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Erwachen statt erziehen - lieben statt im Griff haben "Unser Alltag mit Kindern ist spirituelle Praxis, wenn wir unser Herz öffnen." Steve Heitzer ermutigt Erziehende, sich auf die kindliche Welt umfassend einzulassen und das Leben mit Kindern auch als eigenes spirituelles Lernfeld zu erkennen. Anschaulich erläutert er Beispiele aus seiner eigenen Erfahrung als Pädagoge und Vater. Durch scheinbares "Nichts-Tun", durch achtsames Hinschauen im Alltag mit Kindern, werden verschiedene Sichtweisen und Bedürfnisse klar, kommen Konflikte und manchmal Lösungswege ans Licht. Nicht alles "im Griff" haben zu müssen, entlastet dabei enorm. Heitzer regt an, zu sehen, was ist, und nicht, was sein sollte. Das betrifft auch den Umgang mit Schwierigkeiten. Hier zeigt Heitzers Erfahrung, dass "Kinder Krisen können" und alle an ihnen wachsen. Probleme müssen nicht vermieden werden. Der Wunsch nach einer heilen Welt führt dann auch nicht zur Überforderung, alles richtig machen zu müssen. Heitzer schöpft bei seinen Überlegungen aus der Fülle der Weisheit spiritueller Lehrer und Lehrerinnen – von Eckhart Tolle über Thich Nhat Hanh bis Jesus von Nazareth.
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Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Steve Heitzer
Steve Heitzer
Wie der Alltag mit Kindern in die Tiefedes eigenen Lebens führt
Für Priska – so viel Weisheit, so viel Liebe!
Für Lioba, Anna-Sumaya und Jonas – wie dankbar bin ich für euch, eure Liebe, euer Leben!
Für meine Eltern Monika und Erich und meine Geschwister, Fundament einer glücklichen Kindheit.
Für Chris & Nicki – so viel Inspiration, Verbundenheit und Resonanz.
Für Salmas Familie – so viel Schmerz, so viel Liebe.
Für meine Kolleg:innen, von denen ich so viel lernen durfte.
Für alle Eltern, die uns ihre Schätze eine Weile anvertraut haben, für alle Eltern, die ihre Geschichten geteilt und zur Verfügung gestellt haben, um miteinander zu wachsen!
Für den Meister – seine Geschichten inspirieren und befreien die Liebe in uns.
Seine Gegenwart heilt.
Wer immer für die menschliche Gesellschaft einen echten Vorteil erreichen will, der muss beim Kinde ansetzen, nicht nur, um es vor Abwegen zu bewahren, sondern auch, um das wirkliche Geheimnis unseres Lebens kennenzulernen.1
Maria Montessori
Amen. Ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder …
Jesus von Nazareth (Mt 18,3)
Erleuchtung im Kinderzimmer
Eine Umarmung am Anfang
ERSTER TEIL Achtung Leben!
Achtung Kinder! Langsamer werden und aufmerksam sein
Salma und das Leben: den Augenblick schätzen
Lasst euch Zeit!
FÜR DEN ALLTAG EIN ABBA-MERKZETTEL ZU ACHTSAMKEIT & PÄDAGOGIK
ZWEITER TEIL Alles im Griff?
Loslassen heißt die „große östliche Antwort“
Borstige Jungs – Freiheit zulassen, achtsam begleiten
Mit uns selbst gütig sein
FÜR DEN ALLTAG INNEREN RAUM SCHAFFEN UND DEN GRIFF LÖSEN
DRITTER TEIL Mein Kind sollte …
„… nicht auf mir herumklettern“ – Yoga-Mama und notwendige Körperübungen
Warum wir uns von Glaubenssätzen verabschieden dürfen
„Blöder Papa“ – und was, wenn Kinder beißen?
FÜR DEN ALLTAG FÜR EINE GUTE UMGEBUNG SORGEN
VIERTER TEIL Hellwach statt heile Welt
Unsere Welt ist, wie sie ist, und niemand muss schuld sein
Konflikte, spielerische Lösungen und befreiende Gewitter
Kinder können Krise – wir auch?
Erwachen statt erziehen: Martinas innere Reise
FÜR DEN ALLTAG SCHWIERIGKEITEN SEGNEN
FÜNFTER TEIL Handwerk Frieden
Frieden hausgemacht
Den Kampf in Spiel verwandeln
Der verletzte Tiger zwischen Wut und Liebe
FÜR DEN ALLTAG ANFÄNGERGEIST
SECHSTER TEIL Alles gut?
Das ist trauriger als Weinen – Schmerz annehmen
Stürme sind Teil des Wetters
Salma und der Tod: Wenn nichts mehr gut wird
FÜR DEN ALLTAG FRAGEN OHNE ANTWORTEN, SPRACHE JENSEITS DER WORTE
Pädagogik des ohnmächtigen Vaters
Noch mehr Umarmungen
Dank
Literaturhinweise
Anmerkungen
Noch lange hasste es meine mittlerweile erwachsene Tochter, wenn sich der Staubsauger ihrem Zimmer näherte. Eine Zeit lang gab es immer Zoff zwischen uns, wenn ich damit anrückte. Da war sie circa 6 bis 8 Jahre alt. Nach dem Flur war ihr Zimmer dran. In dieser Zeit – es handelt sich um Jahre! – war Staubsaugen in ihrem Zimmer eine Katastrophe. Sobald ich in die Tür trat und mit dem Gerät vorstellig wurde, entfuhr ihr ein „Das geht jetzt nicht!“ und mir ein „Es ist ein Wahnsinn ...“. Der Boden war übersät von Spielsachen, Kleidung, Stiften, Zetteln, Reiswaffelverpackungen … Es war immer wieder das gleiche Muster: Ich regte mich tierisch auf über den „Saustall“, meine Tochter dachte nicht daran, den Boden freizumachen.
