Der schwarze Meilenstein (Kriminalroman) - Louis Weinert-Wilton - E-Book

Der schwarze Meilenstein (Kriminalroman) E-Book

Louis Weinert-Wilton

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  • Herausgeber: e-artnow
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Dieses eBook: "Der schwarze Meilenstein (Kriminalroman)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Der Widerschein der beiden Stopplichter fiel auf einen Meilenstein, der die Zahl 39.5 trug. Er sah genau so gewöhnlich und harmlos aus wie jeder andere Meilenstein, aber der eine der beiden Männer, die hier Zwiesprache hielten, versetzte ihm plötzlich einen tückischen Fußtritt und spuckte ihn dann auch noch wütend an. "Das ist heute die siebente Nacht, die mich diese verwünschte Geschichte kostet", knurrte er ehrlich ergrimmt. "Und dabei weiß man nicht einmal, wozu man hier herumlungert. Seit zwei Monaten ist überhaupt nichts mehr passiert, und bei dem Früheren ist es sicher nicht anders zugegangen, als es sonst zuzugehen pflegt. Ich kenne das. Kaum sehen diese verrückten Meilenfresser ein Stückchen gerade Straße vor sich, legen sie sofort los und müssen dann bei der lächerlichsten Panne daran glauben." Louis Weinert-Wilton (1875-1945) war ein sudetendeutscher Schriftsteller. In den 1960er Jahren entstand im Zuge der erfolgreichen Edgar-Wallace-Filme eine eigenständige Louis-Weinert-Wilton-Kriminalfilmreihe.

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Louis Weinert-Wilton

Der schwarze Meilenstein (Kriminalroman)

e-artnow, 2016 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-7277-1

INHALTSVERZEICHNIS

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Der Dollar rutschte und rutschte, aber Miss Isabel Longden aus Shoshone, Idaho, U.S.A.; schien dieser Jammer nicht zu berühren.

Nach ihrem Rolls Royce und ihren gediegenen Schiffskoffern kam sie in Ostende selbst an Bord des Kanaldampfers, und es gab einiges Aufsehen.

Nicht nur, weil Isabel Longden jung und ausnehmend hübsch war, sondern vor allem, weil sie sich mit solcher Sicherheit zu geben wußte.

Vielleicht war diese Sicherheit nicht ganz echt, denn die etwas hochmütige Falte um den reizenden Mund wollte weder zu den lachenden braunen Augen, noch zu den kleinen Grübchen in den Wangen passen. Aber Isabel hielt auf diese Falte, und als sie bemerkte, daß auch hier an Bord die seltsamen Blicke des eleganten jungen Gentleman wieder auf ihr ruhten, ließ sie sie noch schärfer und abweisender hervortreten.

Mit dieser Abweisung verhielt es sich ähnlich wie mit ihrer Selbstsicherheit, aber jedenfalls gab dieser schlanke, geschmeidige Mann mit dem ewigen freundlichen Lächeln in dem glatten, dunklen Gesicht Isabel Longden seit Tagen viel zu denken. In Paris war er plötzlich auf ihren Wegen aufgetaucht, und seither verfolgte er sie wie ihr Schatten. Ohne Zudringlichkeit, aber beharrlich und mit sicherem Spürsinn. Und nun war er auch hier wieder und fuhr mit über den Kanal ...

Isabel war so empört, daß sie die Mundwinkel noch ein bißchen mehr herabzog. Aber doch nicht so empört, daß sie dem jungen Manne brüsk den Rücken gekehrt hätte. Sie tat es nur halb und blickte gleichgültig über die Reling. Und dann spitzte sie den kleinen Mund und begann ganz leise vor sich hinzupfeifen.

Sie hätte es aber wohl sein lassen und wäre wer weiß wohin geflohen, wenn sie auch nur einen der Gedanken des so treuherzig lächelnden Gentleman geahnt hätte.

»Meine liebe Miss Longden«, murmelte er dabei, indem er angelegentlich nach den gespitzten Lippen schielte, »gebe Gott, daß Sie nicht die Dollars besitzen, die ich brauche. Sonst würde Ihnen das Pfeifen vergehen – und das wäre eigentlich jammerschade ...«

Aber was immer die selbstsichere Miss Isabel Longden und der etwas überhebliche Mr. Alf Duncan auch dachten, der Schwarze Meilenstein spielte hierbei keine Rolle, denn sie wußten nichts von ihm.

Und deshalb kam alles vielleicht ganz anders, sicher aber viel rascher, als sie es sich gedacht hatten.

1

Inhaltsverzeichnis

Auf der breiten Chaussee, die von London über Hampstead nach Nordwesten führt, lag das matte Mondlicht einer frischen Septembernacht. Aus den Wiesengründen zur Rechten und Linken stieg ein feiner, silbriger Nebel, und die kleinen Waldgruppen reckten sich wie starre Kulissen gegen den Himmel.

Knapp am Rande eines der Gehölze bog ein schmaler Fahrweg im spitzen Winkel ab, drinnen unter den hohen Kiefern aber glühten auf der großen Straße zwei rote Punkte.

Der Widerschein der beiden Stopplichter fiel auf einen Meilenstein, der die Zahl 39.5 trug.

Er sah genau so gewöhnlich und harmlos aus wie jeder andere Meilenstein, aber der eine der beiden Männer, die hier Zwiesprache hielten, versetzte ihm plötzlich einen tückischen Fußtritt und spuckte ihn dann auch noch wütend an.

»Das ist heute die siebente Nacht, die mich diese verwünschte Geschichte kostet«, knurrte er ehrlich ergrimmt. »Und dabei weiß man nicht einmal, wozu man hier herumlungert. Seit zwei Monaten ist überhaupt nichts mehr passiert, und bei dem Früheren ist es sicher nicht anders zugegangen, als es sonst zuzugehen pflegt. Ich kenne das. Kaum sehen diese verrückten Meilenfresser ein Stückchen gerade Straße vor sich, legen sie sofort los und müssen dann bei der lächerlichsten Panne daran glauben.«

Auch der zweite Mann trug den Dreß und die Abzeichen eines Patrouillenfahrers des Royal Automobile Club, dachte aber über die Sache anders. Er konnte es auch tun, denn er hatte den unangenehmen Dienst eben für einige Tage hinter sich, und es war sogar möglich, daß er überhaupt nicht mehr an die Reihe kam.

