Der Schulmeister von Vaihingen - Ernst Gutmann - E-Book

Der Schulmeister von Vaihingen E-Book

Ernst Gutmann

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Beschreibung

„Schon sauste das Schwert des Ritters auf ihn nieder. Jacob konnte gerade noch das eigene zur Abwehr erheben und den ersten Schlag mit Mühe abfangen. Er bemerkte sofort, dass er diesem Gegner trotz des Sturzes nicht gewachsen war.“ Anno 1475: Der junge Jacob Pirenius begibt sich auf die schicksalhafte Reise nach Stollhofen, um sich dort seiner Zukunft als Schulmeister zu widmen. Doch wider Erwarten stellt ihn seine neue Heimat vor weit mehr Herausforderungen. In einer Zeit geprägt von Kriegen, Armut und Hungersnöten sieht er sich immer neuen Schwierigkeiten ausgesetzt. Söldnerüberfälle müssen bekämpft, Bauernaufstände niedergeworfen werden. Kirchliche Hexenverfolgungen und staatliche Korruption schüren das Misstrauen der Bürger. Nur Jacob kann ihr Vertrauen zurückgewinnen. Und auch in der Liebe steht er vor einer bedeutsamen Entscheidung zwischen zwei Frauen.

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ernst Gutmann

Der Schulmeister von Vaihingen

Historischer Roman

Titelbild: Ernst Gutmann

Titel: Der Schulmeister von Vaihingen

Untertitel: Historischer Roman

Autor: Ernst Gutmann

Herstellung: verlag regionalkultur

Satz: Melina Lamadé, vr

Umschlaggestaltung: Charmaine Wagenblaß, vr

Endkorrektorat: Nico Batschauer, Melina Lamadé, vr

ePub-Erstellung: Charmaine Wagenblaß, vr

eISBN: 978-3-89735-031-1

Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich. 306 Seiten, Broschur. ISBN 978-3-95505-396-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

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Tel. 07251 36703-0 • Fax 07251 36703-29

E-Mail [email protected]

Internet www.verlag-regionalkultur.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 5

Die Kindheit 7

Die Reise 9

Die Ankunft 19

Erste Erfahrungen 26

Die Badestube 32

Fastnacht 37

Die weiteren Aufgaben 38

Bestandsaufnahme 42

Das Bürgerbuch, ein Kunstwerk 44

Die Storchennester 45

Die Versteigerung 46

Nochmals Elisabeth 50

Jahrmarkt 51

Elisabeth 54

Katharina 55

Der Schriener-Hannes 55

Die Rheininseln 58

Die Orgel 62

Ostern 1475 63

Der Vorhof 64

Der Festtag zum Skapulier, 1475 66

Jacob in der Baden-Badener Kanzlei 70

Unterhaltung mit dem Schreiber-Fritz 73

Überfall der Armagnacen (Burgunder), 1475 74

Besuch zu Hause in Vaihingen, 1475 78

Der zweite Überfall, 1475 84

Die Hochzeit, 1. November 1475 92

Kampf um Beinheim 93

Der schreckliche Sieg, Winter 1475 100

Kriegsrat 103

Erstes Weihnachten, 1475 105

Silvester und Neujahr, 1475–1476 107

Die Pest 109

Der Spuk war vorbei 111

Beinheim, Leutenheim, Kloster Königsbruck 112

Stadt Seltz, 1476 115

Kloster Königsbruck 116

Leutenheim 117

Die Zisterzienserinnen in Beinheim 118

Die Rückkehr nach Stolhofen 120

Zuwanderer 120

In den Dörfern 122

Elisabeth ist zurück, 1476 122

Katharinas Tod im Kindbett, Juli 1476 126

Elisabeth 128

Rundgang durch die Klosterdörfer, Herbst 1477 131

Der neue Schulmeister, 1478 137

Die Reise nach Straßburg zum Städtetag im Spätjahr 1478 139

Die Lange Straße 145

Winter 1478–79 146

Tod des alten Schreibers, genannt Fritsche-Sepp, Januar 1479 148

Reise nach Speyer, Städte- und Fürstentag als Delegierter 149

Speyer (Spiere) oder Noviomagus 152

Kauf des Hauses, 1479 156

Die Hochzeit, 1. Mai 1479 158

Die Orgel für St. Cyriak 160

1480 163

Neubau von Mesner- und Schulhaus in der Vorstadt 163

Jacob wird Stadtrat, 1480 164

Der Sohn Heinrich, 1480 165

Schlechte Ernte im Jahr 1480 166

Der Kanzler Hermann von Herrnstein 167

Beschädigung der Ladstatt am Rhein 168

Weitere Belastungen 168

Erster Bauernaufstand, 1481 172

Kanonendonner über der Stadt 176

Die Bauern werden besiegt 179

Die große Reise, März 1481 181

München in der Residenz 188

Amtsschreiber Xaverius Alabaster 189

München 189

Die Entscheidung, April 1481 193

Der schwere Zweikampf 197

Die Befreiung der Residenzstadt 201

Wiederaufbau 204

Die Bruchhäuser 205

Reise nach Mainz mit dem Schiff, August 1481 207

Am Landesteg bei Speyer, August 1481 213

Worms 215

Mainz, August 1481 216

Die Nacht in Durlach 224

Triumphale Rückkehr 227

Das Leben wird ruhiger 231

Geruhsamer Herbst, 1481 233

Besuch in der Rose zu Lichtenau 233

Das Urteil 234

Wieder ein harter Winter, 1481–82 236

Feuer in der Stadt 238

Frühling 1482 241

Das Krautjahr 1483 242

Geburt der Tochter Anna Maria, 20. Mai 1483 243

Zuwanderungen 246

Der Hexenhammer 250

Jacob mit seinem Fähnlein im Elsass, 1488 252

Der Angriff 253

Neue Reise nach Straßburg 257

Marktplatz und „Fürkauf“ 258

Dezember 1488 259

Bau eines neuen Stadtteils in der Vorstadt, 1489 260

Der Pfarrer Johannes Birnbaum 261

In der Residenz 263

Der ungeliebte Pfarrer geht 268

Die schrecklichen Jahre 1490–91 271

Gerichtstage 275

Das Amtsgericht 276

Das Jahr 1492 279

Der Sohn Heinrich-Jacob 279

Der Aufstand von 1492 285

Die neuen Häuser werden vernichtet. 287

Es kommt Verstärkung 288

Die Verhandlungen, 1492 291

Der Einkauf in Straßburg, 1492 296

Viehtrieb nach Stolhofen im Herbst 300

Wieder ein kalter Winter, 1492–93 300

In der Residenzstadt, 1492 301

Verurteilung der Bauern 302

Jacob wird zum Untervogt ernannt 304

Frühjahr 1493 304

Jacob ist nun 60 Jahre alt 312

1510–1531 313

Zur Erklärung 313

Vorwort

Die Erzählung umspannt die Zeit um 1450–1520, wenige Jahre vor dem Beginn des Bauernkrieges, und spielt im Südwesten des damals kleinen badischen Kernlandes unter dem Markgrafen Christoph von Baden.

Die meisten Namen der in der damaligen Zeit tatsächlich lebenden Personen wurden verändert oder zeitlich etwas verschoben. Zudem wurden die Ortsnamen zum Teil in alter Form oder im Dialekt wiedergegeben (Stollhofen – Stolhofen, Söllingen – Sellinge, Hügelsheim – Helse usw.).

Das romanhafte Leben des fiktiven Schulmeisters Jacob beruht zum Teil auf wahren Begebenheiten. So ist z. B. der Name Birnesser in verschiedenen Aufzeichnungen wiederzufinden.

Die Familie der Birnesser stammte ursprünglich aus Hartheim bei Buchen. Ihr Name wurde dort durch einen Grabstein mit Familienwappen an der Stadtkirche verewigt. Ein früher Zweig ließ sich auch in Vaihingen/Enz nieder. Sie schickten ihre hochbegabten Buben zum Studium, u. a. in die frühen Universitäten in Prag, Wien, Heidelberg und Erfurt. Nach ihrer Ausbildung dienten diese dann als Stadt- und Zollschreiber, Schulmeister sowie Notare in verschiedenen Städten.

Die Namen der Studenten wurden in den Matrikel der Universitäten gerne in Latein umgeschrieben. Aus dem Namen Weber wurde z. B. Textor, aus Bäcker Pistorius und aus Fischer Piscator. So entwickelte sich auch der Name Birnesser, als Heinrich, der Sohn der Familie, 1414 in Wien studierte, zu Pyrmesser bzw. Pirenius (Pirus – Birne).

Die Geschichte beginnt mit Jacob Pirenius, der 1450 als Sohn des Schulmeisters Heinrich in Vaihingen geboren wird. Als junger Bursche besucht er die Pforzheimer Lateinschule und studiert daraufhin in Erfurt. In dieser Zeit ergeht von der markgräflichen Regierung unter dem jungen Markgrafen Christoph von Baden die Aufforderung an die Amtsstädte, eigene Pfarr- oder Bürgerschulen einzurichten. Nachdem die Städte dieser Anordnung nachkommen, bewirbt sich Jacob sogleich für die Stelle des Schulmeisters in dem kleinen, aber lebendigen Städtchen Stollhofen.

Noch im Winter 1475 macht sich Jacob auf den mühevollen Weg in das Städtchen am Rheinstrom.

