Der Schlüssel zum Tor - Eva Seith - E-Book

Der Schlüssel zum Tor E-Book

Eva Seith

0,0

Beschreibung

Seit Tagen erscheinen der 12-jahrigen Lili seltsame Gestalten, die außer ihr keiner zu sehen scheint. Als sie sich ihrer Großmutter anvertraut, erfährt sie, dass sie der Sprössling eines uralten Familienclans ist, der eine geheimnisvolle Gabe hütet, die nur in jeder vierten Generation eine Trägerin erwählt. Doch es kommt noch dicker, denn alles deutet darauf hin, dass sie die nächste Auserwählte ist. Von einem Augenblick auf den anderen steht Lili an der Grenze zweier Welten, deren Überschreiten sie großer Gefahr aussetzt. Schon bald überstürzen sich die Ereignisse und reißen sie in einen Strudel mysterioser Abenteuer. Wird Lili ihr Schicksal meistern? Es beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod ..."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 253

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eva Seith

Der Schlüssel zum Tor

Erkenne, wer du bist

Besuchen Sie uns im Internet:

www.talawah-verlag.de

www.facebook.com/talawahverlag

1. Auflage 2017

© Talawah Verlag

Lektorat/Korrektorat: Carolin Böttler

Umschlaggestaltung: Susann Julieva

Illustrationen: Melanie Phantagrafie

Satz: Marlena Anders

Printed in Poland 2017

ISBN: 978-3981858-6-3

Eva Seith

Der Schlüssel zum Tor

Erkenne, wer du bist

Prolog

Nichts im Leben verabscheute Lili so sehr wie die Freitage. Die hasste sie wie die Pest. Könnte man die Freitage ausrotten wie eine lästige Krankheit, Lili hätte es längst getan. Doch gegen Freitage war kein Kraut gewachsen: Sie kamen einfach immer wieder. Und das war vielleicht das Gemeinste an ihnen.

Auch der heutige Freitag hatte sich nicht aufhalten lassen. Mit gnadenloser Präzision war er Tag für Tag, Stunde um Stunde und Minute für Minute näher gekrochen und hatte Punkt Mitternacht seinen Platz eingenommen.

Als Lili die Füße aus dem Bett schwang, zum Fenster schlurfte und die Vorhänge aufzog, grinste er ihr bereits schadenfroh entgegen. Was soll’s, dachte sie mit einem müden Achselzucken. Sie hatte ihn erwartet und sie würde ihn irgendwie durchstehen und dann so schnell wie möglich wieder vergessen, genau wie all die anderen Freitage vor ihm. Doch da irrte sie gewaltig!

Ein ungewöhnlicher Freitag

Wie der Schrei eines kampflustigen Kriegers hallte das laute Hupen von der Straße heran, quetschte sich ungeduldig durchs Schlüsselloch, warf sich Kräfte sammelnd von Wand zu Wand und eroberte siegestaumelnd die ganze steinerne Pausenhalle.

Auch Lilis Ohr hatte es im Sturm genommen. Doch als ihr Trommelfell unter dem dröhnenden Hupen zu vibrieren begann, war es bereits zu spät zur Flucht. Die ängstlich erwartete Kettenreaktion hatte sich in Gang gesetzt und nichts würde sie mehr aufhalten!

Nur Sekunden später pfiff Max, der Mädchenschwarm aus der 7b, kurz und schrill durch die Zähne und winkte seine Kumpels heran. Alles, was Beine hatte und auf sich hielt, drängelte sich bald darauf vor der vierflügeligen Eingangstür und drückte sich am kalten Glas die Nase platt.

Ohne selbst einen Blick nach draußen zu werfen, wusste Lili, was die Jungen derart in Bann schlug, dass sie alles andere um sich herum vergaßen: Ihre Mutter war gekommen, um sie abzuholen, wie jeden Freitag, und setzte sich während des Wartens mal wieder in Szene.

Wie peinlich! Wütend klaubte sie ihre Sachen zusammen und folgte den restlichen Schülern, die nun ebenfalls zum Fenster strömten, damit sie auch ja nichts verpassten. Als sie die anderen erreichte, bot sich ihr ein vertrautes Bild: ihre Mutter lässig an ihr Cabriolet gelehnt, das Handy am Ohr.

Während die Jungen ihre Augen nicht von dem neuen Flitzer lassen konnten, bewunderten die Mädchen tuschelnd das modische Outfit und die langen schwarzen Locken, die Lilis Mutter geschmeidig wie Samt fast bis auf die Taille fielen.

Lili holte tief Luft und schritt durch den Ausgang. Sie hasste diese Minuten, in denen sie die Strecke über den Schulhof zurücklegen musste und die Blicke ihrer Mitschüler ihr am Rücken klebten. Obwohl Lili wusste, dass sie in dem Moment, in dem sie den Wagen bestieg, von allen beneidet wurde, war es ihr ebenso bewusst, dass die Mädchen zwischen ihr und ihrer Mutter jeden Freitag aufs Neue Vergleiche zogen. Das war eindeutig mehr, als sie ertragen konnte. Welcher Esel trat schon gegen ein Einhorn an?

