Der schwarze Stern (Kriminalroman) - Sven Elvestad - E-Book

Der schwarze Stern (Kriminalroman) E-Book

Sven Elvestad

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Beschreibung

Dieses eBook: "Der schwarze Stern (Kriminalroman)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Sven Elvestad (1884 - 1934) war ein norwegischer Journalist und Schriftsteller, der fast 100 Kriminalromane veröffentlicht hat, bei denen der norwegische Ex-Polizist Asbjørn Krag als Privatdetektiv auftritt. Sven Elvestad ist Begründer des norwegischen Kriminalromans. Aus dem Buch: "Was Asbjörn Krag in der großen Stadt am meisten interessierte, hatte er zum größten Teile gesehen. Schon gleich nach seiner Ankunft war er mit den Mitgliedern des norwegischen Generalkonsulats zusammengetroffen, die ihn durch Kunstsammlungen und Gemäldegalerien führen wollten. Darum war ihm aber nicht zu tun. Mit größtem Interesse studierte er dagegen alles, was mit dem Polizei- oder Gefängniswesen zu tun hatte."

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Sven Elvestad

Der schwarze Stern (Kriminalroman)

Übersetzer: Julia Koppel

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-0852-7

Inhaltsverzeichnis

Die Verhaftung
Der hohe Gast
Nur in diesem Buch werden Sie Rettung finden
Was der Norweger erlebte
Ein Robinson auf dem Gefängnisdach
Das Gesicht hinter dem Gitter
Der Gelehrte
Das unbekannte Luftschloß
Das Frühstück auf dem Gefängnisdach
Der Dritte
Das brennende Schiff
Die redenden Mauern
Die Hände
Vor dem Aufruhr
Die Aufrührer
Der letzte Schuß

Die Verhaftung

Inhaltsverzeichnis

Was Asbjörn Krag in der großen Stadt am meisten interessierte, hatte er zum größten Teile gesehen. Schon gleich nach seiner Ankunft war er mit den Mitgliedern des norwegischen Generalkonsulats zusammengetroffen, die ihn durch Kunstsammlungen und Gemäldegalerien führen wollten. Darum war ihm aber nicht zu tun. Mit größtem Interesse studierte er dagegen alles, was mit dem Polizei- oder Gefängniswesen zu tun hatte. Er suchte Verbindungen innerhalb des Detektivkorps anzuknüpfen, wo er sich auch mehrere gute Freunde erwarb. Gar manche Nacht verbrachte er im Büro der Kriminalpolizei, war bei Verhaftungen zugegen, nahm an den Streifzügen durch die berüchtigten Verbrecherkneipen der Stadt teil, patrouillierte mit den Polizisten durch die dunkelsten und unheimlichsten Viertel und durchstreifte die Gefängnisse.

Besonders das Gefängnis nahm sein ganzes Interesse in Anspruch. Der Ort besaß das größte Gefängnis der Welt. Sein volkstümlicher Name war ›Der Schwarze Stern‹. Das ursprüngliche Gebäude war etwa hundert Jahre alt. Es bestand aus einem achteckigen Turm, den die weisen Stadtväter vor hundert Jahren auf einem Felsen in der Nähe der damals noch nicht sehr großen Stadt hatten aufführen lassen. Drohend lag es dort oben, der Bevölkerung zur Warnung. Je nachdem die Stadt mit riesenhafter Schnelligkeit wuchs, wurde es notwendig, den Turm auszubauen und zu erweitern, so daß er schließlich eine recht ansehnliche Höhe erreichte. Diese Anbauten gingen von dem ursprünglichen Bau strahlenförmig aus; dadurch entstand ein sternförmiger Gebäudekomplex, der von einer hohen, unübersteigbaren Ringmauer umgeben war. Selbst im hellsten Tageslicht hatte dies Bauwerk ein unheimliches und drohendes Aussehen; daher war es ganz von selbst gekommen, daß es den bezeichnenden Namen ›Der Schwarze Stern‹ bekommen hatte. Man erzählte Asbjörn Krag, daß das Gefängnis zurzeit von achttausend Gefangenen belegt sei. Innerhalb der Gefängnismauer befand sich die Richtstätte, wo vor Zeiten die Menschen mit dem Beil des Scharfrichters hingerichtet wurden, später durch den Strang und schließlich mittels Elektrizität.

