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Der 16-jährige Waisenjunge Jesper lebt bei seinem Onkel an der Nordseeküste. Seit dem Schulabschluss fristet der Junge perspektivlos sein Dasein, und flüchtet in eine Fantasiewelt, die ihm ein Paradies und unermesslichen Reichtum vorgaukelt. In dem Spannungsfeld zwischen Realität und Fantasie fordert Jesper immer wieder die Elemente heraus, und begibt sich in große Gefahr, wenn er mit dem Segelboot bei schlechtem Wetter aufs Meer hinausfährt. Dennoch fühlt sich Jesper mit dem Meer verbunden, denn sein einziges wahres Interesse besteht darin, Plastikmüll am Strand einzusammeln, und brauchbare Gegenstände im Schuppen aufzubereiten. Obwohl er für seine Idee ausgelacht wird, und keinerlei Unterstützung erhält, weiß Jesper in seinem tiefsten Inneren, dass er den richtigen Weg geht. Erst der Fund des Schrottvogels Piet, eines aus recyceltem Material hergestellten "Botschafters", spiegelt Jesper die in ihm tief verborgenen Möglichkeiten wider, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Mithilfe der ehemaligen Klassenkameradin Frida kommt er dem Geheimnis des Schiffswracks an der Küste auf der Spur, und entschlüsselt den Zusammenhang zwischen Piet und dem Buchhändler Abel, der eine tragende Rolle bei der Havarie des Schiffs gespielt hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ralf Leprich
Der Schrottvogel
Jugendroman
Zu diesem Buch
Der 16-jährige Waisenjunge Jesper lebt bei seinem Onkel an der Nordseeküste. Seit dem Schulabschluss fristet der Junge perspektivlos sein Dasein, und flüchtet in eine Fantasiewelt, die ihm ein Paradies und unermesslichen Reichtum vorgaukelt. In dem Spannungsfeld zwischen Realität und Fantasie fordert Jesper immer wieder die Elemente heraus, und begibt sich in große Gefahr, wenn er mit dem Segelboot bei schlechtem Wetter aufs Meer hinausfährt. Dennoch fühlt sich Jesper mit dem Meer verbunden, denn sein einziges wahres Interesse besteht darin, Plastikmüll am Strand einzusammeln, und brauchbare Gegenstände im Schuppen aufzubereiten. Obwohl er für seine Idee ausgelacht wird, und keinerlei Unterstützung erhält, weiß Jesper in seinem tiefsten Inneren, dass er den richtigen Weg geht. Erst der Fund des Schrottvogels Piet, eines aus recyceltem Material hergestellten „Botschafters“, spiegelt Jesper die in ihm tief verborgenen Möglichkeiten wider, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Mithilfe der ehemaligen Klassenkameradin Frida kommt er dem Geheimnis des Schiffswracks an der Küste auf der Spur, und entschlüsselt den Zusammenhang zwischen Piet und dem Buchhändler Abel, der eine tragende Rolle bei der Havarie des Schiffs gespielt hat.
Ralf Leprichwurde in Zeven geboren. Nach der Schule trat er in die Marine ein. Der Autor arbeitete anschließend im sozialen Bereich, und unterstützte junge Menschen bei der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft. Er veröffentlichte die Jugendgeschichten „Der Leuchtturm von Lohfleth“, sowie „Im Nebel über den Fluss“. Aktuell arbeitet der Autor an der Kinderbuchreihe „Greete vom Deich“. Das kleine Schaf Greete erlebt an der Nordseeküste viele Abenteuer mit Hindernissen, und lernt neue Freunde kennen. Der erste Band „Greete trifft Max“ ist 2024 als E-Book und in einer Print-Ausgabe im e-publi-Verlag erschienen.
Impressum
Texte:© 2024 Copyright by Ralf Leprich
Umschlag: © 2024 Copyright by Carolin „Eli“ Leprich
Verantwortlich für den Inhalt: Ralf Leprich
Balanstraße 180 81549 München
www.ralfleprich-autor.de
e-mail: [email protected]
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Inhalt
Vorwort
Danksagung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Epilog
Dies ist eine Geschichte über die Reise zu Vertrauen, Mut und den Glauben an sich selbst.