»Das wäre wohl schon das Höchste, was der Zufall sich leisten könnte«, meinte er mit bedenklichem Gesicht, indem er sein Motorrad fahrbereit machte. »In paar Wochen sechs so schwere Unfälle und immer an derselben ganz ungefährlichen Stelle – das will mir nicht recht in den Kopf. Dabei hat es jedesmal so ausgesehen, als ob die Wagen plötzlich scheu geworden wären, da sie von der Mitte der Straße schnurgerade in die Bäume hineinrasten. Daß sie so an die sechzig Meilen Geschwindigkeit gehabt haben müssen, ist allerdings richtig, denn es ist kein ganzes Stück von ihnen übriggeblieben. Und von den Fahrern auch nicht. Eine ganz unheimliche Geschichte, kann ich dir sagen, und so oft ich mir den Platz anschaue, läuft es mir kalt über den Rücken.«

Auch der andere ließ unwillkürlich den Blick nach der Stelle etwas schräg gegenüber gehen. Am Rande des ziemlich dichten Unterholzes klaffte eine breite Lücke, die mit ihren zersplitterten und angekohlten Strünken, den zerbeulten, rindenlosen Stämmen, und der ausgedehnten Brandnarbe wirklich etwas Unheimliches hatte.

»Hol's der Teufel«, murmelte er zwischen den Zähnen. »Wenn man volle fünf Stunden so mutterseelenallein hier herumsitzen muß, kann man es schon mit dem Gruseln zu tun bekommen. Nur einmal, gleich in der allerersten Zeit, war etwas Spaß dabei. Da sind eine Menge Leute mit allen möglichen Instrumenten hier herumgewimmelt, und sogar welche mit Wünschelruten waren dabei. Ich habe etwas von Erdstrahlen und Magnetismus aufgeschnappt, aber gefunden scheint man nichts zu haben, denn sonst hätte man uns ja nicht weiter gebraucht. – Das heißt«, fügte er in seiner früheren galligen Laune hinzu, »gebraucht hat man uns nicht, sondern das Ganze ist für die Katz und nur eine Leuteschinderei. Wer schon unbedingt bei Nacht fahren muß, macht lieber einen kleinen Umweg, als daß er dem verhexten Schwarzen Meilenstein um diese Zeit in die Nähe käme. Bei meinem Dienst wenigstens hat sich noch nie ein Wagen blicken lassen. Die Zeitungen haben ja auch genug Lärm geschlagen.«

Der abgelöste Posten ließ den Motor an und setzte sich zurecht.

»Ich habe gehört, daß die Wache vielleicht schon morgen eingezogen wird«, sagte er, um seinem übel gelaunten Kameraden einen Trost zu hinterlassen. »John ist so gegen zehn hier durchgekommen und hat es ...«

Er hielt inne und wandte gespannt den Kopf.

Draußen auf der Chaussee brauste es heran, und es mußte ein schwerer Wagen sein, denn schon im nächsten Augenblick begann der Boden ganz merklich zu vibrieren.

Der neue Mann vom Dienst knipste vorschriftsmäßig sein Signallicht an und sprang in die Mitte der Fahrbahn, eben als vorne strahlende Helle in das Dunkel des Waldes brach.

Die rote Laterne kreiste gebieterisch, und die riesigen Scheinwerfer wurden jäh abgeblendet. Der nahende Wagen mäßigte sein wahnwitziges Tempo, und der Patrouillenfahrer machte sich bereit, seine Warnung vorzubringen ...

Aber in der nächsten Sekunde wurden seine Augen von einem stechenden Lichtkegel geblendet, und der Luftdruck des großen Autos, das mit einem förmlichen Sprunge an ihm vorüberschoß, ließ ihn fast ins Wanken geraten.

»Verdammt noch einmal ...«, zischte er, als er sich etwas gefaßt hatte. »Was war das? – Warum ist der Bursche so ausgerissen?«

»Das war kein Bursche, sondern eine Frau«, erklärte ihm der andere ebenso betroffen. »Und der Wagen ein Amerikaner – aber ohne Zeichen und Nummer ...«

»Ein Frauenzimmer?« Der ewig nörgelnde Mann spuckte wieder einmal kräftig aus. »Natürlich – das hätte ich mir eigentlich denken können. Die treiben es ja am tollsten. Wenn ich so etwas am Steuer sehe, habe ich schon genug. – Wieviel, meinst du, hat die draufgehabt? – Aber wenn man sie morgen früh irgendwo hier herum gefunden hätte, wäre natürlich wieder das alberne Gerede von dem Schwarzen Meilenstein losgegangen.«

Er nickte dem abfahrenden Kameraden mürrisch zu und zündete sich dann eine Pfeife an. Er mußte deren nun einige ausrauchen, bevor er von diesem totenstillen, unheimlichen Platze wieder wegkonnte.

2

Inhaltsverzeichnis

Es war genau eine Stunde vor Mitternacht, als der nette Boy des vornehmen Hotels am Strand mit dem Anflug eines vertraulichen Grinsens vor Mr. Alf Duncan die breite Flügeltür aufriß.

Die meisten Gäste hatten sich bereits zur Ruhe begeben oder saßen bei ihrem verspäteten Dinner, und die große Halle lag wie ausgestorben. Deshalb durfte sich sogar auch der würdevolle Mann in der Portierloge so etwas wie ein Lächeln gestatten.

Der Gentleman im Abendanzug trat an das Pult und schob den Hut etwas aus dem frischen, unternehmenden Gesicht.

»Nun?« fragte er bloß, aber der gewiegte Mr. Brown verstand ihn und hob bedauernd die Schultern.

»Miss Longden ist vor etwa einer Stunde abgereist«, flüsterte er hastig, indem er die Hall vorsichtig im Auge behielt. »Ganz plötzlich ...«

Der junge Mann nahm die überraschende Nachricht weit gefaßter auf, als Mr. Brown erwartet hatte. Er warf bloß einen raschen Blick auf die Uhr und neigte sich dann erwartungsvoll in die Loge.

»Das müssen Sie mir etwas ausführlicher erzählen«, sagte er mit seiner ruhigen, einschmeichelnden Stimme.