Die Kindheit

Zwischen dem Ufer der Enz und der uralten Peterskirche lag ein kleines typisches Fachwerkhäuschen der Vorstadtbewohner von Vaihingen. Das Häuschen hatte nur zwei kleine Kammern mit den Fenstern zur Grabengasse, eine Küche von geringer Größe mit offener Feuerstelle, ein winziges Guckloch zum Armenhaus hinüber und eine größere Kammer, die der Rat der Stadt als „Schulstube“ bezeichnete. In dem kleinen windschiefen Giebel verbargen sich nochmals zwei kleine fensterlose Verschläge unter den Ziegeln, die als Vorratsräume für allerlei Feldfrüchte dienten. Hinter dem bescheidenen Häuschen lebten in einem Bretterverschlag eine Ziege und ein Schwein. Heinrich Pirenius, besser bekannt als der „Schulmeistershein“, lebte nun schon seit einigen Jahren in der Vorstadt. Sein Elternhaus stand in Pforzheim; dort hatte er auch einen Teil seiner „Schreiberausbildung“ in der Lateinschule erhalten. Seine fundierten Kenntnisse erlangte er an der Universität zu Erfurt, wo auch schon andere seiner Familie (Magister Artium) studiert hatten. Dort war er in einem kleinen Klosterinternat untergebracht worden. Die Finanzierung solcher Stipendiaten wurde zum Teil von einer Stiftung übernommen, zum Teil mussten eben die Eltern bezahlen.

Nur mit Mühe konnten in der „Schulstube“ die „Schulknäblein“ ihren Platz finden. Da aber nie alle Knaben täglich in die Schule gingen, reichte der enge Platz immer aus.

Als vor einigen Jahren der Stadtrat in Vaihingen einen Schulmeister suchte, konnte er sich bewerben und hier niederlassen. Ganz zufrieden war er allerdings zunächst nicht. Man hatte ihm damals eine angemessene Unterkunft in der Stadt versprochen. Als Ersatz konnte er dieses schon etwas baufällige Häuschen günstig erwerben.

Vor sechs Jahren heiratete er seine Salome, die aus einer nicht bürgerlichen armen Vorstadtfamilie stammte. Durch die Heirat mit dem Schulmeister konnte Salome rechtlich den großen Schritt zur Frau eines Bürgers machen. Sie war trotz der vier Kinder immer noch eine ausgesprochene blonde Schönheit. Durch seine Tätigkeit als Schulmeister und Mesner an der Peterskirche hatte natürlich auch Heinrich das Bürgerrecht der Stadt erhalten. Nebenbei bearbeitete er auch noch zwei Äcker mit einer angrenzenden kleinen Wiese. Dieses „Bürgerstück“ war ein Teil der Besoldung, die er von der Stadt erhalten hatte. Darauf baute er etwas Korn, Kraut, Rüben und Salate an. Um sein Einkommen zu erhöhen, hoffte er in Zukunft auch noch den Posten des Stadtschreibers übernehmen zu können. Am 25. Juli 1450 wurde sein erster Sohn als fünftes Kind geboren. Heinrich und Salome ließen ihn, da er am Tag des Hl. Jacob geboren war, in der Pfarrkirche St. Peter auf den Namen Jacob-Heinrich taufen. Der Rufname blieb Jacob.

Im Juni war Heinrich in seiner Vaterstadt Pforzheim gewesen und konnte endlich seinen Erbteil, eine Wiese und einen Garten, an das Kloster St. Georg für 20 Gulden verkaufen.

Noch im selben Jahr konnte Heinrich das größere Nachbarhaus erwerben. Nun war genügend Platz für eine große und eine kleine Schulstube vorhanden.

Jacob wuchs in den nächsten Jahren als umsorgter einziger Sohn in einer immer wohlhabender werdenden Familie auf.

Er war ein begabter Junge. Schon früh unterrichtete ihn sein Vater. Besonders war der Junge vom Lesen und Schreiben in Deutsch und Latein angetan. Auch das Musizieren auf der gerade neu eingebauten Kirchenorgel in St. Peter lernte er leicht. Noch waren Bücher ausgesprochene Kostbarkeiten. Der Buchdruck war gerade erfunden worden. Die meisten Bücher wurden noch mit Hand geschrieben, günstiger waren die ersten Drucke von Holz- oder Kupferplatten. Hilfreich war es, dass sein Vater nun auch Stadtschreiber geworden war. So konnte Jacob einige der städtischen Akten lesen. Auch der Pfarrherr in der Peterspfarrei ließ ihn die Heiligen Schriften lesen.

Als Jacob zehn Jahre alt war, schickte ihn sein Vater nach Pforzheim in die Lateinschule. Dort konnte er bei dem älteren Bruder seines Vaters wohnen. Pforzheim gehörte damals zur Markgrafschaft Baden, Vaihingen dem Grafen von Württemberg. Doch für Schreiber und Schulmeister waren auch schon damals die Landesgrenzen kein großes Hindernis, zumal Heinrich immer noch sein väterliches Heimatrecht der Stadt Pforzheim nicht ganz aufgegeben hatte. Die angeborene Neugier erleichterte dem jungen Jacob das Lernen an der strengen Schule. Im Jahre 1468 konnte er die Ausbildung in Pforzheim beenden und sich in der Universität zu Erfurt einschreiben. Dort diente er, da er schon sehr gut in Latein war, nebenbei ein paar Jahre als Aushilfslehrer und konnte sein Orgelspiel verbessern. Außerdem konnte er somit einen Teil der Kosten für das Internat aufbringen. Zu Weihnachten 1472 kam er in seine Heimatstadt Vaihingen zurück. Er unterrichtete an der Schule des Vaters weitere zwei Jahre. Doch für beide war die Stadtschule auf Dauer zu klein. Er wurde in dieser Zeit seinem Vater, der ein stattlicher Mann war, immer ähnlicher. Seine fast schwarzen Haare und seine dunklen warmen Augen hatte er von seinem Vater geerbt. Auf seiner Oberlippe ließ er einen kleinen Bart stehen. Das Haar trug er halblang und hielt es mit einem Stirnband in Form. Bald überragte er seinen Vater um einige Zoll. Er genoss es schon gerne, dass ihm die Mädchen der Stadt heimlich nachschauten.

Sein Vater Heinrich konnte Ende 1474 von der Lateinschule in Pforzheim in Erfahrung bringen, dass in der oberen Markgrafschaft Baden, in einem kleinen Grenzstädtchen am Rhein, eine Stadtschule eröffnet werden sollte. Man hatte in ganz Baden diesen Posten auf allen Märkten ausgerufen. Bisher habe sich aber noch kein qualifizierter Schulmeister gemeldet.

Die Reise

Nach der schriftlichen Zusage des Schultheißen der Stadt am Rhein machte sich Jacob noch im Februar des Jahres 1475 auf den Weg nach „Oberbaden“. Das Wetter war nicht gerade sehr einladend für eine Reise von mehreren Tagen. Seinerzeit starb gerade der alte Markgraf Karl in Pforzheim, der Vater des jungen Christoph.

Jacob zog am frühen Morgen los. Über die vereisten Weinberge dämmerte es gerade. Er verabschiedete sich von seiner Familie, lud seine wenigen Habseligkeiten auf sein Pferd und hängte sein schon etwas schartiges und betagtes Schwert über den Sattel. Es war ein Geschenk von seinem Vater. Sein Pferd Peter und sein Schwert waren übrigens sein einziger größerer Besitz. Dazu besaß er nur wenige Gulden. Da sein Elternhaus in der Vorstadt bei der Peterskirche lag, musste er die Stadt von Osten nach Westen durchqueren, um auf die Landstraße nach Pforzheim zu kommen. Der Torwächter am Kirchtor grüßte ihn: „Na, Schulmeisters Jacob, du suchst nun doch das Glück in der Fremde? Pass auf dich auf, es ist sehr kalt heute und lass dich auch mal wieder in deiner Heimatstadt sehen!“ Jacob zog seinen dicken Mantel und seinen schweren Schal unwillkürlich noch enger um sich, grüßte freundlich und ging weiter.

Nach wenigen Minuten hatte Jacob die Stadt durchritten. Die Gassen waren früh morgens noch leer, nur aus den Ställen hörte man die üblichen Geräusche der Viehfütterung. Aus den offenstehenden Stalltüren drangen Dampfschwaden von der Wärme und von dem Schweiß der Tiere. Schnell erreichte er das Illinger Tor. Auch dort wurde er vom Torwächter verabschiedet. Aus nur wenigen Häusern bestand die Vorstadt bei der Mühle. Lange Eiszapfen hingen von den Dächern der Häuschen und Zinnen der Mauern. Die vereiste Zugbrücke knirschte unter den Huftritten des Pferdes. Jacob ließ seinen Blick zum Abschied den Weinberg hinauf auf das Schloss gleiten. Nach der äußeren Brücke, neben der Mühle stieg Jacob auf sein Pferd. Sein Weg führte nun zunächst am Ufer der Enz entlang. Der Schnee verzauberte das ganze Land. Aber der eisige Wind durchdrang die Kleidung des Reisenden. Für sentimentale Betrachtungen hatte Jacob keinen Sinn. Er war nun mal ein Kind seiner Zeit und sah den Winter als schrecklichste Jahreszeit an. Viele alte Menschen, aber auch Kinder starben an Hunger und Kälte. Die Todesraten waren, das wusste er aus den Unterlagen der Stadtschreiberei, immer in der kalten Jahreszeit besonders hoch.