Manche Schauplätze dieser Erzählung, Landschaften, Städte und Gebäude, existieren wirklich. Obgleich diese Geschichte in einer real existierenden Kulisse erzählt wird, sind sowohl die Handlung als auch die darin agierenden Personen sowie Orte frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Organisationen wären zufälliger Natur und nicht von mir beabsichtigt.
Meiner Tochter Carolin „Eli“ Leprich danke ich aus ganzem Herzen, dass sie Piet, den Schrottvogel anhand meiner Beschreibungen erschaffen hat.
Außerdem danke ich Carolin für die liebevolle Gestaltung des Covers zu diesem Buch.
Die sichelförmige Bucht zog sich vom Ufer bis hin zu der gefährlichen Meerenge bei der Landspitze, wo der alte Kahn in einiger Entfernung seit Jahren vor sich hin rostete. Eingerahmt von Tonnen, die vor der Untiefe warnten, lag das havarierte Schiff auf der Seite, und nur der vergammelte Aufbau des Steuerhauses schaute noch halb aus dem Wasser. Der Sturm des Vortages war abgeklungen, und der auflandige Wind hatte wieder viel Unrat aufs Ufer geworfen. An Tagen wie diesen konnte es Jesper kaum erwarten, mit seinem alten Schwert-Zugvogel hinaus zu segeln, um zwischen den angespülten Gegenständen nach brauchbaren Objekten zu suchen. Wenn es gut lief, sammelte Jesper seinen Rucksack voll mit buntem Plastikspielzeug, und anderen Dingen. An manchen Tagen ging er aber leer aus, und kehrte mit leeren Händen nach Hause zurück. Einmal fand er neben einem Turnschuh Teile einer Schaufensterpuppe. Jesper hatte sich zu Tode erschreckt, weil er dachte, dass dort ein Mensch angetrieben worden wäre. Abwegig war dieser Gedanke nicht, die Nachrichten hatten schließlich über diese Grausamkeiten berichtet. Alles was nicht gesunken war, hatten Wind und Strömung am Ufer verteilt. Bei jedem neuen Sturm wiederholte sich dieser Rhythmus, und im Laufe der Zeit hatte Jesper unzählige Gegenstände in Onkel Johans Schuppen angesammelt, in der Hoffnung, dass er sie eines Tages wiederverwenden konnte.
Jesper lebte schon seit seinem achten Lebensjahr bei seinem Onkel Johan in Lohfleth, einem kleinen Ort an der Nordseeküste. Nachdem die Verwandten nicht bereit gewesen waren, sich um Jesper zu kümmern, hatte Onkel Johan die Vormundschaft für Jesper übernommen, nachdem dessen Eltern bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Beim Landeanflug auf die dänische Hafenstadt Fredericia war die kleine Maschine ins Meer gestürzt. Der Pilot hatte bei dem starken Wind die Kontrolle verloren, und in der aufgepeitschten See konnten seine Eltern nur noch tot geborgen werden.
Jesper hatte seine Sommerferien immer wieder bei seinem gehbehinderten Onkel verbracht, und er erinnerte sich gern an die gemeinsame Zeit vor dem Unglück. Später, als Johan die volle Verantwortung für den Jungen übernommen hatte, war das Zusammensein eher geprägt von Beschimpfungen, Frust und Schikanen, denen Jesper ausgesetzt war. Eines Tages hatte Jesper hinter dem Haus unter einer Plane ein altes hölzernes Segelboot entdeckt, das sich in einem erbärmlichen Zustand befand. Jesper bedrängte seinen Onkel so lange, bis dieser sich bereit erklärte, die Jolle wieder flottzumachen. Es dauerte die ganzen Ferien über, den Rumpf auszubessern, Mast und Segelzeug zu reparieren. Onkel Johan erhielt Hilfe von einem bekannten Bootsbauer aus Lohfleth, der ihm half, die Jolle wieder seetüchtig zu machen. Schon damals war Jesper fasziniert von der Idee, alte Gegenstände zu reparieren, damit sie wieder verwendet werden konnten.