Kurz: Um Lilis Selbstbewusstsein war es nicht sonderlich gut bestellt. Sie war klein für ihr Alter und hatte kupferrote, drahtige Locken, die man – wenn überhaupt – nur mit einem starken Gummi bändigen konnte. Ein Schraubstock wäre vermutlich besser geeignet. Ihre Haut war milchweiß und über Nase und Wangen verteilte sich ein ganzes Heer von Sommersprossen. Die Augen – moosgrün – waren das Einzige, das Lili an sich wirklich schön fand.

Doch ihre Mutter bekam von all dem nichts mit. Lili wusste, dass sie nur ein Wort zu sagen brauchte, um der freitäglichen Szene ein Ende zu bereiten. Doch eben dieses Wort brachte sie nicht über die Lippen. Würde ihre Mutter auch nur ahnen, was sie durchmachte, würde sie vermutlich in Zukunft um die Ecke parken und dort auf sie warten. Aber Lili wollte ihre Mutter nicht verletzen, denn sie wusste, dass sich tief unter der schönen und erfolgreichen Fassade ein weiches Herz verbarg.

Heute gab es aber noch einen anderen Grund für Lilis miese Laune. Ihre Mutter hatte wieder einmal das gemeinsame Wochenende abgesagt. Das schmerzte – vor allem, wie sie es getan hatte: »Eine wichtige Tagung, Schatz, das verstehst du doch, nicht wahr?« Zusätzlich hatte es eine großzügige Taschengeldzulage gegeben. Von langen Erklärungen hielt ihre Mutter nichts. Auch ihre Äußerung: »Du bist doch gern bei Großmutter, oder etwa nicht?«, war mehr als Feststellung denn als Frage gedacht, bevor sie schon wieder die Mails in ihrem Computer abfragte oder hektisch das ewig klingelnde Handy ans Ohr hielt. Vor allem aber ärgerte Lili sich über sich selbst, weil das Verhalten ihrer Mutter ihr immer aufs Neue ins Herz schnitt.

Eigentlich war es inzwischen ganz normal, dass ihre Mutter als viel beschäftigte Börsenmaklerin nur wenig Zeit für sie hatte. Einer musste ja das Geld verdienen. Im Grunde liebte Lili sie so, wie sie war, und sie ahnte, dass ihre Mutter sie ebenso liebte. Auch wenn die wahrlich kein Meister darin war, es zu zeigen.

Das war nicht immer so gewesen. Bevor John Brown, Lilis Vater, sie und ihre Mutter Marla kurz nach Lilis fünftem Geburtstag verlassen hatte, hatte sie mit ihrer Mutter viel Zeit verbracht. Sie hatten miteinander gelacht und gespielt und abends hatte ihre Mutter bei ihr am Bett gesessen und ihr Geschichten erzählt, lange, wilde und gruselige Geschichten, während der Regen ans Fenster tropfte und sie sich gebannt aneinander kuschelten. Ihre Mutter war eine Meisterin im Geschichtenerzählen. Sie schlüpfte so lebhaft in die einzelnen Rollen, als hätte sie jede Szene am eigenen Leibe erlebt. Ihre Augen hatten dabei so warm und golden gefunkelt wie die flackernden Flammen im abendlichen Kamin.

Doch dann war dieser eine Abend gekommen, den Lili nie vergessen konnte. Der Mond hatte sich hinter einer Wolke versteckt und es war stockdunkel und kalt im Zimmer gewesen, als sie erwacht war. Etwas hatte sie geweckt, etwas Bedrohliches und Angsteinflößendes. Es lag in der Luft und lauerte in den Schatten. Sie hatte nicht viel von dem Streit gehört, nur einzelne dunkle Worte, die wie böse Geister durch die Wände glitten: Hexenkram – total verrückt – Wahnsinn,hallte die Stimme ihres Vaters durch die Nacht. Ihre Mutter hatte gefleht und gebettelt, dann geschimpft. Geschirr war zerbrochen und zum Schluss eine Tür hart ins Schloss gefallen.

Den Rest der Nacht hatte sie ihre Mutter im Nebenzimmer weinen gehört. Nach einer Weile war sie zu ihr gegangen und hatte sich an ihr Bett gesetzt, ängstlich, beklommen und ratlos, doch ihre Mutter hatte sie gar nicht bemerkt. Leise war Lili zurück in ihr Zimmer geschlichen und irgendwann eingeschlafen.