Als ich wieder einmal ratlos mit dem Staubsauger in der Hand in der Tür stand, hielt ich inne, stellte das Gerät nochmal ab und schaute mich einfach im Zimmer um. Ich wusste schon (mir war es ja tausendmal eingebläut worden), dass sie mit ihrer Freundin gerade (also: immer) am Spielen war, dass die beiden mühevoll ihre Spielwelten aufgebaut hatten, die man doch nicht einfach wegräumen konnte. Das waren für mich keine wirklichen Argumente, jedenfalls nicht auf Dauer, denn schließlich musste das Zimmer einfach von Zeit zu Zeit gesaugt werden. Aber als ich dort mit meinem Vor-mich-Hinschimpfen bald an ein Ende kam (auch mangels Gegnerin), schaute ich mir das Ganze zum ersten Mal genauer an und sah endlich wirklich, was sie dort gebaut hatten. Sie hatten mit ihren unzähligen Playmobil-Miniaturen sowie mit unterschiedlichsten Holzklötzen, Zettelchen und Dingerchen tatsächlich ganze Welten aufgebaut. Da gab es offene Häuser wie Paläste und Fantasieschlösser mit winzigen Details bis ins Kleinste arrangiert. Ich war so beeindruckt, dass ich irgendwann die Kamera holte (Smartphone hatte ich noch keines), um Fotos zu machen. Doch ich war nicht nur beeindruckt, ich war berührt. Mein Herz hatte sich einen Spalt weit geöffnet.
Ich räumte den Staubsauger wieder weg und stellte meine Erwachsenenvorstellungen zurück, dass man in gewissen Abständen einfach mal durchsaugen muss. Gewisse Abstände sind halt zu gewissen Zeiten mal länger. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir die Angelegenheit in weiterer Folge regelten. Heute jedenfalls, 8 oder 10 Jahre später, ist ihr Zimmer in der Regel ordentlicher als unser Schlafzimmer. Aber um das geht es hier gar nicht, sondern darum, wie sich mein Blick verändert hatte. Es gibt einen Satz, den ich immer wieder von unterschiedlichen Weisheitslehrern gelesen hatte, hier traf er mich wie ein Blitz: „Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind. Wir sehen sie so, wie wir sind.“
Hier war der Moment der „Erleuchtung“: Ich konnte meine Sicht der Dinge suspendieren und die Wirklichkeit anders sehen: für einen Moment nicht mehr vor dem Hintergrund meiner Frustration, meines Alltagsgedöns, meiner Unlust, mich um Aufräumen und Staubsaugen zu kümmern, nicht mehr mit den Augen eines Vaters einer Tochter, die sich nichts sagen lassen wollte und deren Zimmer einfach „immer ein Saustall“ war. Ich begann zu verstehen, wie wir mit Kindern wachsen2 könnten, anstatt immer nur zu versuchen, sie zu erziehen, sie „richtig“ zu machen. Es deutete sich an, wie der Alltag mit Kindern uns manchmal auch helfen kann, die Dinge neu zu sehen, anstatt unsere bisherige Sicht als ausgemacht, richtig und maßgebend zu betrachten und die Kinder unserer begrenzten (!), ja oft eingeschränkten Sichtweise zu unterwerfen. Um es plakativ zu formulieren: „Erleuchtung statt Erziehung“ könnte Momentum und Triebkraft für uns Erwachsene sein. Nun, so tief solche Momente des Erwachens gehen können, so holt uns doch der Alltag schnell wieder ein. „Nach der Erleuchtung Wäsche waschen und Kartoffeln schälen“, heißt ein wunderbares Buch des westlich-buddhistischen Lehrers Jack Kornfield.
Meine Lehrzeit mit meiner starken Tochter war noch nicht zu Ende und ist es natürlich bis heute nicht. Es brauchte alle meine Kinder und viele Kinder mehr, mit denen ich arbeiten durfte. Und es brauchte all die Mystiker:innen, die Weisheitslehrer:innen, Achtsamkeitspraxis und Gebet.
WAS FÜR EIN BUCH IST DAS?
Ist es ein pädagogisches oder ein spirituelles Buch? Darf es beides sein? Es ist ein Buch für Eltern und Pädagog:innen, aber zugleich gehen die Fragen weit über das hinaus, was wir herkömmlich „Erziehung“ nennen. Am Ende ist es unerheblich, ob man selbst Kinder hat oder mit ihnen arbeitet und wie alt sie sind, auch wenn viele Beispiele hier aus dem Alltag mit kleineren Kindern stammen. Wenn wir in die Tiefe gehen, stoßen wir auf eine Weisheit, die grundlegender ist als das, womit wir uns im Alltag befassen müssen.
Ich lade meine Leser:innen ein, Kategorien hinter sich zu lassen. In meinem Fall: Keine Angst vor fließenden Übergängen zwischen Pädagogik und Spiritualität!