Seine Begeisterung gipfelte in der völligen Restauration des alten Zugvogels, und erreichte den Höhepunkt an dem Tag, als sie das Boot endlich wieder zu Wasser ließen. Nachdem Onkel Johan mit Jesper eine Runde gesegelt war, befand er die Jolle schließlich für seetüchtig, und vertäute sie am Steg vor dem Haus. Er trichterte dem Jungen ein, auf die Tide zu achten. Dass er die Leine lösen muss, wenn das Wasser nach sechs Stunden wieder ablief. Im Laufe des Sommers brachte Johan dem Jungen das Segeln bei, sodass Jesper allein auf Erkundungstour gehen konnte. Stück für Stück lernte er das Gewässer rund um Lohfleth kennen, und merkte sich jede Tonne und Untiefe, die sich um die Meerenge, und weiter draußen befand. Auch an die stetigen Wechsel von Ebbe und Flut gewöhnte sich Jesper schnell, und er wagte sich immer weiter aufs Meer hinaus. Jesper glitt stundenlang in Sichtweite am Ufer entlang, bis fast zwei Seemeilen entfernt auf der See-zugewandten Seite der Leuchtturm in Sicht kam, Jespers Anhaltspunkt und Zeichen zum Umkehren. Im Laufe der Zeit merkte er sich zwei, drei markante Stellen, an denen er gut mit dem Zugvogel anlanden konnte. An diesen Geheimplätzen verbrachte er oft seine Tage, sammelte am Ufer brauchbare Gegenstände ein, und hing seinen Gedanken nach, die ihn hinaustrugen aufs Meer, immer weiter weg, ohne Ziel. Er hoffte, dass ihm das Schicksal am Horizont einen Schatz bereithalten würde, der nur für ihn bestimmt war. Je stärker Jespers Vorstellung war, desto realer erschien ihm die Möglichkeit, dass dies eines Tages tatsächlich wahr werden konnte.
Onkel Johan war nicht sehr gesprächig, oft mürrisch, und die Leute im Dorf sprachen hinter vorgehaltener Hand schlecht über ihn, meinten, er sei ein komischer Kauz, und hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Johan kümmerte sich hauptsächlich um seine Arbeit in der Fischfabrik. Abends hockte er in der alten Seemannsbar „Zum rostigen Anker“, und spülte seinen Alltag hinunter. Manchmal hörte Jesper seinen Onkel im Morgengrauen fluchend nach Hause kommen, wenn er die Haustür laut zuknallte, um dann betrunken ins Bett zu fallen. Jesper wusste, dass er Johan nicht ansprechen durfte. Zu groß war die Gefahr, dass sein Onkel ihm Prügel androhen, und ihm endlose Vorträge über die Bedeutung von Ausbildung und Arbeit halten würde. Ab und zu, wenn Johan nach dem Versumpfen im „Anker“ noch halbwegs bei Verstand war, jammerte er Jesper die alten Zeiten vor, und verherrlichte das Leben an Bord, und versank in Selbstmitleid. Jesper wusste, dass Johan den ganzen Abend mit den anderen Matrosen nichts weiter getan hatte, als den alten Zeiten hinterher zu heulen, und diese zu glorifizieren. Für Johan war der „Anker“ ein vorzüglicher Ort, denn hier konnte er immer wieder von seinem Unglück mit dem Bein berichten, und an seiner Opferrolle feilen. Aufmerksamkeit war ihm dort gewiss. Während alte Lieder aus der Musikbox quäkten, und der Alkohol in Strömen floss, war Johan unter seinesgleichen, und erwarb sich ein wenig Anerkennung für sein Schicksal, das ihn so sehr strafte. Im Gegenzug spendete er den anderen Spießgesellen Trost, die auf ihren Wegen alle irgendwelche Handicaps davongetragen hatten. Zum hundertsten Mal erzählte der „Einäugige“, wie er von seinen Kumpanen gerufen wurde, von dem Verlust seines Auges, als sie im Sturm fast gesunken waren, und er unglücklich mit dem Gesicht auf die Kante eines Rettungsboots gefallen war. Wie Süchtige, die an der Opfernadel hingen, trafen sie sich immer wieder im „Anker“, und verwoben ihre teils erfundenen, und wahren Geschichten zu Abenteuern, in denen sie in jedem Augenblick die Hauptrolle spielten.