»Bitte ...« Mr. Brown nickte und wurde sehr geheimnisvoll. »Es ist mir selbst ein Bedürfnis, davon zu sprechen, denn ich habe Miss Longden sehr geschätzt und befürchte, daß ihr etwas Unangenehmes widerfahren ist. Wenigstens schließe ich dies aus ... hm ... verschiedenen Umständen, die ... hm ...«

Er suchte nach möglichst unverfänglichen Worten, aber Duncan kam ihm mit seiner gelassenen Sachlichkeit zu Hilfe.

»Fangen wir, bitte, von vorne an. – Also um halb drei hat Miss Longden wieder die gewisse Nummer in Bishopsgate angerufen, und kurz vor vier Uhr ist sie dann ausgefahren ...«

»Jawohl. Mit ihrem Wagen, den sie, wie immer, selbst fuhr.« Mr. Brown hatte nun den Faden und schickte sich an, ihn mit pedantischer Genauigkeit abzuwickeln. »Ich möchte bemerken, daß sie sehr gut gelaunt war, denn sie hat leise gepfiffen, wie sie es öfter zu tun pflegte.«

Der aufmerksam lauschende junge Mann spitzte die Lippen und schien das gleiche tun zu wollen, aber dann drängte er sanft weiter.

»Und wann ist sie zurückgekehrt?«

»Einige Minuten nach neun. Ich hatte eben meinen Abenddienst angetreten, als sie plötzlich in die Hall und, ohne sich auch nur mit einem Blicke umzusehen, geradenwegs auf den Fahrstuhl zustürzte. – Und als der Boy wieder herunterkam« – der würdevolle Mann ging in ein aufgeregtes Wispern über – »teilte er mir ganz verstört mit, Miss Longden habe schrecklich gezittert und sogar einige Male laut aufgeschluchzt. Natürlich habe ich dem Jungen diese indiskrete Aufmerksamkeit verwiesen, denn in unserem Berufe darf man nur dann Augen und Ohren haben, wenn dies im Interesse des Gastes gelegen ist.«

Mr. Brown räusperte sich ernst, und der liebenswürdige Mr. Duncan räusperte sich ebenfalls.

»Ja«, pflichtete er dann gedankenvoll bei.

»Ja – und nach etwa einer Stunde ist Miss Longden dann wieder erschienen. Sie war in großer Eile, und in ihrem ganzen Benehmen lag etwas Furchtsames und Scheues. Ich konnte nun bemerken, daß sie wirklich geweint hatte, und ihre Stimme klang noch immer ganz verschleiert und unsicher. Sie hat auch nur wenige abgerissene Worte gestammelt: daß sie sofort abreisen müsse, ihr großes Gepäck aber und die eingehende Post zurückbehalten werden sollen, bis sie darüber bestimme, was vielleicht längere Zeit dauern werde. – Und dann hat sie mir, da sie nicht genügend englisches Geld hatte, zur Bestreitung der Auslagen zweihundert Dollar zurückgelassen.«

»Zweihundert Dollar ...«, hauchte Mr. Duncan mit großen Augen.

»Gewiß, es war etwas viel«, gab Mr. Brown zu, »aber ich habe es zu spät bemerkt. Miss Longden flog ja förmlich aus der Hall und ließ auch schon ihren Wagen anlaufen.«

»Zweihundert Dollar ...«, wiederholte der Herr in dem tadellosen Abendanzuge noch einmal, und der gewiegte Mann in der Portierloge glaubte ihn zu verstehen.

»Ja«, seufzte er, indem er unwillkürlich die dickleibige Brieftasche zog und die beiden Scheine hervorholte, »wer hätte das vor kurzem noch für möglich gehalten. Der Dollar! – Und dabei sieht dieses amerikanische Geld so solid aus.«

Duncan griff nach den Noten und betrachtete sie von allen Seiten.

»Beschmiert sind sie auch«, sagte er so nebenbei, als er sie endlich wieder zurückgab.

»Bloß die eine. Ich habe es auch schon bemerkt, aber das hat nichts zu sagen. Auf amerikanischem Papiergeld findet man das häufig. – Vielleicht ist es eine Vormerkung, die sich Miss Longden in der Eile gemacht hat. Ich glaube, es heißt: ›Finchley – Edgware – Radlett – Blackfield‹. – Es sind dies Orte, die an der Strecke nach Birmingham liegen«, fügte der pedantische Mann erklärend hinzu.

Der sonst immer so glänzend gelaunte Mr. Alf Duncan sah plötzlich derart hoffnungslos drein, daß Mr. Brown die Finger, die die Scheine eben wieder geborgen hatten, unschlüssig in der Brieftasche stecken ließ.

Der ehrenwerte Mann zauderte, weil er sich einem schweren Gewissenskonflikt gegenübersah. Einerseits legten ihm die ungeschriebenen Gesetze seines Standes eigentlich die Pflicht auf zu schweigen, andererseits aber drängten sie ihn zu sprechen. Dieser Mr. Duncan zählte ja zu den treuesten Lunch- und Dinnergästen des Hotels und durfte daher auf ein gewisses vertrauensvolles Entgegenkommen Anspruch erheben. Außerdem war es Mr. Brown nicht entgangen, welch lebhaftes Interesse der elegante Mann an der jungen, bildhübschen Amerikanerin vom ersten Tage an genommen hatte, und es mußte für ihn eine sehr arge Enttäuschung sein, daß sie nun aus seinem Gesichtskreis verschwunden war, bevor er sich ihr hatte nähern können. Mr. Brown hätte dem netten Gentleman, der einen so treuherzigen Blick hatte und eine so gewinnende Art, einem die Hand zu drücken, gern mehr Erfolg gewünscht, und sein edles Mitgefühl siegte daher über die letzten beruflichen Bedenken.

»Hier habe ich noch etwas«, flüsterte er, indem er ein zusammengefaltetes Papier zum Vorschein brachte. »Ich habe bisher zu niemandem davon gesprochen, denn es handelt sich offenbar um eine sehr peinliche Privatangelegenheit der Miss Longden. Aber da ich annehme, daß Sie für die Dame ... hm ...«

Alf Duncan seufzte sehr hörbar, und Mr. Brown nickte teilnehmend.