Sein Weg ging auf die Steige hinauf der benachbarten Stadt Illingen zu. Nach einer halben Stunde erreichte er sie, ritt aber an der Stadt vorbei. Eine knappe Stunde später erreichte er über Lomersheim das Städtchen Dürrmenz. Ohne sich aufzuhalten, ritt er an Dürrmenz vorbei und ließ nach einer weiteren guten Stunde Enzberg und Eutingen rechts und links liegen. Gegen Mittag ritt er an den wenigen Häusern von Altenstadt vorbei und kam dann durch das Altenstädter Tor in seiner zweiten Heimatstadt Pforzheim an. Am Tor musste er den üblichen Zoll bezahlen. Für einen Augenblick kam ihm das Wetter nicht mehr so kalt vor. Vielleicht war es aber nur der Windschatten der Stadtmauer. Vom Marktplatz aus bog er dann in die Höllgasse ab, um dann in der Brüdergasse in seinem großelterlichen Haus einzukehren. Die Familie seines Onkels freute sich auf seinen Besuch und die Grüße aus Vaihingen. Nach einer Stärkung führte Jacob seinen Peter durch das Gewimmel in der Stadt. Gerade war der eisige Wochenmarkt zu Ende. Viel hatten die Bauern im Winter nicht anzubieten. Meistens waren es Schlachttiere, die sie nicht mehr über den Winter füttern wollten oder konnten. Oder restliche überschüssige Feldfrüchte, die sie eingelagert hatten. So strömten die Bauern mit ihren leeren Wagen den Toren zu. Die Zugtiere dampften. Eng wurde es dann auch für Jacob vor dem inneren Brötzingen Tor. An der Heilig-Kreuz-Kirche vorbei erreichte er das äußere der Tore. Trotz der Kälte war die Landstraße noch sehr belebt. Die Dörfer Brötzingen und Birkenfeld ließ er links liegen und strebte an der Enz entlang der Stadt Neuenbürg zu. Er wollte vor dem Einbruch der Nacht noch das Gasthaus „Enzbrücker Mühle“ oberhalb der Stadt Neuenbürg erreichen. Von dort aus wollte er dann am nächsten Morgen die Steige hinauf nach Dobel bewältigen.

Schon etwas windschief war das Gebäude dieses Gasthauses. Es duckte sich hinter einer mächtigen Schneewehe. Aus dem krummen Kamin quoll eine fette Rauchschwade. Zunächst versorgte Jacob sein Pferd in der großen Scheune, dann trat er sich bückend durch die niedrige Gaststubentür. Als er durch die Türe schritt, flogen ihm schnell alle Köpfe zu. Der Boden der Gaststube befand sich tiefer als der Eingang. Daher stolperte er, und fiel beinahe die zwei Stufen in die Gaststube hinunter. Nur mit Mühe konnte er einen Fluch unterdrücken.

„Na, da kommt uns ein besonders ‚tölpelhafter‘ Trampel ins Haus geflogen!“, bemerkte ein Gast, der an der Türe saß. Dieser Gast, ein kleiner, kaum fünf Fuß großer Mann mit einem zahnlosen Mund, grinste Jacob böse an. „Habe ich einen Fluch gehört? Nein, mein Junge?“ Damit wollte der kleine böse Mann ihn zu einem Fehlverhalten treiben. „Wer bei uns einen ‚Flucher‘ der Obrigkeit meldet, erhält als Prämie die Hälfte der Strafe!“ „Das könnte dir so passen, du böser alter Mann!“, verlautete Jacob. „Ho! Ho! Sei vorsichtig, du Grünschnabel, so mancher landete bei uns schon wegen weniger im Turm!“, entgegnete der Alte und versperrte Jacob den Weg.

Nun schob sich allerdings der freundliche dicke Wirt durch die Bänke und herrschte den Alten an: „Kannst du nicht einmal Ruhe geben, immer der Ärger mit dir, lass den Gast in Ruhe!“ Er forderte Jacob auf, sich durch die voll besetzten Bankreihen hindurch, beim beinahe glühenden Kamin einen Platz auszusuchen.

„Da, setzte dich, ich habe eine heiße Suppe für alle Gäste auf dem Herd, unsere Magd, die Katharina, bringt sie dir gleich.“ Nachdem Jacob eine Ecke für sich in Beschlag genommen und sich etwas aufgewärmt hatte, schaute er sich in der halbdunklen Stube um. Zunächst hatte er geglaubt, dass sie voll besetzt sei. Nun sah er aber, dass in den dunkleren Teilen des Raumes noch genügend Platz war. Etwa 20 Personen, Männer und Frauen und auch Kinder, saßen oder lagen auf oder neben den Bänken. Die Luft war entsprechend warm, aber stickig. Die Magd, eine schon etwas ältere und spindeldürre Frau, schob ihm den Teller mit der dampfenden Brühe hin. „Esse mein Sohn, ich habe extra ein paar Fleischstücke für dich mit dem Schöpfer eingefangen. Die Suppe wird dir guttun. Vor dem Alten musst du keine Angst haben. Wie ich sehe, hast du auch ein Schwert bei dir. Lass es ihn einfach einmal sehen, dann wird er schon Ruhe geben.“ „Na ja, gut“, dachte Jacob und schob sein Bündel so hin und her, dass jeder sein kurzes Schwert sehen konnte. „Draußen wird es heute Nacht sicher wieder klirrend kalt werden“, spann er seine Gedanken weiter. „Daher bin ich froh, dass ich mich entschlossen habe, hier in dem Gasthaus zu übernachten.“ Dann nahm er seinen Löffel aus seinem Besteckbeutel und begann zu essen. Bevor er sich mit seinem Bündel neben dem Kamin zum Schlafen legte, schaute er nochmals im Stall nach seinem Pferd.

Als er morgens durch ein Geräusch erwachte, war es in der Stube kalt geworden. Die Glut im Kamin war beinahe erloschen. Die Wirtin machte sich gerade an dem Kamin zu schaffen, um das Feuer wieder in Gang zu bringen.

Jacob rekelte sich, schob seine Decke von sich und war sofort auf den Beinen. „Nur Ruhe, mein Junge!“, sagte die Wirtin, „es ist noch sehr früh, draußen ist noch dunkel. In einer Stunde wird es erst langsam hell werden. Du kannst noch in Ruhe eine Morgensuppe essen und dein Pferd füttern, bevor du aufbrichst. Es hat heute Nacht nochmals geschneit, der Weg wird somit nicht ganz einfach werden. Du willst nach Dobel hinauf?“ „Ja, Wirtin, mein Ziel ist heute die Stadt Gernsbach im Murgtal. Dafür muss ich zunächst über die Steige hinüber nach Herrenalb und von da aus ins Murgtal hinab.“ „Ah ja, den Weg kenne ich. Na, solltest du dort ein Nachtlager suchen, so möchte ich dir die Goldene Sonne in der Vorstadt an der Bleiche empfehlen. Wenn du den Wirt von mir grüßt, er ist mein Bruder, wird er dich sicher gerne unterbringen.“ „Oh ja, vielen Dank Wirtin, ich werde ihm den Gruß gerne ausrichten!“

Nach dem Imbiss füllte Jacob einen Sack mit Heu, sattelte seinen Peter und führte ihn zunächst am Halfter den steilen verschneiten Passweg hinauf. Zunächst sah er am Waldrand noch Holzfäller bei der Arbeit. Als er sich dann auf halber Höhe des Berges befand, war er der einzige Mensch weit und breit. Der Weg war zum Teil durch Schneewehen schwer passierbar. Aufsitzen und Reiten wäre nun zu gefährlich gewesen. Am Dreimarkstein auf halber Höhe machte er nochmals eine kurze Rast. Erst nach insgesamt zwei Stunden erreichte er die wenigen Hütten von Dobel. An der Kapelle sprach er ein kurzes Dankgebet und machte sich auf den Abstieg hinunter in das Albtal. Gegen Mittag erreichte er das Kloster Herrenalb. Vor dem Klostertor tränkte und fütterte er sein Pferd. Sein eigenes Mahl bestand aus einem Stück trockenem Brot, einer Scheibe fettem Speck, einem kurzen Gebet und ein paar Schluck von dem eiskalten Wasser aus dem Brunnen. Nachdem er den Wegezoll an der Klosterpforte bezahlt hatte, machte er sich wieder auf den Weg, um die nächste Steige zu erklimmen. Da nun dieser Pfad schon durch einige Personen ausgetreten war, konnte er aufsitzen und erreichte schon nach kurzer Zeit den Pass am Käppele. Die Sonne kam durch die Wolken, die eiskalte und klare Luft bescherte ihm einen grandiosen Blick in das Murgtal. Tief unten und auch noch weit weg erkannte er die verschneiten Türme der Stadt Gernsbach. Der Abstieg nach Loffenen, einem kleinen Bergdorf über dem Murgtal, gestaltete sich doch etwas schwieriger. Unter dem Schnee befand sich eine Eisfläche, die das Reiten unmöglich machte. So musste er sein Pferd wieder am Halfter den ganzen Weg bis zu den ersten Hütten des Dorfes führen. „Hoffentlich wird es nicht ganz so warm in der Sonne. Schon gestern hatte ich Bedenken, dass meine Stiefel durch feuchten Schnee aufquellen könnten. Die Gefahr, Blasen an den Füßen zu erhalten, wäre groß.“ Am Dorfbrunnen ließ er wiederum sein Pferd trinken, verzichtete selbst aber auf das eiskalte Wasser. Der Pfad führte am Igelbach talwärts. Als er an den ersten Häusern der Bleiche-Vorstadt von Gernsbach vorbeikam, dämmerte es schon wieder. Es fing auch wieder an zu schneien. Schon von Weitem erkannte er das Wirtsschild zur Sonne. Er stellte sein Pferd im Gaststall unter, versorgte es auch gleich und betrat die Gaststube. Das Gasthaus Sonne war im Vergleich zu dem Haus an der Enzbrücke einige Klassen besser. Schon das Haus selbst war wegen der alljährlichen Hochwasser der Murg auf einem Sockel errichtet. Man musste mehrere Stufen überwinden, um in die mächtige Gaststube zu gelangen. Mit einem Rundblick sortierte er die Lage. Es gab eine „bessere“ Ecke in der geräumigen Gaststube. Das Gasthaus lag an dem wichtigen Flößerweg. Hier zogen die Flößer, nachdem sie ihre Flöße am Rhein unten abgeliefert hatten, wieder hinauf in die Wälder. Sie waren als raue und trinkfeste Kerle bekannt und trugen ihr hart verdientes Geld gerne in die auf den Rückweg liegenden Gasthäuser. Einige der ganz verwegenen Burschen sollen sogar bis nach Köln und noch weiter nach Rotterdam gekommen sein. Drei solche „harten“ Kerle saßen gerade in der besseren Ecke und prahlten mit ihren Erlebnissen. Auch schienen sie dem Wein schon etwas sehr stark zugesprochen zu haben. Einer der derben Kerle zupfte der Bedienung am Kleid herum. Klatsch, erhielt er eine Ohrfeige von dem hübschen Mädchen. Doch der Schlag war nicht sehr fest. Der Flößer nahm es ihr auch nicht übel und lachte nur laut. Jacob wärmte sich gerade am Kamin auf, als das Mädchen, wie er erfuhr „Sonnenwirts Käthe“, auf ihn aufmerksam wurde.