Manchmal musste Jesper Johan abholen, wenn dieser so betrunken war, dass er auf dem abschüssigen Weg nicht mehr nach Hause gefunden hätte. Wenn nachts das Telefon klingelte, war das das Signal für Jesper, sich auf den Weg zu machen. Bei Wind und Wetter musste er dann mit dem Fahrrad den gefährlichen Pfad entlangfahren, um bei strömendem Regen völlig durchnässt im „Anker“ anzukommen. Jedes Mal, wenn er die Hafenkneipe betrat, vernebelte der Gestank von Alkohol und Tabak sämtliche Sinne, und Jesper wurde meist gar nicht wahrgenommen. Die Seeleute hockten in kleinen Gruppen zusammen, und überboten sich mit ihren Geschichten. Es kam vor, dass Jesper weggeschubst wurde, wenn er neugierig an einem der Tische lauschte. Sie lachten über den Knirps in seinen viel zu kurzen, löchrigen Hosen, und beschimpften ihn als „stinkende kleine Ratte“, die verschwinden solle. Doch die sagenhaften Geschichten, mit denen sich die Männer gegenseitig überboten, zogen Jesper immer wieder in seinen Bann. Vor allem, wenn es um das Wrack an der Landspitze ging, hing Jesper an den Lippen der Männer, und er schusterte sich in seinen Fantasien immer neue Geschichten zusammen. Diese endeten abrupt, wenn die Matrosen ihn wegscheuchten, und er sich gefälligst zu seinem Onkel, dem Spinner, gesellen solle. Wenn Jesper Onkel Johan beobachtete, fiel ihm auf, dass der verkrüppelte Mann auf irgendeine Art glücklich schien. Wenn Johan seine Geschichten erzählte, lachte er oft laut, und die Anderen klopften ihm kräftig auf die Schulter. Insgeheim ahnte Jesper, dass dies nur eine Fassade war.
Mit Schrecken erinnerte er sich an jene schlimme Nacht, als sie bei strömendem Regen auf dem Heimweg waren. Jesper radelte, und Johan hockte sturzbetrunken auf dem Gepäckträger, mit der Pulle Bier in der Hand, aus der er immer wieder nuckelte. Dann, auf dem holprigen Pfad, verlor der Junge das Gleichgewicht, und sie stürzten zu Boden, und ein Stück den Abhang hinunter. Johan fluchte, und beschimpfte Jesper übel. Trotzdem versuchte der Junge, Johan zum Aufstehen zu bewegen, aber das klappte nicht, Johan war zu betrunken. Er lallte nur noch, und seine Stimmung kippte. Der eben noch dröhnende Seemann hatte sich in ein Häufchen Elend verwandelt, das mit seinem Schicksal haderte. Der „Anker“, das zweite Zuhause Johans, war wie ein Kartenhaus eingestürzt, und der Mann lag wieder einmal bis zum Hals im Dreck am Boden, auf halber Strecke bis zu seiner Hütte. Jesper schaffte es nicht mehr, ihn zum Aufstehen zu bewegen, und lehnte sich in seiner Verzweiflung etwas abseits an einen Strauch, und weinte in seiner Hilflosigkeit bitterlich drauflos. Jesper dachte, dass es diesmal das Ende war. Unfähig, irgendetwas zu tun, starrte er aufs Wasser, und ließ dem Schicksal seinen Lauf. Jesper hasste seinen Onkel, wenn er völlig betrunken nachts nach Hause kam. Für Johan schien es keinen Ausweg zu geben, und er verfluchte die Sinnlosigkeit seines Daseins ein ums andere Mal. Jesper fühlte, dass Johan sich selbst anklagte. In diesen Situationen verhielt er sich absolut still in seinem Zimmer, und wagte sich nicht heraus. Im Kern spürte er, dass Johan ihm nie etwas tun würde, aber er wusste auch nicht, was passieren würde, sollte er ihm plötzlich gegenüberstehen. Jesper fühlte sich jedes Mal schuldig, und bezog Johans Verhalten auf sich. Dann stieg der Junge heimlich aus dem Fenster, und fuhr mit der Jolle hinaus aufs Meer. Egal, ob es regnete oder der Vollmond wie eine Hauslampe über dem Meer hing, Jesper wollte einfach nur noch weg, ausbrechen aus dem Gefängnis, hinaus in die Freiheit gelangen. Er wollte den Wind spüren, der ihn wegtrug in seine Traumwelt, in der es keine Grenzen gab, keine Beschränkungen und keinen Mangel. Jesper erinnerte sich nicht mehr, wie lange sie in dem Moder gelegen waren, aber irgendwann war Johan wieder zur Besinnung gekommen, und sie torkelten, sich gegenseitig stützend, nach Hause.
