Der Wirbel der Angst - Eva Seith - E-Book

Der Wirbel der Angst E-Book

Eva Seith

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Beschreibung

Endlich hat Lili es geschafft: Zum ersten Mal geht sie nicht auf eigene Faust durch das Tor, sondern wird von den Leuchtenden gerufen. Eine unglaubliche Aufgabe wartet auf die junge Grenzgängerin und stellt sie vor die Herausforderung, in den geheimsten Winkel einer Menschenseele vorzudringen. Einen Ort, der selbst der Macht der höchsten Wesen verschlossen bleibt und aus dem es womöglich kein Zurück gibt. Endlich vertrauen ihr die Wächter der anderen Welt und gewähren ihr Einlass zu den Ebenen des Lichts. Doch wird sie diesem Vertrauen auch gerecht? Mutig stellt sie sich dem größten Feind des Menschen: der Angst!

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eine verhasste Veranstaltung

Seltsames Treffen

Erste Recherchen

Das Tor der geflügelten Stiere

Der Frevel

Unerwartete Hilfe

Rosalies Engel

Das Maß ist voll!

Eine schwere Entscheidung

Niemandsland

Der Pfad der Verwüstung

Die Nacht der Schlaflosen

Unerwartete Hilfe

Freunde und Feinde

Der Wirbel der Angst

Rosalies Welt

Mittel zum Zweck

Das Höhlenlabyrinth

Die Stunde der Wahrheit

Die Grotte der Angstgnome

Auf Leben und Tod

Erwachen

Der Prozess

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

© Talawah Verlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.talawah-verlag.de

www.facebook.com/talawahverlag

Umschlaggestaltung: Susann Julieva

Bildmaterial: © Shutterstock

Illustrationen: Melanie Phantagrafie

Satz/Layout: Grittany Design

1. Auflage 2018

ISBN: 978-3947550-20-3 (Print)

ISBN: 978-3-9475500-21-0(Ebook)

Eva Seith

Folge deinem Herzen

Meinen Eltern,

in Liebe und Dankbarkeit.

Sie spürte die Schreie mehr, als dass sie sie hörte. In der langen Zeit, in der sie das Kind schon pflegte, hatte sie einen untrüglichen Instinkt dafür entwickelt, wenn es sich in Not befand.

Louisa hastete den Flur entlang. Am liebsten wäre sie gerannt, doch das gehörte sich für eine Novizin nicht, die sich in Tugenden wie Geduld und Ruhe zu üben hatte. Endlich erreichte sie das Zimmer.

Als sie die Tür aufriss, sah sie ihn am Bett des Mädchens stehen. Er hatte sich über das tobende Kind gebeugt und es sah aus, als würde er es würgen. Sie stürzte vor, packte seine Schultern und riss ihn mit ganzer Kraft zurück. Doch blitzschnell hatte er sich befreit und schleuderte sie von sich. Sie taumelte rückwärts und stürzte zu Boden. Als er ausholte, um nach ihr zu schlagen, kroch sie verschreckt unter das Fenster und kauerte sich in die Ecke. Durch die offene Tür hörte man Stimmen hereindringen. Zornig ergriff er die Klinke und streckte ihr drohend die Faust entgegen.

»Sieh dich vor, Betschwester!«, brüllte er. »Niemand wird mich daran hindern, mir zurückzuholen, was mir gehört.« Er spuckte aus und trat einen Schritt näher auf sie zu. Seine Augen funkelten kalt, als er flüsternd fortfuhr: »Also überlege dir gut, was du vor Gericht aussagst, Nonne, und verwirr mir den Richter nicht wieder mit deinem irren Geschwätz, sonst lernst du mich kennen.« Als erneut Gelächter vom Flur hereinflog, drehte er sich um und floh.

Hart schlug die Tür hinter ihm zu. Die Stimmen gingen vorüber und verhallten in der Ferne des Ganges. Erst als man sie kaum noch hören konnte, war es Louisa möglich, sich zu rühren. Ihre Glieder schmerzten vor Anspannung und ihr Puls jagte ihr das Blut mit solchem Druck durch die Adern, als müsse es zwei Herzen versorgen statt einem.

Sie richtete sich auf und ordnete ihr weißes Gewand. Der Schleier war ihr vom Kopf gerutscht und gab ihr schönes nussbraunes Haar preis, das sie vor zwei Tagen freiwillig der Schere geopfert hatte. Zitternd griff sie nach dem kleinen Holzkreuz, das an einem einfachen Rosenkranz auf ihrer Brust baumelte, eine Geste, die sie zumeist sofort beruhigte. Sanft strichen ihre Finger über das Holz … Nein, sie hatte keine Angst vor ihm. Es war die Betroffenheit über ihre eigene Wut, die ihr den Schrecken in die Glieder hatte fahren lassen. Angst hatte sie nur davor, nicht verhindern zu können, was er im Schilde führte, dieser schreckliche, unerträgliche Mann. Es war ihre heilige Pflicht, das Mädchen vor seinem Vater zu schützen. Vielleicht war das die Prüfung, um die sie Gott gebeten hatte. Die Probe, die ihr endlich Klarheit bringen sollte, ob sie wirklich als seine Braut berufen war.