Gerade bin ich (zufällig?) über ein Interview mit Yuval Harari gestolpert, einem der brillantesten Denker und Intellektuellen unserer Zeit. Ihm ging es ähnlich wie mir mit seinem scheinbaren Dilemma zwischen Wissenschaften und Mythen – beides hat ihn von Kind auf fasziniert. Erst im Laufe der Lektüre anderer Autor:innen und seiner tiefen Auseinandersetzung mit beiden Feldern erkannte er, dass er sich nicht entscheiden musste, sondern dass es in beiden Feldern darum ging, zu verstehen, wie die Welt funktioniert und was uns die Geschichte von Kosmos und Mensch zeigt. Seine Erkenntnis bestärkt mich, meine unterschiedlichen Zugänge aus Spiritualität und Pädagogik zusammenzubringen. Es fasziniert mich seit vielen Jahren, ein spirituelles Buch zu lesen und plötzlich Brücken zu meiner Arbeit mit Kindern oder Eltern schlagen zu können und umgekehrt. Ich darf Einsichten buddhistischer und mystisch-christlicher Autor:innen sowie meine eigene Meditationserfahrung quasi im Alltag mit Kindern wiedererkennen.
Noch etwas ließ mich bei Hararis Aussagen aufhorchen: die große Bedeutung von Geschichten für uns Menschen. Sie bewegen uns mehr als alles. Das macht sie so mächtig und zugleich so gefährlich. Dass wir ihre Macht heute wieder deutlicher erkennen, zeigt sich daran, wie oft heute von „Narrativen“ die Rede ist – ein Wort, das ich erst seit ein paar Jahren immer öfter höre. Politiker:innen und Kriegsherren, die unsere Welt ins Wanken bringen, brauchen Narrative genauso wie Aktivist:innen, Organisationen und Bewegungen, die unsere Welt retten wollen. In meinen Arbeitsfeldern Pädagogik und Spiritualität finde ich Geschichten seit dreißig Jahren kostbar, nicht nur mit Kindern, sondern erst recht mit Erwachsenen. Im Laufe der Jahre wurden manche meiner eigenen Erfahrungen zu Schlüsselgeschichten, zu Weisheitsgeschichten, die das Leben selbst für mich schrieb.
Dieses Buch ist voller Geschichten. Geschichten aus dem Alltag, aus meinem Alltag mit Kindern und aus dem Alltag von Eltern und Kolleg:innen.
Und hinter all diesen Geschichten kommt auch immer wieder meine persönliche Geschichte zum Vorschein, die vor bald dreißig Jahren mit der Geburt und dem Aufwachsen unserer Kinder anfing. Damals war ich noch dabei, die Botschaft des jüdischen Rabbis im Rahmen meines Theologiestudiums zu analysieren. Der Mann faszinierte mich, seine Botschaft, sein Leben, seine Gleichnisse. Sie haben mich bis heute nicht losgelassen.
Knapp fünf Jahre später begann ich, mit Kindern zu arbeiten, obwohl das in meiner Jugend so unwahrscheinlich war, wie KFZ-Mechaniker oder Buchhalter zu werden. Meine Frau und ich gründeten einen Kindergarten, den wir nach unseren Vorbildern in Telfs und Hall „Kinderwerkstatt“ nannten. Wir feierten gerade unser 25-jähriges Bestehen. Dort darf ich bis heute jede Menge pädagogische Erfahrungen machen und mich weiterbilden. In all den Jahren erlebte und sammelte ich ganz profane Geschichten im Alltag mit Kindern. Zugleich stieß ich auf moderne Weisheitslehrer wie Anthony de Mello, Eckhart Tolle und Jon Kabat-Zinn, mit ihnen sowie der modernen Achtsamkeitspraxis auf weitere Lehrer:innen mit buddhistischem Hintergrund. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass das große Feld der Spiritualität ganz viel mit dem zu tun hatte, was ich mit Kindern lernen durfte und musste. „Mit Kindern wachsen … oder untergeh'n“, beschrieb es Lienhard Valentin3, dem ich viel verdanke und viele Eltern und Pädagog:innen mit mir. Schon in meinem ersten Buch „Kinder sind nichts für Feiglinge“ durfte ich den Alltag mit Kindern als einen „Übungsweg der Achtsamkeit“ skizzieren. Hier in diesem Buch kann ich das Tor noch einmal weiter aufstoßen. Alltag mit Kindern ist nicht nur ein Übungsweg der Achtsamkeit, er ist ein weites Feld spiritueller Praxis, ein Weg der Weisheit: Kinderkram ist Lebenskunst! Unsere großen Fragen begegnen uns bei den Kleinen. Unser Alltag ist unsere spirituelle Praxis, wenn wir unser Herz öffnen. Nicht nur, wenn es vor Liebe überläuft, sondern auch, wenn wir an unsere Grenzen kommen, wenn wir mit unseren Kindern und mit uns selbst hadern, wenn wir dem dunklen Geheimnis des Lebens begegnen und vor Abgründen stehen.
Nach meiner Staubsaugergeschichte zum Einstieg eine biblische Weisheitsgeschichte:
Der Meister war in aller Munde. Er heilte Kranke und berührte die Sehnsucht der Menschen. Seine Worte waren voller Weisheit. So suchten viele ihn zu sehen, wo immer er mit seinen Schülern hinging.
Diesmal kommen welche mit Kindern: Der Meister möge sie berühren. Doch seine Schüler fahren sie an und wollen sie wegschicken. Als der Meister das sieht, wird er wütend und weist sie zurecht: „Was fällt euch ein? Ihr seid meine Schüler geworden, weil ihr Weisheit sucht. Die Kinder sind es doch, die dem Geheimnis des Lebens nahe sind. Hört gut zu: Wer sich nicht auf das Leben einlässt wie ein Kind, wird meine Botschaft niemals verstehen!“
Dann wendet er sich ganz den Kindern zu, schließt sie in seine Arme und segnet sie.4
Was als eine vermeintliche Störung daherkommt, endet mit einer Umarmung. Was von den Schülern als unbedeutend abgetan wird, bezeichnet ihr Meister als Schlüssel zu seiner Lehre.
