bedrohung erkannt, und nicht einmal die Bewohner ihres eigenen Dorfes trauen ihr. "Seht euch ihre Wunden an! Sie ist von einem Dämon besessen, der sich an ihrem Blut labt!"

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Seitenzahl: 435

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Christian Milkus

Der Schatten in mir

1. Auflage 2016

Copyright © 2016 Christian Milkus

E-Mail: [email protected]

www.christian-milkus.de

facebook.com/ChristianMilkusAutor

Covergestaltung: Rena Hoberman/www.coverquill.de

Lektorat: Kathrin Brückmann/www.lekto-ratio.de

ISBN: 978-3-7427-7075-2

Inhaltsverzeichnis
Start
Kapitel 1 (Kolen)
Kapitel 2 (Salya)
Kapitel 3 (Kolen)
Kapitel 4 (Salya)
Kapitel 5 (Kolen)
Kapitel 6 (Salya)
Kapitel 7 (Kolen)
Kapitel 8 (Salya)
Kapitel 9 (Kolen)
Kapitel 10 (Salya)
Kapitel 11 (Salya)
Kapitel 12 (Kolen)
Kapitel 13 (Salya)
Kapitel 14 (Kolen)
Kapitel 15 (Salya)
Kapitel 16 (Kolen)
Kapitel 17 (Salya)
Kapitel 18 (Kolen)
Kapitel 19 (Salya)
Kapitel 20 (Salya)
Kapitel 21 (Kolen)
Kapitel 22 (Salya)
Kapitel 23 (Kolen)
Kapitel 24 (Salya)
Kapitel 25 (Salya)
Kapitel 26 (Salya)
Kapitel 27 (Kolen)
Kapitel 28 (Salya)
Kapitel 29 (Salya)
Kapitel 30 (Salya)
Kapitel 31 (Salya)
Kapitel 32 (Salya)
Kapitel 33 (Salya)
Kapitel 34 (Salya)
Epilog (Kolen)
Nachwort
Das Feuer in mir
Kontakt
Fan-Illustrationen
Danke

Seid gegrüßt, werter Reisender, und willkommen in Schwarzbach!

Ein fernes Königreich mit all seinen Besonderheiten erwartet Euch. Ihr erlebt die Geschichte aus der Sicht zweier Charaktere, die mir inzwischen sehr ans Herz gewachsen sind: Salya und Kolen. Ich konnte es kaum erwarten, sie endlich auf meine Leser loszulassen.

Ich hoffe, Ihr habt beim Lesen ebenso viel Spaß, wie ich ihn beim Schreiben hatte. Möge das Licht Euch Frieden bringen!

Kapitel 1 (Kolen)

Eine Stille herrschte im Wirtshaus, wie ich sie als Wirt noch nie erlebt hatte. Meine drei Stammgäste saßen am Tisch, jeder starrte in eine andere Richtung, keiner sprach ein Wort. Einem Fremden würde die angespannte Stimmung nicht auffallen. Er würde die Stille bei einem Krug Bier vor dem Feuer genießen, ohne sie zu hinterfragen. Doch mir entging nichts, denn ein guter Wirt kennt seine Gäste. Mir fiel auf, wie Tarlow mit den Fingern auf den Tisch tippte, wie Jack an seinem Bart spielte, wie Jorden bei jedem Jaulen des Windes zuckte und zum Fenster schaute. Tarlow schwelgte heute nicht in Erzählungen von früheren Zeiten, und Jack machte keinen seiner albernen Witze.

Draußen pfiff der Sturm und ließ das Türschild gegen das Haus hämmern. Immer und immer wieder, als wollte der Wind das Holz zermürben. Drinnen knisterte das Feuer, ab und zu stellte jemand seinen Krug ab, rülpste oder hustete. Diese Geräusche waren mir vertraut, ebenso der Geruch von Bier, der mein Wirtshaus wie jeden Abend erfüllte. Das Vertraute beruhigte mich, versicherte mir, das Leben im Dorf ging weiter, wir waren noch hier, alles war wie gewohnt.

Aber ein Wirtshaus ohne die Stimmen seiner Gäste ist wie ein Körper ohne Seele. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Krüge zu spülen und die drei Kumpane zu beobachten. Tarlow, sonst nie um Worte verlegen, hielt heute seinen Mund geschlossen. Jack, dessen Augen sonst vor Übermut zu funkeln schienen, brütete dumpf vor sich hin. Letztlich war der junge Jorden derjenige, der Worte fand – ausgerechnet Jorden.

»Wir müssen uns der Wahrheit stellen!« Er stand auf und gestikulierte wild mit den Händen. »Wir können uns nicht ewig Bier in den Rachen schütten, als wäre nichts geschehen. Ein Narr, wer die Zeichen ignoriert!«

Was fürchtet man mehr: Wenn der geschwätzige Mann schweigt oder wenn der schüchterne Junge redet? Für mich zweifellos Zweiteres, denn selbst die schlimmste Schnattergans hält ab und zu die Klappe. Doch sei wachsam, wenn der Schweigsame spricht, denn für ihn trägt jedes einzelne Wort ein großes Gewicht!

Jorden schaute zu Tarlow, zu mir, zu Jack. Weder begegneten Tarlow und Jack seinem Blick noch antworteten sie. Sie starrten in ihre Krüge.

»Was sollen wir deiner Meinung nach machen?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht, aber in unserem Dorf sind wir nicht mehr sicher.«

»Nirgends sind wir sicherer als in Schwarzbach. Hier haben wir alles, was wir brauchen, und der Wald um uns herum schützt uns vor Feinden.«

Er senkte seinen Blick wieder, dann sagte er leise: »Vor so etwas kann uns niemand schützen.«

Ich sah die Furcht in ihren Augen. Wie gerne hätte ich sie beruhigt, mit ihnen über Frauen, Bier und Krieg gesprochen – wie jeden Abend. Aber auch mir blieben die Worte auf der Zunge liegen. Jeder von uns hatte es mit eigenen Augen gesehen, und wir alle kannten die Geschichten.

»Vielleicht sollten wir die Beutel packen und verschwinden«, fügte Jorden hinzu.

Ich zuckte zusammen. Das war das Letzte, was ich hören wollte. Niemals durfte sich dieser Gedanke in den Köpfen der Dorfbewohner festsetzen.

»Wir können nicht einfach gehen«, sagte ich. »Wo sollen wir wohnen, wo sollen wir arbeiten?«

Jorden schaute mich kurz an, dann wich er meinem Blick aus. Er hatte keine Antwort für mich. Stattdessen setzte er sich wieder hin und klammerte sich an seinen Krug.

»Wir sollten zu den Göttern sprechen und ihren Beistand erbitten«, murmelte Tarlow. Es wurde verdammt noch mal Zeit, dass er seinen Mund öffnete.

»Wofür sollen wir beten?«, fragte Jorden. »Die Götter haben uns noch nie geholfen.«

»Hör auf, über die Götter zu lästern!«, schimpfte Tarlow mit erhobenem Zeigefinger und gerötetem Gesicht. »Zeig gefälligst mehr Respekt!«

Jorden sagte nichts, auch Jack und ich blieben ruhig. Wenn es um die Götter ging, duldete Tarlow keine Widerworte.

»Kaum eine Frau gehabt, schon packt dich der Übermut«, fügte Tarlow brummelnd hinzu.

Doch auch darauf antwortete Jorden nicht. Reglos saß er auf seinem Stuhl und starrte durch alles hindurch ins Leere. In welcher Gedankenwelt er sich wieder verloren hatte, vermochte niemand von uns zu sagen.

Der Abend schritt voran, und das Bierfass leerte sich. Wenn der Wind aufjaulte, noch lauter als zuvor, klapperte das Türschild mit wachsender Kraft. Zwischen den Windstößen jedoch war es so leise, dass ich jeden Einzelnen von uns atmen hören konnte. Ich nutzte die Stille und warf einige Walnussschalen in den Kamin. Das Feuer knisterte und sprühte Funken, die sich über den Boden verteilten. Ich sah ihnen zu, wie sie dort glühten, bis einer nach dem anderen erlosch.