Das leise Wimmern traf ihr Ohr wie eine Mahnung. Schnell eilte sie zum Bett. Das Mädchen zuckte am ganzen Körper und sah mit verstörtem Blick ins Leere. Seit dem Unglück hatte es kein Wort mehr gesprochen, vegetierte stumm vor sich hin, geflohen in eine andere Welt.

Erst hatten die Ärzte von einem kurzen Koma gesprochen, ausgelöst durch einen Schock. Die Kopfverletzung, die das Mädchen sich bei seinem Unfall zugezogen hatte, war jedoch nicht schwer gewesen, und als die Wunde abgeheilt war, hatte man es körperlich für vollkommen gesund erklärt. Doch ihr Geist kehrte nicht in den Körper zurück. Etwas hielt ihn an einem anderen Ort gefangen, etwas, für das kein Arzt eine Erklärung fand. Abgespeist hatte man sie. Man vermute ein Wachkoma und erklärte mit Bedauern, dass es keine Garantie dafür gäbe, dass Rosalie je wieder erwachen würde. Sie solle sich keine allzu große Hoffnung machen.

So hatte man das Kind nach Wochen im Krankenhaus vorübergehend hier in der katholischen Jugendpflege untergebracht.

Das Kloster gehörte zu einem Verbund von Kranken- und Pflegeeinrichtungen, doch keine davon schien für diesen Fall wirklich zu passen.

Louisa pflegte Rosalie von Anfang an, und sie glaubte schon lange nicht mehr an einen Unfall. Die Besuche des Vaters hatten einen Verdacht in ihr genährt, den offen auszusprechen sie erst ein Mal gewagt hatte. Doch man hatte ihr kein Gehör geschenkt. Wer glaubte schon einer einfachen Krankenschwester und einst vielversprechenden Studentin, die aus unerklärlichen Gründen ihr Psychologiestudium kurz vor dem Examen abgebrochen hatte, um ins Kloster zu gehen?

»Schon gut, Rosalie.« Beruhigend streichelte sie die Hand des neunjährigen Mädchens. »Ganz ruhig«, beschwor sie es. »Er wird dir nichts tun. Nut und ich, wir werden auf dich aufpassen.«

Wie auf ein Stichwort flog die Tür auf und der grau-weiße Husky wurde von einer älteren Schwester, Therese, hereingeführt, die ihn im Park hatte auslaufen lassen. Sofort sprang der Hund ans Bett des Kindes und leckte ihm aufgeregt die salzigen Tränen von der Wange.

»Nicht doch, Nut«, rief Louisa und zog ihn sanft von der Matratze. Sofort legte er sich vor das Bett und gab Ruhe. Dort würde er sich bis zum Abendessen nicht mehr wegrühren. Kopfschüttelnd betrachtete sie das schöne Tier. Es war groß geworden, musste inzwischen fast ausgewachsen sein. Als Rosalie zu ihnen gekommen war, war Nut noch ein Welpe gewesen. Nachdenklich strich Louisa dem schönen Tier über den Rücken.

»Quält dich etwas, Kind?«, fragte Therese die ihr anvertraute junge Frau.

Doch Louisa wich dem forschenden Blick der älteren Nonne aus. Wie sollte sie ihr auch erklären, dass sie jetzt, eine Woche vor dem Ablegen der Gelübde zur ersten Profess, immer noch Zweifel hatte, ob sie das Richtige tat?

»Ein ungewöhnliches Tier«, flüsterte sie leise.

»Oh ja, ja …«, antwortete die kluge alte Frau. »Ohne Zweifel, seiner Herrin treu ergeben.«

Louisa sah erstaunt auf und die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Sofort erkannte sie, dass Therese sie längst durchschaut hatte. Die Andeutung auf Gott in ihren Worten war nur die hörbare Bestätigung ihres Verdachts.

»Was macht es den Tieren leichter?«, fragte Louisa die ältere Schwester.

»Sie haben keine Zweifel«, antwortete die schwarz gekleidete Ordensfrau und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sie handeln so, wie es ihnen vorgegeben ist. Uns hat Gott den Verstand gegeben. Wir haben die Freiheit selbst zu entscheiden, und diese Freiheit ist manchmal eine große Last.«

Wohlwollend sah Therese die junge Novizin an. Sie kannte den Kampf, der in ihrem Innern tobte. Jede von ihnen hatte ihn ausgefochten. So viel Zeit war inzwischen verstrichen … Wo war sie nur geblieben?