„Ah, da schau die Käthe, wie sie dem jungen Kerl nachschaut“, neckte der Flößer sie. „Da habe ich als alter Flößer keine Chance mehr.“

Jacob war wirklich ein stattlicher junger Mann. Als er nun so am Kamin stand mit seinen breiten Schultern, seinem ebenmäßige Gesicht und seinen dunklen Augen, wirkte er noch erwachsener als er schon war. Seine einfache, aber ordentliche Reisekleidung, mit großem Filzhut, langem schweren grauen Mantel und hohen Stiefeln, unterstrich noch das Bild eines wichtigen Mannes.

„Was darf ich dir bringen? Aber setzt dich zuerst einmal.“ „Wenn ihr habt, hätte ich gerne eine heiße Suppe, übrigens soll ich Grüße aus Enzbrücke von der Wirtin ausrichten!“ „Ach, unsere liebe Tante, vielen Dank für die Grüße, die Suppe bringe ich dir gleich.“ Wie unbeabsichtigt, berührte sie den Gast mit ihren schlanken Fingern beim Vorbeigehen am Arm und ging in die Küche.

Ein älteres Ehepaar, sicher die Eltern des Mädchens, schaute durch die Küchentür und der Wirt kam auf Jacob zu. „Ah, du bringst Grüße von meiner Schwester?“ „Ja, Wirt, ich habe gestern in Enzbrücke übernachtet. Heute suche ich auch ein Nachtlager bei euch, morgen früh will ich dann weiterziehen.“

Der Wirt setzte sich zu ihm an den Tisch. „So, so wo geht es denn hin?“ „Ich möchte die Stelle eines Schulmeisters in der Markgrafschaft Baden antreten.“ „Ah ja, auch hier im badischen Teil von Gernsbach soll eine Schule entstehen. Der junge Markgraf hat es zum Gesetz gemacht, dass in jeder Stadt seines Landes eine Schule zur Unterrichtung der Kinder im Lesen, Schreiben, Rechnen und zum Gotteslob auch Singen eingerichtet werden soll. Junge, an und für sich ist das etwas Gutes, aber ich weiß nicht, ob sich das im ganzen Land durchsetzen wird. Später verlernen die Kinder das Lesen und Schreiben doch wieder. Bisher gab es nur in Klöstern solche Schulen für die Adligen und besseren Bürgerkinder. Außerdem werden dann die Kinder gescheiter als ihre Eltern. Ob das gut geht?“ „Lieber Wirt, in Pforzheim und Vaihingen, wo ich herkomme, da ist es schon seit Jahren üblich. Diese Kinder helfen ihren Eltern bei den ‚Schreibsachen‘. Damit können sie nicht mehr so einfach übervorteilt werden.“ „Ja, du hast ja wohl recht mein Junge, welche Stadt ist dein Ziel?“ „Eine Stadt am Rhein, Stolhofen!“ „Stolhofen? Ah ja, kenne ich sehr gut, war schon ein paar Male dort. Nette kleine Stadt mit einer großen Vorstadt. Liegt nicht weit vom Rhein entfernt in der Ebene. Das Land ist schön flach und gut zu bebauen. Es gibt keine steilen Hänge wie bei uns. Ackerbau und Viehzucht stehen sehr hoch, außerdem ist auf der Rheinstraße und auf dem Rhein sehr starker Verkehr. Nur Wein gibt es dort nicht. Dafür wird ein gutes Bier gebraut. Vor einem Monat habe ich dort für einen meiner Söhne ein Gasthaus ersteigern wollen. Leider kam es nicht zur Versteigerung. Ach ja, wenn du dort ein Gasthaus suchst, es gibt dort mehrere, wie du dir denken kannst. Dann gehe in den Ochsen, der liegt in der Stadtmitte direkt am Markt. Den Wirt kenne ich gut, es ist ein alter Bekannter von mir.“

Da stockte nun die Unterhaltung; Jacob hätte gerne noch mehr über seine neue Heimat erfahren, doch der Wirt wurde an den Flößertisch gerufen. „He! Wirt, wir sind auch noch da. Was hast du denn mit dem Grünschnabel so lange zu palavern. Setz dich zu Männern!“

Als der Wirt sich zu den Flößern setzte, saß Jacob zunächst alleine auf seiner Bank. Die Suppe war schon lange gegessen, da setzte sich die Käthe zu ihm. „Und, wie geht es meiner Tante?“, begann sie mit einem Vorwand die Unterhaltung. „Habe gehört dein Name ist Jacob?“ „Ja!“, antwortete er noch etwas unsicher. „Eh, keine Angst, ich beiße nicht!“, sagte sie zu ihm, als er unwillkürlich etwas von ihr abrückte. „Weißt du, es kommen nicht viele junge Männer in unsere Gaststube. Die sitzen mehr im Gasthaus Kranz am Marktplatz, dort sind weniger Fremde. Ich habe vorhin gelauscht. Du bist Schulmeister?“ „Ja, ich habe eine Stelle in Stolhofen anzutreten.“ „Stolhofen? Da will, wie du ja schon erfahren hast, mein Vater meinem Bruder das Gasthaus ‚Zum Blanken Schwert‘ am Badener Tor kaufen. Die Versteigerung wurde leider nochmals verschoben. Das Haus soll etwa 200 Gulden kosten. Na ja, mein Vater meint, er wird eben nochmals hingehen müssen.“

Jacob musterte heimlich das Mädchen. Sie war ganz gut gebaut. Unter dem dicken Winterkleid zeichnete sich ihre reizende Figur ab. Das lange blonde Haar hatte das Mädchen nach Landestracht in einem Zopf um den Kopf geschlungen. Ihre schlanken Hände waren immer in Bewegung und die hellgrauen Augen blitzten vor guter Laune. Immer dann, wenn das Mädchen ihn ansah, wand er seinen Blick von ihr ab. Jacob hatte noch keine größeren Erfahrungen mit Mädchen gemacht.

Am Nachbartisch begannen die Flößer wieder zu sticheln. „He! Wirt, pass auf deine Käthe auf, ruckzuck ist sie weg, der Kerl da drüben macht ihr schöne Augen!“ „Na und? Sie ist alt genug. Außerdem wird der Kerl da, wie du sagst, immerhin Schulmeister in Stolhofen. Eine gute Partie, wie ich denke. Aber lassen wir es, das muss Käthe selbst wissen!“

Inzwischen hatte sich Jacob in einer Ecke der Stube mit seinem Bündel häuslich niedergelassen. Der Wirt hatte nun die Öllampen gelöscht. Nur noch das Kaminfeuer beleuchtete die Stube. Auch die drei Flößer zogen sich nun in eine Ecke zurück. Gästezimmer waren zwar schon damals in größeren Gasthäusern vorhanden, doch war nur die Stube im Winter geheizt, die Gastkammern dagegen nicht. Die Wirtsfamilie zog sich ebenfalls zurück.

Inmitten der Nacht wachte Jacob von einem Traum auf. Er träumte, er säße in der Schulstube in Vaihingen. Als er von seinem Schreibpult aufsah, blickte er in hellgraue Augen. Sanfte Hände streichelten ihm über seine Wangen. Aber es war kein Traum. Die Hände waren wirklich da. Und auch die Augen. Ein süßer Duft stieg ihm in die Nase, ein Duft, der nur jungen Mädchen anhaftet. „Pst! Jacob, ich bin es.“ Sie setzte sich leise neben ihn. „Vergiss mich nicht, wenn du morgen weiterziehst. Ich mag dich nämlich.“ Sie nahm seine Hand und führte sie an ihre Lippen. Dann huschte sie schnell wieder davon. Das heftige Schnarchen aus der Ecke, in der die drei Flößer lagen, riss ihn aus seinen Träumen. Nun war er wirklich wach! War es nun ein Traum oder nicht?

Kurze Zeit danach begann es in der Küche zu rumoren. Käthes Mutter richtete den Gästen die Morgensuppe. Jacob ging alsdann hinaus in den Stall, um sein Pferd zu versorgen. In einer Ecke wartete schon Käthe auf ihn. „Jacob, mein Liebster! Ich konnte die halbe Nacht wegen dir nicht schlafen. Das ist mir noch nie passiert!“ Sie lehnte sich an ihn. Ein angenehmer Schauer durchströmte Jacob. Er brachte kein Wort heraus. Dann nahm er ihren Kopf ganz einfach in beide Hände und küsste sie auf ihren Mund. Als sie dann ihre Arme um seinen Hals legte, fuhr er ihr sanft mit den Händen den Rücken hinunter. Sie fuhren schnell auseinander, als Josef, der Pferdeknecht, in den Stall kam. „Du hast nichts gesehen und gehört, ist das klar, Sepp?“ „Ja-ja, isch jo guot, i hon nix gseh!“, schwäbelte der Sepp. Er war schon Jahrzehnte als Knecht im Gasthaus und hatte Käthe aufwachsen sehen. Sie war für ihn wie eine Tochter. Dann sagte Käthe zu Jacob: „Vergiss mich nicht. Wir sehen uns in Stolhofen, wenn mein Vater zur Versteigerung kommt. Ich werde dabei sein, ganz sicher!“ Sie steckte ihm noch eine Wegzehrung in sein Bündel, küsste ihn auf den Mund und sauste hinaus.