»Ich habe das Blatt in ihrem Appartement gefunden, als ich mich nach dem zurückgelassenen Gepäck umsah«, fuhr er in seiner umständlichen Art fort. »Unser Personal ist zwar sehr zuverlässig, aber solche Dinge besorge ich lieber selbst. Glücklicherweise bin ich sofort hinaufgegangen, und dabei habe ich ganz gewohnheitsmäßig das Papier, das in einer Ecke lag, aufgehoben. – In unserem Betrieb muß man auf jede Kleinigkeit achten, denn die Gäste sind oft sehr zerstreut und nachlässig. Sie werden ja selbst sehen ...«

Mr. Duncan warf einen raschen Blick auf den ihm mit so geheimnisvoller Wichtigkeit anvertrauten Fund. Es war einer der Briefbogen des Hotels, wie sie den Gästen zur Verfügung standen, aber er enthielt nur wenige Zeilen. Die Schrift wies unregelmäßige, verzerrte Buchstaben auf, die auf und nieder tanzten, als ob die Hand, die sie schrieb, heftig geschüttelt worden wäre, und die Tinte war durch Feuchtigkeit und das Zusammenknüllen fast völlig verwischt.

Trotzdem ließen sich die Worte ohne besondere Schwierigkeit entziffern:

Liebste Mrs. Symington,

oh, warum habe ich nicht auf Ihre Warnungen gehört. – Welch furchtbare Strafe, welch schreckliches Ende. Ich vermag es nicht auszudenken: Ich habe ...

Hier brach der verzweifelte Aufschrei ab. Die Schreiberin hatte nicht mehr weiter gekonnt, oder sie hatte es sich anders überlegt.

Mr. Brown beobachtete den jungen Mann mit gespannter Erwartung, aber als Duncan endlich den Blick hob, hatte er gar nichts zu sagen. Er drehte nur gedankenvoll das Blatt zwischen den Fingern, und dabei wurde das Papier immer kleiner und kleiner, bis plötzlich überhaupt nichts mehr davon zu sehen war.

Der würdige Mann in der Portierloge verfolgte dieses Spiel mit einiger Unruhe, und sein Gewissen begann sich zu regen.

»Ich darf Sie wohl bitten, Sir ...«, stammelte er besorgt, aber der vollendete Gentleman zog beschwichtigend zwei Finger aus der Westentasche, und Mr. Brown umklammerte sie schweigend und ehrerbietig.

Dann drückte Alf Duncan den Hut wieder korrekt ins Gesicht, nickte noch einmal leutselig und schritt, ein gefährlicher Konkurrent für jeden Filmhelden, aus der Hall.

Draußen vor dem Portal aber legte er seine guten Manieren ab und ließ einen leisen Fluch hören.

»Zum Teufel: – Ich habe ... Was hat sie ...?«

Er war auf diesen und jenen Zwischenfall und auf die eine oder die andere Überraschung vorbereitet gewesen, aber die Wendung, die nun eingetreten war, hatte ihn völlig überrumpelt. Was hatte das zu bedeuten, und was war da zu tun?

Er brannte sich mißmutig eine Zigarette an und ließ sich die geheimnisvolle Sache angelegentlich durch den Kopf gehen.

Der knochige Mann, der plötzlich überrascht neben ihm haltmachte, mußte ihn erst am Arm berühren, bevor er aus seiner tiefen Versunkenheit erwachte.

Duncan blickte sich um und zog dann sehr förmlich den Hut, aber der andere tat viel herzlicher und vertrauter.

»Sieh da«, sagte er und feixte dabei über das ganze kantige Gesicht. »Mr. Alf Duncan ... In all seiner Pracht und Herrlichkeit. Einen Augenblick war ich nicht recht sicher, denn ich glaubte, Sie seien in Paris oder sonst irgendwo drüben.«

»Ich war in Paris und sonst irgendwo drüben«, gab der junge Mann kühl zurück, »aber jetzt bin ich wieder hier, wie Sie sehen. Wenn jedoch Scotland Yard die Absicht haben sollte, mir das Leben schwer zu machen ...«

»Scotland Yard ...«, gluckste Chefinspektor Perkins und schüttelte sich vor Heiterkeit. »Das kann ich mir denken, daß Ihnen das zu schaffen gibt. Aber Sie haben es ja nicht anders gewollt. – Was war doch eigentlich gleich das Letzte, was Sie ausgefressen hatten?«

»Das Letzte, weshalb man mir Ungelegenheiten bereitet hat«, erklärte Duncan kühl und korrekt, »waren zarte Beziehungen, über die man unter Leuten von guter Erziehung mit diskretem Schweigen hinweggeht. Aber die Polizei hat eben über alles und jedes ihre eigenen Ansichten.«

Das Achselzucken, mit dem er diese Feststellung abtat, war noch beleidigender als die Worte, vermochte jedoch auch nicht, Perkins aus seiner Laune zu bringen.

»Aha, Weibergeschichten – ich verstehe.« Er zwinkerte mit den verschlagenen Augen und betrachtete den jungen Mann mit offenkundiger Bewunderung vom Scheitel bis zur Sohle. »Das liegt Ihnen aber auch, und dabei sollten Sie bleiben. – Oder haben Sie vielleicht für das nächste Mal etwas anderes vor?«

Alf Duncan nahm die Frage so ernst, daß er eine ganze Weile nachdachte.

»Für das nächste Mal habe ich etwas vor, bei dem es vielleicht um ›lebenslänglich‹ geht«, erklärte er dann unverfroren. »Hoffentlich ist Ihnen mit dieser Andeutung gedient. Gute Nacht, Mr. Perkins. Bitte, seien Sie nett, und sagen Sie nicht etwa ›Auf Wiedersehen‹.«

Er machte kurz kehrt, aber schon nach wenigen Schritten wandte er sich plötzlich wieder um und eilte dem so unhöflich verabschiedeten Mann nach.

»Hören Sie einmal, Perkins«, erkundigte er sich, »was ist das eigentlich für eine Gegend: Finchley – Edgware – Radlett – Blackfield?«

»Warten Sie«, sagte der Chefinspektor und murmelte die Namen nachdenklich vor sich hin. Dann hob er auf einmal rasch den Kopf und sah Duncan scharf und etwas betroffen an.

»Das ist die Gegend des sogenannten Schwarzen Meilensteins. – Ich weiß nicht, ob Sie schon davon gehört haben ...«

Was Alf Duncan nach Sekunden darauf erwiderte, ließ Mr. Perkins verständnislos den Mund aufsperren.