Sie seufzte: »Geh. Geh, mein Kind, sprich mit ihm. Er wird dir antworten.«

Louisa kniete auf dem harten Boden vor dem Altar. Sie hatte sich während des Abendessens davongestohlen. Hinter den bunten Glasfenstern begann es bereits zu dämmern. Nur die dicken Altarkerzen warfen einen Kegel warmen Lichts in das düstere Kirchenschiff und sandten einen flackernden Gruß an die unzähligen kleinen Opferkerzen vor den Heiligenfiguren in den tiefen gotischen Fensternischen. Doch ihr Blick glitt heute an der Schönheit der ausgeschmückten Kirche vorbei und fiel sorgenschwer auf das silberne Ziborium auf dem Altar, das die Hostien für die Mitternachtsmesse enthielt.

Voller Inbrunst betete sie zu Gott, er möge die kleine Rosalie beschützen. Dieser grässliche Mann hatte bereits die erste Instanz um das Sorgerecht vor Gericht gewonnen, und alles deutete darauf hin, dass er auch die Berufung gegen das Jugendamt gewinnen würde. Was hatte sie ihm schon entgegenzusetzen außer einem Haufen Vermutungen?

Das Gericht verlangte eindeutige Beweise. Doch keiner der Ärzte wollte sich ihrer Theorie anschließen. Nicht ein einziges psychologisches Gutachten hatte sie auftreiben können. All diese hochverehrten Doktoren hatten Angst um ihren Ruf, den man so schnell verlor, wenn man an den Sesseln der Bequemlichkeit zu rütteln wagte.

Sie wusste nicht mehr ein noch aus. Die Kälte des Marmors hatte sich schmerzhaft in ihre Knochen gefressen. Doch sie würde sich nicht weg bewegen, bevor sie keine Antwort fand. Eher würde sie erfrieren.

Bald hatte sie keine Ahnung mehr, wie oft sie schon gebetet hatte. Ihr Geist stahl sich hinweg … teilte sich … Tiefe Meditation ließ sie sich selbst von oben sehen … kniend vor dem Altar … ein Schatten nur … kaum sichtbar auf dem alten Stein.

Ein riesiger, leuchtender Vogel flatterte heran und ließ sich zwischen ihren Schulterblättern nieder. Sein schillernder Schatten fiel über sie hinweg auf die Marmorplatten und glitt am Fuße des Altars hinauf.

Er sah aus wie ein großer, goldener Kranich, reckte sich und schlug graziös mit den Flügeln. Dann streckte er den schlanken Hals in die Höhe und begann zu singen.

Es war ein heller, fremder Klang, der ihr Herz ergriff und die Mauern, die sie vor langer Zeit darum errichtet hatte, endlich ins Wanken brachte. Sie kehrte in ihren Köper zurück. Die Melodie wurde lauter und wärmer, schwoll an, verband sich mit ihrem Herzschlag, riss ihn aus dem vertrauten Rhythmus und benutze ihn als Instrument.

Ihr Blut rauschte durch ihren Körper, in ihren Ohren und hinter ihrer Stirn. Es war ihr unmöglich, weiter ruhig zu bleiben, und so kroch sie auf allen vieren zu den Stufen vor dem Altar. Der Rhythmus war so stark, dass sie sich hin und her geworfen fühlte, wie ein Schiff auf hoher See. Sie griff sich an die Brust, bekam keine Luft … so stark, so unregelmäßig begann ihr Herz zu pochen und dann … dann endlich verstand sie: Es war eine Botschaft!

Sie schloss die Augen und gab sich der Melodie ganz hin. Die Tonfolgen spielten mit ihrem Puls. Das war kein Pochen ihres Herzens mehr, das waren Morsezeichen, und was sie ihr verrieten, war so ungeheuerlich, dass sie die Grenzen ihres Glaubens erweitern, ja ganz neu würde ziehen müssen. Schwindel ergriff sie, und als sie vornüberkippte, suchten ihre Hände Halt.

Das kalte, hässliche Scheppern riss sie in die Wirklichkeit zurück. Als sie die Augen aufschlug, lag sie auf den Stufen des Podests, in ihrer Hand die feine weiße Spitze, die sie bei ihrem Sturz vom Altar gerissen hatte.

Das Ziborium war heruntergefallen und über die Stufen nach unten gekullert. Entsetzt sah sie, dass sich die Hostien überall auf dem blanken Boden verstreut hatten.

Mühevoll rappelte sie sich auf und ging zu der Stelle zurück, auf der sie zuvor gekniet hatte, um sie aufzulesen. Da erkannte sie, dass sie fast einen Kreis bildeten. Das konnte kein Zufall sein. Ein Zeichen? Sie sah genauer hin. Tatsächlich! Die Hostien hatten sich geradewegs um eine Figur im Mosaik des Bodens gruppiert. Es schien der seltsame goldene Vogel zu sein. Doch dann erkannte sie, was es wirklich war: ein Engel!

Sie hatte also nicht geträumt, sie hatte eine Erscheinung gehabt. Es war ein Engel gewesen, der Schutzengel Rosalies, der gerade mit ihr gesprochen hatte. Gott hatte sie erhört.