Der Abschied nach dem Morgenbrei war dann doch beinahe zu kurz, aber er wollte den größten, nun vor ihm liegenden Teil seiner Reise an einem Tag bewältigen. Morgen Abend wollte er sein Ziel erreicht haben. Denn er sollte am übernächsten Tag beim Schultheißen im Rathaus seiner neuen Heimatstadt vorsprechen. Schnell war er über die weit gespannte, schmale gedeckte Holzbrücke über die Murg geschritten, seinen Peter am Zügel hinter sich herziehend. Ein letzter Blick ging zurück zu einem bestimmten Fenster am Gasthaus. Tatsächlich zeigte sich ein ihm nach kurzer Zeit so lieb gewordenes Gesicht hinter den teuren Glasscheiben. Kurz öffnete Käthchen das Fenster und winkte ihm zum Abschied zu. Dann war das Gasthaus aus seinem Sichtfeld entschwunden. Er durchschritt das untere Stadttor und durcheilte die steil ansteigende Marktstraße. Beim oberen Tor am Storchenturm verließ er wieder die Stadt. Nun konnte er endlich aufsitzen. Nochmals wendete er seinen Blick auf die Stadt. Doch das Gasthaus am Ufer der Murg war hinter den aufragenden Stadtmauern nicht mehr zu sehen. Immer weiter steil aufwärts ging der Weg durch das Bergdörfchen Staufenberg hinauf. Nach etwa einer Stunde erreichte er den Pass. Hier lagen sich die Engelskanzel und die Teufelskanzel gegenüber. Nach einer Sage sollen sich hier ein Engel und der Teufel einen Predigtwettstreit geliefert haben. Natürlich hatte damals der Engel gewonnen.

In der Wolfsschlucht ging es steil hinab. Jacob brauchte eine weitere Stunde, bis er das Gernsbacher Tor der Stadt Baden erreichte. Rechts oben auf dem Berg, weit über der Stadt, lag das Alte Schloss. Hier residierte im Moment der Landesherr, der junge Markgraf Christoph von Baden, mit seinem Hofstaat und seiner Familie. Allerdings wollte er in Zukunft in seinem neu umgebauten Schloss direkt über der Stadt wohnen. Auf der Bergkuppe direkt über der Stadt sah man auch schon die ersten neuen Mauerzüge aufragen. Jetzt aber ruhten die Umbauarbeiten; es war ja schließlich noch Winter.

Jacob wollte sich in der Residenzstadt auch nicht lange aufhalten. Am Marktplatz vor der prächtigen Stiftskirche versorgte er wieder sein Pferd Peter. Dann wärmte er sich nur kurz bei einem Becher Wasser aus der heißen Quelle auf und verspeiste das, was ihm Käthe mitgegeben hatte. „Was für ein Wunder“, dachte er für sich. In dieser Stadt brauchte man kein Wasser zu erhitzen, es kam so heiß aus dem Berg, so dass man es nur vorsichtig in kleinen Schlucken trinken konnte. In den Gasthäusern gaben sich hier die reichen adligen Leute dem Genuss des heißen Bades hin. Und auch hier wurde das Wasser der Quellen verwendet.

In Vaihingen und auch in Pforzheim gab es städtische Badestuben. Das Wasser musste aber vorher in einem Kessel durch das Feuer erhitzt werden. Die armen Leute, die kein Geld für den Bader hatten, badeten nur im Sommer und dann eben im Fluss. „Falls ich einmal ein eigenes Haus besitze, dann werde ich eine Badestube darin einrichten“, so dachte Jacob für sich.

Jacob hatte sich die Hauptstadt des Landes eigentlich größer vorgestellt. Schon Pforzheim, die Heimatstadt seines Vaters, war ihm größer vorgekommen. Früher war ja Pforzheim auch Residenzstadt. Durch einen unglücklichen Krieg gegen den Pfalzgrafen musste der alte Markgraf Karl die Stadt Pforzheim als Pfand an den Sieger abtreten. In einer verpfändeten Stadt wollte der junge Markgraf keine Regierung etablieren. So verschob sich der Schwerpunkt des kleinen Fürstentums nach Westen zu dem alten namensgebenden Stammsitz Baden zurück. Vermutlich waren die Bewohner der Stadt sehr wohlhabend, denn es säumten prächtige Bürgerhäuser nicht nur die Hauptgasse hinab zum Tor. Wiederum durchschritt er ein Stadttor, nun das Untere Tor, das nach Oos führte. Entlang der Straße der Vorstadt lagen gewaltige Brennholzmengen. Das Holz, hatte man ihm später erzählt, mussten die Untertanen, wie allgemein üblich, dem Hof des Markgrafen zum Heizen seines alten Schlosses kostenlos liefern. Sicher war es in dem zugigen alten Schloss dort oben am Berg gerade im Winter sehr kalt. Vor diesem Hintergrund konnte er den jungen Markgrafen verstehen und sehr gut nachvollziehen, dass dieser ein neues Schloss mit besseren Heizmöglichkeiten erbauen wollte.

Der Weg das Oostal hinunter war sehr gut ausgebaut und eben. So konnte er aufsitzen und kam rasch voran. Trotz der Kälte herrschte hier lebhafter Verkehr. Bauern und Bürger gingen oder fuhren hin und her. Ab und zu sah man auch eine Reisekutsche mit reichen Badegästen. Das Tal erinnerte ihn sehr an das Enztal bei Pforzheim. Auch die Stadt Baden liegt, wie Pforzheim, an einem der Sonne, dem Süden zugeneigten Berghang. Die alten Gründer der Städte vor vielen Jahren wussten genau, was sie taten.

Die Ankunft

Das Dorf Oos berührte Jacob nur am Rande. Dort konnte er nämlich einen Holzmacher nach dem Weg fragen, sodass er gleich diesen gezeigten Weg nach Kartung einschlug. Hinter ihm lag das Gebirge, vor ihm nun die offene Rheinebene. Nur im Westen sah man in der Ferne ein weiteres Gebirge mit dem alten Namen Wasgenwald aufragen. Nach dem Gebirge sollte sich dann das Herzogtum Lothringen anschließen, danach kam das Königreich Frankreich. Auch diese Weite des Landes kannte Jacob von seiner Heimat Vaihingen nicht. Selbst auf seinen Reisen und Rückreisen vor einigen Jahren nach und von Erfurt hatte er selten ein so breites Tal gesehen. Das war nun auch eine neue Erfahrung. Der Weg führte durch ein Sumpfgebiet hindurch. Nicht weit ab vom Weg sah Jacob eine Burg aus dem Sumpf aufragen. Dann erreichte er den vom Holzmacher erwähnten großen Wald. Dieser Weg wurde schon nach seinem Ziel „Stolhofer Weg“ genannt. Er wand sich über flache bewaldete Hügel und vereiste Gräben. Der Wald bestand aus Buchen, Eichen und wilden Obstbäumen. Als er nach über einer Stunde den Waldrand erreicht hatte, setzte schon die Dämmerung ein. In der Ferne versank gerade die rote Sonne. Im Abendrot glitzerten die verschneiten Dächer der Türme und Häuser der Stadt Stolhofen. Jacob trieb Peter an. In einem raschen Trab flog er den ersten kleinen Häusern zu. Da Jacob nicht genau wusste, wann die Tore der Stadt verschlossen werden, beeilte er sich. Es gab zwar, wie in allen Städten, auch in den Vorstädten außerhalb der Mauer einige Gasthäuser, doch hatte ihm der Gernsbacher Wirt den Ochsen am Markt empfohlen. Er hatte gut daran getan, sich zu beeilen. Die ersten Hütten lagen ziemlich weit vor dem Badener Tor der Stadt. Erst nach einer weiteren unbebauten Fläche erreichte er das Tor. Der Wächter wollte gerade das Falltor herunterlassen und hatte die Haspel schon in den Händen. Als das Pferdegetrappel immer lauter wurde, nahm er wieder seine Laterne in die Hand und griff mit der anderen Hand nach der Hellebarde. Zuvor hatte er gerade zum dritten Mal den üblichen Spruch „lauft her“ gerufen, als Jacob mit seinem Pferd über die Zugbrücke donnerte. Nur mit Mühe konnte Jacob seinen Peter unter dem Tor zügeln.

„He-He! Nicht so stürmisch! Nur langsam mit den jungen Pferden!“ „Oh, Torwächter, nichts für ungut, wollte nur noch schnell in die Stadt, soll bei euch der Schulmeister werden“, entschuldigte sich Jacob, außer Atem gekommen. „Aha, na dann, willkommen in unserer Stadt. Auch ich habe zwei Buben, die in die neue Schule gehen sollen. Man nennt mich den Schuhwächters-Fritz, mein bürgerlicher Name ist Friedrich Schuh. Gehe am besten gleich in den Pflug, dort ist um diese Zeit immer einer vom Rat, vielleicht auch sogar der Schultheiß selbst anwesend.“ „Gut, danke dir, Schuhwächters-Fritz, bis bald.“

Jacob saß wieder auf. „Aha, hier ist das Wirtshaus ‚Zum Blanken Schwert‘ am Badener Tor.“ Es war ein prächtiges großes Haus, direkt an der breiten Badener Torgasse. „Ich werde mir das Haus später einmal genauer ansehen. Es ist sicher die 200 Gulden wert, die zur Steigerung anstehen.“

Zurzeit schien es unbewohnt zu sein. In den anderen Häusern brannte überall Licht. Alle Häuser an der Torgasse entlang machten einen sehr guten Eindruck. Keines hatte weniger als zwei Etagen, die meisten hatten darüber hinaus noch hohe mehrstöckige Giebel, die auf große Warenspeicher hindeuteten. Auch war im Kirchturm eine der ‚modernen“ Uhren eingebaut. Sie schlug zu jeder vollen Stunde. Dann stand Jacob mit seinem Peter auf dem Marktplatz vor dem Rathaus. Gegenüber lagen, nur durch die Kirchgasse getrennt, die beiden gesuchten Gasthäuser „Zum Ochsen“ und „Zum Pflug“ an der „Großen Gasse“. Jacob ging zuerst in den Ochsen, um eine Nachtherberge zu erhalten. Er brachte Peter im Stall unter und ging dann in die Gaststube. Im Gegensatz zu den bisherigen Übernachtungen wollte er im Ochsen eine eigene Kammer mieten, bis er eine feste Wohnung fand. Die kleine Gaststube im Ochsen war voll belegt mit einfach gekleideten Leuten. Entsprechend ging es derb zu. Mehrere Hunde und Katzen lagen einträchtig in einer Ecke. Es roch deutlich nach Pferdestall.