Am nächsten Morgen war ihre Mutter eine andere gewesen. Der warme goldene Glanz hatte sich aus ihren Augen gestohlen und war einem matten kühlen Schleier gewichen. Sie lachte nur noch selten und die lustigen selbstgestrickten Ponypullover wechselten mit klassischen Kostümen oder sportlichem Schick. Was Lili jedoch am meisten vermisste: Seit jener Nacht hatte ihre Mutter nie wieder Geschichten erzählt.

Ihr Vater war nicht zurückgekehrt und später bei einem Unfall ums Leben gekommen. Alles, was Lili von ihm geblieben war, war eine zerknitterte Fotografie, die sie vor dem Entsorgungswahn ihrer Mutter hatte retten können und in einer Ritze zwischen dem Bein und der Rückwand ihrer alten Holzkommode heimlich verwahrte.

Graue Leere breitete sich in der Wohnung aus wie Nebel an einem kühlen Novembermorgen und ihre Mutter huschte darin herum wie ein Gespenst. Immer, wenn Lili ihre Nähe suchte, den Arm nach ihr ausstreckte oder sich an sie kuscheln wollte, löste sie sich auf in den Schwaden geschäftigen Treibens. Sie ging in ihren Job zurück, blieb immer länger im Büro und war oft auf Geschäftsreise. Angeblich, um all die lästigen Rechnungen zu bezahlen und damit es ihnen an nichts fehlte. Doch Lili wusste es besser: Ihre Mutter tat einfach alles, um zu vergessen!

So kam es, dass Lili in den letzten sieben Jahren immer mehr Zeit bei ihrer Großmutter verbracht hatte, ja eigentlich dort aufwuchs. Sie traute sich bis heute nicht zu fragen, was in jener Nacht geschehen war, denn sie wollte ihre Mutter nie wieder so weinen hören.

Außerdem – um bei der Wahrheit zu bleiben: Lili war wirklich unglaublich gern bei ihrer Großmutter, denn Esther war die tollste Oma der Welt und sie war ihr Zuhause! Es war eben einer dieser ganz normalen Freitage, die jede Woche nach demselben Muster abliefen, an dem unsere Geschichte beginnt.

Nichts deutete darauf hin, dass an diesem Freitag irgendetwas anders sein würde: Es zog kein Gewitter auf, sie war nicht mit dem linken Fuß aufgestanden und es hatte auch keine schwarze Katze von links nach rechts ihren Weg gekreuzt. Alles verlief so wie immer. Bis – ja, bis zu der kleinen, winzig kleinen, nebenbei hingeworfenen Bemerkung, die ihre Mutter jetzt gleich machen würde. Denn diese winzig kleine, geradezu nebenbei hingeworfene Bemerkung durchbrach das festgefahrene Muster der üblichen Freitage und sollte auf Lilis weiteres Leben wirken wie eine Bananenschale, die jemand aus Versehen einem anderen, unachtsam vor die Füße wirft. Sodass dieser Andere ausrutschen und hinfallen würde. Ja, hätte Lili dieser kleinen, scheinbar unbedeutenden Bemerkung die ihr gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, so hätte sie vielleicht geahnt, das sich etwas ganz und gar Neues in ihr Leben schlich.

»Lass uns noch kurz am Stadtpark halten und ein Eis essen«, sagte ihre Mutter, »es ist so schönes Wetter!«

Merkwürdige Erscheinungen

Im duftenden Schatten eines riesigen alten Holunderbusches saß Lili auf einer Bank und lutschte hingebungsvoll ihr Erdbeereis. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit ihrer Mutter im Park gewesen war. Normalerweise fuhren sie nach der Schule auf direktem Weg zu Esther.

Ja, hier auf der Bank zu sitzen und mit ihrer Mutter zu plaudern war absolut ungewöhnlich. Lili wusste erst gar nicht, worüber sie mit ihrer Mutter reden sollte, und so entschloss sie sich, die seltene Gelegenheit beim Schopfe zu packen und ihre Mom in den neuesten Pausenklatsch einzuweihen. Ausgerechnet die Tochter des Religionslehrers war dabei erwischt worden, wie sie mit Hilfe einer schwarzen Kerze, eines Pendels und einer toten Maus aus dem Biolabor einen Dämon beschwören wollte. Das war der Skandal des Tages! – Und in Anbetracht ihrer Note in Religion konnte Lili sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.

Doch ihre Hoffnungen zerschlugen sich jäh, als sie sah, wie ihre Mutter sich am Kiosk mit mehreren Magazinen eindeckte, in denen sie sofort ihr Gesicht vergrub. Lili stöhnte enttäuscht. Wahrscheinlich hätte der neueste Klatsch ihre Mutter sowieso nicht interessiert, denn die hielt Sachen wie schwarze Messen und Dämonen schlichtweg für ausgemachten Blödsinn.

Für sie gab es nur, was man sehen und anfassen kann. Sie hatte einen ausgeprägten Realitätssinn und sah es gar nicht gerne, wenn Lili sich mit solchem ›Humbug‹ abgab. Also ließ sie ihren Blick stattdessen über die Blumenrabatten gleiten, die im hellen Licht der Hochsommersonne kaum von den schillernd bunten Flügeln der Schmetterlinge zu unterscheiden waren.