Lili quetschte sich durch die Reihen der grölenden Schüler, die sich in den Plastiksitzen des Stadions tummelten. Als sie endlich den Gang erreicht hatte, erkannte sie mit Entsetzen, dass sie auf der Tribüne der Gastmannschaft gelandet war.

Die weiß-roten Schals und Wimpel schwirrten ihr um den Kopf wie riesige Fliegen, und der Beton unter ihren Füßen warf die Sommerhitze ohne Erbarmen zurück. Sie hatte das Gefühl, unter der unerbittlich brennenden Sonne langsam zu schmelzen. Verdammt, dachte sie. Nun würde sie sich noch einmal um das halbe Stadion herum auf die gegenüberliegende Seite durchschlagen müssen, wo Ariane und Cornelius bereits seit einer halben Stunde auf sie warteten.

Bevor sie zurückging, warf sie noch einen Blick auf die Leuchtanzeige. Es stand 24:32 für den Gast. Die Golden Tigers des Instituts für Hochbegabte und Personen mit besonderen Fähigkeiten würden sich etwas einfallen lassen müssen, sonst wäre dies das erste Endspiel seit drei Jahren, das die Basketballer nicht für sich entschieden. Und das ausgerechnet in einem Spiel, bei dem Späher von der amerikanischen Profiliga anwesend waren, wie es die Spatzen seit Tagen von den Dächern pfiffen.

Gerade als sie ihre Freunde vom Geheimen Zirkel erreichte und sich erschöpft auf den einzigen freien Sessel fallen ließ, erklang der Pausengong und signalisierte das Ende der ersten Halbzeit.

Enthusiastisches Jubelgeheul der gegnerischen Fans hallte über den Platz herüber und prallte auf stöhnendes Gejammer ihrer eigenen Leute, die sich frustriert erhoben und zu den Toiletten und Kiosken schoben.

Bis endlich ein wenig Ruhe einkehrte, hatte Lili zahlreiche Püffe im Nacken und endlose Tritte gegen ihr Schienbein erduldet und fragte sich, warum zum Teufel sie sich von Ariane hatte breitschlagen lassen, bei 30 Grad im Schatten an dieser Massenfolter teilzunehmen. Sie musste vollkommen verrückt gewesen sein. Und dann noch dieser Anruf, der Grund ihrer Verspätung, der sie in tiefe Unruhe gestürzt hatte!

Sie waren soeben in die neunte Klasse gekommen, hatten also ihr drittes Jahr am Institut für Hochbegabte und Personen mit besonderen Fähigkeiten vor sich. Lili seufzte. Unglaublich! Zwei Jahre waren sie nun schon ein Team. Ein Leben ohne Ariane und Cornelius konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen. Und doch waren die letzten 24 Monate im Schatten der Ereignisse schneller versunken als Treibsand in der Wüste. Die vergangene Zeit hatte die Freunde unübersehbar geprägt: Lili war in ihrem Lehrstoff seit ihrem letzten Fall weit fortgeschritten. Ihr Selbstbewusstsein hatte zugenommen, sie war ernster und reifer geworden. Alles wies darauf hin, dass sie einmal in die Fußstapfen ihrer Ururgroßmutter Viola treten würde. Wenn sie nur endlich ihre Wut und ihren Trotz unter Kontrolle brächte.

Cornelius war im letzten halben Jahr um fast 20 Zentimeter in die Höhe geschossen. Er überragte die Mädchen jetzt um mehr als einen ganzen Kopf und seine Wangen wiesen einen ersten zarten Flaum auf. Sein enormes Wachstum hatte sich zwar stärkend auf sein Selbstbewusstsein, jedoch verheerend auf seine ohnehin ausnahmslose Ungeschicklichkeit ausgewirkt. Vorsichtshalber hatte man ihn vom Sport befreit, damit er nicht Gefahr lief, sich in sich selbst zu verknoten. So wenig er mit den neuen Dimensionen seiner Gliedmaßen umzugehen wusste, desto geschickter wurde er im Schreiben von Computerprogrammen. Nach wie vor war er nie ohne sein Notebook anzutreffen, das Bewunderer wie Neider inzwischen einhellig als sein drittes Auge bezeichneten. Er war auf dem besten Wege zum Genie.

Ariane hatte weder an Länge noch an Selbstbewusstsein gewonnen. Ihre Aufmüpfigkeit und ihr ausgeflippter Kleidungsstil hatten sich jedoch ein wenig gemäßigt. Ihr Interesse an den leidenschaftlichen Kämpfen mit Elisabeth von der Reute hatte in dem Maße an Gewicht verloren, wie ihr Interesse an Norman zugenommen hatte. Zurzeit herrschte eisiges Schweigen zwischen den Streithennen, denn Elisabeth hatte sich noch nicht von dem Schock erholt, den Kampf um die Gunst des ellenlangen Basketballers verloren zu haben.