All dieses bekam Asbjörn Krag zu sehen. Und noch vieles mehr. Mit glühendem Interesse studierte er die höhere Polizeiverwaltung, durchsuchte die Archive und gewann einen Ueberblick über die Verbrecherstatistik. Als er seine Studien endlich beendet hatte, rühmte er sich, nicht ein einziges Gemälde gesehen noch irgendein Museum aufgesucht zu haben.

Die letzten Tage seines Aufenthaltes wollte er jedoch dazu benutzen, das Volksleben kennen zu lernen, Typen und Gesichter im Riesenverkehr der Straßen und in der raucherfüllten Luft der Cafes zu studieren; dies war ihm schon immer eine Lieblingsbeschäftigung müßiger Stunden gewesen.

Sehr oft sah man ihn in Begleitung seines Freundes, des Kapitäns. Eines Abends verbrachten sie ihre Zeit in einem kleinen Cafe am Hafen, einem Lokal, in welchem man recht verschiedenartige Individuen antraf: Kleinbürger, Heuerbase und Seeleute.

Krag hatte gerade sein Glas an die Lippen gesetzt, als er den Kapitän am Aermel zupfte.

»Siehst du den jungen Mann, der eben zur Tür hereinkam und jetzt dort am Büfett steht?«

»Jenen, der seinen Hut tief in die Stirn gezogen hat und der im übrigen recht verkommen aussieht?«

»Jawohl. – Ich wette, er ist Norweger.«

»Ich glaube.«

Asbjörn Krag erhob sich und begab sich ans Büfett, wo der Mann gerade im Begriff war, mit zitternder Hand ein Glas Brandy an die Lippen zu führen.

Krag schlug ihn auf die Schulter.

»Hallo!«

Der andre fuhr zusammen, so stark und plötzlich, daß Krag sein Erstaunen nicht verbergen konnte.

»Nun, alter Freund,« sagte der Detektiv, »kennst du mich nicht?«

Es dauerte eine ganze Weile, bevor der andre seine Sprache wiederfand; dann ergriff er mit großer Wärme Asbjörn Krags Hand und sagte:

»Tod und Teufel! Du bist es! Mir wurde himmelangst.«

Krag blickte ihn scharf an.

»Komm mit an unsern Tisch«, sagte er. »Ich sitze dort mit dem Kapitän meines Schiffes.«

Anfangs war der junge Mann nicht recht damit einverstanden; Asbjörn Krag nötigte jedoch so lange, bis er schließlich nachgab. Dann machte er ihn mit dem Kapitän bekannt. Sein Name war Harald Vik.

Vik setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, an den Tisch. Es fiel Krag auf, daß er seinen Hut noch tiefer in die Stirn drückte, so daß er den Eindruck hatte, als wollte sein Gast seine Gesichtszüge verbergen. Krag erzählte ihm von seiner Heimat und von seinen Eltern, die ihm bekannt waren und denen er noch kurz vor seiner Abreise begegnet war. Nicht ohne Bewegung schien der andere seiner Erzählung zuzuhören.

»Was machst du jetzt?«

»Nichts!«

»Hast du deine Studien denn gänzlich aufgegeben.«

»Ja, endgültig.«

»Du gingst doch damals als hoffnungsvoller Ingenieur hinüber, um dich hier weiterzubilden.«

Mißmutig schüttelte Vik den Kopf.

»Ich merkte, daß es für mich doch nicht das Rechte war«, entgegnete er.

»Ja, du warst schon immer recht wankelmütig und schwärmerisch. Wo wohnst du?«

Anstatt hierauf zu antworten, fragte er: »Du bist doch Detektiv in Christiania; was machst du denn eigentlich hier?«

»Ich bin auf einer Vergnügungsreise.«

»Ausschließlich Vergnügungsreise? Keine Geschäftsreise, meine ich.«

»Nein.«

Wiederum blickte Asbjörn Krag ihn scharf an, dann sagte er:

»Als ich dich vor einem Augenblick dort am Büfett begrüßte, benahmst du dich so merkwürdig.«

»Es war ja eine unerwartete Begegnung.«

»Ja, aber du sagtest doch selbst, daß dir himmelangst wurde. Was meintest du damit?«

Der andre begann auffallend unruhig zu werden.