Gerade war sie dabei, das Ende ihrer Waffel auszuschlecken, als ihr ein kleiner Junge auffiel, der sich an den Papierkorb der gegenüberliegenden Bank lehnte. Sein magerer Körper steckte in einer zerlumpten Jacke und seine ausgelatschten Stiefel waren mindestens zwei Nummern zu groß, doch er winkte ihr fröhlich zu.

Nun ist an einem kleinen Jungen ja normalerweise nichts ungewöhnlich, aber mit diesem hier stimmte etwas nicht. Und das hatte nichts mit seiner ärmlichen Kleidung zu tun. Es war vielmehr die Tatsache, dass keiner der Passanten sich an ihm stieß oder ihn bat, zur Seite zu treten, damit er seinen Müll leichter loswerden konnte. Nein, das Unglaubliche war: Die Leute griffen mitten durch ihn hindurch. So, als wäre er gar nicht da.

Noch bevor sich Lili von ihrem Erstaunen erholt hatte, war er plötzlich verschwunden. Einfach so. Niemand außer ihr schien ihn bemerkt zu haben.

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, begann ihre Mutter in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel zu wühlen, erhob sich, als sie ihn gefunden hatte, von der Bank und gab damit das Zeichen zum Aufbruch. Eine Viertelstunde später hielten sie bereits vor dem kleinen Steinhaus ihrer Großmutter am Stadtrand.

Es war von einem wild wuchernden Kräutergarten umgeben, durch den ein schmaler Plattenweg zu einer leuchtend roten Eingangstür führte, vor der eine nackte Holzfigur den Besuchern entgegen grinste.

»Wann wirst du endlich diesen grässlichen Götzen entsorgen?«, fragte ihre Mutter, wie jeden Freitag.

Worauf ihre Großmutter wie immer lächelnd antwortete, dass der grässliche Götze ein Fruchtbarkeitsgott sei und sie keineswegs vorhabe, ihn zu entsorgen, denn er sei das Geschenk eines Medizinmannes aus Namibia.

Namibia liegt in Afrika und ist eines von vielen Ländern, das Lilis Großmutter mit ihrem verstorbenen Mann bereist hatte. Ihr Haus war voll von Souvenirs aus aller Welt und zu jedem gab es eine spannende Geschichte. Da gab es ausgestopfte Nashornköpfe, Geweihe, Felle, Skulpturen und Statuetten, Schilde und Lanzen, bunte Steine, sonderbaren Schmuck aus Knochen und Federn, alte Karten und Messgeräte. In einer Ecke, neben dem vollgestopften Bücherregal, hing sogar etwas, von dem ihre Großmutter behauptete, es sei der Skalp eines Stammeshäuptlings aus Amerika. Ja, Esther, mit der kleinen zarten Gestalt, der viel zu langen roten Strickjacke und den Lachfalten um die Augen, wirkte in all dem Durcheinander selbst wie ein geheimnisvolles buntes Fundstück.

So war es auch nicht verwunderlich, dass Esther Lilis Erzählung über den Jungen im Park mit leuchtendem Blick anhörte, in die Hände klatschte, und mit der rätselhaften Bemerkung »Schau, schau, wie wunderbar. Ich hoffte, du hast es auch!«, begleitete, während ihre Mutter lediglich bemerkte, ihre Fantasie sei wahrscheinlich mit ihr durchgegangen.

Lili hatte den Vorfall schon fast vergessen, als sie einige Tage später in der Innenstadt eine alte Frau bemerkte, die mitten auf den Straßenbahngleisen spazieren ging. Schon bog die Bahn um die Ecke. Lili fing an zu schreien und zu fuchteln, doch die alte Dame ging lächelnd weiter, während die Bahn unaufhaltsam näher raste. Gleich würde es krachen.

»Vorsicht!«, schrie Lili noch einmal und rannte los, um die Alte zu retten.

QUIIIEETSCH!

»Verdammt! Dummes Gör! Kannst du nicht aufpassen?«, schrie ein Mann sie aus dem Auto heraus an.

Lili war mitten auf der Straße stehen geblieben und starrte der Bahn hinterher.

Diese hatte die alte Frau nicht überfahren. Sie war mitten durch sie hindurch gesaust! Kein Klingeln, kein Blinken, kein Bremsen, und niemand außer ihr schien darüber verwundert zu sein.

Selbst die alte Dame balancierte noch einige Sekunden fröhlich weiter, dann war auch sie urplötzlich verschwunden.

Ein Fußgänger schüttelte Lili an der Schulter: »Alles in Ordnung mit dir, Kleine?«

Lili schaute ihn verlegen an und nickte kurz.

»Du solltest wirklich besser aufpassen!« Kopfschüttelnd ging er weiter.