Plötzlich durchbrach etwas die Stille. Von draußen drangen ungewohnte Geräusche ins Wirtshaus. Ein Pferd scharrte und wieherte. Tarlow und Jorden schauten abrupt auf, Jack hatte gerade seinen Krug gehoben und verhielt die Bewegung vor dem Mund. Ich wollte zur Tür rennen und nachsehen, aber ich widerstand dem Drang und blieb wie erstarrt, als hielte mir jemand ein Messer an die Kehle. Wir tauschten Blicke aus, jeder von uns wusste, was das bedeutete: Jemand war in unser Dorf geritten und stand nun direkt vor meinem Wirtshaus! Fremde verirrten sich nur selten in unser Dorf, erst recht nicht mitten in der Nacht. Ich blickte mich um. Hinter der Theke lag ein massives Holzscheit, doch was würde es mir nützen, zückte ein Schurke sein Schwert und hielte es mir an den Hals?

Wir hörten ein dumpfes Geräusch, als wenn jemand von seinem Pferd sprang. Draußen wurde nicht gesprochen, anscheinend hielt sich nur eine einzelne Person vor dem Wirtshaus auf. Jedoch hörten wir auch Metall klingen – kein beruhigendes Geräusch für unbewaffnete Bewohner eines kleinen Dorfes. Wir starrten auf die Tür, und ich merkte, wie mein ganzer Körper verkrampfte, vom Kopf bis zu den Fußzehen.

Eine Weile hörte ich nichts; der Fremde band wohl sein Pferd an, danach öffnete sich endlich die Tür. Im selben Moment fegte ein heftiger Windstoß durchs Dorf und blies einen Schwall kalte Luft herein. Die Umrisse einer Person zeigten sich in der Tür. Ich kniff die Augen zusammen, konnte aber gegen die Dunkelheit nichts erkennen.

Der Fremde trat mit schwerem Tritt seiner schwarzen Stiefel ein. Er trug einen schwarzen Mantel, eine Kapuze verhüllte das Gesicht. Als die Falten des Umhangs den Blick auf sein Kettenhemd freigaben, blinkte ein Schwert an seiner Seite auf, mit einer Klinge so lang wie mein Arm. Aber mein Blick blieb nicht auf seiner tödlichen Waffe haften, sondern wanderte zu seinem verhüllten Gesicht. Die Augen waren es, die ich sehen wollte, nicht sein Kettenhemd, nicht sein Schwert und nicht das Wappen auf seinem Mantel.

Als der Fremde einen weiteren Schritt in den Raum trat, fiel die Tür hinter ihm, vom Wind getrieben, mit lautem Knall ins Schloss. Ich wich zurück, auch meine Gäste suchten den Abstand. Der Neuankömmling nahm seine Kapuze ab. Das Gesicht eines jungen Mannes mit blondem Haar und grünen Augen kam zum Vorschein. Ich schaute mir die Augen ganz genau an und konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Ich atmete tief durch. Es mochte töricht sein, die Angst abzulegen, wenn ein Fremder mit Kettenhemd und Schwert eintrat, aber er hatte normale Augen, und nur das schien für mich von Belang zu sein.

Der Blick des Fremden wanderte zunächst zu mir hinter die Theke, danach zum Tisch, an dem meine Gäste saßen. Jorden schaute weg, Tarlow und Jack erwiderten vorsichtig den Blick.

»Willkommen in Schwarzbach!«, sagte ich. »Ich bin Kolen, der Wirt. Was kann ich für Euch tun?«

Der Mann zögerte kurz, ging dann in meine Richtung und setzte sich auf einen freien Stuhl in der Nähe der Theke. Bei jedem Schritt klapperte das Schwert an seiner Seite. Er schaute mir in die Augen. »Ein Bier und ein Zimmer für die Nacht!«, sagte er mit fester Stimme. Er zeigte mit seinem Kopf auf den Kessel. »Und etwas von dieser Suppe! Aber nur, wenn sie noch heiß ist.«

Ich erwärmte den Rest Zwiebelbrühe, dazu reichte ich Brot und Bier. Der Fremde aß hastig, schlürfte und rülpste. Während er aß, schaute er sich mehrmals um. Ich hatte das nicht erwartet, aber er spürte wohl, dass etwas nicht stimmte. Ihm war die Stimmung im ›Gerupften Huhn‹ nicht geheuer. Tarlow, Jack und Jorden hatten kein Wort gesprochen, seitdem er eingetreten war. Krüge, Schüsseln und ein ungeöffnetes Kartenspiel standen oder lagen unberührt vor ihnen auf dem Tisch.

»Was verschlägt Euch in unser Dorf, Reisender?«, fragte ich den Fremden.

»Bin auf der Durchreise. Will irgendwo anheuern, in Lloyandasburg oder wo auch immer meine Reise mich hinführt. Hauptsache, die Belohnung glänzt und klimpert.«

»Seid Ihr ein Söldner?«

Er nickte, schaute aber nicht hoch und aß weiter.

»Woher stammt Ihr?«

»Aus dem Norden, aus der Nähe von Cantermire.«

Ich merkte auf. »Gibt es Neuigkeiten aus dem Norden? Wie ergeht es Lord Deegan?«

»Sein Sohn wurde im Bett mit seinem Knappen erwischt.« Er schaute hoch und grinste. In seinen Zähnen klaffte eine große Lücke. »Das Erbe Cantermires kann der Junge jetzt vergessen.«

Mehr erzählte der Fremde nicht, er aß seine Suppe bis zum letzten Tropfen auf. Danach wischte er sich mit der Hand den Mund ab und schaute sich erneut um. Was dachte er? Würde er zum Schwert greifen, jetzt, wo er einen vollen Magen hatte?

»Wo bin ich?«, fragte er. »Dieser Ort ist auf der Karte nicht eingezeichnet.«

»Ihr befindet Euch in Schwarzbach«, sagte ich. »Wir zählen nur zweiundsechzig Einwohner, die wenigsten kennen uns.«

»Wie kann ein solch kleines Dorf überleben?«, fragte er ungläubig.

»Nun, der Boden ist fruchtbar, und der Wald ist reich an Wild und nahrhaften Früchten. Außerdem hilft hier jeder jedem. Hat der Bauer zu viel Arbeit, nimmt der Schneider einen Pflug in die Hand. Ist die Handwerkerin überfordert, greift der Wirt sich einen Hammer.«

»Und wenn Ihr angegriffen werdet?«

Ich schaute kurz zu den anderen herüber, keiner schaute zurück. »Im Ort leben einige ehemalige Ritter«, sagte ich. Eine Lüge. Bei uns lebte nur ein einziger ehemaliger Ritter. Zwar konnte dieser es mit drei Soldaten gleichzeitig aufnehmen, aber ein bewaffneter Fremder musste nicht alles über unser Dorf wissen.

»Vor Schwarzer Magie kann uns auch kein Ritter schützen«, sagte Tarlow. Es waren seine ersten Worte, seit der Fremde angekommen war.

Der Krieger hob seine Augenbrauen und schaute Tarlow an. »Schwarze Magie?«

Ich versuchte, Tarlows Blick zu fangen, wollte ihm andeuten, nichts zu sagen, doch Tarlow bemerkte mich nicht.

»Sprecht, ist Euch etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Ihr in unser Dorf gekommen seid?«, fragte er den Fremden.

Der nickte. »Nun, ein wildes Pack Wölfe hat mich angegriffen. Das ist ungewöhnlich, Wölfe scheuen vor Menschen. Musste sie mit dem Schwert vertreiben.«

»Das Rudel kennen wir«, sagte Jack. »Sie schleichen nachts durch den Wald, inzwischen sogar auch in unser Dorf hinein. Sie wollen sich unsere Vorräte krallen.«

»Zurzeit laufen weniger Beutetiere als sonst im Wald herum«, erklärte ich. »Die Wölfe sind hungrig, und das macht sie mutig. Das ist alles andere als ungewöhnlich.«

Der Fremde zog die Augenbrauen zusammen. »Ihr habt von Schwarzer Magie gesprochen.«

Ich schaute Tarlow an. Dachte er ähnlich wie Jorden, dass es besser wäre, Schwarzbach zu verlassen? Dachten alle Dorfbewohner wie Jorden? Kurz stellte ich mir vor, wie sie sich ängstlich in ihren Häusern verkrochen, und zuckte zusammen. Das durfte ich nicht zulassen. Es gehörte zu meinen Pflichten, die Menschen zu beruhigen, und vor dieser Verantwortung durfte ich mich nicht verstecken. »Keine dunklen Mächte peinigen unser Dorf«, sagte ich so langsam und ruhig ich konnte.