»Außerdem fuhrest du sichtlich zusammen,« fuhr Krag fort; »das pflegt man nicht zu tun, wenn man eine Hand auf der Schulter verspürt; es sei denn –«

»Nun?«

»Wenn zum Beispiel gleichzeitig gesagt wird: Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!«

Asbjörn Krag erschrak fast, als er sah, wie blaß der junge Mann plötzlich wurde. Den Mund verzog er zu einer schmerzverzerrten Grimasse, und eine unheimliche, aschgraue Blasse verfärbte sein Antlitz. Sofort wußte der angesehene Detektiv, daß Ernsthaftes im Anzuge war. Dem Kapitän gab er einen leisen Wink, den dieser gleich verstand; er leerte sein Glas und verabschiedete sich. Harald Vik wollte auch aufbrechen; Krag hielt ihn jedoch zurück.

»Ich habe ein ernstes Wort mit dir zu reden«, sagte er. »Was in aller Welt hast du gemacht, seitdem du vor fünf Jahren herüberkamst? Hast du irgendeine Tollheit gemacht? Du hast doch kein Verbrechen begangen?«

Der andre schüttelte den Kopf.

»Wäre ich nur wieder zu Hause«, flüsterte er.

»Aha, so steht's mit dir.«

»Ich habe kein Verbrechen begangen,« sagte Vik schnell. »Dennoch werde ich verfolgt.«

»Von der Polizei?«

»Vertrau' dich mir an. Vielleicht kann ich dir helfen.«

Aengstlich ergriff er Krags Hand.

»Nein, um Gottes willen, nein! Vorläufig kannst du in der Sache nichts tun. Um eines bitte ich dich aber: im entscheidenden Augenblick – du wirst schon selbst gewahr werden, wann er da ist – dann tu alles, was in deiner Macht steht, um mich zu retten. Ich kenne deine Tüchtigkeit, du bist genial – –«

Er erhob sich. Krag wollte ihn veranlassen, wieder Platz zu nehmen; der Unglückliche schob ihn jedoch zur Seite.

»Wenn du es wirklich gut mit mir meinst,« sagte er mit flehendem Blick, »dann folge mir jetzt nicht. Es würde mich augenblicklich ins Verderben bringen.«

Die Antwort wartete er gar nicht ab, nickte Krag fast geistesabwesend zu und verließ das Lokal.

Asbjörn Krag war allein zurückgeblieben. Das, was er eben erlebt hatte, machte ihn nicht wenig verwirrt. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß etwas Ernsthaftes nahe bevorstehe, ehe er sich ziemlich niedergeschlagen an Bord des Dampfers begab. Er besprach die Angelegenheit mit dem Kapitän, und sie kamen überein, sich am nächsten Tag in die Stadt zu begeben, um möglicherweise den jungen Vik aufzustöbern.

In dieser Nacht schlief Asbjörn Krag schlecht, weshalb er auch am andern Morgen schon gegen halb sechs Uhr aufstand. An den endlos langen Kais war die Arbeit schon im vollen Gange. Durch den ohrenbetäubenden Lärm hindurch hörte man den gellenden Ruf der Zeitungsverkäufer. Er erstand eine Handvoll Zeitungen, um die Zeit bis zum Frühstück mit Lesen hinzubringen. Gleichgültig ließ er den Blick über die Spalten gleiten. Plötzlich fesselte eine kleine Notiz seine Aufmerksamkeit. Dort stand, daß der bekannte europäische Politiker und Staatsmann X... auf seiner Reise um die Welt in dieser Stadt angekommen sei. Asbjörn Krag kannte diese Größe; er hatte den berühmten Mann einst im Sommer in Norwegen kennen gelernt und Gelegenheit gehabt, ihm einen Dienst zu erweisen, nur eine kleine Gefälligkeit – einen entwendeten Brief hatte Krag wieder herbeigeschafft. Nachdenklich wendete er das Blatt. Da fiel sein Blick sofort auf die Sensation des Tages, deren riesenhafte Ueberschrift ihm in die Augen sprang:

Gefährliche Verschwörung entdeckt.