Mit seinem kargen Lohn hielt Johan sich und Jesper halbwegs über Wasser. Die Arbeit war hart, oft musste er nachts aufstehen, wenn die Kutter mit dem Fisch vom Fang zurückkamen, und mithelfen, den Fisch zur weiteren Verarbeitung abzutransportieren. Als junger Mann war er zur See gefahren, und oft wochenlang unterwegs gewesen. Bis an die Spitze Norwegens war er gefahren, und hatte das harte Leben eines Seemanns kennengelernt. Einige Wochen arbeitete er sogar in einer der größten Fischfabriken Norwegens, in Hirtshals. Ab und an lästerte Johan über den widerwärtigen Fischgestank, der wie eine Glocke über dem Kaff hing. Auf den verschiedensten Schiffen war Johan unterwegs gewesen, und hatte sich von seinen mageren Ersparnissen schließlich die kleine Hütte auf der Landzunge gekauft. Das Häuschen war von der salzhaltigen Luft schon beim Kauf sichtbar ramponiert gewesen, aber Johan steckte fast sein ganzes Geld in die Renovierung hinein. Ein Zimmer hatte er für Jesper eingerichtet, als feststand, dass der Junge für immer bei ihm leben würde. Johan bemühte sich wirklich, Gemütlichkeit und Sauberkeit herzustellen, aber oft konnte er einen vernünftigen Standard nicht einhalten. Vor allem war er oft überfordert mit der Erziehung Jespers, und mit den Wünschen und Anforderungen eines Heranwachsenden. Erschwert wurde das zusätzlich durch den unterschiedlichen Rhythmus beider.
Mittags verpflegte sich Jesper immer selbst. Er war oft allein, und schmierte gelangweilt die Hausaufgaben ins Heft, um anschließend sämtliche Abenteuerbücher zu verschlingen, die er in Abels Bücherkiste in Lohfleth ausleihen konnte. Einige Bücher las er sogar mehrmals, wenn er kein neues Buch fand. Jesper tauchte in geheimnisvolle Welten ein, und ließ seiner Fantasie freien Lauf. Abel war sein Sprachrohr zur Welt, denn im Buchladen erzählten sich die Leute allerlei Neuigkeiten über Lohfleth, und Jesper schnappte wissbegierig alles auf, was ihn interessierte, und was er seinem Onkel berichten konnte. Johan schüttelte meist den Kopf, und meinte, Jesper solle sich endlich um eine Ausbildung kümmern.
Seitdem Jesper aus der Schule war, lag er seinem Onkel auf der Tasche. Mehrere Praktika, unter anderem in der Fischfabrik, hatte Jesper abgebrochen, das war einfach nichts für ihn. Jesper lebte schon lange in keiner richtigen Tagesstruktur mehr, und entwickelte sich zum Eigenbrötler, der zurückgedrängt auf der Halbinsel sein karges Dasein fristete. Einmal erzählte Jesper seinem Onkel, dass die Gegenstände, die er im Schuppen hortete, so ziemlich das Einzige waren, was ihn interessierte. Johan maßregelte den Jungen, dass dies doch kein Beruf sei, und wie er damit anständiges Geld verdienen wolle. Im Übrigen war Johan es leid, dem Halbwüchsigen noch immer kleines Taschengeld zuzustecken. Jesper beteuerte, sich um eine Lehrstelle zu kümmern, aber er wusste nicht, welchen Weg er einschlagen sollte. Und so fühlte sich sein Leben an wie ein endloser Nebel, der auf seinem Gemüt lag. Ab und an schien der Horizont hervor, bevor er wieder verschwand.