Tarlow schüttelte den Kopf. »Jorden hat recht«, sagte er zu mir, »du kannst nicht Geist und Augen täuschen.«

Hatte Jorden wirklich recht? Ich wollte und konnte das nicht glauben.

»Ich erzähle Euch gerne, was vorgefallen ist«, sagte Tarlow zum Fremden. Er hatte wohl beschlossen, ihn nicht als Bedrohung anzusehen, und das brachte die Plauderlaune in ihm hervor. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wollte nicht über den Vorfall sprechen, wollte ihn ignorieren, ihn mit dem Wind hinfort wehen lassen, ihn für immer aus unseren Köpfen kriegen. Jedes Wort darüber würde die Erinnerung daran stärken und die Ängste der Dorfbewohner schüren. Wieder deutete ich Tarlow an, den Mund zu halten, doch entweder bemerkte er mich nicht, oder er wollte mich nicht bemerken.

»Gewiss doch«, sagte der Fremde.

»Ihr könnt mir glauben, ich rede nicht mit verlogener Zunge«, versicherte Tarlow.

Der Fremde lachte. »Das werde ich erst danach beurteilen. Und nun erzählt, ich liebe unterhaltsame Geschichten.«

»Unterhaltsam?«, fragte Tarlow und schnaubte. »Das ist sie mitnichten.«

Kapitel 2 (Salya)

Was war das für ein Kreis? Er schwebte über meinem Bett und erleuchtete den Raum, stärker als jede Lampe. Welch prächtiger Anblick! Er strahlte mir ins Gesicht, und in den Wangen verspürte ich ein angenehmes Kribbeln.

Doch dann kam jemand zur Tür herein, und der Kreis flog langsam durch das Fenster hinfort. Wo wollte er hin? Mit dem Kreis verschwand auch das Licht. Jetzt war es dunkel im Zimmer, und ich erkannte nur die Umrisse der Person, die mein Zimmer betreten hatte. Ein wandelnder Schatten, er kam näher und trat an mein Bett heran.

Vater? Was machst du hier?

Der Schatten beugte sich über mich.

Es ist mitten in der Nacht, Vater!

Der Geruch von Bier stieg in meine Nase. Ein abscheulicher Geruch! Ich wollte hinaus, wollte dem schönen Kreis folgen und nicht hier im kalten, finsteren Zimmer bleiben, doch ich konnte mich nicht rühren. Der Schatten stand wortlos vor mir, bis er plötzlich seine Hand hob und mir ins Gesicht schlug. Erst mit der Innenseite, dann mit der Außenseite.

Hör auf damit!

Ich sah zur Seite. Meine Mutter war plötzlich im Zimmer, sie saß auf ihrem Lieblingsstuhl, wippte vor und zurück und blickte mich mit strengem Gesicht an.

Warum guckst du so, Mutter?

Sie antwortete nicht. Der Schatten schlug erneut zu. Es knallte, meine Wange schmerzte, ich versuchte zu schreien, doch meine Stimme erstarb in meiner Kehle. Ich wollte meine Arme heben und das Gesicht schützen, wollte meine Knie anziehen, wollte mich den Schlägen entwinden, aber mein Körper gehorchte mir nicht.

Mutter, warum hilfst du mir nicht?

Alles versagte, meine Stimme, meine Arme, meine Beine. So sehr ich es versuchte, ich brachte nicht mehr als ein schwaches Pusten hervor. Der Schatten schlug weiter zu, die Hände schmetterten gegen meine Wangen, und ich sank wehrlos vor ihm in die Tiefe, ohne Hoffnung auf Hilfe oder Erbarmen.

Ich erwachte mit einem lauten Schrei. Verwirrt schaute ich mich um. Ich war in meinem Bett, niemand sonst war in meinem Zimmer. Stirn und Rücken waren nass vor Schweiß, und mein Herz donnerte, als tobte ein Sturm in mir. Es war der übliche Traum.

Draußen war es bereits hell. Ich stand auf, zog mich an und ging aus dem Haus. Mein Blick schweifte über das Dorf. Keine aufgebrachten Menschen, keine hektischen Bewegungen. Erlebten wir heute endlich wieder einen normalen Tag? Ich wagte kaum, in Richtung des Waldes zu gehen. Sie könnte immer noch dort sein, könnte gar auf mich lauern. Wer wusste schon, wozu sie imstande war? Langsam und tief atmete ich ein und wieder aus, dann ermahnte ich mich, kein feiges Kind zu sein, und ging los. Vor dem Waldrand hielt ich an und blickte mich abermals in alle Richtungen um. Nichts Verdächtiges zu sehen. Ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ging in den Wald. Kaum den ersten Baum passiert, beschleunigte ich meinen Schritt, bis ich beinahe rannte.

Am Schwarzbach fand ich meine Mutter. Zusammen mit anderen Frauen wusch sie Gewänder. Ich versteckte mich hinter einem Baum, denn ich wollte ganz sicher nicht zu ihr. Sie würde mich anmeckern und mich vor den anderen demütigen – wie immer eben. Lieber würde ich durch den Wald spazieren, Lieder summen und Tiere beobachten. Aber ich konnte mich nicht schon wieder drücken. Wie eine Maus kroch ich hinter dem Baum hervor und ging langsam auf meine Mutter zu. »Guten Morgen, Mutter!«, sagte ich.

Sie schaute nur kurz auf, danach konzentrierte sie sich wieder auf ihre Arbeit. »Morgen nennst du das?«

»Wie kann ich helfen?«

»Gar nicht, wir sind fast fertig«, sagte sie, ihre Stimme so bissig wie ein Hund.

Ich verschränkte die Arme. »Du hättest mich wecken können!«

»Richte dich nach der Sonne, dann verschläfst du nicht jeden Tag.«

»Ich kann nichts dafür, dass ich so lange schlafe!«

Eadlyn, eine der anderen Frauen, schüttelte ihren Kopf und seufzte. Diese dumme Gans dachte wohl, ich sehe das nicht!

»In deiner Welt sind immer andere schuld«, sagte meine Mutter. Wenigstens schaute sie jetzt zu mir auf.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Wie gerne hätte ich ihr meine Meinung ins Gesicht geschrien, aber ich behielt sie lieber für mich. Ich wollte nicht schon wieder streiten. »Sag mir einfach, was ich tun soll!«

Sie rollte mit den Augen. »Kannst du nicht für dich selbst denken?«

»Aber ich …«

»Soll ich dir auch deinen Brei in den Mund stopfen wie einem Kleinkind?«

»Dann hättest wenigstens du deinen Spaß!«

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du freche Göre! Dein Vater hätte dich viel öfter schlagen sollen, dann hättest du vielleicht ein wenig Respekt gelernt!«

Ich spürte Tränen in den Augen, doch ich hielt sie zurück. Diesen Gefallen würde ich meiner Mutter nicht tun. »Sag mir doch einfach, was ich tun soll!«

»Geh zu Greta und ernte Kartoffeln!«, sagte sie und zeigte mit der Hand in Richtung von Gretas Haus. »Und bereite das Abendessen zu! Hauptsache, ich muss dich hier nicht mehr sehen.«

Innerlich dankte ich ihr. Beim Gedanken daran, mit meiner Mutter und den anderen Frauen zu arbeiten, schmerzte jeder Teil meines Kopfes. Lieber putzte ich Nachttöpfe! Während der Kartoffelernte jedoch würde ich allein sein – keine Befehle, kein Meckern, keine Beleidigungen.

Greta kniete auf dem Boden in ihrem Duftgarten und jätete Unkraut. Selten sah ich sie an einem anderen Ort; ihr Duftgarten war ihr Leben. Tagein, tagaus war sie über ihre geliebten Pflanzen gebeugt, mit einem Buckel, der jeden Tag krummer zu werden schien.