Mehrere Verhaftungen

Fieberhaft durchflog Asbjörn Krag den Artikel: Die Polizei hatte schon lange Verdacht geschöpft, daß eine revolutionäre Organisation im Entstehen begriffen sei ... anarchistischen Charakters ... Proselyten im Kreise der Gebildeten ... meist unerfahrene, schwärmerische junge Menschen ... auch Frauen ... unter Leitung des bekannten Anarchisten Crawbury, bekannt aus dem Mac-Kinley-Prozeß ... gefährliche Verschwörung beschlossen ... Bomben, viele Waffen ... unsere tüchtige Polizei hat's aufgedeckt, usw. Besonders ausgezeichnet hat sich der Kriminalwachtmeister Hawkins ... Bisher fünf Verhaftungen ...

Mit erhöhtem Interesse las Krag: Unter den Verhafteten befindet sich der Führer ... guter Fang ...

Drei bis vier Namen las er eilig; dann stand folgendes da:

»Ferner ist ein junger Mann, Harold Wigh, verhaftet; vermutlich skandinavischer Herkunft. Vor fünf Jahren soll er in Amerika eingewandert sein. Derselbe hat an der Verschwörung zwar nicht aktiv teilgenommen, ist jedoch stark kompromittiert. Sämtliche Verhafteten sind im ›Schwarzen Stern‹ eingeliefert.«

Langsam faltete Asbjörn Krag die Zeitung zusammen. Er sagte sich sofort, daß Harold Wigh eine Amerikanisierung des Namens Harald Vik, seines norwegischen Freundes, sei.

»Armer Freund«, murmelte er vor sich hin. »In dieser Weise bist du also auf Abwege geraten.«

In diesem Moment erschien der Kapitän an Deck. Krag erklärte ihm die Sachlage.

Auch der Kapitän war von der Mitteilung ganz ergriffen.

»Habe ich es mir nicht sofort gedacht,« sagte er, »daß die Polizei hinter ihm her ist? Das wird für den jungen Norweger noch eine ernste Geschichte werden.«

»Aeußerst ernst. So kurz nach der Ermordung MacKinleys sind die Amerikaner nicht aufgelegt, in derlei Angelegenheiten mit sich spaßen zu lassen. Kurz gesagt: Für ihn ist's aus; er ist fertig.«

Der Kapitän seufzte und starrte zur Stadt hinüber. Dort erhob sich ›Der Schwarze Stern‹ aus dem unendlichen Steinmeer der Häuser, gleich einer düsteren, drohenden Nebelwolke.

»Ich bin fest davon überzeugt,« sagte Asbjörn Krag ruhig, »daß nur jugendliche Ueberspanntheit ihn dorthin gebracht hat, wo er sich jetzt befindet.«

Der Kapitän zuckte mit den Achseln.

»Mag sein. Die Amerikaner verstehen dergleichen aber nicht; verloren ist er auf jeden Fall.«

»Wenn ihm niemand zu Hilfe kommt.«

Ueberrascht blickte der Kapitän den Detektiv an.

»Er ist Norweger«, fuhr Krag fort.

»Das wird ihm nicht viel nützen.«

»Außerdem habe ich altes Unrecht an ihm gutzumachen.«

»Sag' mal, Krag,« rief der Kapitän aus, »glaubst du wirklich an die Möglichkeit, ihn zu retten?«

»Kein Ding ist unmöglich«, erwiderte der Detektiv. »Ich übernehme es, selbst aus dem stärksten Gefängnis jemand zu befreien, wenn ich nur genügend Zeit zur Verfügung habe. Wann fährt der Dampfer ab?«

»Heute nachmittag um sechs.«

»Das ist zu früh. Du mußt noch zwölf Stunden warten. Eine Flucht aus dem ›Schwarzen Stern‹ läßt sich nicht an einem halben Tage bewerkstelligen.«

»Willst du es tatsächlich versuchen, diese Ungesetzlichkeit zu begehen?«

»Ja.«

»Es könnte aber ernste Folgen haben.«

»Ich bin doch kein Schafskopf. Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Also: willst du zwölf Stunden warten?«

»Wenn ich nun nein sage?«

»Dann gehe ich sofort an Land. Ich bin jetzt entschlossen, den Versuch zu machen.«

Der Kapitän blickte Asbjörn Krag an. Er kannte seinen Freund.

»Gut,« sagte er, »ich warte noch zwölf Stunden.«

»Danke«, war die Antwort.

Der Detektiv faßte den Kapitän unter und schlenderte mit ihm übers Deck.

