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Kaum in der Jin-Hauptstadt Zhongdu angekommen, erfährt der tapfere Kung-Fu-Kämpfer Guo Jing nicht nur die Wahrheit über den gewaltsamen Tod seines Vaters, sondern findet auch noch heraus, dass er gegen seinen Willen gleich zwei Frauen versprochen ist. Dabei gehört sein Herz doch der schönen Rebellin Huang Rong! Gemeinsam mit ihr macht er sich auf die gefährliche Reise durch China, um das seit Langem verschollene Buch Der Wahre Weg der Neun Yin zu finden. Mit dieser Schrift kann jeder Kung-Fu-Künstler unbesiegbar werden, und sollte sie in den falschen Händen landen, wäre das Schicksal des ganzen Reiches besiegelt ...
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Seitenzahl: 742
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das Buch
Nach vielen Abenteuern ist der tapfere Kung-Fu-Kämpfer Guo Jing endlich in Zhongdu, der Hauptstadt des Jin-Reiches, angekommen. Dort erfährt er nicht nur die Wahrheit über den Tod seines Vaters, der einst von Jin-Soldaten ermordet wurde, sondern auch, dass er gegen seinen Willen versprochen wurde – und zwar nicht nur einer, sondern gleich zwei Frauen. Guo Jings Herz gehört allerdings keiner von beiden, das hat er schon vor Langem an die zauberhaft schöne Huang Rong verloren. Um den Tod seines Vaters zu rächen, macht sich Guo Jing zusammen mit seiner großen Liebe auf die Suche nach einem geheimnisvollen Buch, das seit vielen Jahrzehnten verschwunden ist und das angeblich das Geheimnis der Unbesiegbarkeit. Ihre Reise führt die beiden schließlich auf die Pfirsichblüteninsel, auf der der Alte Ketzer, einer der größten Kung-Fu-Meister aller Zeiten, lebt. Auf der Insel muss Guo Jing allerdings feststellen, dass Huang Rong so einige Geheimnisse vor ihm verborgen hält, und dass Kung-Fu-Kämpfer aus allen Teilen Chinas inzwischen Jagd auf Der wahre Weg der Neun Yin machen. Für Guo Jing geht es also um nichts Geringeres als seine Familienehre, die Liebe seines Lebens und das Schicksal des ganzen Reiches.
Der Schwur der Adlerkrieger ist die packende Fortsetzung zu Jin Yongs epischer Fantasy-Saga, die seit ihrem Erscheinen Generationen von Leserinnen und Lesern in ganz Asien begeistert und inzwischen zu den großen Klassikern der modernen chinesischen Literatur zählt.
Der Autor
Jin Yong wurde 1924 in Haining, China, geboren. Er studierte kurze Zeit an der »Zentralen Politischen Hochschule« in Chongqing und war anschließend als Übersetzer und Zeitungsredakteur tätig. 1955 veröffentlichte er seinen ersten Roman, dem noch viele weitere folgen sollten. Jin Yongs Hauptwerk Die Legende der Adlerkrieger hat sich über 100 Millionen mal verkauft, wurde mehrfach verfilmt sowie in zahlreiche Sprachen übersetzt und gilt in China als Meilenstein der Kungfu-Literatur. In Hongkong gibt es sogar ein eigenes Jin-Yong-Museum. Der Autor starb 2018 im Alter von 94 Jahren in Hongkong.
»Voller Action und brillanter Figuren – Fantasy-Fans werden diesen Klassiker des Genres lieben!«
BOOKLIST
»Jin Yongs Werk begeistert seit Generationen Millionen von Lesern.«
BBC
Jin Yong
DER SCHWUR DERADLERKRIEGER
Roman
Aus dem Chinesischen übersetztund mit einem Glossar von Karin Betz
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der chinesischen Originalausgabe:
射雕英雄傳 2
Shediao yingxiong zhuan 2
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Deutsche Erstausgabe 09/2021
Redaktion: Kristof Kurz
Copyright © 1959, 1976, 2003 by Jin Yong (Louis Cha)
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e. V.für die großzügige Unterstützung ihrer Arbeit durch ein Stipendium.