Während der Schulzeit geriet Jesper häufig mit zwei Jungen aneinander, die ein Jahr über ihm gewesen waren. Nur aufgrund der Tatsache, dass Jesper als Fremder hinzugezogen war, wurde er in der Schule regelmäßig verprügelt. Wenigstens ließen ihn die beiden Raufbolde ab der neunten Klasse in Ruhe, nachdem sie die Schulpflicht erfüllt hatten. Die beiden trieben sich den ganzen Tag am Hafen herum, immer auf der Suche nach dem nächsten Unfug, oder einem Streit mit anderen Gleichaltrigen. Einmal wurden sie nachts erwischt, als sie einem Betrunkenen die Geldbörse stahlen, und auf der Flucht erwischt wurden. Dafür wanderten sie mehrere Wochen in den Jugendarrest. Bei diesen beiden war das Thema „Ausbildung“ völlige Fehlanzeige, die Entfaltung ihrer kriminellen Energie war ihnen wichtiger als alles andere. Bis zum blau getünchten Haus an der Landspitze kamen sie zum Glück nie, dort gab es für sie nichts zu holen, und das Schikanieren Jespers schien ausgereizt. Jesper erinnerte sich aber auch an die wenigen, schönen Augenblicke in seinem Leben. Wenn Onkel Johan Zeit fand, fuhren sie zusammen an den Wochenenden mit der Bahn nach Emden, und verbrachten die Nachmittage miteinander. Sie lachten viel, und Johan war dann oft wie ausgewechselt. Er war verbal nicht sehr geschickt, sprach sowieso nicht viel, und wenn, dann manchmal zusammenhanglos. Jesper klaubte sich die Wortbrocken einzeln zusammen, damit sie einen Sinn ergaben. Einmal verriet Johan ihm, dass er verheiratet gewesen war. Aber nach zwei Jahren war der Frau Johans Leben überdrüssig geworden, und sie hatte ihn in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen, als er zur See fuhr. Als Johan nach der Heuer in sein verlassenes Zuhause zurückgekehrte, und nur einen lapidaren Abschiedsbrief vorfand, war er sehr verzweifelt gewesen. Daraufhin steigerte er seinen Alkoholkonsum weiter, und konnte nur mühsam der schweren Arbeit an Bord nachgehen. Nach der Scheidung hatte er sich nie wieder nach einer Frau umgesehen, und dieses Kapitel abgeschlossen. Offenbar schien ihn das nicht weiter zu belasten, oder er verstand es, seine Einsamkeit sehr gut zu verbergen. Ab dem Zeitpunkt verstand Jesper: Onkel Johan war ein Eremit geworden, und er, Jesper, gehörte dazu. Meist fühlte sich das für Jesper normal an. Da er während der Schulzeit ohnehin ein Ausgestoßener gewesen war, und kaum jemand Kontakt mit ihm gesucht hatte, verlief Jespers Leben ebenso eintönig und isoliert, wie das seines Onkels.
Das Boot nimmt Fahrt auf, und Jespers Einsamkeit weicht in dem Moment, als der Wind die Segel füllt, und das Boot vor sich hertreibt. Das Plätschern am Bootsrumpf ist die Musik, und es kommt Jesper vor, als sei er Teil des Orchesters der Elemente. Dann fühlt er sich wie ein Dirigent, der nach Belieben die Musik mal lauter, und mal leiser spielen lässt. Und je stärker der Wind aufbrist, desto lauter wird das Meer, und je höher schlagen die Wellen die Gischt ins Boot, und je härter nimmt Jesper das Boot an den Wind. Er kokettiert mit den Elementen. So weit vom Ufer entfernt hätte er kaum eine Chance, den Fluten zu entkommen, sollte das Boot einmal kentern. In diesen magischen Momenten wird er eins mit seiner Umgebung, wird selbst zum Element. Dann spürt er die Kraft, die in ihm steckt, und den Willen, immer weiter an die Grenze zu gehen. Er spürt keine Angst, ganz im Gegenteil: Je riskanter sein Ritt auf den Wellen wird, desto glücklicher und unbezwingbarer fühlt er sich, und je mehr wünscht er sich, dass dieser Zustand niemals aufhören möge. Je stärker der Trommelwirbel sich dem Höhepunkt nähert, desto lauter schreit Jesper seinen Frust heraus. Und genauso abrupt, wie ein Höhepunkt im Orchester sich der Ekstase nähert und schließlich endet, fallen seine Träume in sich zusammen, und Jesper überkommt ein Gefühl von Traurigkeit und Depression. Eine unerträgliche Stille stellt sich ein, und er fühlt sich plötzlich abgetrennt und isoliert von allem. Wäre er bei einem dieser waghalsigen Manöver gekentert und ertrunken, dann wäre ihm zumindest für diesen einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Anderen im Dorf gewiss gewesen. Dann hätten sie ihn gesehen, den 16-jährigen Jungen, der vom Leben nichts erwartete.