»Nun wollen wir frühstücken,« fuhr er fort, »wir haben ein anständiges Tagewerk vor uns.«

Dem Kapitän kam es vor, als sei Krag ein ganz anderer Mensch geworden. Er war viel froher; sein Gesicht strahlte vor Energie und Mut.

Nun war Asbjörn Krag wieder in Tätigkeit.

Der hohe Gast

Inhaltsverzeichnis

Beim Frühstück schnitt der Kapitän das Thema wieder an.

»Wäre es nicht das beste, wenn du dich an den Konsul wendetest?« fragte er.

»Das hat absolut keinen Zweck«, antwortete Asbjörn Krag. »Schon die erste Bitte des Konsuls, den verhafteten Norweger aus der Haft zu entlassen, würde einen Sturm des Unwillens über eine solche Einmischung hervorrufen.«

»Wie denkst du es dir denn, ihn aus dem ›Schwarzen Stern‹ zu befreien?«

»Wie ich dir schon gesagt habe: Ich werde ihm zur Flucht verhelfen.«

»Das wird dir nie gelingen.«

»Es soll mir gelingen. Bist du ängstlich?«

»Nein,« entgegnete der norwegische Kapitän, »nicht, wenn du der Anführer bist. Hast du schon einen Plan?«

»Ja; aber allein kann ich ihn nicht ausführen.«

»Du kannst auf mich zählen.«

»Dank dir, alter Freund; ich hab's wohl gewußt. Mir fehlt aber noch ein Mann.«

Der Kapitän dachte nach.

»Acht meiner Leute sind Norweger.«

»Ich kenne sie alle,« entgegnete Krag, »und ich weiß bestimmt, daß jeder einzelne unter ihnen das Abenteuer gern mitmachte; ganz besonders, wenn es sich um einen Landsmann handelt. Ich muß aber einen haben, der die Sprache beherrscht.«

»Dann schlage ich John, den zweiten Steuermann, vor«, sagte der Kapitän, indem er schellte. »Er ist ein prächtiger Mensch. Mehrere Jahre war er an Bord einiger Millionärsjachten.«

Nach wenigen Minuten stand der zweite Steuermann in der Kajüte.

»Setzen Sie sich,« sagte der Kapitän, »und langen Sie zu. Wir haben etwas mit Ihnen zu bereden.«

John war sofort einverstanden, als er vernahm, um was es sich handelte. Er war ganz glücklich darüber, am Abenteuer teilnehmen zu dürfen; gleichzeitig war er aber auch verblüfft über die unerhörte Dreistigkeit des Planes. Eine ganz verteufelte Sache!

Es war bezeichnend, daß weder der Kapitän noch der Steuermann auf den Gedanken kam, zu fragen, welche Rolle sie denn in diesem Abenteuer zu spielen hatten. Sie verließen sich auf Krag und überließen ihm unwillkürlich alles.

Nach beendetem Frühstück begab sich Asbjörn Krag in den ihm angewiesenen Raum, wo er einige Minuten lang herumrumorte. Als er wieder aus der Kajüte heraustrat, trug er einen schwarzen Kasten in der Hand. Diesen Kasten legte er auf den Tisch. Während er ihn aufschloß, sagte er:

»Bei meiner Abreise aus Christiania hatte ich es im Gefühl, daß ich in irgendeine Sache mit hineingezogen würde. Aus Klugheitsgründen nahm ich diesen Kasten mit. Niemals darf er fehlen, wenn Asbjörn Krag helfend eingreifen soll.«

Mit hörbarem Ruck gab das Schloß nach; der Kasten war geöffnet. Neugierig betrachteten Kapitän und Steuermann das Ding.

»Man möchte glauben,« sagte der Steuermann, »ja, man möchte glauben, Sie wären Einbrecher und nicht Detektiv.«

Asbjörn Krag lachte laut auf.

Der Kasten war ziemlich groß, größer als ein gewöhnlicher Handkoffer, und besaß zwei Fächer. Aus dem einen Fache glänzten ihnen verschiedene Werkzeuge entgegen. Da waren Bohrer in allen Dimensionen, von der Größe einer Stopfnadel bis zur Länge etwa eines halben Meters. Da waren die verschiedensten Arten Schlüssel, Dietriche und Geräte zum Sprengen von Schlössern, Messer, Brecheisen usw.; sogar ein Diamant zum Glasschneiden fehlte nicht, ebensowenig eine Kruke Teer, um die Scheiben einzuschmieren, damit sie keinen Lärm machten, wenn Asbjörn Krag im Sinn hatte, ein Fenster zu zerschneiden.