Lili hatte ganz weiche Knie. Offensichtlich hatte keiner der anderen Fußgänger von der Szene Kenntnis genommen. Was war nur los mit ihr? Wurde sie womöglich verrückt? Zutiefst verunsichert rannte sie einfach davon.

Zwei Monate später, es war wieder einer dieser lästigen Freitage, fuhr sie mit ihrer Mutter an einem Unfall vorbei, bei dem ein Motorradfahrer tödlich verunglückt war. Da beo­bachtete Lili, wie sich mit einem Mal eine exakte Kopie des Mannes aus seinem Körper löste und den Notärzten interessiert bei der Arbeit zusah. Sie erschrak furchtbar. Doch die schattenhafte Gestalt schüttelte nur den Kopf, als wollte sie sagen: »Ich verstehe zwar nicht, was hier los ist, aber da kann man wohl nichts mehr machen!« Dann nickte der junge Mann Lili zwinkernd zu und verschwand im Nichts.

Lili wurde so bleich, wie es ihre ohnehin schon blasse Haut noch zuließ. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden. Als sie ihrer Mutter von dem Erlebnis erzählte, steckte diese sie bei Esther sofort ins Bett und flüsterte: »Pass bitte gut auf sie auf, ich glaube, sie hat einen Schock erlitten. So einen Unfall zu sehen ist ja auch keine Kleinigkeit!« Kurz darauf heulte der Motor ihres Wagens auf und sie brauste davon.

Als Lili erwachte, war es bereits später Nachmittag. Esther saß in einem Sessel neben ihr und strickte Socken. Erschöpft setzte sie sich auf und erzählte ihrer Großmutter, was sie gesehen hatte.

Als sie schließlich fertig war, schaute Esther sie ein paar Minuten mit seltsamem Blick an und sagte keinen Ton. Nur das Klappern der Stricknadeln erfüllte den Raum. Der intensive forschende Blick ihrer grauen Augen verunsicherte Lili und so brach sie die Stille.

»Was ist nur los mit mir? Wer sind die und was wollen die von mir? Glaubst du, ich bin verrückt?«, fragte sie ihre Großmutter leise.

»Nun, deine Mutter glaubt, du hättest einen Schock erlitten. Außerdem ist sie überzeugt, dass du zu viel Fernsehen guckst und dass ich dir mit meinen dummen Geschichten den Kopf verdrehe«, antwortete ihre Großmutter mit seltsamem Lächeln.

»Und du, was glaubst du?«

Esther legte das Strickzeug auf den Nachtisch und erhob sich. »Ich glaube, du solltest dich nicht verrückt machen lassen. – Aber jetzt zieh dich an, wir werden jemanden besuchen!«

Eine Vorstellung, die es in sich hat

Flugs sprang Lili aus dem Bett und zog sich Jeans und Pullover über. Dann machte sie sich auf den Weg nach unten ins Kaminzimmer. Auf der Treppe begegnete ihr Samantha, Esthers braun getigerte Katze. Willig ließ sie sich auf den Arm nehmen und hinuntertragen.

Nachdem Esther sie mit heißer Schokolade und Kuchen verwöhnt hatte, sagte sie: «Ein paar Straßen weiter gastiert ein Zirkus, in dem eine alte Freundin von mir auftritt. Sie ist es, die wir besuchen werden. Wenn du Lust hast, schauen wir uns vorher die Vorstellung an. Was meinst du?«

Natürlich hatte sie Lust! Wie oft schon hatte Lili ihre Mutter angefleht, eine Zirkusvorstellung zu besuchen. Doch die hatte sich in den letzten Jahren aus unerfindlichen Gründen immer geweigert. Bis heute hatte Lili nicht herausgefunden, warum ihre Mutter bei der bloßen Erwähnung, ein Zirkus gastiere in der Stadt, geradezu in Panik verfiel und erst wieder Ruhe fand, wenn das bunte Volk weitergereist war.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wandte sie ein: »Mom wird sicher wütend, wenn sie es erfährt.«

»Lass das meine Sorge sein. Du wirst sehen, ein bisschen Abwechslung wird dir guttun!« Also brachen sie auf.

An der nächsten Kreuzung trug ihnen der Wind bereits die blecherne Stimme des Lautsprechers entgegen und noch eine Ecke weiter sahen sie die bunten Wagen. Ein wenig enttäuscht stellte Lili fest, dass es nur ein kleiner Zirkus war, der sein Zelt auf dem örtlichen Fußballplatz aufgeschlagen hatte. Dafür war es ein besonders schönes Zelt mit vielen bunten Wimpeln.

Vor dem Eingang stand ein Wohnwagen, der als Kasse diente, und ein Jongleur versuchte, die vorübergehenden Menschen anzulocken. Außerdem gab es noch eine Bude mit Popcorn, Lebkuchenherzen und gebrannten Mandeln und einen Toilettenwagen. Seitlich schlossen sich die Käfige an und dann die Schlaf– und Wohnwagen der Schausteller.