Kurz danach betrat er die Gaststube im benachbarten Pflug. Schon von außen erkannte er, dass es sich hier um ein besseres Gasthaus handelte. Das Haus besaß drei Etagen, eine prächtige Toreinfahrt und einen geräumigen Innenhof. Die Tür war mehr ein Portal, beschlagen mit kunstvoll gearbeiteten Eisenbändern. Zur Gaststube ging es mehrere Stufen hinauf. Der Gastraum war mit wertvollen Hölzern getäfelt. Die ganze Einrichtung glänzte vor Sauberkeit. Im Gegensatz zu den üblichen Einrichtungen der Gasthäuser besaß die Stube einen kunstvoll ausgestatteten geschlossenen Kachelofen. Die große Fensterfront war mit kostbaren Scheiben versehen. Auch das war selten. Meist bestanden die Fenster, um das Glas zu sparen, nur aus kleinen verglasten Luken. Nicht selten waren die Fenster auch noch mit Tierhäuten verschlossen. Teure Kerzenlampen erhellten die Gaststube. Die Stube war allerdings bis auf einen mit sechs „Honoratioren“ besetzten mächtigen Holztisch leer. Das müssten wohl die Ratsherren der Stadt sein, vermutete Jacob.

„Meine Herren, darf ich mich vorstellen, ich bin der Jacob-Heinrich Birenser, genannt Pirenius. Mein Vater nannte sich in seiner Studienzeit in lateinisch ‚Pirenius‘ um. Sohn des Schulmeisters und Stadtschreibers Heinrich aus Vaihingen, euer neuer Schulmeister!“ Er zeigte seine schriftliche Vorladung vor.

„Na, ob du unser neuer Schulmeister wirst, müssen wir noch sehen. Morgen werden unser Amtmann, der Pfarrherr und meine Wenigkeit dich abhören. Aber setzte dich doch zuerst zu uns. Ich bin der hiesige Schultheiß. Wie gesagt, komm morgen früh ins Rathaus, so gegen neun Uhr. Aber das bringen wir morgen schon hin!“, beschwichtigte er den nun etwas ängstlich schauenden Jacob.

Er erhielt zum Einstand vom Schultheißen einen Becher Bier und ein für die Stadt typisches Salzbrot überreicht.

„Schulmeister, wo bleibst du über Nacht?“ „Ich habe mich im Ochsen nebenan einquartiert.“ „Aha, ja, das ist gut, wir haben für dich ab morgen eine Turmstube freigeräumt, dort kannst du dann unterkommen, bis wir eine bessere Lösung für dich finden. Die Turmstube kostet dich natürlich nichts. Einverstanden?“ Jacob nickte. „Am besten wir klären alles morgen, zusammen mit dem Amtmann, nach der Vergatterung!“

Jacob ging über die Gasse hinüber zu seinem Gasthaus. Die kleine Kammer im Gasthaus war, wie er auch erwartet hatte, nicht geheizt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als schnellstens in die Gaststube zu gehen. Nach dem „Zehn-Uhr-Ruf“ des Turmwächters und dem Glockenschlag der nahen Kirchturmuhr gab er seine Kammer zurück und übernachtete im Gastraum bei den anderen Gästen. Auch diese Nacht war wieder ziemlich kalt. Trotzdem kam es Jacob so vor, dass es hier in der Ebene deutlich wärmer war als im Gebirge. Außerdem zog der Wind, auch durch die hohen Stadtmauern behindert, nicht so stark durch die engen Gassen der Innenstadt. Beim Essen der Morgensuppe konnte er sich nochmals gründlich in der Gaststube umschauen. Wie er schon am Abend zuvor bemerkt hatte, wurde dieses Gasthaus von den „einfacheren“ Bürgern der Stadt bevorzugt.

Am anderen Morgen wanderte er zunächst kreuz und quer durch die hinteren Gassen bis zum Schloss, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Kurz vor neun Uhr stand er vor dem Rathaus. Über dem aus Stein errichteten Gewölbe, unter dem der Markt und sonstige öffentliche Sachen abgehalten wurden, befand sich der in mehrere Etagen aufgesetzte Fachwerkbau. Das prächtige Gebäude zeugte vom gediegenen Wohlstand der Stadt. Nach kurzem Zögern stieg Jacob die Freitreppe hinauf zur Ratsstube. Schlag Neun nach der nahen Kirchenuhr von St. Erhard, klopfte er an die massive Eichentür. „Soll ringkumme“ (soll hereinkommen), hörte er eine ältere, schon etwas zittrige Stimme rufen. „Grüß Gott, Herr Schreiber“, antwortete Jacob. „Ja morje“, entgegnete der alte Schreiber Fritsche-Sepp, „du bisch also der Pirenius Jacob vun Vaihinge. Di Herre erwarte dich in der großen Stubb. Übrigens, ich sag einfach Jacob zu dir, du kannscht zu mir dann Sepp sage, wenns dir recht ischt“, bemühte sich der Alte um eine bessere Aussprache. „Wie werre womegli in Zukunft noch mehr midenonder zu due henn. Jetzt geh, die warde schu!“

Jacob wurde durch die nächste Tür geschickt. Der Raum, den er nun betrat, spannte sich über das ganze Haus. Es war sicher einer der am besten ausgestatteten Räume, die er bisher gesehen hatte. Nicht einmal der Ratssaal von Vaihingen war so reich ausgestattet. Auch die Universitätsräume von Erfurt waren bescheidener eingerichtet gewesen. Die Vorderfront nach Westen wurde durch eine große Fenstergalerie gebildet. Die Fenster waren mit kostbaren Bleiverglasungen versehen. An den Säulen waren Wappen verschiedener Adliger angebracht. Die gewölbte Decke und die Seitenwände bestanden ebenfalls aus kostbaren Hölzern. Auch der Fußboden war mit dunklem teurem Holz belegt. Ein mächtiger Kachelofen, beheizt von der benachbarten Schreibstube, erwärmte den Raum. Hinter einem großen Tisch saßen vier Herren. Jacob stellte sich den Herren vor. Der stattliche Herr vom Abend zuvor stellte sich als Schultheiß Johannes Siegelin vor. Neben ihm saß Baron Conrad Stein zu Reichenstein, Amtmann des Markgrafen von Baden, in der Mitte Johannes Brezben, Pfarrherr von St. Cyriak, und der Kaplan Johannes Kühn von St. Erhard. Daneben hatten die zwölf Ratsherren Platz genommen. Hinter Jacob nahm auch noch der alte Schreiber seinen Platz ein, um das Protokoll zu erstellen.

Zunächst fragte ihn der Pfarrherr nach einigen lateinischen Begriffen, dann stellte er einige Rechenaufgaben. Jacob konnte alles natürlich zur größten Zufriedenheit der Herren beantworten. Auch das Aufsetzen eines Schriftstückes konnte er mit dem allgemeinen Lob der Herren zur Zufriedenheit ausführen. „Zu deinen Fähigkeiten, eine Orgel zu spielen, demnächst mehr beim Gottesdienst. Wir haben in St. Cyriak noch keine Orgel. In St. Erhard wird demnächst eines der teuren Instrumente eingebaut. Die Orgelbauer aus Straßburg waren schon hier und haben Maß genommen. Der Betrag von 500 Gulden für die Orgel liegt beinahe schon bereit. Auch diese Aufgabe als Kämmerer wird dir dann übertragen werden“, bemerkte der Pfarrherr. „Die Messnerstelle in den beiden Kirchen ist allerdings vergeben, aber das ist dir ja bekannt gewesen.“ „So, du bist also der Sohn des Heinrich Pirenius von Vaihingen. Gut-gut“, meldete sich der Baron, „den kenn ich sogar flüchtig.“ „Die Arbeit als Schulmeister und auch die Einrichtung der Schule werden deine Aufgaben sein. Dazu bieten wir dir die Bürgerrechte der Stadt, das Recht zur Bestattung auf dem städtischen Friedhof, dazu ein Sold von 20 Gulden im Jahr, 50 Klafter Holz aus den städtischen Wäldern, die Nutzung eines großen Bürgerackers im Wert von 20 Gulden sowie eine Wiese vom selben Wert. Darüber hinaus geben wir dir die Anwartschaft auf das Amt des zweiten Stadtschreibers. Auch hier wird der Sold 20 Gulden betragen. Was du dann vom Pfarrherrn für dein Orgelspiel bekommst, ist nicht meine, sondern des Pfarrers Angelegenheit.“ Dann meldete sich wieder der Schultheiß zu Wort.