Die Geschichte von der Umarmung der Kinder enthält in gewisser Weise schon die ganze Botschaft des Buches. Deswegen greife ich immer wieder darauf zurück.
Kinder sind mehr als eine notwendige Begleiterscheinung, mehr als ein recht aufwändiger Nebenjob in der Rushhour unseres Lebens. Sie sind auch auf die Welt gekommen, damit wir selbst unser Erdenleben neu erfassen, aufwachen und uns daran erinnern, wer wir sind: Kinder des Himmels. „Erziehung“ im herkömmlichen Sinn ist keine gute Erfindung: Erwachsener zieht am Kind. „Weisheit“ hingegen ist eine gemeinsame Suchbewegung. Sie weiß nicht schon Bescheid. Wir sind alle auf dieser geheimnisvollen Erde, ohne wirklich zu wissen, warum. Aber wir können unsere Jahre nützen, um wieder zu staunen, ein paar wertvolle Erfahrungen zu sammeln und zusammen an Güte zu wachsen. Inspiration, ja wahre Schätze finden sich dafür auch im Kinderzimmer.
Slow down, you move too fast
You got to make the morning last
Paul Simon, 59th Street Bridge Song
Kinder bremsen, Erwachsene beschleunigen. Kinder lachen und toben, spielen und trödeln. Erwachsene haben es eilig und stöhnen. Kinder sind im Seinsmodus, Erwachsene im Erledigungsmodus. Wenn die zwei Welten aufeinanderprallen, knirscht es. Gleichzeitig braucht es Sand im Getriebe, sehnen auch Erwachsene sich nach mehr Langsamkeit. Kinder helfen uns, im Hier und Jetzt anzukommen. Im Alltag mit Kindern geht es uns wie auch sonst: Das Leben hält sich nicht an unsere Termine. Oder frei nach John Lennon: „Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.“
So genannte „Störungen“ ziehen sich wie ein roter Faden durch dieses Buch. Oft sind sie der ganze Stoff, aus dem wir ein Stück Weisheit gewinnen. Die größte und wertvollste „Störung“, die uns im Leben passieren kann, ist die Geburt eines Kindes. Kaum sind wir selbst groß geworden und fühlen uns in einer Welt von Erwachsenen angekommen, gerät alles wieder durcheinander. Weisheit liegt darin, das ganze Leben als unsere „spirituelle Praxis“ zu betrachten – gerade wenn es durcheinandergerät.
Oriah Mountain Dreamer, eine kanadische Schriftstellerin, die mit ihrem Buch „The Invitation“ weltweit bekannt wurde, verdichtete ihr Verständnis von Spiritualität auf folgende Weise: „Es gibt nur zwei Regeln, die wir befolgen müssen, um unser spirituelles Leben zu entwickeln und zu vertiefen: Langsamer werden und loslassen.“ Beides haben die Kinder bei ihrer Geburt mit im Gepäck. Das Loslassen durchzieht das ganze Buch. Das Bremsen steht zu Beginn unseres „Weisheitstrainings“. Erst wo alles etwas langsamer wird, können wir aufmerksam werden: „Pass auf!“ – Wie oft sagen wir das zu Kindern?! Wie oft sagt es das Leben zu uns?!
Wenn Kinder in unser Leben kommen, ist es, als ob das Universum mal kräftig auf die Bremse treten würde: „Jetzt pass mal auf!“ Die Zeit steht still, und viele erleben das als großes Geschenk. Nach neun Monaten verborgen im Bauch der Mutter liegt dieses faszinierende Bündel Leben nun ausgepackt da und lässt uns staunen. Eine wundersame Manifestation dieser geheimnisvollen Welt lässt uns den Atem anhalten und alles andere in den Hintergrund treten. In den Augen dieser Neugeburt erhaschen wir einen kurzen Blick in die Welt, aus der das Kind gekommen ist. Und wir schließlich auch!
Doch sobald der Zauber der ersten Tage und Wochen nach einer Geburt verflogen ist, wird es für uns Erwachsene oft mühsam, weil wir eben zurück müssen in diese „unsere“ Welt. In dieser haben wir über viele Jahre hinweg genau das Gegenteil von dem gelernt, was wir jetzt lernen dürfen: innehalten. Im „Schneller, schneller, schneller!“ gibt es kaum einen Augenblick, dem nicht die Zeit im Nacken sitzt. Doch vielleicht spüren wir, dass es genau das ist, was wir uns zutiefst wünschen: zu verlangsamen. „Slow down“ – wörtlich langsam tief. Bremsen und in die Tiefe schauen. Ausbrechen aus einer Kultur, die uns an eine unglaubliche Beschleunigung gewöhnt und krank gemacht hat.
WARUM DIE EILE?
Jon Kabat-Zinn, der Pionier der modernen Achtsamkeitsbewegung, verglich uns einmal mit einem Frosch, der in einem Topf sitzt, der langsam, aber stetig erhitzt wird. Weil der Frosch die tödliche Gefahr durch diese langsame Gewöhnung nicht spürt, bringt ihn die Hitze um, während er sich mit einem Sprung heraus retten würde, wenn er ins heiße Wasser geworfen würde.