Norman hatte unmissverständlich gezeigt, dass ihm Herz und Verstand wichtiger waren als Schönheit und einträgliche Beziehungen. Eine Einstellung, die für eine von der Reute jeder Logik entbehrte, denn Elisabeths Vater war Jurymitglied bei der Vergabe der Sportstipendien, was sie im Ringen um Normans Gunst geschickt für sich zu nutzen versucht hatte.

Arianes journalistischer Scharfsinn und ihr begnadeter Instinkt für Verbrechen hatten es ihr nach dem letzten Abenteuer des Geheimen Zirkels ermöglicht, ein Praktikum beim Tagesboten zu ergattern und zahlreiche nützliche Kontakte in der Branche zu knüpfen. Einige ihrer Artikel hatten ihr bereits die Aufmerksamkeit von Redakteuren wesentlich renommierterer Blätter eingebracht.

Vollkommen außer sich über den Punktestand reichte sie Lili das Popcorn herüber und goss sich den Rest ihrer lauwarmen Cola zwischen die vom Anfeuern ausgetrockneten Stimmbänder.

»Meine Güte, Lili, wo hast du denn nur so lange gesteckt? Die Jungs brauchen jetzt jeden Zuspruch, den sie kriegen können. Hast du eigentlich 'ne Ahnung, wie schwer es war, den Platz die ganze Zeit frei zu halten? Sieh mal, da vorne rechts, die Typen mit den schwarzen Blousons und den Baseballkappen. Norman sagt, das sind die Späher. Oh, Mann! Stell dir mal vor, die würden ihn holen. Das wär echt der Knüller. Immerhin hat er fast alle Körbe reingebracht. Das zählt. Selbst wenn wir verlieren, hätt er dadurch noch ‘ne Chance auf Amiland.«

»Die Freude wäre ganz auf unserer Seite«, unterbrach Cornelius ihren Redefluss und brachte Nachschub an kühlen Getränken. »Dann müssten wir wenigstens nicht den ganzen Tag deine Heldenverehrung ertragen.«

Ariane funkelte ihn böse an. »Bloß kein Neid, Bruder«, fauchte sie. »Ich bin sicher, eines Tages erhört dich eine entzückende kleine IT-Tussi.«

Lili winkte ab. »Hört auf zu streiten. Das hält bei der Hitze ja kein Mensch aus.«

Ariane grinste. »Norman meint, die Hitze sei ganz gut. Die macht die Muskeln weich und die Verletzungsgefahr sinkt.«

»Ja, und das Hirn schmilzt gleich mit«, stichelte Cornelius muffig weiter.

Lili griff nach einer Wasserflasche. Die Hitze war einfach unerträglich. »Ich glaub, ich geh wieder.«

»Bist du irre?«, fuhr Ariane sie an. »Du bist doch gerade erst gekommen. Das ist das Spiel der Saison und ich schwöre dir, wir werden sie noch schlagen. Wo bleibt deine Loyalität?« Sie sprudelte geradezu über vor Energie.

Lili fragte sich, wie ihre Freundin das anstellte, wo sie selbst doch das Gefühl hatte, bei lebendigem Leibe zu braten.

»Wenn du gehst, komm ich mit«, rief Cornelius und entfachte damit einen erneuten Proteststurm Arianes.

»Was ist denn mit euch los? Seit wann seit ihr solche Weich-eier?«

TUUUUUUUUUUUUUT ...

Ihr Gemecker wurde von den Lautsprechern übertönt. Augenblicklich strömten die Schülermassen zurück zu ihren Plätzen. Damit war den zwei Freunden die Flucht vereitelt. An Durchkommen war jetzt nicht mehr zu denken. Resigniert fiel Lili auf ihre Sitzschale zurück. Der Schweiß tropfte ihr bereits aus den Haaren und lief ihre Schläfen herunter. Pech gehabt, dachte sie. Nun würde sie das Affentheater also bis zum bitteren Ende durchstehen müssen. Sie hasste Sportveranstaltungen!

Auf der gegenüberliegenden Seite begannen die Fans, mit lautem rhythmischen Klatschen und aufmunternden Parolen ihre Spieler zurück aufs Feld zu holen. Worauf Ariane sofort mit dem Rest der heimischen Tribüne zum Gegenangriff überging.

Lili hielt sich die Ohren zu und schottete ihr Bewusstsein ab. Wieder kam ihr der merkwürdige Anruf ins Gedächtnis.

Eine Novizin aus dem katholischen Kloster der Nachbargemeinde hatte sie um ein Treffen gebeten. Sie hätte einen Auftrag für Lili. Man bräuchte ihre Hilfe zur Rettung eines kleinen Mädchens namens Rosalie, das seit einem Brandunglück in ihrem Heim gepflegt wurde. Das Ganze hatte sich ziemlich verworren angehört, was Lili aber am meisten beunruhigte, war, dass die junge Novizin offenbar ihr Geheimnis kannte.