»Meine Mutter schickt mich«, sagte ich zu ihr. »Ich soll Kartoffeln ernten.«

Wie immer blieb Gretas Blick auf dem Boden haften. »Unkraut sprießt wie Tomalusʼ Bart«, murmelte sie. »Wie die Pest bringt es nichts als Tod und Verderben. Eine Sichel für das Unheil!«

Sprach sie mit mir, sprach sie mit sich selbst? Und vor allem: Was sollte ich dazu sagen?

»Eine meuchelnde Plage«, fuhr sie fort, und plötzlich wurde sie laut: »Es überwuchert meine Kräuterlein!«

»Ich sehe es«, sagte ich in der Hoffnung, sie würde sich mit dieser Aussage zufriedengeben.

Doch sie sprach unbekümmert weiter in Richtung ihrer Pflanzen. Hatte sie überhaupt eine Antwort erwartet? Als sie kurz den Mund schloss, nutzte ich die Gelegenheit und huschte rüber zu den Kartoffeln.

Während der Kartoffelernte kam Kolen vorbei und unterhielt sich mit Greta – zumindest versuchte er es. Er erzählte von einem Söldner, der vergangene Nacht in unser Dorf gekommen war und in seinem Wirtshaus übernachtet hatte. Der Mann war allerdings harmlos. Sie hatten ihm von den schrecklichen Ereignissen in unserem Dorf berichtet, und er hatte schon am frühen Morgen den Beutel gepackt. Schade, denn ich fand Fremde immer sehr interessant, aber wenn er schon wieder weg war, konnte er uns keine Geschichten von der weiten Welt erzählen, die mich die langweilige und anstrengende Arbeit vorübergehend vergessen lassen konnten.

Als mein Rücken anfing zu schmerzen, gönnte ich mir eine Pause. Ich verließ den Duftgarten und ging zu meinem Lieblingsplatz, einem Baumstumpf am Waldrand in der Nähe unseres Hauses. Er war umringt von einigen dicken Bäumen, die stolz in die Höhe ragten und die Sicht auf den Stumpf verdeckten. Nur wenn man wusste, dass ich hier saß, konnte man mich erkennen. Ich dagegen hatte von hier aus eine gute Aussicht auf große Teile des Dorfes.

Ich schaute und lauschte in den Wald hinein. Als ich mir sicher war, dass sich niemand in meiner Nähe aufhielt, setzte ich mich hin und beobachtete das Treiben im Dorf. Die Dorfbewohner bereiteten das Lagerfeuer und das Spiel Infernale vor. Es war eine Tradition Schwarzbachs, jede Jahreszeit an einem Abend das tolle Spiel mit dem Feuer zu veranstalten. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage hätte ich nicht gedacht, dass das Fest stattfinden würde, aber vermutlich würde es guttun, wenn wir uns ablenkten.

Die kleinen Kinder rannten durch die Gegend, brüllten sich gegenseitig an und rauften sich, wenn ein Zwist nicht anders zu lösen war. Die Erwachsenen verhielten sich weitaus ruhiger. Sie sprachen während des Aufbaus des Holzstoßes kaum miteinander, jeder schien in seiner eigenen Welt versunken zu sein. Carl besorgte das Holz; beim Gehen drehte er sich mehrfach nach allen Seiten um. Der alte Kenzie schleppte die Feuersteine, die sie für das Spiel brauchten, danach verzog er sich in sein Haus. Schließlich waren sie fertig. Die größeren Kinder durften nun versuchen, das Feuer zu entfachen. Später kam Kolen an der großen Feuerstelle vorbei und gab den Kindern Anweisungen. Typisch Kolen – warum ließ er sie das nicht allein versuchen?

Nach anfangs vergeblichen Versuchen schossen die Flammen hoch in den Himmel und tanzten mit dem Wind. Ein Genuss für meine Augen! Ich liebte das Feuer, es war voller Geheimnisse. Ein Kind wollte die Feuersteine testen und warf sie in den Glutherd. Das Feuer knisterte und verfärbte sich, am Boden leuchtete es türkis, nach oben hin ging es allmählich in Lila über. Die bunten Farben zierten den tristen, grauen Himmel wie ein schönes Bild eine hässliche Wand. Wie ich mich auf das Fest am Abend freute! Hoffentlich würde es nur nicht schon wieder regnen.

Je länger ich das Feuer beobachtete, desto tiefer tauchte ich in meine Gedankenwelt ein. Erst als es dunkel wurde, ermahnte mich eine innere Stimme und holte mich brutal zurück in die Wirklichkeit. Ich hatte viel zu lange Pause gemacht! Der Sack war nicht einmal zur Hälfte mit Kartoffeln gefüllt, und ich musste noch kochen. Mutter würde wütend sein!

Ich rannte zurück zu unserem Haus. Die Lampen im Inneren brannten, und ich sah meine Mutter in der Küche arbeiten. Sie war schon nach Hause gekommen. Verdammt sei ich!

Ins Haus gehen konnte ich nicht. Sie würde sehen, wie wenig Kartoffeln ich geerntet hatte, und mich als faul beschimpfen. Welche Wörter würden diesmal fallen? Nutzlos? Schande? Enttäuschung? Und selbst wenn ich gekocht hätte, würde sie das Essen als fad und mich als zu dumm zum Kochen bezeichnen.

Ich ging zurück zu meinem Lieblingsplatz und holte mein Messer aus der Tasche. Es war ein kleines Messer mit einer Klinge fast so lang wie meine Hand. Warum hatte ich es überhaupt mitgenommen? In den Griff war ein Pilz mit Gesicht eingeritzt. Der Pilz lächelte. Er lächelte immerzu. Er schien glücklich zu sein auf dem Griff des Messers.

Ich versuchte, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Bloß – wie sollte mir das gelingen? Ich biss mir auf die Lippe. Als ich Blut schmeckte, ließ ich von der Lippe ab und presste die Zähne zusammen. Nichts half. Die Stimme meiner Mutter hämmerte mir gegen den Kopf. Ginge ich zu ihr, würde ich ihr ausgeliefert sein, ohne Versteck, ohne Fluchtmöglichkeit. Ich würde mir wieder anhören müssen, ich sei schuld, dass mein Vater uns verlassen hatte. Ich spürte ein flaues Gefühl in der Brust, und mir wurde unerträglich heiß. Schon bald liefen mir Tränen die Wangen hinunter, ich konnte sie einfach nicht aufhalten.

Wieso weinst du?

Ich sprach zu mir, als wäre ich eine Außenstehende. Wie ein Vogel, der mich beobachtete und über mich urteilte.

Du hast keinen Grund zu weinen. Es ist nichts Schlimmes passiert, und mehr schimpfen als sonst wird Mutter auch nicht.

Mein Geist hatte meinen Körper nicht unter Kontrolle, meine Stimme vermochte mir nichts zu sagen. Ich sah mir dabei zu, wie ich das Messer nahm und die Spitze der Klinge an meinen Unterarm hielt.

Lass es, es wird dir nicht helfen!

Ich drückte zu. Die ersten Blutstropfen kamen zum Vorschein und zeigten sich in einem schönen, dunklen Rot. Ich spürte keinen Schmerz. Ich drückte fester zu und führte die Klinge meinen Arm entlang. Jetzt spürte ich auch sanfte Schmerzen. Die Klinge hinterließ einen Pfad aus Blut, es trat langsam aus der Wunde aus und lief in verschiedenen Bahnen den Arm entlang. Danach tropfte es langsam auf die Wiese. Ein schönes Schauspiel, ich sollte es auf einem Bild festhalten.

Was sagst du dazu, kleiner Pilz?

Er sagte nichts, aber er lächelte immer noch.

Wie glücklich du bist! Ich möchte auch glücklich sein.

Kapitel 3 (Kolen)

Es war bereits mitten in der Nacht, als das Wirtshaus sich langsam wieder mit Leben füllte. Nur leider nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Der Fremde wartete neugierig auf Tarlows Bericht über die Ereignisse, die ich am liebsten für alle Zeiten verschwiegen gewusst hätte.