Krag nahm zwei schmale, flache Werkzeuge aus Stahl aus dem Kasten; einen Bohrer und eine langgezähnte Säge.

»Diese Dinge«, sagte er, indem er die Gegenstände in der Hand wog, »sind aus dem härtesten Stahl hergestellt, der sich in den Essener Stahlwerken auftreiben ließ.«

»Was willst du damit?« fragte der Kapitän interessiert.

»Was ihr hier seht,« entgegnete der Detektiv, »soll noch vor Dunkelwerden im Besitz des verhafteten Norwegers Harald Vik sein.«

»Wie willst du das anfangen?«

»Das ist eine Kleinigkeit.«

Der Kapitän lächelte.

»Warum lachst du?« fragte Krag.

»Ich lache bei dem Gedanken, daß gerade der tüchtigste Polizeibeamte Norwegens dies in Szene setzt.«

Nun wurde Krag jedoch ernst.

»Bitte, merke dir,« sagte er, »daß ich erstens kein Angestellter der Polizei Christianias bin. Ich betätige mich privatim. Nicht als Polizeibeamter bin ich Detektiv, sondern aus Interesse an dem Fach an sich und der Spannung, die damit verbunden ist. Mehrfach schon habe ich den Interessen der Polizei entgegengearbeitet, bloß um Leuten aus der Klemme zu helfen. Außerdem bin ich überzeugt, daß der verhaftete Norweger nur durch die Ueberspanntheit seines Naturells in die unheilvolle Affäre hineingezogen worden ist, ohne eigentlich darüber nachzudenken, auf welch verhängnisvollen Wegen er sich befand. Und dann«, schloß Krag, indem er den Deckel des Kastens zuklappte, »suche ich Spannung und Erregung, wo ich sie finde. Vier Monate sind es nun her, seit ich tätig war. Ich habe mich in letzter Zeit furchtbar gelangweilt.«

Der Detektiv sah nach der Uhr.

»Die Uhr ist schon zehn,« sagte er. »Soll es uns gelingen, den Unglücklichen noch vor zwölf Uhr heute nacht aus dem Gefängnis zu befreien, so müssen wir gleich ans Werk gehen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Gib uns deine Befehle«, sagte der Kapitän.

»Nun denn,« entgegnete Krag, »Sie, Steuermann, bleiben vorläufig an Bord; der Kapitän geht mit mir.«

Krag betrachtete den Kapitän.

»Deine Kleidung ist unmöglich«, sagte er. »Joppenanzug wäre angebracht. Zieh dich bitte um.

Der Kapitän nickte.

»Es wird mir ein Vergnügen sein«, gab er zur Antwort.

Das Umkleiden war schnell besorgt. Als der Kapitän jedoch seine Kajüte verließ, machte ihn Asbjörn Krags verändertes Aussehen stutzig. Der jetzt vor ihm stand, war nicht mehr der norwegische Detektiv, sondern ein angejahrter Gentleman, dem Anschein nach ein Diplomat. Bart und Koteletten waren ergraut; im Knopfloch trug er ein Ordensbändchen.

»Donnerwetter!« rief der Kapitän. »Heut spielen wir wohl den noblen Herrn?«

Krag zog eine Morgenzeitung aus der Tasche und las den Artikel, der am Morgen seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte, laut vor. Es war die Neuigkeit von der Ankunft des bekannten Politikers X. in der Stadt, auf seiner Reise um die Welt.

»Ich bin also jetzt der berühmte Diplomat«, sagte der Detektiv.

Der Kapitän blickte ihn ganz verdutzt an.

»Und welche Rolle habe ich dann zu spielen?« fragte er.