So ähnlich überhitzt auch unsere innere Betriebstemperatur, steigt unsere Spannung, unser Tempo. Und so gewöhnen wir uns auch im Alltag eine Haltung der Eile an, auf die wir manchmal plötzlich stoßen und uns vielleicht fragen: Was treibt mich eigentlich so an? Ich müsste jetzt doch gar nicht hetzen. So ähnlich beschreibt es der Gründer der Bewegung „Wisdom 2.0“, Soren Gordamer, in einem Newsletter5: „Ich bemerkte kürzlich, wie ich sehr schnell in mein Büro zurückkehrte und mich dabei erwischte. ‚Warum bin ich eigentlich in einer solchen Eile?‘ und ‚Wann hab ich eigentlich damit begonnen, in einem solchen Tempo in meinem Leben unterwegs zu sein?‘ Mir fiel nichts Besonderes ein, das meine Eile verursacht hätte, nur das Übliche: E-Mails, die zu beantworten waren, Arbeit, der ich nachgehen sollte … Aber warum diese Hast?!“
Mir ging es ein paar Tage, nachdem ich das gelesen hatte, ähnlich: Ich war morgens beim Zähneputzen und merkte plötzlich, wie gehetzt und getrieben ich war – nur weil der Tag vor mir lag. Ich hatte manches zu tun, aber eigentlich keinen Termin, keinen Bus zu erwischen, hier und jetzt keinen Grund zur Eile! Wir sind nicht nur durch die rasante technische Entwicklung der vergangene Jahrzehnte auf diese Beschleunigung getrimmt worden, die Eile hat auch mit unserem alltäglichen „Erledigungsmodus“ zu tun. Und es ist, als ob wir diesen Moment, dieses Zähneputzen, ja womöglich sogar das Frühstück usw. nur möglichst schnell hinter uns bringen wollen, weil der nächste oder der übernächste Moment ein besserer, ein wichtigerer wäre. So erledigen wir uns durch unseren Alltag, vielleicht in der Meinung, wir würden in Pausen oder am Feierabend endlich diese besseren Momente genießen. Doch wenn wir ehrlich sind, sind wir zu erledigt, und es bleibt eine gewisse Unruhe und Getriebenheit als Grundspannung in uns, die wir weder in den Pausen noch am Abend, noch in der Freizeit oder im Urlaub je ganz ablegen können. „Slow down, you move too fast.“ – „Langsamer, du bewegst dich zu schnell.“ Der Beginn von Paul Simons legendärem „59th Street Bridge Song“ hat sich schon vor Jahrzehnten in mein Herz gebrannt und erinnert mich an diese erste wichtige spirituelle Übung, vor allem, wenn ich mal wieder völlig grundlos durch die Gegend hetze. Soren Gordamer schließt seinen Newsletter mit einem Rat der US-amerikanischen Schauspielerin und Komikerin Lily Tomlin: „Für eine schnelle Erleichterung versuche langsamer zu werden.“
Glücklich, die Kinder „haben“, die einen bremsen und vom ersten Tag ihrer Ankunft hier auf der Erde an etwas erinnern, was wir verlernt haben. Spaziergänge mit kleinen Kindern sind ein Albtraum für alle, die es eilig haben, und zugleich Medizin für chronisch Gestresste: langsam gehen, immer wieder stehen bleiben, schauen, spüren, staunen – das Wesen von Mystik und Achtsamkeit, Meditation und Spiritualität. Kinder können uns einbremsen, um eine wichtige Lektion des Lebens zu lernen: ankommen statt immer nur vorankommen zu wollen. Dieser Moment ist wichtig – ja dieser Moment ist der einzige, den wir wirklich „haben“. Ist es möglich, unsere Getriebenheit wieder zu verlernen und damit die aussichtslose Jagd nach dem Phantom der „besseren Momente“, die immer nur in der Zukunft zu liegen scheinen?
Achtung Kinder! – das Verkehrsschild an belebten Siedlungsstraßen oder vor Kindergärten und Schulen bedeutet: Hier ist Schritt-Tempo angesagt. Und das ist für Autofahrer und Erwachsene wirklich langsam. Wer schon mal dort geblitzt worden ist, weiß um das empfindliche Bußgeld. Doch Langsamkeit rettet Leben – das unserer Kinder und unser eigenes.
Der Neuropsychologe Rick Hanson weist darauf hin, dass Eile in unserem Gehirn Stressreaktionen auslöst, als ob ein Löwe hinter uns her wäre. Chronische Eile aktiviert unser neurologisches Warnsystem. Wenn wir nicht aufpassen, laufen wir ständig mit einem Gehirn in Alarmbereitschaft, ja im Alarmmodus herum.6 Mit Kindern dagegen bekommen wir die Gelegenheit, das Tempo unseres Lebens zu drosseln. So genannte „Störungen“ können dabei eine große Hilfe sein. Störungen sind lästig, in unseren To-Do-Listen nicht vorgesehen. Sie durchkreuzen eben gerade unsere Pläne. Doch wir können sie wie die eingebauten Pausenwarnungen auf den Screens sehen, die an notwendige Unterbrechungen erinnern. Kinder sind unsere Chance, den Autopiloten auszuschalten und sozusagen auf manuell zu stellen.
„HAB' ICH DICH!“
Eine Mutter erzählt in einer Workshop-Reihe vom Anziehen ihrer kleinen Tochter Klara.
Anziehen kann ein veritables Projekt werden, vor allem bei Kindern, die von Natur aus eher langsam sind. Noch größer wird natürlich das „Projekt“, wenn Kinder sich überhaupt nicht gerne anziehen Es gibt Kinder, die am liebsten gar keine Kleidung tragen (würden). Aber in unseren Breiten geht das nur in der warmen Stube oder im Sommer draußen.