Das Treffen sollte morgen Nachmittag um halb vier in der alten Kapelle am See stattfinden. Was hatte das wohl zu bedeuten? Wenn diese Novizin wirklich auf ihre Eigenschaft als Grenzgängerin angespielt hatte, dann stand die Frage im Raum, woher sie davon wusste. Oder war das Ganze nur ein blöder Schülerstreich? Womöglich steckte Elisabeth dahinter?

Neben ihr sprang die Menge von den Sitzen und schrie laut einen Namen. Lili wurde aus ihren Gedanken gerissen. Die Anzeigetafel zeigte inzwischen 66:66 zwei Minuten vor Spiel Ende. Weswegen also diese Aufregung?, fragte sie sich.

Die Tribüne bebte und die Fans feuerten immer lauter einen Spieler an, der sich offensichtlich durch die feindliche Abwehr geschlagen hatte und nun wie ein Pfeil auf den gegnerischen Korb zuschoss. Nun wurde sie doch neugierig und erhob sich, um besser sehen zu können. Gerade wollte sie auf ihren Sitz klettern, um einen Blick aufs Spielfeld zu erhaschen, da ging ein Aufschrei durch die Menge, der sich mit dem Gong vermischte, der das Ende des Spiels verkündete. Ariane flog in ihre Arme und drückte ihr schier die Luft ab, während sie unaufhörlich »Ja, ja, ja!« schrie. Ein rhythmisches Klatschen begann. Inzwischen tanzten und tobten die Schüler um Lili herum auf ihren Sitzen: »Nor-man! Nor-man! Nor-man!« Dann begannen sie mit einem Mal, über die Sitzreihen ihrer Vordermänner hinweg zu klettern, und drängten aufs Spielfeld. Lili hielt sich die Arme schützend über den Kopf und kauerte sich zusammen. Waren die alle verrückt geworden? Da schrie Ariane ihr ins Ohr: »Ich muss nach unten. Wir sehen uns am Ausgang!«, und weg war sie.

Als die Woge endlich über sie hinweggefegt war, richtete Lili sich auf und rieb sich die schmerzenden Knochen. In der Sitzschale neben ihr entwirrte sich ein Knäuel aus Armen und Beinen, das voller Angst etwas inspizierte, was auf seinen Knien lag. Es war Cornelius.

»Die spinnen wohl.«, grummelte Lili wütend und sah nach unten, wo das Spielfeld voller Menschen war.

»Er hat’s tatsächlich geschafft«, murmelte Cornelius anerkennend und zeigte auf die große Tafel, die nun blinkend vor Freude ein neues Ergebnis verkündete: 68:66.

»Gewonnen?«, fragte Lili erstaunt. »Wie haben wir denn das geschafft?«

Cornelius’ Arm wies auf die rechte Seite des Spielfeldes, wo ein Trupp Schüler Norman auf seinen Schultern trug. »Fast break! Ich hab ja sonst nicht viel übrig für die Spezies Sportler. Aber das war ein sensationeller Sprint!«

Das ist es also gewesen, dachte Lili. Ein genialer Korb in der letzten Minute. Da vergaß selbst sie ihre blauen Flecken. »Respekt!«, lobte sie. »Trotzdem sehe ich jetzt zu, dass ich hier verschwinde.«

Cornelius nickte. Sie klaubten ihre Flaschen zusammen und suchten das Weite.

Eben erst hatten sie am Kiosk ihr Pfand eingelöst, da stieß Ariane schon zu ihnen. Ohne zu fragen riss sie Cornelius ein Snickers aus der Hand und biss herzhaft hinein.

»Haltet euch fest«, verkündete sie stolz. »Gerade eben kamen diese Typen in die Umkleidekabine. Sie haben Norman um ein Gespräch gebeten. Ich wette, sie holen ihn nach Kalifornien.«

»Und da freust du dich?«, fragte Cornelius verständnislos.

»Na logisch, was sonst?«

»Ich dachte nur, wegen ... schließlich ...« Aus Taktgefühl sprach er nicht weiter.

Lili grinste in sich hinein. Sie erahnte Arianes Antwort und tatsächlich: »Ne, oder? Nele!«, rief Ariane erstaunt. »In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich? Andere Mütter haben schließlich auch schöne Söhne. Er kann sich doch wegen ’ner süßen Jugendliebe nicht die Chance seines Lebens entgegen lassen. Hast du etwa geglaubt, dass wir irgendwann heiraten und süße kleine Normans in die Welt setzen?«

Als sie Cornelius breit grinsend ansah, blieb ihr vor Erstaunen fast der Bissen im Halse stecken. Er schien tatsächlich total irritiert.

Unentschlossen zuckte Cornelius mit den Schultern. Die Mädchen von heute sollte einer verstehen. Wo blieb da die Romantik?