»Du bist mein Sekretär.«

»Großartig! Nun geht mir ein Licht auf. Der berühmte Diplomat und sein Sekretär werden das Gefängnis aufsuchen.«

»Eben.«

»Wenn aber nun der wahre hohe Herr von der Sache erfährt, was dann?«

»Dann werde ich ihn sehr bald dadurch zum Schweigen bringen, daß ich ihm sage, wer ich bin. Ich habe ihm einst, als er durch Norwegen reiste, einen Dienst erwiesen. Es handelte sich um einen abhanden gekommenen Brief von größter Wichtigkeit. Sieh dir diese Brillantnadel an, Kapitän.«

»Ein prachtvolles Exemplar.«

»Ich habe sie von ihm. Jedes Jahr erkundigt er sich durch die offizielle Vertretung seines Landes nach meinem Befinden. Sollte sich irgend etwas Unangenehmes ereignen, so kann ich auf ihn rechnen.«

Der Kapitän war jetzt ganz im Bilde.

»Natürlich müssen wir in einem der ersten Hotels Wohnung nehmen«, meinte er.

»Selbstverständlich! Er wohnt im Savoy-Hotel, folglich werden wir auch dort wohnen. Während du dich umzogst, habe ich telephonisch Zimmer bestellt. Im Hotel halten sie uns für zwei vornehme Franzosen, die per Automobil von irgendeiner benachbarten Stadt kommen.«

»Aber das Automobil?«

»Das können wir uns überall mieten.«

Eine halbe Stunde später hielt vor dem Hotel ein prächtiges, grünes Auto. Feierlichst entstiegen Asbjörn Krag und der Kapitän dem Wagen; kaum daß sie die herbeieilenden Angestellten und Portiers anblickten. Sofort wurden die Herren in ihre Zimmer geführt – zwei große Räume im zweiten Stock –, die täglich hundert Dollar kosteten.

»Wir beabsichtigen, heute abend dem Melba-Konzert beizuwohnen,« sagte Krag zum Portier, dem er eine Fünfhundert-Dollar-Note gab, »sorgen Sie dafür, daß wir Eintrittskarten bekommen.« Ohne ihn einer Antwort auf seine Frage nach dem Preise der Karten zu würdigen, fertigte Krag den Portier ab.

Die Herren begaben sich in die Gartenanlagen des Hotels, um die Musik zu genießen. Krag erkundigte sich nach dem europäischen Diplomaten. Ob er aufgestanden sei?

»Schon seit langem«, lautete die Auskunft. »Exzellenz sind augenblicklich beim Gesandten.«

»Und sein Sekretär?«

»Ist auch beim Gesandten.«

»Das Glück ist mit uns«, flüsterte Krag dem Kapitän zu, nachdem der Kellner gegangen war.

Der Kapitän genoß die herrliche Musik, die von einem verborgenen Orchester über den Garten flutete, mit ganzer Hingabe. Als er sich nach Beendigung des Stückes mit einer Frage an Krag wenden wollte, war dieser verschwunden. Der Kapitän blieb ruhig sitzen. Er hatte es aufgegeben, sich über Krag zu wundern.

Nach etwa einer Viertelstunde kehrte der Detektiv zurück.

»Das wäre nun besorgt«, sagte er.

»Was ist besorgt?«

»Der Direktor des Gefängnisses ist von unserer Ankunft unterrichtet.«

»Durch einen gewöhnlichen Brief?«

»Ja, aber auf dem Briefbogen Seiner Exzellenz mit der Grafenkrone auf dem Umschlag.«

»Wie in aller Welt bist du dazu gekommen?«

»Du hörtest ja, daß Seine Exzellenz fortgegangen sei.«

»Ja, aber –«

»Das versteht sich doch wohl von selbst, daß ich seinen Gemächern dann einen Besuch abstattete.«

»Du wagst ein gefährliches Spiel.«

»Ja,« entgegnete Krag, »aber auch nur dann fallen einem die großen Gewinne zu.« Er sah nach der Uhr.

»Elf Uhr,« sagte er leise, »um zwölf Uhr müssen wir im Gefängnis sein. Wir haben noch etwas Zeit bis dahin. Komm, wir wollen die Musik genießen.«

Herrlich war die Fahrt, die die beiden Norweger durch die sonnenbeschienenen Boulevards und Straßen der großen Stadt machten. Behende lenkte der Führer den mächtigen Kraftwagen durch den stets weitergleitenden Millionenverkehr, dessen Lärm und Leben die beiden Insassen die ernste Aufgabe vergessen ließ, die sie sich gesetzt hatten. Präzise zwölf hielt das Auto vor dem ungeheuren Gefängnis, dessen mächtige, feuchte Mauern die Luft ringsumher noch kälter zu machen schienen.