Tarlow fuchtelte mit seinem Zeigefinger vor unseren Nasen herum. Er nahm noch einen Schluck Bier, dann fing er an zu erzählen: »Es fing vor drei Tagen an«, sagte er. »Es war ein Tag wie jeder andere, jeder erledigte seine Arbeit.«

»Alles war wie immer«, fügte Jack mit lauter Stimme hinzu.

»Das sagte ich bereits«, blaffte Tarlow ihn an.

»Ich will nur, dass du die Geschichte richtig erzählst. Wenn du so erzählst, wie du Karten spielst, ist unser Gast bald eingeschlafen, har!«, rief Jack und schlug seinen Krug auf den Tisch. Er sprach so laut, als sollte jeder im Dorf ihn hören können.

Der Fremde betrachtete Jack und musste lachen. Jack hingen einige Brotkrümel im Bart, aber auch ohne sie wäre seine Belustigung nicht ungewöhnlich gewesen. Jack war klein und dick, und wegen seiner Glatze und seines üppigen Schnauzers guckten ihn die Menschen oft und gerne an. Vor allem Kinder liebten sein komisches Aussehen und nannten ihn daher ›den Hofnarren Schwarzbachs‹.

Tarlow rollte mit den Augen, verkniff sich aber eine Antwort. »Die Sonne stand tief im Westen«, fuhr er fort, »und wir wollten gerade ins Wirtshaus gehen, als Lynna geschrien hat. Der Schrei war so laut und grässlich, das ganze Dorf hat es gehört und ist zu ihr gerannt.«

»So viel Aufmerksamkeit hat sie nicht mehr bekommen, seit sie vom Pferd gefallen ist, har!«, sagte Jack und lachte, doch keiner lachte mit ihm. Nacheinander schaute er uns an. »Erinnert ihr euch nicht? Das war ein Witz wie vom Narren gespielt!«

»Ich erinnere mich«, sagte ich, um Jack zufriedenzustellen.

»Darf ich jetzt weiterreden, verdammte Axt?«, fragte Tarlow und schaute Jack grimmig an. »Wir sind sofort zu ihr gelaufen und haben das Unheil mit eigenen Augen gesehen. Eine tote Maus lag vor dem Gebetshaus.«

Der Fremde nahm seinen Kopf zurück und zog die Augenbrauen zusammen. »Vor eurem Gotteshaus?«

Tarlow nickte. »Und jeder weiß, was ein totes Tier vor einem Gotteshaus bedeutet. Es ist eine Botschaft der Finsternis, ein Werk Schwarzer Magie.«

»Ich kenne ein Lied, das mit einer toten Maus anfängt und im Ewigen Feuer endet: ›Kalour, der Zügellose‹. Wird sicher nicht auf Hochzeiten gespielt.«

»Ist mir nicht bekannt. Jedenfalls haben wir die Maus sofort dort begraben. Nur die Götter wissen, ob das die richtige Entscheidung war.«

Der Fremde zuckte mit den Achseln.

»Geholfen hat es nicht«, fuhr Tarlow fort. »Am nächsten Tag lag ein toter Rabe vor dem Gebetshaus.«

Der Fremde riss die Augen auf, verschluckte sich und hustete. »Sicher, dass das nicht der Streich eines verzogenen Bengels war?«

Tarlow schüttelte den Kopf. »Kein Junge würde so etwas wagen.«

»Die Geschichten über tote Raben erstrecken sich über das gesamte Königreich. Sei es an der Eisküste im Nordwesten oder in der Roten Wüste im Südosten – überall ist man sich einig: Tote Raben vor der Tür bringen nichts als Unheil. Man sagt, sie beschwören die Pest herauf, bringen Berge zum Feuerspucken und die Erde zum Beben, bis ganze Schluchten in den Boden gerissen werden. Die Städte, in denen man sie gefunden hat, wurden angeblich zerstört, sei es durch Feuer, Blitzeinschläge, Steinhagel oder Monster, die aus der Erde kriechen.«

Wir schwiegen für eine Weile. Ein Windstoß heulte ums Haus und schmetterte das Türschild gegen die hölzerne Wand des Wirtshauses. Der Ritter zuckte bei dem Aufprall zusammen und drehte seinen Kopf zum Fenster.

»Das sind nur Geschichten«, sagte ich, während er langsam seinen Kopf zu mir drehte. »Alte Männer vorm Kamin brauchen diese Geschichten, um Kindern Angst einzujagen.«

»Ich werde diese Nacht jedenfalls mit einem offenen Auge schlafen«, sagte der Fremde, trank seinen Krug leer und stand auf.

»Das war noch nicht alles«, sagte Tarlow.

Der Mann schaute Tarlow verdutzt an.

»Am dritten Tag – das war heute – kam ein kleines Mädchen in unser Dorf, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Sie kam aus dem Wald heraus, allein. Sie trug ein rotes Kleid.«

»Und sie hatte schwarze Augen!«, brüllte Jack so laut, dass der Fremde sich ein weiteres Mal erschreckte. »Das Weiße in ihren Augen fehlte, sie waren einfach nur schwarz.« Er spuckte beim Reden. »Schwarz wie die Nacht und dreimal so groß wie normale Augen.«

»Ihr wisst, wer solche Augen hat«, sagte Tarlow.

»Zantul«, sagte der Fremde leise. Er griff nach dem Stuhl an seiner Seite und hielt sich daran fest. »Jeder weiß das.«

»Ganz recht«, sagte Tarlow, »der Gott der Finsternis.«

»Ein Diener Zantuls war in eurem Dorf?«

»Sie ist keine Dienerin Zantuls, nur weil sie ungewöhnliche Augen hat«, sagte ich. Aber der Fremde war von der Angst gepackt, und meine Worte gingen ohne Beachtung unter.

»Was hat das Mädchen gemacht?«, fragte er Tarlow.

»Zuerst setzte sie sich vor das Gebetshaus und summte Lieder. Sie hatte eine zarte Stimme, und ihre Melodien waren so lieblich wie aus dem Mund eines Minnesängers. Das passte nicht zu ihrem schrecklichen Gesicht. Wir versammelten uns um sie herum und starrten sie an. Sie dagegen wandte ihren Blick nicht von unserem Gebetshaus ab. Als wir sie ansprachen, fauchte sie uns an wie eine Katze. Nach einer Weile hörte sie auf zu summen und fing an zu sprechen. Sie sprach in Richtung des Gebetshauses, aber nicht mehr mit der Stimme eines Kindes. Ihre Stimme war tiefer als die eines Mannes, und sie röchelte, als steckte ihr ein Knochen im Hals. Außerdem …« Er hielt inne und beugte sich vor. Nun wisperte er: »… hörte ich ihre Stimme doppelt und dreifach, als spräche sie mit mehreren Zungen.«

Der Fremde japste. »Was hat sie gesagt?«

»Wissen wir nicht, ihre Sprache war uns nicht bekannt. Aber sie redete immer schneller und immer lauter, bis sie am Ende beinahe schrie. Dann hörte sie auf und ging zurück in den Wald. Keiner von uns hielt sie auf.«

Der Fremde fasste in seine Tasche und holte einen Beutel heraus. Mit zittrigen Händen versuchte er, ihn zu öffnen. Der Beutel fiel zu Boden. Hastig hob er ihn wieder auf und fummelte darin herum. Er holte eine Silbermünze heraus, knallte sie auf die Theke, steckte den Beutel wieder ein und ging zum Ausgang. »Ich verschwinde von hier!«, sagte er und öffnete die Tür.

Kalte Luft flutete das Wirtshaus und legte sich über meine Haut.

Tarlow sprang auf. »Ihr solltet nicht gehen! Denkt an die Wölfe!«

»Ich bleibe nicht hier. Euer Dorf ist verflucht, verdammt, verhext – nennt es, wie Ihr wollt! Zantul hat seine Hände über Euch gelegt.«

»Ich kann Euch versichern, unserem Dorf geht es gut«, sagte ich, doch wieder verhallten meine Worte unbeachtet.