Lili beschloss, das Thema zu wechseln, damit nicht schon wieder ein Streit zwischen den beiden ungleichen Freunden entflammte. Dieser ewige Schlagabtausch ging ihr auf die Nerven. »Ich muss euch was erzählen.«

Sofort wurde Ariane hellhörig und ließ das Snickers sinken.

Wenn Lili so anfing, ging es in der Regel um ihre Gabe als Grenzgängerin. Als Mittlerin zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten hatte sie viele Dinge erlebt, die die Abenteuer ihrer Altersgruppe bei Weitem übertrafen. Leider unterlag alles, was mit dieser Gabe zu tun hatte, der strengsten Geheimhaltung, was Ariane im Stillen immer wieder bedauerte. Denn wenn sie darüber berichten könnte, was sie an Lilis Seite erlebte, wäre sie bestimmt schon eine gefragte Reporterin. Besser noch, sie hätte längst einen Bestseller geschrieben. Doch ein Bund war ein Bund, und sie und Cornelius hatten geschworen, nie auch nur ein Sterbenswörtchen über Lilis Fähigkeiten zu verraten und ihr bei ihren Aufgaben immer beizustehen, so gut sie es eben vermochten. Aus diesem Grunde hatten sie den Geheimen Zirkel gegründet. Was hatten sie in den letzten zwei Jahren nicht alles erlebt …

Doch bevor sie weiter ihren Gedanken nachhängen konnte, fing Lili auch schon an zu erzählen.

Als sie geendet hatte, ergriff Ariane abrupt den Arm ihrer Freundin. Lili blieb stehen.

»Rosalie? Hat sie wirklich Rosalie gesagt?«

»Ja, da bin ich mir ganz sicher. Warum?«

»Lass mich mal scharf überlegen. Da stand was in der Zeitung. Muss ungefähr ‘n Dreivierteljahr her sein. – Ja, ich bin mir fast sicher. Ich hab’s damals nur überflogen, weil ich so mit der Inkasache beschäftigt war. Aber da stand was von ‘nem Familiendrama, bei dem ein kleines Mädchen verletzt wurde. Ihre Mutter und Großmutter sind, glaub ich, in den Flammen umgekommen. Nur der Vater hat überlebt.«

»Was? Wie kam es denn dazu?«, fragte Lili und fröstelte trotz der Hitze bei dieser schrecklichen Vorstellung.

»Keine Ahnung. Wie gesagt, hab’s nur überflogen.« Gerade wollten sie ihren Weg fortsetzten, da hielt Ariane erneut an.

»Stopp, warte. Jetzt fällt’s mir wieder ein. Da war irgendwas faul. Ich glaub, sie haben gegen den Vater ermittelt. Wegen Brandstiftung oder so ... Hat ihn das Sorgerecht gekostet, wenn ich mich nicht irre.«

»Du meinst, er hat seine eigene Familie abgefackelt?«, fragte nun auch Cornelius schockiert und riss die Augen auf.

Ariane zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher, mehr fällt mir nicht mehr ein.«

»Fragt sich nur«, grübelte Lili, »was ich da jetzt noch retten soll?«

Ariane blieb wieder stehen: »Woher weiß die Kirchentante überhaupt von deiner Gabe? Da muss doch einer getratscht haben.« Unverhohlen sah sie Cornelius an, der sofort aus der Haut fuhr.

»Was glotzt du mich an? Du bist doch die Klatschreporterin.«

Ariane grinste breit. »Keep cool, Sunny«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass du auch zuhörst.«

Doch der Scherz verfehlte seine Wirkung. Es war heute einfach zu heiß. Beleidigt drehte Cornelius sich um und schlurfte nörgelnd davon.

»Musste das sein?«, maulte auch Lili entnervt. »Musst du ständig mit allen Stunk anfangen?«

»Sorry, kann ich wissen, dass Monsieur heut so empfindlich ist?«

Gemeinsam eilten sie dem Freund hinterher.

»He Nele, jetzt wart doch mal!«, rief Ariane und schmiss im Laufen das Papier in den Müll. Als sie ihn erreichten, sah Cornelius sie abwartend an.

»Okay, war echt blöd von mir«, räumte Ariane ein und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Muss am Wetter liegen.«

Grummelnd akzeptierte er. »Und was machen wir jetzt?«

»Wir packen’s an, würde ich sagen«, riss Ariane sofort wieder das Ruder an sich. »Lili wird da auf keinen Fall alleine hingehen. Es ist zwar nur ‘ne Novizin, aber man kann nie wissen.«

»Sie hat aber ausdrücklich verlangt, dass ich allein komme.«

Ariane zuckte mit den Schultern. »Dann agieren Nele und ich eben im Verborgenen. Du sagtest doch, die Kapelle sei katholisch. Wir könnten uns im Beichtstuhl verstecken«, grinste sie smart.

Lili sah unsicher zu Cornelius und wartete auf seine Zustimmung.

»An mir soll’s nicht liegen. Da ist es wenigstens kühl.«

»Also dann, auf geht’s! Vor dem Treffen bleibt noch eine Menge zu tun.«

Ihre Freunde sahen sie fragend an.