»Liebe Miss Longden«, sagte er nämlich völlig geistesabwesend, aber deutlich und bestimmt, »verzeihen Sie ... – Ich fürchte, ich bin ein gewaltiger Esel gewesen ...«

3

Inhaltsverzeichnis

Eine Meile hinter dem Unglücksstein endete das Kiefernholz, und an seinem Saum lagen, unregelmäßig verstreut und hinter Sträuchern und Bäumen fast völlig verborgen, die unansehnlichen Häuser der kleinen Ortschaft Blackfield. Wiederum zwei Meilen weiter aber lief die Chaussee durch ein schmales Tal, und hier mündete eine Allee alter Birken, die von Alderscourt her kam.

Der einstige Gentrysitz befand sich eine halbe Wegstunde taleinwärts und so abgeschieden, daß er selbst für die nächste Umgebung nur ein toter Begriff war, dessen man sich kaum je erinnerte. Das Anwesen hatte auch viele Jahre leer gestanden, und die Bewohner, die es seit einiger Zeit beherbergte, waren nicht darnach, irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen.

Mrs. Drew, eine schlichte Frau von stattlichem Umfang, wünschte das auch nicht. Sie kannte die Stürme und Tücken des Lebens und wußte, was so ein ruhiger, verborgener Hafen wert war. Ihre Tochter Molly hatte über den stinkenden Fuchsbau allerdings andere Ansichten, mußte sich jedoch vorläufig in das Unabänderliche fügen.

In dem trauten Familienkreise um den rohen Holztisch ging es zuweilen recht kriegerisch zu, aber heute war Mrs. Drew bereits etwas müde, und Molly saß mit kritischer Gründlichkeit über einem Kriminalroman. – Sie hatte ihn schon viermal von Anfang bis zu Ende verschlungen und hielt sich diesmal mehr an die Einzelheiten. Dabei zog sie hie und da die Stirn nachdenklich kraus, und dann feuerte sie das Buch plötzlich in eine Ecke, daß die Blätter nur so flogen.

»So ein Trottel«, urteilte sie verächtlich. »Wenn man das liest, könnte man glauben, daß das Stehlen so einfach sei wie das Nasenputzen, und daß man nur hinlangen müsse, um gleich die ganze Hand voll zu haben.«

Sie lümmelte sich wuchtig auf den Tisch, und ihr gesundes derbes Gesicht verriet ihre arge Verdrießlichkeit. Sie ähnelte ganz der Mutter, und Mrs. Drew fand, daß dies ihr einziger Vorzug sei. Sonst war sie völlig aus der Art geschlagen und eine alberne, eitle Gans, die zu nichts wert war.

Und eben hatte sie eine Sache berührt, die Mrs. Drew veranlaßte, das Daumendrehen sein zu lassen und die dicken Lider aufzuschlagen.

»Von solchen Dingen sei du hübsch still«, sagte sie giftig. »Die, welche die schönen Bücher schreiben, sind eben Leute von Verstand und wissen, wie man es anzustellen hat, um zu etwas zu kommen. Du aber hast nur lauter Dummheiten in deinem frisierten Schädel. – Was hast du schon für schöne Posten gehabt«, die enttäuschte Mutter seufzte bekümmert, »und was hat dabei herausgeschaut? Ganze Silberkästen und einen Haufen Schmuck hätte sich eine andere in so feinen Häusern beiseite gelegt. Aber du? Kaum sitzt du warm, klaust du eine lumpige Puderdose, ein paar Fetzen oder sonst so einen Dreck, und es war wieder nichts. – Wie ich in deinen Jahren war ...«

Molly kannte diese bewegte Klage bereits zur Genüge und schnitt sie daher immer ab. Statt mit der gewohnten bündigen Redensart tat sie es heute mit einer mürrischen Frage.

»Wie lange soll denn die blöde Warterei noch dauern?«

Mrs. Drew erinnerte sich, daß es noch ein sehr langer Abend werden konnte und daß sie auf ihre kalten Füße Rücksicht zu nehmen hatte. Sie setzte Wasser auf, um einen wärmenden Grog zu brauen, und während sie mit dem Kocher hantierte, gab sie der ungeduldigen Tochter kurz angebunden Bescheid.

»Die Warterei wird so lange dauern, bis wir wissen, was los ist. Entweder kommt der Besuch, oder es kommt der Herr. So ist es ausgemacht.«

Molly schnitt eine Grimasse und gähnte verzweifelt.

»Eigentlich sollte man sich unsern Herrn einmal ein bißchen näher ansehen«, meinte sie plötzlich unvermittelt.

Die schwerfällige Mrs. Drew machte eine so flinke Wendung, daß sie fast den Topf vom Feuer geworfen hätte. »Untersteh dich nicht, herumzuschnüffeln«, fauchte sie, und ihre wäßrigen Augen funkelten dabei so drohend, daß die mütterlichen Worte auf Molly diesmal sogar einigen Eindruck machten. »Wenn ich so etwas merke, so fliegst du auf der Stelle und kannst dann schaun, wo du unterkriechst. Durch deine Nichtsnutzigkeit werde ich mich nicht um das feine Dach überm Kopf bringen lassen, das ich durch die Gnade Gottes auf meine alten Tage gefunden habe. Du weißt, wie es der Herr gehalten haben will, und wirst dich danach richten, wenn du nicht etwas erleben willst.« Die entrüstete Frau holte tief und laut frischen Atem, weil sie noch einiges zu sagen hatte. »So ein Mistfratz. Sie will sich unsern Herrn einmal ein bißchen näher anschauen ... Ob mir das schon einmal eingefallen wäre. Meinetwegen mag er sein, wer er will, und aussehen, wie er will, die Hauptsache ist, daß ich hier hübsch ruhig sitze und dazu obendrein noch sechzig Schillinge bekomme. Und wenn du ungeratener, gottverlassener Balg ...«

Das gedämpfte Läuten einer Klingel ließ Mrs. Drew mit offenem Munde innehalten, und dann geriet sie in aufgeregte Geschäftigkeit.

»Die Laterne«, keuchte sie der Tochter hastig zu, und während Molly eine Kerze anzündete, schlug Mrs. Drew mit zitternden Händen ein Tuch um die Schultern. Wenn sie auch den Gang in den Oberstock schon einige Male getan hatte, so war ihr doch nie sehr wohl dabei, und da der Grog noch nicht fertig war, mußte sie rasch einen beruhigenden Schluck aus der Rumflasche nehmen. Dann ergriff sie die Laterne, warf Molly noch einen warnenden Blick zu und schlürfte in die Diele.