»Ein zweites Mal lassen sich die Wölfe nicht vertreiben«, sagte Tarlow. »Im Schutz der Dunkelheit werden sie Euch auflauern.«

Der Mann holte tief Luft und nickte widerwillig. »Nachts kann ich mit dem Pferd nicht durch den Wald galoppieren.«

»Ganz recht«, sagte Jack. »Trinkt noch ein Bier mit uns, das beruhigt den Geist, har!«

Der Fremde schüttelte den Kopf. »Ich gehe schlafen und werde gleich beim ersten Sonnenstrahl aufs Pferd springen.«

Die Tür stand immer noch offen, ich ging hin und schaute hinaus. Die meisten Bewohner schliefen; lediglich in zwei Häusern sah ich noch Licht brennen. Die Baumkronen des Waldes raschelten im Rhythmus des Windes. Ansonsten bewegte sich nichts. Das Dorf zeigte sich beschaulich wie eh und je.

Ich führte den Fremden die Treppenstufen hoch und zeigte ihm sein Zimmer. Danach ging ich zurück in die Schankstube und bat die drei Kumpane zu gehen. Es war spät genug. Morgen würde ein langer Tag werden. Wir hatten geplant, am Abend ein großes Lagerfeuer zu entzünden und die Kinder ihr Lieblingsspiel Infernale spielen zu lassen.

»Früher hattest du länger geöffnet«, schimpfte Tarlow.

»Ich spüre noch Staub in der Kehle, das ist nicht gut für die Gesundheit, har!«, witzelte Jack.

Trotz ihrer Klagen erhoben sie sich und gingen nach Hause. Jorden folgte ihnen. Hätte er sich nicht verabschiedet, hätte ich beinahe vergessen, dass er überhaupt anwesend war – wie immer.

Ich schaute ihnen hinterher, wie sie die wenigen Schritte zu ihren Häusern gingen. Hoffentlich würde die Angst in ihnen nicht zu groß werden. Der Fremde hatte so reagiert, wie ich es befürchtet hatte: Ihn hatte die Panik ergriffen. Angst, Hass und Liebe sind die drei Gefühle, die des Menschen Geist in Nebel hüllen, und verängstigte Bewohner waren das Letzte, das unser Dorf gebrauchen konnte. Ich würde wachsam bleiben müssen.

Kapitel 4 (Salya)

Ich blieb auf dem Baumstumpf sitzen und beobachtete die Dorfbewohner am Lagerfeuer. Dorfkatze Shyla leistete mir Gesellschaft. Sie hatte ein braun-schwarz gestreiftes Fell mit langen, weichen Haaren. Mit ihren großen Augen schaute sie mich an und miaute.

»Was ist los, kleine Katze?«, fragte ich.

Erneut miaute sie als Antwort und starrte mich weiterhin fragend an. Als sie einsah, dass ich sie nicht verstand, streckte sie mir ihr Hinterteil entgegen und tapste davon.

Dumm wie ein Hund!, schien sie zu denken.

Jetzt war ich allein. Sollte ich mich zu den anderen Dorfbewohnern am Lagerfeuer gesellen? Ich betrachtete meine Ärmel. Sie waren voller Blutflecken, niemals konnte ich mich so den anderen zeigen. Ich suchte meine Taschen ab, fand aber nichts, um die Wunden zu umwickeln. Zu Hause würde ich etwas finden, aber solange meine Mutter noch wach war, wollte ich nicht ins Haus gehen. Vermutlich würde sie dem Fest den ganzen Abend lang fernbleiben, schließlich hasste sie solche Anlässe. Also stand ich trotz der Flecken auf und ging zum Lagerfeuer. Die Kinder saßen in zwei Gruppen direkt vor den Flammen, die Erwachsenen bildeten einen Ring um sie herum.

Ich setzte mich neben Jorden und verschränkte die Arme dicht am Körper – so würden die Blutflecken hoffentlich niemandem auffallen. Jorden begrüßte mich und schenkte mir ein Lächeln. Sein Gesicht sah so niedlich aus, wenn er lächelte. Ich rückte etwas näher an ihn heran, und zusammen schauten wir den Kindern bei Infernale zu.

Zwei Mannschaften spielten mit der Kunst des Feuers. Quina zeigte viel Talent, obwohl sie erst neun Jahre zählte. In kurzer Zeit schaffte sie es, den Mond in seiner ganzen Pracht darzustellen. Sie wählte beim ersten Versuch die richtigen Steine, um die Flammen dunkelgelb einzufärben. Dann nahm sie den Feuerstab zur Hand und dirigierte sie. Sie bewegte sich elegant, und die Flammen gehorchten ihr, als wären sie ein Teil von ihr. Erst bewegten sie sich in die eine Richtung, dann in die andere, hoch, runter, vor und zurück – ganz so, wie Quina es wollte. Im richtigen Moment wirbelte sie mit dem Stab, und das Feuer fing an, sich wie eine Kugel zu drehen. Sie tauchte ihre Hand in Glitzerwasser, hielt die Handfläche nach oben und pustete das Wasser in die Lohe. Der obere Teil der Flammen wurde vom unteren abgetrennt, und übrig blieb eine gelbe Feuerkugel, die sich in der Dunkelheit der Nacht drehte.

»Mond!«, riefen die Kinder in ihrer Mannschaft fast gleichzeitig.

Es war nicht schwer zu erraten. Die Erwachsenen applaudierten Quina, auch ich klatschte in die Hände. Sie war bereits mit neun Jahren viel besser, als ich es je sein würde.

Wenigstens die Kinder hatten ihren Spaß. Die Erwachsenen schauten müde aus und schwiegen die meiste Zeit über. Kolen blickte nachdenklich ins Feuer, Carl drehte seinen Kopf ständig zum Wald, und Aminta starrte einfach nur auf den Boden.

Marilla spielte auf ihrer Laute und begleitete die Kinder während des Spiels. Heute saßen leider keine bunten Vögel auf ihrer Schulter. Normalerweise flogen sofort die schönsten Geschöpfe aus den Baumkronen herbei, wenn Marilla anfing zu spielen. Vielleicht lag es am Klang ihrer Musik, denn heute spielte sie nur langsame Lieder mit tiefen Tönen und traurig klingenden Akkorden.

Auf der anderen Seite des Feuers saß Yarie und unterhielt sich mit Halem. Die Flammen strahlten sie mit ihren ständig wechselnden Farben an, und wie immer sah sie wunderschön aus. Einige ihrer blonden Haare hingen ihr im Gesicht. Sie gingen ihr fast bis zum Bauchnabel, während meine nur bis zu den Schultern gingen, und ihre Augen leuchteten in viel intensiverem Blau als meine. Wie gerne würde ich mich wieder mit ihr unterhalten, ihren Witzen lauschen und mit ihr durch den Wald spazieren gehen. Aber sie war eine dumme Kuh, die immer alles besser wusste.

Während der Pause gab es Essen. Serviert wurden gegrilltes Kaninchen und Wildschwein, Erbsensuppe und Apfelkuchen. Dazu gab es roten Wein, mit Kräutern gewürzt und mit Honig gesüßt. Die meisten Bewohner schwiegen auch beim Essen. Nur manche beschwerten sich, für ihre leeren Bäuche und trockenen Kehlen sei zu wenig aufgetischt worden.

»Selbst als Soldat mitten im Feld hatte ich üppigere Mahlzeiten«, sagte Tarlow. »Saftige Wildschweine, süße Beeren und starken Wein – wir haben gespeist wie die Götter.«

»Du hast wenigstens nicht so einen großen Bauch wie ich, har!«, sagte Jack. »In meinen Wanst passt eigentlich ein halbes Wildschwein!« Fettreste klebten in seinem Bart, und ich konnte bei diesem Anblick nicht anders, als meine Nase zu rümpfen.

»Bist wenigstens du satt geworden?«, fragte ich Jorden. Er überragte mich um eine Kopflänge und hatte stets großen Hunger, was man ihm allerdings nicht ansah.

Er nickte. »Was ist mit dir? Du hast gar nichts gegessen.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe keinen Hunger.«

Infernale ging in die zweite Runde, und die Kinder mussten jetzt eine Handlung statt eines Begriffs darstellen – eine weitaus schwierigere Aufgabe.

»Wo warst du gestern Abend?«, fragte ich Jorden.

»Im Wirtshaus bei Kolen.«

»Schon wieder? Dort bist du in letzter Zeit ständig.«

Er wich meinem Blick aus.