„Wir möchten ab März, wenn die Fastenzeit zu Ende ist, mit dem Schulunterricht anfangen. Zunächst dachten wir, wir richten die Schule in dem Pfründehaus bei der St. Erhardus-Kirche ein. Dort haben wir eine große Stube. Außerdem muss das Mesnerhaus in der Vorstadt neu gebaut werden. Das alte Haus ist nicht mehr haltbar. Dort werden wir dann zwei, vielleicht auch drei Schulstuben einrichten lassen. Das kann aber noch einige Zeit dauern. Wie du vielleicht noch nicht gesehen hast, arbeiten wir im Auftrag der fürstlichen badischen Regierung an einer Stadterweiterung nach Westen hin. Die Arbeiten ruhen jetzt wegen der Kälte. Wir werden unsere Stadterweiterung nach dem Frost wieder in Angriff nehmen müssen. Erst wenn dieses große Vorhaben beendet ist, haben wir genügend Werkleute für eine Schule. Dazu kannst du aber auch schon dem Sepp bei den Schreibarbeiten helfen.“

„Ach ja“, sagte dann der Schultheiß mit einem Augenzwinkern zum Jacob, „hier ist der Schlüssel zu deiner Turmstube. Wir lassen sie schon von einer Bürgerin anheizen und herrichten. Heute Abend dürfte sie bezugsfertig sein. Doch pass auf, ich würde in den nächsten Tagen vorsichtig sein. Wir feiern Fastnacht, das kennt man bei euch bei Pforzheim und Vaihingen nicht, wie ich gehört habe. Doch noch etwas: Gibt es denn schon eine Schulmeisterin?“ Jacob schüttelte mit dem Kopf. „Nein? Wäre sicher nicht verkehrt. Schau dich, falls du nicht schon jemanden im Auge hast, unter den Maidlen der Stadt um. Wir würden dir schon auch dabei behilflich sein. Übrigens, komme schon ab morgen aufs Rathaus. Der Fritschen-Sepp hat sicher genug zu tun für dich.“

Nach der Abnahme des Amtseides und einigen gut gemeinten Ratschlägen wurde Jacob entlassen. Nun hatte Jacob mehr Zeit, um sich seine neue Heimat anzusehen. Nach einem kleinen Imbiss, einem Stück fetten Specks mit Brot und einem Krug Most im Gasthaus Ochsen, machte er sich auf, die Stadt anzusehen. Als guter Christ besah er sich als erstes die Stadtkirche St. Erhard. Es war eine kleine, aber prächtig ausgestattete Kirche mit einem überraschend massiven und hohen Turm. Dieser war gekrönt mit einer eleganten barocken und damals modernen Zwiebelhaube. Die Kirche stand nahe der Nordmauer auf einem kleinen durch Seitengassen von den Marktgassen erreichbaren Platz. Er würde sie sich demnächst einmal von innen ansehen. Das dominante Rathaus, das an der Kreuzung der breiten Marktgassen oder „Großen Gasse“ lag, hatte er schon ausgiebig begutachtet. Wie er auch schon am Abend zuvor bemerkt hatte, machte die Stadt einen sehr wohlhabenden Eindruck. Alle Häuser, die an den beiden Marktgassen lagen, waren mindestens mit zwei, manchmal sogar drei Etagen und mit hohen Giebeln versehen. Auch die Häuser in den schmalen Seitengassen machten alle einen guten und soliden Eindruck. Natürlich gab es unter den Dächern der Stadt auch Viehställe. Dazu gehörten dann auch die Misthaufen vor den Ställen. In der Regel lagen sie allerdings in den kleinen Hinterhöfen. Durch alle Gassen zogen kleine, jetzt aber wegen des kalten Wetters zugefrorene Wasserrinnen, „Bächle“ genannt. Die massive, aus Backsteinen erbaute Stadtmauer war durchgehend mit einem Wehrgang versehen. An der Stadtmauer entlang stapelte sich das Brennholz der Bürger. Die hohen Türme besaßen alle stabile Dachstühle mit Ziegeldächern. Prächtig ausgestattet war auch das kleine Schloss im Osten der Stadt, das schon gestern im Dunkeln, allerdings nur undeutlich, gesehen hatte. Durch einen breiten Schlossgraben und durch eine Zugbrücke geschützt, übte hier der adlige Amtmann sein Amt aus. Er verwaltete im Auftrag des Markgrafen die Stadt und das Amt. Ein mächtiger Turm überragte das Schloss. Jacob durchwanderte nun die ganze Stadt von Osten nach Westen. Durch das westliche Tor trat er in den sogenannten Vorhof der neuen Vorstadt. Hier ruhten wegen des kalten Wetters die Bauarbeiten. Doch waren die Umfassungsmauern schon durchgehend geschlossen. So konnte er durch das fertige neue Tor an der Gerberei und an der Stadtmühle vorbei zur Basilica wandern. Von der Ferne sah er auf einer kleinen Anhöhe den mächtigen Turm der Pfarrkirche aufragen. Auf dem halben Weg begann dann aber ein scharfer Wind, ein richtiger Schneesturm zu wehen. Er brach seine Besichtigungstour ab und flüchtete in die Gaststube der Mühle. Dort traf er auf weitere Flüchtlinge. Er konnte sich mit den Fuhrleuten angeregt unterhalten. Zwei Maß Bier musste er leer trinken, die von den Fuhrleuten gestiftet worden waren. Erst nach zwei Stunden hatte sich das Wetter wieder beruhigt. Noch benommen von dem ungewohnten Bier, kehrte er wieder über den neuen Graben, durch das Tor und durch die Baustelle in die Innenstadt zurück.

Erste Erfahrungen

Zunächst machte sich Jacob dann auf den Weg zu seinem Turm. Er stand an der Nordmauer zwischen dem Badener Tor und dem Schloss. Vorsichtig stieg er die lange Treppe hinauf und öffnete neugierig die Tür. Die Turmstube war schon durch eine junge Bürgersfrau angeheizt worden. Im offenen Kamin glühte die Holzscheide. Die junge blonde Frau kam ihm mit einem Lächeln entgegen. „Na junger Schulmeister, ist alles recht? Wie du sehen kannst, ist es sehr gemütlich hier!“„Ist ja ein hübscher stattlicher junger Mann, dieser Schulmeister, nicht so ein wüster böser Kerl, den ich geheiratet habe. Den sollte ich vielleicht doch ein bisschen im Auge behalten“, dachte sich die Bürgersfrau. Auch Jacob konnte es nicht ganz verhindern, dass er ihr nachschaute. Beim Hinausgehen streifte sie ihn mit dem Arm wie unbeabsichtigt. Jacob fasste sie, immer noch beschwingt vom Bier, schnell am Handgelenk und zog sie in die Stube zurück.

„Mein Name ist Jacob Pirenius, warum ich da bin, das weißt du ja schon. Ich werde jetzt in den Ochsen gehen und meine Sachen holen. Kannst du mir vielleicht jemanden nennen, bei dem ich mein Pferd Peter eine Zeit lang unterstellen kann?“ Er schob sie etwas von seinem Körper weg. Dabei schaute er sie frech und ausgiebig von oben bis unten an. Er bemerkte, dass unter dem dicken Winterkleid ein paar feste Brüste hin und her wippten. „Ich bin die Weberin Elli, nenne mich aber Elisabeth. Ich hatte den Auftrag vom Schultheißen, die Turmstube herzurichten, mehr nicht. Und zu deinem Pferd, ja, ich werde einmal mit meinem Ehemann reden. Oder nein, lieber nur mit meinem alten Knecht. Du musst wissen, mein Mann ist sehr eifersüchtig!“ Sie streichelte ihm mit der Hand scheu über sein hübsches Gesicht und wollte sich aus dem festen Griff von Jacob herauswinden. „Nun, was ist nun mit meinem Pferd?“ „Ich werde meinen Knecht fragen, versprochen!“ „So, deinen Knecht?“

Jacob hielt sie nun frech weiter an ihren Handgelenken fest und zog sie näher an sich heran. „Lass mich los!“, flüstere die junge Frau. „Bist du sicher?“ „Nein, ich bin mir nicht sicher“, sage sie noch leiser, „aber es ist verboten, was wir tun!“ „Es muss ja niemand erfahren!“ Noch nie war er mit einer erwachsenen, begehrenswerten Frau in einer solchen Situation gewesen. Die Neugier und das Verlangen wurden immer größer.

„Mein Bündel und mein Pferd im Ochsen können warten. Elisabeth, du bleibst noch ein wenig bei mir. Ich lasse dich nicht so schnell weg!“, sagte er immer noch frech durch den ungewohnten Alkohol. Dabei schaute er mit seinen dunklen Augen tief in ihre blauen Augen. Seine Hände berührten ihren Haaransatz am Nacken. Er nahm ihr die Winterkappe ab, strich ihr über das Haar, dann weiter den Rücken hinunter bis zu den herrlichen Rundungen am Hintern. Jacob nahm genussvoll ihren Duft in seiner Nase auf. Über den Lippen der jungen Ehefrau bildeten sich kleine Schweißperlen. Ihre Wangen glühten, als Jacob sie an den warmen Kamin drückte und ihre beiden Arme über ihren Kopf bog. Elisabeths Figur straffte sich, als er sie leicht an der Wand hochschob. Dann, mit einem Ruck, befreite sie sich und schlüpfte hinaus. Beim Vorbeigehen flüsterte sie: „Der Turmwächter hat schon elf Uhr gerufen, vielleicht ein andermal, mein Lieber!“

Noch lange Zeit nachdem er sein Bündel von der Gastwirtschaft geholt hatte, lag er nachdenklich auf seinem Nachtlager. Er musste immer an beide Frauen denken. Jacob verglich sie unwillkürlich. Diese Elisabeth war wohl sehr bereit, ihm die Freude zu bereiten, nach der er sich schon lange sehnte. Doch die Katharina aus Gernsbach wäre die bessere Wahl, eben als Ehefrau. Noch lange lag er wach und überlegte hin und her. Er hatte einfach auch noch zu wenig Erfahrung mit Frauen. Dann aber nahm er sich vor, es einfach so zu nehmen, wie es ihm das Schicksal oder der Herrgott schenken würde. Der Ehebruch war in allen Zeiten üblich und wurde damals bei Männern toleriert. Schlimm war es nur für die Frauen, sollte der Seitensprung bekannt werden.