Der lange, niedrige Gang war stockdunkel, und das schwache, unruhige Licht in den Händen der Frau vermochte gerade nur Schritt für Schritt den Weg über die rissigen Dielen zu weisen. Aber Mrs. Drew ging ihn rasch und sicher und schnaufte dann eine knarrende Holztreppe hinauf. Hier oben war der Gang zur Linken durch eine starke Bohlenwand abgeschlossen, und die Frau mußte einen Augenblick den Schein ihrer Laterne über die dunkle Täfelung gehen lassen, um den Eingang zu finden. Er war immer verschlossen, wie sie sich bereits mehrmals überzeugt hatte, aber wenn das Klingelzeichen sie rief, gab die geschickt verborgene kleine Tür stets ohne weiteres nach.

Auch das erste Zimmer hinter der Wand stand wie gewöhnlich offen, und Mrs. Drew setzte das Licht auf den Tisch und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. So wünschte es der Herr, und so war es auch der Frau ganz angenehm. Sie war außer Atem und schwitzte vor Aufregung, aber sie hatte Zeit, sich zu sammeln, denn es verging mehr als eine Minute, bevor sich aus dem Nebenraum, der durch einen Vorhang abgetrennt war, eine Stimme vernehmen ließ. Sie klang kehlig und scharf, und der armen Mrs. Drew lief es dabei immer eiskalt über den Rücken.

»Ich hoffe, daß alles in Ordnung ist«, sagte der Herr. »Der Besuch dürfte so um Mitternacht eintreffen. Sorgen Sie dafür, daß das Tor sofort geöffnet wird und daß der Wagen gleich in die Scheune an der rechten Hofseite fährt. Dann schließen Sie ab, und den Schlüssel werfen Sie durch die gewisse Fuge draußen im Gang. – Haben Sie verstanden?«

»Natürlich, Sir«, versicherte die Frau eifrig, aber etwas konfus. »So um Mitternacht und wegen des Schlüssels. – Wenn sie aber nur glücklich an dem verhexten Stein vorüberkommt ...«

»Unsinn«, scholl es auf dieses ängstliche Bedenken ärgerlich zurück. »Und daß Ihnen nicht etwa einfällt, der Dame mit diesen albernen Schauergeschichten in den Ohren zu liegen. Kein Wort davon. Sie befindet sich ohnehin in großer Aufregung und darf durch solche Dinge nicht noch mehr beunruhigt werden. – Nur ein paar gute Lehren können Sie ihr geben, sobald sie sich erst ein bißchen hier eingelebt hat. Sie haben ja einiges durchgemacht, was zu erfahren ihr von Nutzen sein kann ...«

So unklar diese Bemerkung war, Mrs. Drew glaubte sie zu verstehen und witterte Möglichkeiten, die etwas Abwechslung in ihre einförmigen Tage bringen konnten.

»Hat sie etwas angestellt?« platzte sie neugierig heraus.

Der Mann nebenan schien zu überlegen.

»Ja«, erklärte er dann kurz. »Was es ist, darum haben Sie sich nicht zu kümmern – aber es geht um ein paar Jahre.«

»Um ein paar Jahre ...«, wiederholte die erfahrene Frau mit fast ehrerbietigem Schauer. »Das Höchste waren bei mir zuletzt achtzehn Monate, und das war schon wie eine Ewigkeit. – Davon habe ich auch das Rheumatische bekommen.«

»Sehen Sie. – Erzählen Sie also der jungen Dame hie und da so beiläufig einiges von dem, was Sie erlebt haben, damit sie erkennt, was auf dem Spiel steht, und keine Dummheiten macht. Sie darf nicht einen Schritt aus dem Haus heraus, und von draußen darf niemand an sie heran. Darauf haben Sie strengstens zu sehen, sonst ist es mit der Herrlichkeit hier für Sie zu Ende. Auch dürfte es Ihnen wohl kaum angenehm sein, wenn die Polizei auf diesen stillen Winkel aufmerksam würde.«

»Gott beschütze ...«

Der entsetzte Ausruf kam Mrs. Drew wirklich von Herzen, denn sie haßte diese tückischen blauen Teufel, die ihr schon so viele Unannehmlichkeiten bereitet hatten. Und da waren noch ein paar alte Geschichten, die sie um keinen Preis aufgerührt sehen mochte.

Wenn dieser kleine Schreck nicht gewesen wäre, so hätte die kurze Unterredung mit dem geheimnisvollen Herrn von Alderscourt Mrs. Drew außerordentlich befriedigt. Sie wußte nun, woran sie mit dem Gast war, und auch, was sie zu tun hatte, sagte ihr sehr zu. Sie sprach leidenschaftlich gern von ihren Erlebnissen, die die ganze Niedertracht der Welt im allgemeinen und der Polizei und der Richter im besonderen zeigten, aber Molly war ein eingebildetes, freches Ding, das die Gescheitheit mit dem großen Löffel gefressen zu haben glaubte. Die andere würde hoffentlich auf eine alte erfahrene Frau hören; und wenn sie es nicht tat, so war es ja keine so schwere Sache, sie im Auge zu behalten und zu verhüten, daß sie etwas Unvernünftiges anstellte.

Molly empfing die Mutter mit einer erwartungsvollen stummen Frage, aber Mrs. Drew beschränkte sich auf eine knappe Andeutung.

»Mach das Tor auf und die Scheune beim Brunnen«, sagte sie, indem sie eilig den Grog bereitete. »Es muß alles rasch und in großer Stille geschehen, denn man ist hinter ihr her.«

Das liebenswürdige Mädchen stieß einen leisen Pfiff aus und verschwand mit überraschender Bereitwilligkeit. Wie der Mutter, kam auch ihr eine Ansprache sehr erwünscht, und wenn es mit dem Besuch so stand, brauchte man sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Alderscourt war schon bei Tag kein freundlicher Ort, bei Nacht aber war es geradezu unheimlich. Es lag am Ausgang eines kleinen Tals auf einem ausgedehnten Stück Weideland, dessen reizlose Eintönigkeit nur durch vereinzelte Erlengruppen unterbrochen wurde. Das Anwesen selbst war ein großes, kahles Mauerviereck, das an jeder Front mehrere Tore aufwies und von einer Reihe von Schindel- und Strohdächern überragt wurde.

Inmitten dieses Walles von Wirtschaftsgebäuden stand das massive Wohnhaus. Ein weiter Rasenplatz und eine Hecke, die rund herumlief, mochten ihm einst einen freundlicheren Anstrich verliehen haben, aber mit der ganzen Umgebung war auch hier alles der Verwilderung verfallen.