»Was gefällt dir daran?«, fragte ich. »Hörst du Kolen gerne zu, wie er andere belehrt? Oder Tarlow, wie er mal wieder prahlt, er habe angeblich schon hundert Menschen sein Schwert in den Bauch gerammt?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich mag Tarlow auch nicht sonderlich. Aber Kolen und Jack sind lustig.«

»Lustig? Jack ist alles andere als lustig, und wenn ich ihn beobachte, kommt mir die Galle hoch.«

Jorden sagte nichts dazu.

»Du bist groß, kräftig und intelligent. Du könntest Arbeit in einer größeren Stadt finden und dir dein eigenes Haus bauen.«

Wieder wich er meinem Blick aus.

»Ganz sicher«, sagte ich.

Keine Antwort.

»Stattdessen schüttest du dir Bier in den Rachen, zusammen mit den alten, verbitterten Männern. Schau dir Tarlow an: Stoppelbart, fettige Haare, riesige Ringe unter den Augen – er sieht aus, als wäre er hundert Jahre alt.«

Wieder keine Antwort.

»Rede mit mir, Jorden!«

Endlich schaute er mich an. »Wieso stört dich das?«

»Ich will das eben nicht!«

Schon sprang sein Blick zurück in Richtung Feuer. Selbst für mich war Jorden immer noch ein Rätsel auf zwei Beinen. Woran dachte er jetzt? Dachte er überhaupt noch über unser Gespräch nach?

Als Infernale zu Ende ging, wurden die jüngeren Kinder ins Bett geschickt, und auch ein großer Teil der Erwachsenen ging nach Hause. Ich schaute zu unserem Haus. Kein Licht brannte mehr, ich konnte endlich heimgehen. Ich stand auf und wollte mich gerade von Jorden verabschieden, als ich sah, wie er meine Ärmel betrachtete.

»Du hast dich wieder geschnitten«, sagte er.

»Nicht schlimm, es tut kaum weh.«

»Zeig mal her!«

»Ich sagte doch, es ist nicht schlimm. Die Wunde ist klein und nicht tief.«

Er sah mir in die Augen.

»Gute Nacht«, sagte ich und küsste ihn auf die Wange.

Ich ging in Richtung unseres Hauses, und Jorden folgte mir. »Wieso?«, fragte er. Ein einzelnes Wort. Kein Vorwurf, kein Mitleid – nur Interesse.

»Nicht wichtig.«

Wieder ging ich los, wieder kam er hinterher.

»Wegen deiner Mutter«, sagte er. Keine Frage, sondern eine Feststellung.

Ich blieb stehen und nickte. »Wir haben uns nicht gestritten. Aber sie hätte mir die hässlichsten Wörter an den Kopf geschmissen, wäre ich vorhin schon nach Hause gegangen.«

»Es ist immer wegen deiner Mutter.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Nein, das stimmt nicht!«

»Vielleicht nicht immer, aber sie ist arglistig und gemein. Sie behandelt dich wie einen wilden Hund.«

»Sprich nicht so über meine Mutter!«

»Mit jedem ihrer Sätze reißt sie dir einen Teil deiner Seele heraus.«

»Ich warne dich, Jorden!«, schrie ich. »Lass meine Mutter in Ruhe!«

Er drehte sich um und schaute zu den Menschen am Lagerfeuer. Sollten sie doch gucken. Sollten sie mich doch schreien hören.

»Sie hasst dich und das lässt sie dich jeden Tag spüren«, sagte er mit gesenkter Stimme.

Ich ging einfach fort, doch Jorden kam mir schon wieder hinterher. »Warte!«, rief er und packte mich an der Schulter.

»Fass mich nicht an!«, brüllte ich und zog meine Schulter weg. »Geh mir aus den Augen! Verschwinde aus meinem Leben!«

Ich rannte los. Diesmal wagte er nicht, mir zu folgen.

Der Himmel leuchtete grell; nur mit vorgehaltener Hand konnte ich etwas sehen. Was war das? Eine zweite Sonne? Ich kniff die Augen zusammen. Es war keine zweite Sonne, es war ein Kreis. Ein goldener Kreis, der hoch über dem Dorf schwebte und gleißendes Licht ausstrahlte. Zunächst drehte er sich, dann fing er an, sich langsam vom Dorf wegzubewegen. Er flog in Richtung des Waldes, und ich lief ihm hinterher. Wieso flog er davon? Wo wollte er hin? Er wurde schneller und schneller, ich konnte ihm nicht mehr folgen. Wie ein Vogel flog er davon, über die Bäume hinweg und raus aus dem Dorf. Ich konnte ihm nur noch hinterhersehen, wie er immer kleiner wurde, bis er schließlich verschwand.

Und plötzlich war es dunkel. Was war passiert? Vor mir erkannte ich jemanden.

Vater, bist du es? Nein, Ihr seid nicht mein Vater. Wer seid Ihr?

Die Person ging in den Wald hinein, und ich folgte ihr. Ich konnte nur ihre Umrisse erkennen, der Rest war dunkel. Sie sah aus wie ein Schatten, der zum Leben erweckt worden war. Plötzlich lief ein Tier neben ihr. War es ein Schwein, eine Katze, ein Hund? Weitere Tiere tauchten zwischen den Bäumen auf und tapsten neben dem Unbekannten her.

Seid Ihr ein Hirte? Sind das Eure Schafe?

Die Schattenfigur lief weiter, anscheinend ohne mich zu bemerken.

Wohin lauft Ihr?

Plötzlich sprang eines der Tiere ihm ans Bein und biss zu.

Passt auf, das Tier greift Euch an!

Die Person hörte mich nicht. Ich wollte sie warnen, wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Ich wollte zu ihr rennen, wollte das Tier von ihr wegzerren, kam aber keinen Schritt mehr vorwärts.

Die anderen Tiere sprangen sie jetzt auch an und rissen sie zu Boden. Hilflos musste ich dabei zusehen, wie sie sich über ihre Beute hermachten. Die Gestalt konnte sich nicht wehren, und plötzlich lag sie reglos auf dem Boden. Ihr Körper war übersät mit roten Blutstropfen, die wie rote Rubine auf schwarzem Hintergrund glänzten.

Kapitel 5 (Kolen)

Früh am Morgen verließ ich unser Wohnhaus, das ich mit meiner Frau Myla und meinem Sohn Kolosan teilte. Das Wirtshaus stand direkt gegenüber, ich musste nur den Hauptweg des Dorfes überqueren, um vor seiner Tür zu stehen.

Ich ging die Treppe hoch zu den Gästezimmern und fand sie leer vor – der Fremde war bereits abgereist. Ich war nicht unglücklich darüber, denn so konnte ich mit meiner Familie frühstücken.

Myla hatte Kräutertee aufgekocht und ich Eier mit Speck, Zwiebeln und Tomaten gebraten. Kolosan schob hastig eine Gabel nach der anderen in den Mund.

»Iss nicht so schnell!«, ermahnte Myla ihn.

Kolosan gehorchte, aber nur für eine kurze Weile. Als Myla nicht mehr hinsah, aß er wieder schneller. Er machte erst eine Pause, als ihm etwas Wichtiges einfiel: »Heute Abend ist endlich wieder Lagerfeuer!«

Ich lachte. »Freust du dich auf Infernale? Das habt ihr diesen Herbst noch gar nicht gespielt.«

»Oh ja«, sagte er und lächelte. »Ich bin schon viel besser geworden. Beim letzten Mal habe ich aus den Flammen einen Baum geformt, da haben die anderen echt gestaunt!«

»Das ist toll«, sagte ich, »aber kein Grund, so zu schlingen.«

»Aber ich muss zur Übungsstunde mit Sir Caster.«

»Sir Caster würde nicht wollen, dass du mit leerem Magen auftauchst.«

»Er will aber erst recht nicht, dass wir zu spät kommen. Er ist streng.«

Myla und ich tauschten Blicke aus.

»Also gut«, sagte ich, »dann geh und verpass ihm einen Hieb von Kolosan dem Furchtlosen!«

Kolosan lächelte und stand auf. Ich ging zu ihm und strich mit der Hand durch seine Haare – die hatte er von mir: dünn, weich und von goldblonder Farbe. Am liebsten hätte ich ewig in seinen Haaren gewühlt, aber er zog den Kopf weg und stürmte aus dem Haus.