Eines Tages teilte Johan Jesper erfreut mit, dass er für eine Woche auf einem Schiff anheuern wollte, um endlich einmal wieder gutes Geld zu verdienen. So viel, wie in einem Monat in der Fischfabrik. Diese Gelegenheit wollte sich Johan auf keinen Fall entgehen lassen. Er würde wieder als Seemann arbeiten, und freute sich riesig über diese Gelegenheit. Jesper unterstützte Johans Absicht, und bestärkte ihn sogar darin. Der Junge erhoffte sich dadurch, dass sie später die eine oder andere Anschaffung tätigen konnten. Jesper benötigte unbedingt ein neues Bett, und auch ein paar neue Schuhe. Vielleicht würde Johan ihm auch ein Regal im Schuppen montieren, damit er seine gesammelten Gegenstände sortieren konnte. Jesper war gar nicht so unglücklich über Johans Abwesenheit. Er konnte seinen Gedanken nachhängen, den Möwen bei ihrer Akrobatik in der Luft zuschauen, oder einfach nur mit dem Fahrrad in den Ort fahren.
An diesem Morgen wehte ein leichter auflandiger Wind, und die Wolken zogen langsam über die Landspitze hinweg. Die Ausläufer eines Sturmtiefs, das am Tag zuvor das Land mit seinen Regengüssen überzogen hatte, wanderte nun in östlicher Richtung weiter.
Jesper stopfte eilig etwas Verpflegung, Taschenmesser und die Trinkflasche in seinen Rucksack, zog die Regenjacke über, und lief zum Steg, wo das Segelboot vertäut lag. Er machte die Jolle klar zum Ablegen, hisste die Segel, drehte in den Wind, und ließ sich gemächlich vor dem Wind hinaustreiben, steuerte auf die Meerenge zu, die wie ein offener Schlund schon auf ihn zu warten schien. Jesper wollte unbedingt als Erster in der Bucht sein, damit ihm kein anderer die besten Fundstücke wegschnappen konnte. Manchmal begegnete er anderen Menschen, die ebenfalls sehr aufmerksam ihre Blicke auf das Strandgut richteten. Aber meistens sammelten die Strandwanderer nur Muscheln oder Steine ein. Einige hofften vielleicht auch auf einen Bernsteinfund, aber in dieser Gegend war es sehr unwahrscheinlich, einen solchen goldgelben Klunker zu finden. Das gleichmäßige Plätschern der Wellen und der seichte Wind trieben die Jolle vor sich her, und Jespers Gedanken schwenkten in diesen gleichmäßigen Rhythmus ein, in dieses Zusammenspiel der Elemente, mit denen er sich Eins, vollständig und komplett fühlte. Hier wurde er akzeptiert, so, wie er war. Er konnte einfach Sein, und verspürte im Augenblick der Gegenwart tiefe Zufriedenheit. Hier musste er sich nicht verstellen, und wurde sich seiner Person bewusst. Es war seine befreite Seele, die in diesen Momenten mit ihm auf Tuchfühlung ging, und sein wahres Selbst zum Vorschein brachte. Jesper genoss diese meditativen Stunden, und wünschte sich, dass sie niemals aufhören würden. Einmal, als er weiter hinausgefahren war, und er das Ufer fast aus den Augen verloren hatte, tauchte eine kleine Tümmlerschule vor seinem Bug auf. Die Delfine schwammen bestimmt eine halbe Stunde vor der Jolle her, schauten ab und zu aus dem Wasser, und Jesper folgte ihnen überglücklich, ohne dass er ein einziges Mal zurückschaute. Erst, als die Delfine das Spiel beendeten, bemerkte Jesper, dass er immer weiter vom Ufer abgekommen war. Die Delfine hatten ihn aufs offene Meer gelockt, das unter ihm wie dunkelblaue Tinte schimmerte. Völlig furchtlos wendete Jesper, und hielt Kurs auf den Leuchtturm. Wie ein Fels in der Brandung gab dieser bei Tag noch immer Orientierung, obwohl er schon seit Jahrzehnten außer Betrieb war.