Am ersten Arbeitstag, nach einem ersten kurzen Gebet in der Kirche St. Erhard, besichtigte er zusammen mit dem Schultheißen das Pfründehaus neben der Kirche. Es war ein schlichtes schmales Fachwerkhaus mit zwei Etagen und einem hohen, weitere zwei Etagen umfassenden Giebel. Die oberen Etagen wurden schon von einer Familie bewohnt. Es war allerdings ausreichend Platz in der unteren Etage vorhanden. Einige Möbel mussten noch schnell herangebracht werden, auch eine große Schreibtafel aus dem Rathaus wurde aufgestellt. Man merkte es einfach, die Stadt war zwar kleiner, aber deutlich wohlhabender als seine Heimatstadt Vaihingen.

„Am nächsten Ersten, nach der Fastenzeit, beginnt auch für unsere Kinder der Schulunterricht. So soll es nun der Stadtbott auf allen Gassen ausrufen und auch am Schwarzen Brett unter der Rathauslaube angeschlagen werden!“, verkündete der Schultheiß.

Zum Mittagessen wurde Jacob vom Schultheißen zu Hause eingeladen. Dort lernte er die Familie des Schultheißen Siegelin kennen. Das Ehepaar lebte mit seinen fünf Kindern sowie Knechten und Mägden in einem großen Bürgerhaus in der Rathausgasse. In der Wohnstube brannten Duftkräuter ab. Dabei wisperte die etwas rundliche Ehefrau dem Schultheißen ein paar Worte zu: „Es ist ja ein hübscher junger Mann, aber ich denke, du solltest ihn einmal in unsere Badstube schicken, Johann. Er riecht stark nach Pferdestall!“ Der Schultheiß lachte laut: „Du hast ja wieder einmal recht!“ „Jacob, morgen ist Freitag und Wochenmarkt und am Samstag ist Badetag. Wir haben einen sehr guten Bader in der Stadt, meine Frau meint, du solltest mal hingehen. Wir genießen diesen Luxus übrigens jede Woche.“ „Eine Badstube? So etwas gab es auch in Pforzheim. Doch dahin sind wir eigentlich nie gegangen, da wir selbst einen Badezuber hatten. Aber warum auch nicht?“, sagte Jacob der lachenden Ehefrau des Schultheißen zu.

An diesem Nachmittag begannen Sepp und Jacob in der Schreibstube gemeinsam einige Schriftstücke, Pläne und Kopien zu schreiben oder zu zeichnen. Es betraf überwiegend die Bauausführung des sogenannten Vorhofs, der Stadterweiterung nach Westen. Jacob konnte dabei auch die wenigen Baupläne einsehen, die ein genialer Baumeister aus Straßburg ausgearbeitet hatte. Einige kleinere Abschnittspläne mussten noch gezeichnet werden. Eine Aufgabe, die Jacob mit viel Fleiß und Freude erledigte, was von dem Fritsche-Sepp mit viel Lob versehen wurde. Jacob war schon immer geschickt mit der Zeichenkohle und mit der Gänsefeder gewesen. Papier war sehr rar, daher sollten die teuren Blätter nicht verschwendet werden. Meistens war der erste Entwurf von Jacob schon passend. Er war angetan von den Bauplänen der zwei noch im Rohbau befindlichen Stadttore. Noch interessanter waren die Pläne der beiden neuen Eckbastionen. Sie sollten den Vorhof nach Nordwest und Südwest absichern. Hier waren je sechs Kanonenstellungen eingeplant, die hinter beweglichen Klappen verborgen werden sollten. Durch zwei schräge Rampen, so die Planung, sollten die Festungskanonen in ihre Stellungen gebracht werden können. Im Vorfeld dieser neuen Bastionen war die bisherige Landstraße als Umgehungsstraße vor die Mauer verlegt worden. Damit waren die Verteidiger der Stadt in der Lage, im Ernstfall feindliche Truppen schon in Musketen- oder Armbrustschussweite auf der Landstraße bekämpfen zu können. Die vorgesehenen Verbesserungen waren nicht ganz unnötig und wurden von der markgräflichen Regierung dringend gefordert. Zurzeit streiften wieder die Armagnacen, entlassene französisch-burgundische Söldner, durch das benachbarte Elsass. Sie plünderten einzelne Höfe, Reisende, Kaufleute und kleine Dörfer aus. An gut ausgebaute Städte oder Festungen hatten sie sich bisher allerdings nicht herangewagt. Auch zur Überfahrt über das breite Stromgebiet hatten sie bisher noch nicht den Mut. Doch gerade haben sich die elsässischen Städte, voran das mächtige Straßburg, entschlossen, eine schnelle Eingreiftruppe aufzustellen, um die Plünderer abzufangen und aufzuhängen.

Auch den Freitag verbrachte Jacob in der Schreibstube. Um seinen Augen von der Schreibarbeit etwas Erholung zu bieten, schaute er hinunter zu dem Markttreiben. Obwohl es immer noch ungemütlich kalt war, war der Markt sehr belebt. Etwas Eigenartiges konnte er allerdings auch feststellen. Noch nie hatte er so viele Leute in solchen bunten Kleidungsstücken gesehen. Einmal im Jahr, immer am Freitag, nicht wie in anderen Städten am Schmutzigen Donnerstag, vor dem Fastendienstag, war Narrenmarkt. Es war an diesem Markttag den Bürgern, Bauern und dem Gesinde gestattet, sich zu verkleiden. So herrschte buntes Treiben auf den Gassen der Stadt. Die Bäcker hatten eigens dazu „Fastnachtsküchle“ gebacken, die noch warm angeboten und verzehrt wurden. Auch die Metzger boten auf Holzkohle gebratene Würste aller Größen an. Die Gastwirte schenkten mit Kräutern und Honig abgeschmeckten heißen Rotwein aus. Jacob, der staunend das muntere Treiben von oben aus verfolgen konnte, wurde vom Sepp aufgefordert, eine Pause zu machen und nach unten zu gehen.

„Sieh di vor vor den Veruggde“, warnte ihn noch der Sepp lachend. Schon war er im Trubel verschwunden. Erst zum Glockenschlag um ein Uhr mittags, nachdem der Markt zu Ende gegangen war, war der Spuk wieder vorbei. „Ward nur noch der Zieschdi (Dienstag) d´nächst Woch ab“, sagte Sepp, als Jacob wieder an seinem Schreibpult stand, „dann wirds nochmol richtig hoch hergehe. Der Zieschdi isch der letzte Tag vor der Faschtezitt. Do werde die Statttiere umgehe. So manche Jungfrauen wird widder an dem Tag schwach werde, so manche Hörner werded dr Ehefraue und Ehemänner uffgsetzt werden. Und es sind auch Fraue unter der Larfe (Masken).“

Ab Freitagnacht wurde es deutlich wärmer, es begann ausgiebig zu regnen. Am Samstag besuchte Jacob früh morgens erstmalig die Frühmesse in der Stadtkirche St. Erhard. Er hatte bemerkt, dass Elisabeth morgens zur Kirche den Umweg am Turm vorbei nahm und heimlich zu seinem Fenster emporschaute. Sie trug einen dunkelgrauen langen Wintermantel. Ein schwerer Wollschal bedeckte ihren Hals. Ihre blonden Haare hatte sie hochgebunden und unter einer schwarzen Haube versteckt. Elisabeths zierlichen Füße steckten in halbhohen einfachen Lederstiefeln, auf dessen Sohle noch „Trippen“ angebracht waren. Dadurch wirkte die junge Frau noch schlanker.

Nun betrat Jacob kurz hinter der jungen Frau das Gotteshaus. Leider konnte er in der voll besetzten Kirche keinen Blickkontakt zu ihr aufbauen. Sie befand sich auf der Frauenseite des Kirchenraumes. Dabei konnte Jacob sich die Kirche genauer ansehen. Sie war ausgestattet mit einem herrlichen gotischen Flügelaltar. Der Altar war von einem jungen, noch unbekannten Künstler mit dem Namen Riemenschneider als „Meisterstück“ hergestellt worden. Sehr eindrucksvoll hatte der Künstler die Überreichung des Skapuliers an Simon Stock dargestellt. Auf dem linken Flügel befand sich Simon Stock, der General der Karmeliter. Die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind in der Mitte reichte ihm das „Skapulier“ hinüber. St. Erhard, der Schutzpatron der Kirche, befand sich mit seinem Buch mit den Augen der heiligen Ottilia auf der rechten Seite. Der geschlossene Altar, bestehend aus einem einfaches, aber eindrucksvollen Kruzifix, konnte Jacob erst später in der Fastenzeit ansehen. Die herrliche Arbeit war erst vor wenigen Monaten von der Familie Stein zu Reichenstein gestiftet und eingebaut worden. Dazu gab es noch zwei einfachere ältere Seitenaltäre. Wertvolle teure farbige Glasfenster und eine schöne Kanzel vervollständigten den Innenraum. Man hatte die Kirche erst vor einiger Zeit mit Holzbänken ausgestattet. Daher auch die feste Sitzordnung. Natürlich hatten die Stadtherren, die Familie vom Baron und Obervogt Stein zu Reichenstein und auch der Schultheiß mit seiner Familie, ihre eigenen erhöhten Sitzplätze neben dem Hauptaltar. Die andere Kirche, die eigentliche Pfarrkirche, soll noch größer, aber deutlich älter sein. Diese aber lag außerhalb der Stadt im alten Kirchdorf. Der Schneesturm hatte seinen ersten Besichtigungsversuch verhindert. Jacob wollte sie sich später anschauen.