Während ihre Großmutter sich brav in die Kassenschlange einreihte, schaute Lili sich bei den Käfigen um. Als der Wärter jedoch einen alten Plastikeimer öffnete und blutige Fleischbrocken zur Fütterung hervorzog, wandte sie sich angewidert ab. Gerade noch erhaschte sie einen Blick auf eine seltsame, dicke Dame in einem gewaltigen violetten Umhang, die sich mit ernstem Händedruck von ihrer Großmutter verabschiedete.

Neugierig geworden schlenderte sie zurück. »Wer war denn das?«

»Meine Bekannte. Wir sind nach der Vorstellung bei ihr zum Tee eingeladen«, antwortete Esther und schob sie ins Zelt.

Bei der Platzsuche kam ihnen ein Page mit dunklen Samtaugen und einer Adlernase zur Hilfe, der Esther freudig begrüßte, während er die Karten abriss. Offenbar war ihre Großmutter den Zirkusleuten keine Unbekannte! Bei Lilis Karte ließ er sich besonders viel Zeit, beugte sich ein wenig zu ihr herunter und betrachtete sie mit geheimnisvoll forschendem Blick. Doch ehe Lili ihn ansprechen konnte, ertönte die Fanfare. Schnell eilten sie zu ihren Plätzen, die Vorstellung begann.

Fünf Minuten später klatschte sie bereits Beifall, lachte über die Scherze des Clowns und klammerte sich gespannt ans Geländer, als ein Löwe durch einen brennenden Reifen sprang. Der Zirkus hatte sie in Bann gezogen und der seltsame Blick des Pagen war längst vergessen. Nicht einmal als der Direktor die Trapezkünstler und ihre gefährliche Luftnummer als »die mutigen Zachowskis« ankündigte, wurde sie stutzig.

Doch plötzlich dämpfte jemand das Licht und ein Scheinwerfer strahlte in die Mitte der Arena, wo der Direktor die Sensation des Abends ankündigte. Wie von Zauberhand entstand im Kegel des Scheinwerfers ein rosa Nebel und unter einem Paukenschlag erschien die große Bellinda aus den Wolken des Trockeneises. Es war die seltsame Dame in dem violetten Umhang und sie schaute direkt in Lilis Richtung. Ja, sie schien Lili genau in die Augen zu sehen und ihr Blick war so intensiv, dass er die Zeit zum Stillstand brachte. Alles um sie herum begann sich aufzulösen und wurde unscharf. Alles, außer dieser großen, leuchtenden Augen, die jegliche Distanz zu überwinden schienen und Lili das Gefühl gaben, als stünde sie direkt in der Manege, als trennten sie von dem weichen runden Mondgesicht nur wenige Zentimeter. Es war, als schauten diese Augen tief, ganz tief in sie hinein und ertasteten sanft und vorsichtig jeden Winkel ihrer Seele. Lili spürte, dass sie genau wussten, wohin sie schauen durften und für welche Bereiche sie erst um Erlaubnis bitten mussten, und so entspannte sie sich und ließ sie gewähren. Es war nicht unangenehm, so liebevoll durchleuchtet zu werden. Liebe, Wärme, Zuneigung und große Achtung rieselten durch ihr Innerstes wie ein warmer Sommerregen.

Doch dann war es mit einem Mal vorbei. Etwas hatte die Verbindung unterbrochen und der Blick war zurückgeschreckt und hatte sich ihr entzogen. Ein geradezu schmerzlicher Verlust, der Lili in die Realität zurückwarf.

Neben ihr war ihre Großmutter aufgestanden und nun galt ihr der Blick der massigen Bellinda. All das spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Bellindas Augen suchten fragend Esthers Augen, die sofort unmerklich, aber bestimmt den Kopf schüttelte, beantwortet von einem kurzen kräftigen Nicken der Zirkusmatrone. Niemand außer Lili schien es zu bemerken, die Zeit stand immer noch still. Dann drehte sich Bellinda abrupt zur anderen Seite der Manege und winkte aus dem Publikum einen Freiwilligen heran. Der merkwürdige Augenblick war durchbrochen und die Zeit war wieder in Fluss.

Wie durch Magie lag auf Bellindas rechter Hand plötzlich ein Gegenstand und sie bat den ängstlichen Zuschauer, unter geheimnisvollen Beschwörungen das Tuch, das diesen bedeckte, fortzuziehen. Vorsichtig und sichtlich gespannt gehorchte der Mann und zum Vorschein kam unter großem Aaaahhh und Ooohhh eine schimmernde Glaskugel.

Lili schaute nicht weiter zu, ihre Gedanken lenkten sie von der grotesken und theatralischen Vorstellung ab. Hatte die geheimnisvolle Bellinda etwa sie aussuchen wollen? Und warum hatte Esther es verhindert?