»Na!«, rief Ariane.« Wir sollten nicht ganz unvorbereitet ins Feld ziehen. Es ist immer besser, sich auf Fakten zu verlassen, als nur auf das zu hören, was ein Betroffener erzählt, und so wie es aussieht, ist die angehende Nonne persönlich engagiert in dem Fall. Ich werde mich also noch heute ins Archiv des Tagesboten verziehen und mal alles sichten, was zu finden ist, und Nele könnte versuchen, sich in den Computer der Kripo zu hacken, um dort eine Akteneinsicht zu riskieren.«

Der Vorschlag war mehr als forsch und Lili erwartete jeden Moment laute Proteststürme von Cornelius. Doch wieder hatte Ariane die Lage und ihren Freund richtig eingeschätzt.

Ein Trip in die Höhle des Löwen, sprich ins Revier des Gesetzes selbst, das war der Adrenalinschub schlechthin für einen Hacker. Begeistert stimmte Cornelius zu.

Sie machten ihr Zeichen und beschlossen, sich am nächsten Tag um drei Uhr genau unter der hundertjährigen Eiche zu treffen, die ihnen gerade Schatten spendete.

Als Cornelius und Ariane abgezogen waren, ging Lili erst mal auf ihr Zimmer. Sie brauchte jetzt dringend eine kalte Dusche.

Mächtige Kumuluswolken türmten sich am Himmel. Der Wind hatte aufgefrischt und scheuchte einzelne Fetzen vor sich her. Ihre Schatten huschten über die Kieswege und Rasenplätze in Richtung See. Alles deutete darauf hin, dass es heute Abend ein Gewitter geben würde.

Lili hatte das Gefühl, als spiegele das Wetter den Aufruhr ihres Inneren wider. Trotz ihrer Aufregung zwang sie sich zu einem langsamen Schritt und schlenderte auf die Kapelle zu, auf deren Zwiebelturm der Wetterhahn quietschend hin und her flog. Ariane und Cornelius hatten sich gerade hineingestohlen, als Lili eine junge Frau in weißer Novizentracht auf die Kirchentür zueilen und dahinter verschwinden sah.

Puh, dachte sie. Das war knapp. Voller Spannung auf das, was sie gleich hören würde, schlüpfte auch sie in die kleine, prunkvoll ausgeschmückte Kapelle. Durch die bunten Kirchenfenster setzte der Wind seine Schattenjagd auf unheimliche Weise fort. Die Novizin saß in der dritten Reihe. Lili ging langsam nach vorne und setzte sich neben sie.

Als die junge Frau ihr das Gesicht zuwandte und die Hände von dem Holzkreuz auf ihrer Brust löste, fiel alle Sorge von Lili ab. Zwei beherzte blaue Augen sahen sie an. Auch die Stimme der Novizin klang klug und gebildet, ließ jeden Hauch von Fanatismus oder Weltentfremdung vermissen. Lili war nun völlig entspannt.

»Vielen Dank, dass du gekommen bist, Lili. Sicherlich fandest du meinen Anruf sehr merkwürdig.«

Lili stieg die Röte in die Wangen.

»Ja das stimmt, Schwester ...?«

»Oh!«, rief die Novizin entschuldigend. »Louisa. Und die Schwester kannst du dir sparen. Ich habe die Gelübde noch nicht abgelegt.«

Lächelnd zog sie ihren Schleier ab und zeigte ihren braunen Pagenkopf, und tatsächlich fühlte Lili sich jetzt viel wohler. Die junge Frau verstand es, Vertrauen aufzubauen. Aus ihr würde sicher einmal eine gute Nonne werden.

»Wenn du erlaubst, komme ich gleich zur Sache«, fuhr Louisa fort und begann zu erzählen. Sie redete eine ganze Weile, und Lili hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Ja, sie vergaß sogar die Anwesenheit der Freunde, die in ihrem Versteck hinter den scharlachroten Samtvorhängen ebenfalls gebannt lauschten, so gefesselt waren sie alle von der Geschichte, die Louisa vortrug.

Erst als die Novizin an der Stelle anlangte, wo ihr der leuchtende Vogel erschien, wurde Lili ein wenig mulmig. Noch bevor die Frau ihre Erkenntnis schilderte, wusste Lili, was dieses Bild zu bedeuten hatte, und nachdem Louisa geendet hatte, zweifelte sie nicht mehr an deren Aufrichtigkeit. Vor allem war ihr jetzt klar, woher Louisa von ihrer Fähigkeit als Grenzgängerin wusste. Ohne es selbst zu merken, begann sie bei den letzten Worten der Novizin verständnisvoll zu nicken.

»Und Sie glauben wirklich, dass der Vater von Rosalie ein Verbrechen begangen und sie sich deswegen in so eine Art Traumwelt zurückgezogen hat?«, fragte sie beeindruckt.