Klara hat kein grundsätzliches Problem mit Kleidung. Dennoch gibt es Schwierigkeiten, eine „Störung“, die im Alltag von Mama und Tochter öfter auftritt. Klara läuft der Mama davon, sobald sie ihr die Jacke anziehen möchte.
Ein Klassiker für viele Eltern. Und etwas, das ordentlich nerven kann, wenn man es eilig hat. Doch auch in vielen Fällen dann, wenn eigentlich gar keine große Eile geboten ist. Als Eltern können wir in die Falle gehen, dass es „ums Prinzip“ geht. Soll heißen: Das Kind sollte nicht davonlaufen, wenn Mama oder Papa es gerade anziehen wollen! Wir kommen im dritten Teil auf solche „Sollte-Sätze“ zurück. Hier aber geht es um eine geniale Entdeckung der Mama, die von dieser „Störung“ berichtet.
Nachdem sie mit ihren ersten beiden Kindern schon manche Lektion lernen durfte und mit dem dritten Kind bereits gelassener sein kann, ist sie mittlerweile geübt darin, genauer hinzuschauen, was eigentlich passiert, anstatt sich ständig von Glaubenssätzen, Prinzipien oder „Erziehungsreflexen“ antreiben zu lassen. Sie beobachtet, dass Klara es genießt, wenn sie von Mama „gefangen“ wird. Klara macht ein Spiel daraus! Und weil Mama jedes Mal beim Fangen „Hab' ich dich!“ sagt, hat das Kind auch gleich einen Namen für das Spiel gefunden.
„Na toll“, höre ich manche Leser:innen raunen. „Wenn sich das Kind jetzt ein Spiel daraus macht, dann wird das jedes Mal ein Theater!“ „Jedes Mal“ ist ein beliebtes Totschlag-Argument, das bei Kindern besonders häufig ins Feld geführt wird und uns als Eltern nur selten weise macht. Wir kommen gleich bei einer anderen Geschichte von Vater und Tochter noch darauf zurück. Dieses Mal ist aber nicht jedes Mal, und wenn wir öfter dieses Mal genauer hinschauen, können wir erkennen, dass Kinder quasi immer spielen. Ihr ganzes Leben ist (noch) Spiel. Auch im Kindergarten gibt es Kinder, die oft einen ganzen Vormittag in ein zusammenhängendes Rollenspiel einbinden, wo auch gebastelt, getobt und „gearbeitet“ wird, um die unterschiedlichsten Elemente eines Spiels mit ihren vielfältigen Bedürfnissen in Zusammenhang zu bringen. Allein der Begriff „Rollenspiel“ trennt etwas, das in der Wirklichkeit von Kindern eins ist und bleibt: Alles, was Kinder im Kindergarten tun, ist zugleich Spiel, Lernen, Arbeit. „Spiel ist die Arbeit des Kindes“, war die pädagogische Pionierin Maria Montessori überzeugt. Wir Erwachsene haben leider gelernt, das alles zu trennen. Und so schauen wir auch auf die Aktivitäten von Kindern und nennen das eine Rollenspiel und das andere vielleicht Lernen oder Arbeit und lassen uns oft seltsame Übungen einfallen, die eben das Lernen befördern sollen, wo es im Spiel viel lustvoller und ganzheitlicher auch passieren würde. Doch zurück zum „Hab' ich dich!“:
Klaras Mama hält inne, stellt ihre möglichen Impulse und Gedanken zurück und schaut unvoreingenommen auf das, was in diesem Hab'-ich-dich-Spiel passiert. Klara genießt es, von der Mama genommen, gedrückt, umarmt zu werden. Klaras Mama bringt in unserer Workshop-Gruppe ihre Erkenntnis auf den Punkt: „Klara möchte gar nicht davonlaufen, sie will gefangen werden!“
So einfach, aber so radikal ist die Kehrtwende: Während wir uns (!) daran stören, dass Kinder davonlaufen, können wir erkennen, dass ein Kind gefangen werden will. Es nützt also dieses Spiel, um die Nähe und Liebe zu ihrer Mama zu spüren. Wir kommen auf das große körperliche Bedürfnis von Kindern noch öfter zurück. Während wir uns nicht selten von einem kleinen Kind provoziert fühlen und ihm böse Absichten unterstellen, sorgt das Kind für seine Bedürfnisse! Es schert sich noch nicht um unser durchgetaktetes Erdenleben, es ist ja gerade erst vom Himmel gefallen! Natürlich können wir das nicht endlos und bei jeder Gelegenheit zelebrieren. Aber manchmal, dieses Mal? Wenn wir es manchmal tun und uns von unseren Kindern aus unseren Gedanken holen lassen, werden wir auch selbst spüren, wie wohl es uns tut: einen Moment die Liebe fühlen, die zwischen uns und unserem Kind fließt. Wollen wir ernsthaft behaupten, wir würden dabei Zeit verlieren?! Wir dürfen uns manchmal und öfter dazu entscheiden, uns aus der Getriebenheit holen zu lassen, um auch selbst die Umarmung zu spüren – um „eingefangen zu werden“ von den Momenten, die unser Leben wertvoll machen. Momente, in denen wir ganz da sind, anstatt den vermeintlich besseren Momenten nachzulaufen, die ja doch nicht kommen, weil dann schon wieder die nächsten im Blick sind …
BERÜHRBAR SEIN
Die biblische Weisheitsgeschichte vom Meister, der nicht zulässt, dass die Kinder von ihm weggeschickt werden (s. S. 15), weist eine ähnliche Dynamik auf. Auch sie mündet in eine Umarmung, wo seine Schüler eine Störung beseitigen wollen. Die Reaktion des Rabbis aus Nazareth ist streng zu seinen Schülern und voller Sanftheit zu den Kindern, die das Leben ihm da zufällig vorbeischickt. Ich kann mir vorstellen, dass diese ganze Geschichte so ähnlich auch von Buddha oder anderen spirituellen Lehrer:innen und ihren Schüler:innen handeln könnte. Der Meister ist empört über seine Jünger und es ist, als ob er ihnen zurufen wollte: „Achtung Kinder! Achtung Leben!“ Oder etwas aufgebrachter in den Worten meiner jüngsten Tochter, als sie immer wieder auf den Widerstand ihres Vaters traf: „Ihr checkt es einfach nicht!“ Jesus meint: „Nicht Störenfriede habt ihr hier vor euch, sondern Türöffner – zum Verständnis meiner Botschaft, zur Kunst des Lebens, Leute!“
Tauchen wir also noch tiefer ein in diese kleine Geschichte mit großer Aussagekraft.