Sie verpasste das Ende der Nummer und sammelte sich. Schließlich war sie nicht zum Grübeln hier, sondern um Spaß zu haben. Schnell konzentrierte sich wieder auf das Geschehen in der Manege.

Am Ende der Vorstellung trampelte sie mit den Füßen auf den Holzboden, bis ihre Fußsohlen brannten, und verlangte laut nach einer Zugabe.

Sie stürzte sich ins Gewühl und ließ sich von der Menge nach draußen drängen. Voller Spannung erwartete sie den Besuch bei der großen Bellinda. Woher Esther diese Frau wohl kannte?

Ihre Großmutter führte sie zu einem alten roten Holzwagen. Eine freundliche, warme Stimme bat sie herein. Das Innere des Wagens war ganz in Rot und Violett gehalten. An Plüsch und Samt war nicht gespart worden, dafür aber an der Beleuchtung.

Die beiden Frauen begrüßten sich innig und hielten sich lange in den Armen. Irgendwann wandte Bellinda sich an Lili: »Liliane Mariella Jolanda Zachowski. Welche Ehre, dich kennenzulernen!«, und dann küsste sie der sprachlosen Lili tatsächlich die Hand, wobei die zahlreichen Ketten an ihrem wulstigen Hals gespenstisch rasselten. »Ich bin deine Tante Bellinda.«

Ein rätselhaftes Teekränzchen

Tante Bellinda? Lili wurde ganz schwindelig und sie fragte sich, ob das an den Unmengen von Räucherstäbchen lag, deren Duft sich in süßen Schwaden durch den ganzen Wagen zog, oder allein an der Anwesenheit dieser Frau.

Dass außer ihrer Mutter und Esther noch jemand ihren vollen Namen kannte, verwirrte sie fast mehr, als die Tatsache, dass die fremde Frau sie mit dem Mädchennamen ihrer Mutter angesprochen hatte und ganz offensichtlich mit ihr verwandt war. Normalerweise war sie für alle nur Lili und zwar Lili Brown.

Doch noch bevor sie danach fragen konnte, zogen Bellinda und Esther sie zu einem winzigen Tisch, drückten ihr eine Tasse Tee in die Hand und vertieften sich in ein Gespräch voller rätselhafter Andeutungen. Anscheinend fühlten sie sich keineswegs verpflichtet, ihr etwas zu erklären, stattdessen forderte Bellinda sie mehrmals hintereinander auf, noch einen weiteren Schluck des heißen Gebräus zu trinken.

Aus Höflichkeit und um ja nichts von der Unterhaltung zu verpassen, gehorchte Lili, doch es fiel ihr immer schwerer, sich auf den Inhalt des Gesprächs zu konzentrieren. Mit jedem Schluck des süßen Tees wurde es vor Lilis Augen nebliger. Sie fühlte sich ganz leicht. Fast so, als wäre sie selbst eine der segelnden Duftschwaden. Ihr Verstand huschte hin und her und wollte ihr einfach nicht mehr gehorchen. Die Grenzen zwischen Raum und Zeit verschwammen und sie hatte das Gefühl, als säße sie in einem dicken warmen Kokon, der sanft im Wind schaukelte. Fast so, wie in der alten Hollywoodschaukel in Esthers Garten.

Die fein gewebten Wände des Kokons dämpften die Geräusche und das Licht der Außenwelt. Sie fühlte sich wohl und beschützt und hörte nur noch die vertrauten Stimmen von Ester und Bellinda, die leise zu ihr vordrangen und sie sanft in ein Gespräch verflochten. Und dann geschah es: Benommen hörte sie sich selbst von dem kleinen Jungen im Park, der alten Frau auf den Gleisen und dem verunglückten Motorradfahrer erzählen und hätte gleichzeitig schwören können, stumm am Tisch zu sitzen.

Es war ihr, als würde sie in wachem Zustand träumen. Was zum Teufel ging hier vor? Einen kurzen Augenblick geriet sie in Panik, wollte die seidigen Wände des Kokons zerreißen und entfliehen, doch dann beruhigte sie sich wieder. Tief in sich drin wusste sie, dass sie sich nicht in Gefahr befand. Ja sie war sich sogar sicher: Es war ihr jederzeit möglich, sich aus diesem Zustand zu befreien, wenn sie es wollte.

Erstaunt stellte sie fest, dass das nicht in ihrer Absicht lag. Es tat gut, alles zu erzählen. Gerne wäre sie noch viel weiter zurückgegangen, weiter, weiter … bis zu jener unheilvollen Nacht, als ihr Vater die Familie verlassen hatte. Was war damals nur geschehen? Sie wusste, es war etwas von großer Bedeutung, doch schon holte Bellinda ihre Aufmerksamkeit zurück.