»Er verfolgt seine Ziele«, sagte Myla. Sie sagte es nicht als Feststellung, sondern als Vorwurf.

»Ein Kind sollte wissen, was es will, und hart daran arbeiten«, erwiderte ich.

»Er ist erst elf Jahre alt. Er weiß noch nicht, worauf er sich einlässt.«

»Die meisten jungen Männer im Königreich träumen davon, Ritter zu werden. Du solltest ihm diesen Traum nicht nehmen.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Weil sie falsche Vorstellungen haben. Sie hören Geschichten von Ruhm und Ehre, und das macht sie blind für alles andere.«

»Sir Caster erzählt ihm sicher keine Lügen. Wer kann ihn besser vorbereiten als ein ehemaliger Ritter der königlichen Garde?«

»Er kann ihn vorbereiten, wenn er erwachsen ist.«

»Man sollte so früh wie möglich als Knappe anheuern, hat Sir Caster gesagt, und als Kind lernt man am schnellsten.«

»Aber nicht im Alter von zwölf Jahren! Er würde schon nächstes Jahr seinen Beutel packen und das Schwert in die Hand nehmen, wenn wir ihn ließen.«

»Er hat sich dafür entschieden, Myla.«

»Und du hast es ihm erlaubt.«

»Ja, das habe ich. Daher kann ich es auch nicht rückgängig machen. Ein Mann muss seine Versprechen halten.«

Ihr Blick bekam etwas Lauerndes. »Dein Wirtshaus wird er auch nicht übernehmen.«

Mylas Worte trafen mich wie ein Pfeil in die Brust. Sie hatte recht, er würde das ›Gerupfte Huhn‹ nicht weiterführen, wenn ich einmal alt wäre, und außer ihm hatte ich keinen Erben. Schlimmer noch, er würde auch die Leitung des Dorfes nicht antreten. Düstere Aussichten für unser wunderbares Schwarzbach.

Mein Rundgang startete heute bei der Grube, die wir zu einem Brunnen ausbauen wollten. Ronja und ich hatten ausgemacht, heute so lange weiterzugraben, bis wir endlich auf Wasser trafen. An der Grube traf ich sie jedoch nicht an, stattdessen fand ich sie an ihrem Haus, an dessen Dach sie arbeitete.

»Wir wollten uns an der Grube treffen«, rief ich ihr zu.

»Ich muss mein Dach reparieren«, sagte sie. »Sind einige Löcher drin.«

»Der Brunnen muss bald fertig werden, der Winter reitet im Galopp auf uns zu.«

»Das hat noch Zeit«, sagte sie in abfälligem Ton. »Mein Dach kommt zuerst dran.«

Ich atmete tief durch. »Ronja, uns mag weniger Zeit bleiben, als wir denken. Der Frost kann über Nacht kommen, und wenn er den Bach in Eis verwandelt, wird das Wasser knapp. Das Problem sucht uns jeden Winter heim.«

»Geh und erzähl das den Eichhörnchen, ich habe zu tun!«

»Du bist unsere Handwerkerin, wir brauchen dich!«

Ronja warf ihren Hammer mit voller Kraft zu Boden. Er schlug mit einem dumpfen Geräusch auf und bohrte sich ein beachtliches Stück ins feuchte Erdreich. Ronja kletterte die Leiter hinab, kam mit großen Schritten heran und stellte sich vor mich hin, näher, als mir lieb war. Sie war die größte Bewohnerin des Dorfes und überragte mich um eine ganze Kopflänge, außerdem war sie doppelt so breit wie andere Frauen und hatte Arme so dick wie meine Beine.

»Bluten deine Ohren, Kolen?«, schnaubte sie.

Ich war zu weit gegangen, und eine Pranke wollte ich nicht riskieren. Als wir beide noch Kinder waren, hatten einige von uns Ronja den Spitznamen ›Großer Bärenarsch‹ gegeben. Irgendwann hatte sie davon erfahren und einem von uns den Arm gebrochen. Seitdem nannten wir sie nur noch ›Großer Bär‹ – zumindest in ihrer Anwesenheit. Die Erinnerung an diesen Vorfall sollte mir jedenfalls als Mahnung reichen, sie nicht weiter zu reizen.

»Nein, es tut mir leid«, antwortete ich.

Der aggressive Gesichtsausdruck wich aus ihrem Gesicht. »Mein Haus fällt auseinander, ich muss es reparieren.«

»Das verstehe ich.«

Sie ging ein paar Schritte zum Gebäude und wieder zurück. »In letzter Zeit fällt alles auseinander«, sagte sie und kratzte sich am Hinterkopf. »Es kommt mir vor, als würden wir immer tiefer in die Finsternis gesogen.«

»Was meinst du?«

»Schau dich um, öffne die Augen und spitz die Ohren! John beklagt eine schlechte Ernte, Gatlins Tiere sind krank, und kein Wildtier läuft mehr vor Carls Bogen. Außerdem kann ich mich nicht daran erinnern, wann die Sonne das letzte Mal geschienen hat.«

»Aus einer Quelle sprudelt nicht immer Wasser, Ronja.«

»Und aus einem Wald kommen nicht immer Diener Zantuls und verfluchen einen.«

Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. »Das Mädchen war krank. Sie war weder ein Geschöpf der Finsternis, noch beschwor sie Schwarze Magie.«

»Was auch immer es war – es war kein Geschöpf menschlicher Natur.«

Es fühlte sich an, als spräche ich mit einem kleinen Kind, das einen Albtraum durchlebt hatte. Stand wirklich Ronja vor mir? Die furchtlose Ronja, die allein mit ausgewachsenen Wildschweinen kämpfte?

»Es hat aber auch niemandem etwas getan, oder?«

Sie kratzte sich hinter dem rechten Ohr. »Noch nicht, aber wenn die ersten Flammen in einem von uns aufwallen und ihn von innen verbrennen, wird es zu spät sein.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Glaubst du jeder Kindergeschichte?«

Sie ging wieder einen Schritt auf mich zu. »Hältst du mich für eine Närrin?«

Hastig schüttelte ich den Kopf. »Nein! Wir sollten uns bloß keine Angst einjagen lassen. Der ärgste Feind des Dorfes ist der Winter – schon immer gewesen. Ihm sollten wir unsere Anstrengungen widmen.«

Ronja fing wieder an zu laufen, in die eine Richtung, in die andere Richtung, vor und wieder zurück. Als sie vor mir zum Stehen kam, kratzte sie sich am Hals. »Die Zeiten sind finster, Kolen. Wir werden uns wappnen müssen.«

»Die Zeiten sind …«

»Ich bin keine, die feige wegrennt«, unterbrach sie mich. Sie ballte ihre Rechte und reckte sie gen Himmel. »Aber gegen Schwarze Magie helfen auch die stärksten Fäuste nicht!«

Sie drehte sich um, zog ihren Hammer aus der Erde und stieg wieder aufs Dach. Die Leiter stand wackelig und drohte, unter ihrem Gewicht wegzurutschen. Aber sie hielt stand.

Ich kam an der Statue meines Vorfahren vorbei und hielt an. Er hatte ebenfalls Kolen geheißen, und er hatte das Dorf vor über dreihundert Jahren gegründet. Er stand mit herausgestreckter Brust auf dem Podest, die Hände auf die Hüften gelegt, und hielt seinen Kopf stolz in die Höhe.

Das ist mein Dorf, schien er zu sagen.

Was dachte er über meine Arbeit? War ich ein würdiger Nachfolger? Das Dorf sah schweren Zeiten entgegen, auch das Gespräch mit Ronja hatte dies gezeigt. Aber ich war mir meiner Aufgaben bewusst, und ich versprach meinem Vorfahren, das Dorf auch durch diese Zeiten zu führen.

Schwarzbach ist unser Zuhause. Schwarzbach muss leben. Er hatte diese Worte damals an seinen Sohn gerichtet, und ich hatte sie von meinem Vater gelernt. Ich musste sie in Ehren halten – noch nie hatten sie eine so große Bedeutung für mich wie in diesen Tagen.