Spannend ist jedenfalls der Grund, warum man die Kinder zum Rabbi bringt: „damit er sie berühre“. Nicht etwa, damit er sie (religiös) unterweise, nicht einmal eine Geschichte erzählt er ihnen, wo er doch auch ein begnadeter Erzähler war und wo Kinder Geschichten lieben. Es gab etwas, das noch viel wichtiger war: Zuwendung. Berührung. Kontakt. Nähe. Im Grunde war es auch das, was die Erwachsenen am Meister faszinierte. Er war ein ausgezeichneter Redner und Rabbi, also ein religiöser Lehrer; aber er war kein unnahbarer Philosoph oder Dichter, der nur schöne Worte machte, kein Intellektueller, der kluge Thesen aufstellte, er war angreifbar, berührbar.
Und seine Schüler meinten es gut. Aber gut gemeint ist ja leider oft genau daneben. Wie unwichtig scheinen Kinder, wenn sie hier einen Lehrer um sich haben, dem ganze Scharen von Leuten nachlaufen!? Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, dass es diese kleine Geschichte überhaupt in die Heilige Schrift des Christentums geschafft hat. Wäre die Reaktion nicht so ungewöhnlich gewesen, hätte der Verfasser des Markusevangeliums keinerlei Veranlassung gehabt, diese Episode in sein Werk aufzunehmen. Es wäre dem Autor ähnlich gegangen wie den Jüngern: Kinder sind völlig bedeutungslos, warum also Jesu Begegnung mit ihnen in die Frohe Botschaft aufnehmen? Die Schüler kommen dabei noch dazu sehr schlecht weg, obwohl sie sich wohl ganz sicher waren, dass jetzt keine Zeit für solche Nebensächlichkeiten war. Die Zeit drängte, die Menschen kamen in Massen, sie waren fasziniert, bedürftig, hungrig. Und jetzt soll sich der Meister auch noch um ein paar Kinder kümmern? Die Schüler wirken hier wie Bodyguards oder Vorzimmersekretäre. Sie wollen ihrem Chef die unwichtigen Dinge vom Leib halten, damit er und sie selbst sich auf die wirklich wichtigen Dinge beschränken können.
Bei Kindern passiert uns das ganz leicht. Wir haben immer etwas Wichtigeres zu tun, glauben, keine Zeit zu haben für Kleinigkeiten und Alltagskram, wir sind einfach immer viel zu beschäftigt mit dem, was scheinbar wirklich zählt: unsere To-do-Listen, irgendein Telefonat, eine E-Mail, eine Erledigung … Wir haben also eine Idee davon, was wichtig ist und was unwichtig, ohne diese Urteile zu hinterfragen. Und wenn wir nicht aufpassen, verpassen wir, was uns das Leben eigentlich gerade zu bieten hat.
Denn: Kinder stehen uns nicht im Weg, sie sind unser Weg – für Eltern und Pädagog:innen, aber auch für spirituell Interessierte. Sie sind ein direkter Weg, sich mit Fragen der Lebenskunst, Sinn und Weisheit auseinanderzusetzen, wie wir in den folgenden Kapiteln noch sehen werden.
KEHRTWENDE
Während die Erwachsenen immer davon ausgehen, Kinder müssten erzogen, gebildet, unterrichtet werden – auch in religiösen Angelegenheiten –, ist hier also ein Lehrer, zu dem man Kinder bringt, damit er sie berühre. Beziehung statt Erziehung. Doch er dreht erst recht die Blickrichtung um: Nicht die Kinder haben hier etwas zu lernen, sondern die Erwachsenen, konkret seine Schüler! „Wenn ihr nicht eine Kehrtwende macht und werdet wie die Kinder …“, heißt es an anderer Stelle.7
Diesen radikalen Perspektivenwechsel nimmt dieses Buch ein: Lernt eure Lektionen von und mit den Kindern! Doch der Rabbi belässt es nicht bei Worten, sein Verhalten spricht noch eine viel deutlichere Sprache. Der Meister legt ihnen nicht nur die Hände auf, um sie zu segnen, wie er es bei den Erwachsenen tut, gerade bei Heilungsbegegnungen, er verbindet sich noch viel stärker, indem er die Kinder umarmt. Wir wissen alle aus Erfahrung, was eine Umarmung von einem Händeschütteln unterscheidet. Der ganze Körper verbindet sich mit dem des anderen, große Nähe, Geben und Empfangen. In einer respektvollen, gegenseitigen Umarmung liegt eine große Kraft, wenn wir unser Herz auch wirklich öffnen und Worte sowie Gedanken für einen Moment zurücktreten können. Bei kleinen Kindern müssen wir uns ganz klein machen, in die Knie gehen, auf Augenhöhe kommen. Und natürlich muss die Bereitschaft zur Umarmung eine gegenseitige sein.