Molly war eben dabei, den schweren Riegelbalken des Haupttors hochzuheben, als Mrs. Drew mit der Laterne erschien. Sie hatte sich durch einige ausgiebige Schlucke gestärkt und war nun von lebhafter Gesprächigkeit.

»Ich werde mich mit der Laterne in die Scheuneneinfahrt stellen«, sagte sie, »und wenn sie kommt, weist du sie gleich dorthin. Dann führst du sie hinauf in die Zimmer und gehst ihr an die Hand. – Aber«, die Stimme der besorgten Mutter bekam plötzlich wieder einen ernsten Klang, »stell' mir nicht am Ende gleich am ersten Tage etwas an, sonst zerklopf ich dir deine langen Finger zu Brei.«

Vorläufig beschränkte sich Mrs. Drew darauf, einem hochbeinigen Köter, der mit einem heiseren Wutlaut aus seiner Hütte fuhr, einen runden, faustgroßen Stein treffsicher auf das ruppige Fell zu setzen.

»Kusch, du verdammte Bestie«, zeterte sie ergrimmt, wurde aber dann gleich einsichtsvoller. »Vielleicht wird das Rabenvieh jetzt doch zu etwas gut sein«, überlegte sie laut. »Es kann mir ja niemand verbieten, den bissigen Teufel hier drinnen loszulassen, und dann möchte ich mir den ansehen, der seine Nase hereinsteckt.«

Eine Viertelstunde später schwenkte Molly eilig die kreischenden Torflügel auf, um den Wagen einzulassen, der auf dem holprigen, grasüberwucherten Weg in halsbrecherischer Fahrt angeschaukelt kam.

Als das Auto in der dunklen Scheune hielt, drängten sich Mutter und Tochter mit neugieriger Geschäftigkeit heran, bekamen aber vorläufig nicht viel zu sehen.

Die Gestalt, die zögernd ausstieg, war in einen langen Mantel gehüllt und hatte die Haube so tief in die Stirn gezogen, daß nur ein kleines Oval eines jungen Gesichts und zwei große, scheue Augen sichtbar wären, die ängstlich in die Runde gingen. Es mußte eine sehr aufregende und anstrengende Tour gewesen sein, denn die Fahrerin atmete schwer und vermochte sich kaum aufrecht zu halten.

Endlich gelang es dem zuckenden kleinen Mund, eine kurze Frage zu formen.

»Alderscourt?«

»Jawohl, Miss«, beeilte sich Mrs. Drew zu versichern. »Sie sind richtig. Wir haben Sie schon erwartet, und Sie werden alles in Ordnung finden. – Molly«, wandte sie sich an diese in einem Ton, der dem Gaste sofort sagen sollte, wer hier im Haus das große Wort zu führen hatte – »bringe die Dame auf ihre Zimmer und dann hol flink das Gepäck. – Bitte, Madam, sagen Sie ihr nur, wie Sie alles wünschen. Meine Tochter hat bei sehr feinen Herrschaften gedient und kennt sich aus.«

Es war das erste Lob, das Molly je aus dem Munde ihrer strengen Mutter zu hören bekommen hatte, und sie war bemüht, zu zeigen, daß das mit den feinen Herrschaften wirklich stimmte. Sie geleitete den Gast mit der Artigkeit einer geschulten Zofe, aber der Weg über den Hof und den Vorplatz ging sehr langsam vor sich, weil die Fremde sich auffallend unsicher und zögernd vorwärts tastete. Einmal blieb sie sogar plötzlich stehen, und es schien einen Augenblick, als ob sie umkehren wollte. Aber dann schritt sie wieder hinter ihrer Führerin drein, und selbst die düstere Diele und der dunkle Treppenaufgang, die nur durch zwei armselige Petroleumflammen erhellt waren, konnten ihren Fuß nicht mehr stocken machen.

Auch in dem Zimmer auf der rechten Gangseite des Oberstocks, das Molly einladend öffnete, brannte nur eine Petroleumlampe, aber der Raum war überraschend gut und behaglich eingerichtet. Die Möbel schienen völlig neu zu sein, und selbst Mrs. Drew hatte sich schon oft darüber den Kopf zerbrochen, wann, wie und wozu sie in den alten Bau gekommen sein mochten, der sonst außen und innen ein so trostloses Bild der Verwahrlosung bot.

»Nun bringe ich noch rasch die Koffer«, sagte Molly beflissen, indem sie sich bemühte, von der neuen Hausgenossin endlich etwas mehr zu sehen, aber diese war bereits ans Fenster getreten, und nur ein Nicken verriet, daß sie gehört hatte.

Erst als das Mädchen geschäftig die Treppe hinunterklapperte, wandte sich Isabel Longden jäh um und riß mit einer verzweifelten Bewegung Mantel und Haube herunter. Dann glitt sie haltlos in einen Stuhl, und der Schein der Lampe fiel auf ihr pikantes Gesichtchen, das mit seinen strahlenden Augen und dem reizvollen Mund nur zu übermütigem Lachen geschaffen schien.

Aber auf diesem Gesicht lag ein Ausdruck so erschütternden Schmerzes, daß sogar die zurückkehrende Molly davon betroffen war.

»Befehlen Sie noch etwas, Miss?« fragte sie, nachdem sie die Koffer abgestellt hatte; und war froh, als sie durch ein müdes Kopfschütteln und einen dankbaren Blick entlassen wurde.

»Die hat es gehörig«, vertraute sie unten der wißbegierigen Mutter an und ließ dann ihrer schwülen Phantasie die Zügel schießen. »Wahrscheinlich war es etwas mit einem Mann – oder etwas, was damit zusammenhängt ...«

Mrs. Drew spitzte die dicken Lippen und zog eine Portion Luft durch die Nase ein.

»Aha – das könnte stimmen«, meinte sie sachverständig. »Der Herr hat ja gesagt, ein paar Jahre ...«

In den Augen der Tochter flackerte ein unruhiges Licht, und obwohl kein fremdes Ohr sie hören konnte, dämpfte sie ihre Stimme zu einem kaum vernehmlichen Flüstern.