Sie griff unter den Tisch und holte die gläserne Kugel hervor. Anschließend nahm sie Lilis Hand und grunzte: »Keine Angst, mein Schatz. Du wirst dich daran gewöhnen, dass man sich auch ohne Worte unterhalten kann!« Dann schaute sie abwechselnd in Lilis Hand und in die Kugel und schüttelte immer wieder den Kopf, wobei sie ein erstauntes »Zzzzz!« hören ließ.

Lili fragte sich, was sie darin las oder sah, doch die beiden schienen sie jetzt vollkommen vergessen zu haben und so lehnte sie sich zurück und schaukelte selig weiter und weiter, während die Stimmen der Frauen leise zu ihr vordrangen.

»Du hast recht, sie hat die Gabe. Sie ist sehr stark. Du wirst es ihr sagen müssen!«, raunte Bellinda.

»Das wird Marla niemals zulassen. Was soll ich nur tun? Vielleicht ist es besser, alles zu lassen, wie es ist.«

»Nein!«, schnaufte Bellinda entschieden und schob die Kugel wieder unter den Tisch. »Du musst es ihr sagen. Du wirst ihr alles sagen müssen, sonst bringst du sie in Gefahr. Ihre Kraft wird wachsen. Sie werden ihr Einlass gewähren.«

Ihre Großmutter rang die Hände und seufzte: »Marla wird furchtbar wütend werden. Sie ist so voller Angst seit damals.«

»Mach ihr klar, was für eine Gnade es ist. Nur wenigen Menschen ist erlaubt, die andere Welt zu betreten. Viele würden alles darum geben. Erinnere sie an ihre Herkunft. Sie ist immer noch eine Zachowski!«

»Seit John gegangen ist, verleugnet sie sich selbst. Ich fürchte, sie wird nie darüber hinwegkommen, er war ihre große Liebe. Für sie ist die Gabe an allem schuld, hat alles zerstört; ihre Liebe, ihr Leben, ihr Glück«, klagte Esther.

»Papperlapapp. Man kann seinem Schicksal nicht davonrennen. Mach ihr klar, dass Lili sie brauchen wird, zukünftig mehr, wie je zuvor.«

»Ich weiß, ich weiß«, seufzte Esther. »Du hast ja recht, aber wie soll ich das nur anstellen? Sie ist so unglaublich stur.«

»Ach, Schnickschnack. Sie muss aufhören, sich selbst zu bemitleiden, und begreifen, dass die Gabe ihrer Tochter zehnmal so stark ist wie die ihre. Dieser Dummkopf hätte sie so oder so verlassen. Wenn sie Lili ihren Beistand verweigert, tut sie nichts anderes als John, sie lässt ihr Kind im Stich. Du bist doch sonst nicht so zimperlich, Esther. Die Kleine braucht uns. Seit Viola ist sie die erste, die die Gabe hat. Es ist das Schicksal unserer Familie, zwischen den Welten zu vermitteln, das Vermächtnis unserer Ahnen.« Ein kurzer kräftiger Schlag mit ihrer kleinen dicken Faust auf den Tisch unterstrich, wie ernst es ihr war, und riss Lili aus ihrem Traum. »Geh und tu gefälligst, was getan werden muss!«

Lili traute ihren Ohren nicht. So hatte sie noch nie jemanden mit Esther reden hören. Schon wollte sie protestieren, da strafte eine rührende Geste den energischen Tonfall Lüge. Bellinda ergriff fast zärtlich die zarte knochige Hand ihrer Großmutter und tätschelte sie unbeholfen. Dabei nickte sie ihr ermutigend zu. Ein schwerer Seufzer entrang sich Esthers Kehle und ihre Schultern strafften sich tapfer. Beide Frauen erhoben sich. Offensichtlich war der Besuch beendet und alles gesagt. Warum schauten die denn so betroffen?

Ein Versprechen wird gebrochen

Sie traten aus dem Wohnwagen. Die frische Luft tat Lili gut. Trotz der Unmengen Tee, die sie zu sich genommen hatte, war ihre Kehle trocken wie eine Wüstenlandschaft und ihre Zunge zäh wie Leder. Was für ein merkwürdiger Besuch! Viel Zeit war nicht vergangen. Noch immer standen Besucher der letzten Vorstellung vor dem Zelt. Langsam und ohne ein Wort zu wechseln schlenderten sie heimwärts.

Esther schien bedrückt, während Lili sich gar nicht mehr recht erinnerte, was in dem roten Zirkuswagen vor sich gegangen war. Sie griff ins Leere, wenn sie daran dachte.

»Sag mal, Esther, wieso hast du mir eigentlich noch nie von Bellinda erzählt?«, fragte sie, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Doch Esther war nicht sehr gesprächig. Das änderte sich auch während des Abendessens nicht. Ihre Großmutter war mit den Gedanken gänzlich abwesend und so sagte auch Lili kein Wort, obwohl ihr tausend Fragen auf der Zunge lagen.