AUFMERKSAMKEIT UND ENTSCHLEUNIGUNG
Die Geschichte vom Meister ist auch eine über Aufmerksamkeit. In der modernen Ratgeberliteratur sowie in Aufbrüchen zu einer Spiritualität – auch fernab von einer traditionell religiösen Praxis – geht es um mehr Bewusstheit: Awareness und Mindfulness sind wichtige Schlagworte in einer Schulung der Aufmerksamkeit. Das Bewusstsein für ihre Bedeutung geht mittlerweile weit über die Bereiche klassischer Meditation hinaus. Es ist ermutigend zu sehen, wie Menschen heute damit genau dem entgegenwirken, was unsere Zeit neben der Beschleunigung so sehr kennzeichnet und unsere Beziehungen schwächt: Mangel an Aufmerksamkeit, Mangel an Bewusstheit, Mangel an Gegenwärtigkeit und Präsenz, damit auch Mangel an Zuwendung, Beziehungsfähigkeit und Mitgefühl. Verlangsamung und Aufmerksamkeit hängen dabei unmittelbar zusammen.
Unsere Zeit ist geprägt von regelrechten Aufmerksamkeitsräubern. In unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit herrscht ein veritabler Kampf um Aufmerksamkeit. Unsere digitalen Begleiter haben uns in Form des „Handys“ buchstäblich in der Hand. Via Smartphone oder vor den Screens an allen Orten tun die gesellschaftlichen Akteure aus Wirtschaft und Medien alles, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen und möglichst lange zu behalten. Ihre Strategien, Apps und Algorithmen sind mächtig und so wundert es nicht, dass es unsere Kinder schwer haben, uns zu erreichen, bis zu uns durchzudringen. In Hamburg gab es vor ein paar Jahren eine Demo, wo Kinder sozusagen gegen ihre Eltern auf die Straße gingen, weil sie es satthatten, dass sie immer nur geteilte Aufmerksamkeit erhielten. Natürlich waren die Eltern dabei, aber die Slogans auf den Plakaten richteten sich an die Erwachsenen: „Am Sandkasten Handyfasten!“ oder „Wir sind laut, weil ihr nur aufs Handy schaut!“
Entschleunigen und aufpassen, dass wir nicht die Geschenke des Lebens verpassen, ist also unsere erste Lektion. Und: Aufmerksamkeit zurückgewinnen. Statt Kinder also möglichst schnell an unsere Beschleunigung zu gewöhnen (und das beginnt mit dem Aus- und Anziehen in der Garderobe), können wir die Chance ergreifen, zu entschleunigen und langsamer zu werden. Mit Kindern erleben wir auch, dass wir manchmal in Fahrt geraten, wo wir es gar nicht wollen. Längst vergangen geglaubte „schwierige“ Emotionen tauchen wie aus dem Nichts auf und bringen uns auf Touren. Da ist es ratsam, bremsen zu lernen. Schritt-Tempo hilft uns, kein Kind in Gefahr zu bringen. Und wer mehr Zeit hat, kann auch selbst die Fahrt besser genießen, die äußere und innere Landschaft wahrnehmen und staunen, was es in unseren Köpfen und Herzen alles zu entdecken gibt. Wahrnehmung, die Schulung unserer Sinne und ein Achten auf unsere Gefühle und Gedanken sind unverzichtbar für ein erfülltes Leben wie für den Weg, mit Kindern zu wachsen. Im Alltag mit Kindern bieten sich Einsichten und Skills für das ganze Leben. Kinder sind wie ein Grundkurs in Persönlichkeitsentwicklung, Achtsamkeit und Herzensbildung.
Achtung Kinder! ist also nicht nur ein Verkehrsschild; es ist auch ein Weckruf: unseren Alltag mit Kindern für eine Neubesinnung nützen, die Chance darin für unser eigenes Leben erkennen, langsamer zu werden und genauer hinzuschauen, was in unserem Leben passiert. Wir haben viel zu tun und müssen an so vieles denken. Da bleibt nicht viel Zeit für Kinder. Und gleichzeitig wohnt in uns vielleicht eine kleine Sehnsucht. Nach einem Leben, das vielleicht nicht nur für Kinder entspannter, lebenswerter, adäquater wäre. Langsamer, freier, natürlicher. Schlichter vielleicht, aber dafür mit weniger Druck von allen Seiten. Wir müssen nicht nur auf unsere Kinder aufpassen, sondern auch auf uns selbst. Es liegt auch an uns selbst, unsere Lebensweise zu hinterfragen. Muss wirklich alles so sein, wie wir es uns persönlich und gesellschaftlich eingerichtet haben? Wird uns das gerecht? Erlauben wir uns manchmal auch mit Kindern, „outside the box“ zu denken?
Die Sonne geht im Osten auf und im Westen unter. So ist es nun mal. Der Schulbus kommt, die Kinder steigen ein, wir gehen zur Arbeit. So ist es nun mal, so muss es sein.8
Steven Harrison