»Sie muß aber etwas Feines sein und es sehr dick haben. Sie hat solche Dinger in den Ohren.« Molly wies die ansehnliche Spitze ihres kleinen Fingers. »Und alles echt. Darin kenne ich mich aus.«

Mrs. Drew starrte ihre Tochter an, und es lag alles mögliche in dem langen Blick. Dann breitete sich ernste Sorge über ihr biederes rundes Gesicht, und sie seufzte ahnungsvoll.

»Da wird man aber schon gehörig aufpassen müssen«, murmelte sie. »In diesen alten Fußböden sind ja so schrecklich viele große Ritzen, und wie leicht kann da so etwas hineinfallen. Das ist dann nicht mehr zu finden, wenn man sich auch noch so absucht ...«

4

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Alf Duncan sah im Straßenanzug genau so fabelhaft aus wie in Frack und weißer Weste, aber als er gegen die Mittagsstunde die Old Bond Street hinunterschlenderte, beschloß er, für seinen äußeren Menschen noch ein übriges zu tun. Er wählte an einem Blumenstand eine halberblühte Rose von dunklem Rot, und nachdem er sie mit großer Sorgfalt im Knopfloch festgesteckt hatte, sah er sich nach einem Taxi um.

»Bishopsgate«, sagte er, und der Chauffeur fuhr mit einem kurzen Nicken los.

Dan Kaye, ein schlichter Mann, der sich in keiner Hinsicht mit Mr. Alf Duncan messen konnte, hatte ganz dasselbe Ziel, und obwohl er bescheiden zu Fuß trottete, kam er eine gute halbe Stunde früher an.

Vor einem Haus in der stillen Seitengasse bekam er es aber mit seiner Schüchternheit zu tun und strich eine ziemlich lange Weile scheu und unschlüssig davor hin und her. In einer so sauberen Gegend und in einem so feinen Bau hatte er bei hellichtem Tage noch nie etwas zu schaffen gehabt, und sein Freund James mußte ein ganz besonderer Bursche sein, daß man hier über ihn etwas erfahren konnte.

An diesen seinen Freund James hatte sich Dan heute morgen erinnert, als er nach der bewegten Wiedersehensfeier mit seinem »lieben, dreckigen, alten London« den ersten nüchternen Augenblick gehabt hatte.

»Wenn du herauskommst, melde dich bei mir«, hatte ihm James an ihrem letzten gemeinsamen Arbeitstag in der verwünschten Tretmühle von Exeter zugeraunt. »Bei Mr. Fielder, Bishopsgate, zweite Gasse rechts, drittes Haus links, wird man dir sagen, wo ich zu finden bin. – Ich glaube, ich werde etwas für dich tun können.«

Das war nun genau fünf Monate her, und wenn James vielleicht auch nicht ganz richtig im Kopf war, das würde er ja wohl nicht vergessen haben. Und schließlich auch nicht, daß der gefällige und geschickte Dan jedes Bleistiftstümpchen und jedes Blättchen Papier in den Kanzleien zusammengeklaut hatte, damit sein Zellennachbar sich mit seinen verrückten Zeichnereien und Schmieragen beschäftigen konnte; und auch jedes Endchen Draht, jedes Stückchen Metall und jeden Streifen Gummi, weil der gute James auf diese Dinge geradezu versessen war.

Je länger Dan sich diese Tage durch den brummenden Schädel gehen ließ, desto zuversichtlicher wurde er. Dieser James war sicher kein lumpiger Windbeutel, der bloß schöne Worte machte, sondern würde für den guten Kameraden wohl wirklich etwas übrig haben. Es mußte ja nur so viel sein, daß man sich in aller Ruhe nach einem Verdienst umschauen konnte. Damit schien es heute allerdings verdammt schlecht bestellt zu sein. Es sollte vorkommen, hatten ihm seine bedrückten alten Freunde anvertraut, daß man sich in so einem aufgetakelten Geschäft die halbe Nacht mit der protzigen Kasse abrackerte und schließlich kaum so viele Schillinge darin fand, als man dabei Jahre riskierte. Daran seien eben die wirklich lausigen Zeiten schuld, und Dan werde schon selbst sehen.

Aber Dan Kaye hatte keine Gelegenheit mehr, selbst zu sehen, denn es war bestimmt, daß er schon in der nächsten Nacht an den verhängnisvollen Schwarzen Meilenstein geraten sollte ...

5

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Daß es so einen seltsamen Meilenstein gab, hörte Dan zum ersten Mal, als er sich endlich in das feine Kontor mit der Tafel »Guy Fielder« geschoben und seine gedrungene Gestalt bescheiden an die Tür geklebt hatte.

An einem großen Schreibtisch saß ein Herr, dem ein Brief arges Kopfzerbrechen verursachte, und vor einem der Fenster klapperte eine Frau unbeirrt auf der Maschine.

Endlich räusperte sich der Herr und wandte sein Gesicht.

Dieses Gesicht mit der niedrigen Stirn und den abstehenden Ohren wirkte im ersten Augenblick älter als es war, weil es die Farbe einer gebleichten Fischhaut hatte. Weder die wulstigen Lippen noch die dünnen Brauen noch das sorgfältig gescheitelte rötlichblonde Haar störten das fahle Einerlei. Auch die gestielten Augen glichen nur zwei verschwommenen Flecken, aber Dan Kaye kroch unter ihrem Blick noch mehr in sich zusammen.

»Man hat mich hierhergewiesen«, krächzte er entschuldigend und beobachtete dann ängstlich, wie der Mann am Schreibtisch sich umständlich zurechtsetzte, ein Bein über das andere schlug und mit den kurzen Fingern zu trommeln begann.

»So – man hat Sie hergewiesen«, ließ sich Mr. Fielder endlich vernehmen, und seine leise, ruhige Stimme war ebenso farblos wie sein Gesicht. »Bringen Sie eine Empfehlung der Anstalt oder eines Vereins?«

Dan schüttelte lebhaft seinen wuchtigen Schädel.

»Nein. – Ich komme wegen James. – Mr. James. Er hat mir gesagt, daß ich hier etwas über seine Bleibe erfahren könnte. Wir waren zusammen in Exeter. – Dan Kaye. – Er wird sich schon erinnern ...«

»Mr. James ...« wiederholte der kleine Mann nachdenklich, indem er seine fleischige Stumpfnase mit Daumen und Zeigefinger heftig bearbeitete. »Wer könnte das sein?«

Er sah fragend zu der Frau an der Schreibmaschine hinüber, aber Miss Reid nahm an der Sache kein Interesse.