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München,unter Verwendung einer Illustration vonMing Ho Publications Corporation Limited and Lee Chi Ching
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-23798-1V001
www.heyne.de
Inhalt
Personenverzeichnis
1 Qiu Chujis Niederlage
2 Die Reue des stolzen Drachen
3 Der Krüppel von den Fünf Seen
4 Der Herr der Pfirsichblüteninsel
5 Der Drache peitscht mit dem Schwanz
6 Der wahre Weg der Neun Yin
7 Das Duell der Hände
8 Die drei Prüfungen
9 Ein Meer von Haien
Glossar
Guo Jing, Sohn von Guo Xiaotian und Li Ping; aufgewachsen im Klan von Dschingis Khan in der Mongolei; Schüler der Sieben Sonderlinge des Südens
Huang Rong, Tochter von Ketzer des Ostens Huang Yaoshi und gewitzte Kung-Fu-Kämpferin
Wanyan Kang (Yang Kang), Sohn Yang Tiexins und Bao Xiruos; aufgewachsen als Adoptivsohn des Jin-Prinzen Wanyan Honglie
Mu Nianci, Adoptivtochter Yang Tiexins
Guo Xiaotian, Nachfahre von Guo Sheng (einem der legendären Räuber vom Liangshan-Moor)
Yang Tiexin, Schwurbruder Guo Xiaotians, Nachfahre des Helden Yang, der unter General Yue Fei gedient hat
Bao Xiruo, Yang Tiexins Frau, Mutter von Yang Kang
Li Ping, Guo Xiaotians Frau, Mutter von Guo Jing
Ke Zhen’e, der Bezwinger allen Übels, genannt Fliegende Fledermaus
Zhu Cong, der Gelehrte, genannt Wunderhand
Han Baoju, der Reiterkönig, genannt Hüter der Ställe
Nan Xiren, der Holzhacker, genannt Holzfäller der südlichen Berge
Zhang Asheng, der Metzger, genannt Lachender Buddha
Quan Jinfa, der Herrliche, genannt Heimlicher Held des Marktplatzes
Han Xiaoying, die Fischerin, genannt Meisterin des Yue-Schwerts
Wang Chongyang, Magier der Mitte
Huang Yaoshi, Ketzer des Ostens
Ouyang Feng, Gift des Westens
Hong Qigong, Bettler des Nordens
Duan Zhixing, König des Südens
Wang Chongyang, Magier der Mitte, genannt Zweifache Sonne; einer der fünf Großmeister des Jianghu, Begründer der Quanzhen-Kung-Fuschule der Daoisten
Zhou Botong, genannt Alter Kindskopf; Nachfolger Wang Chongyangs
Die Sieben Jünger der Quanzhen-Schule:
Ma Yu, genannt Zinnoberrote Sonne
Tan Chuduan, genannt Ewige Wahrheit
Qiu Chuxuan, genannt Langes Leben
Qiu Chuji, genannt Ewiger Frühling
Wang Chuyi, genannt Jadesonne
Hao Datong, genannt Große Ruhe
Sun Bu’er, genannt Wandelnde Klarheit
Huang Yaoshi, Ketzer des Ostens; einer der fünf Großmeister des Jianghu
Seine Schüler:
Mei Chaofeng, genannt Eisenleiche
Chen Xuanfeng, genannt Kupferleiche
(zusammen bekannt als die Zwillingsmörder der Dunklen Winde)
Qu Lingfeng
Lu Chengfeng
Wu Baifeng
Feng Qianfeng
Hong Qigong, der Bettler des Nordens, Hauptmann des Bettlerklans
Li Sheng, der Schlangenkönig des Ostufers
Gutsherr Lu Chengfeng, genannt Krüppel von den Fünf Seen; Gelehrter und Herr des Wanderwolkenpalasts
Lu Guanying, Sohn von Gutsherr Lu; Schüler der buddhistischen Shaolin-Schule; Befehlshaber der Piraten des Tai-Sees
Temüjin, der Große Khan, später Dschingis Khan
Tolui, vierter Sohn des Khans; Schwurbruder (Anda) Guo Jings
Khojin, Tochter des Khans
Jebe, einer der Generäle Dschingis Khans; berühmter Bogenschütze
Borokhul, einer der Generäle Dschingis Khans
Wanyan Honglie, der Sechste Prinz von Jin, Titel König Zhao
Wanyan Kang, Adoptivsohn Wanyan Honglies
Ouyang Ke, Meister vom Weißen Kamelhügel; Neffe von Gift des Westens Ouyang Feng
Sha Tongtian, der Drachenkönig vom Dämonentor
Hou Tonghai, der Dreigehörnte Drache
Liang Ziweng, der Ginseng-Unsterbliche
Peng Lianhu, der Metzger der tausend Hände
Lobsang Choden Rinpoche, Lama Ewige Weisheit
Qiu Qianren, genannt Wasserwandler mit der Eisenfaust
Die vier Dämonen des Gelben Flusses, Schüler Sha Tongtians:
Shen Qinggang, genannt Seelensäbel
Wu Qinglie, genannt Todesspeer
Ma Qingxiong, genannt Teufelspeitsche
Qian Qingjian, genannt Unheilsaxt
射雕英雄傳
长春服输
1
Qiu Chujis Niederlage
»Jetzt entkommst du uns nicht mehr, elender Lustmolch!«, rief der peitschenschwingende Dickwanst.
Guo Jing erkannte die Stimme sofort. »Dritter Meister! Hilf mir!«
Nachdem die Sechs Sonderlinge sich in Kalgan von Guo Jing getrennt hatten, waren sie den acht Frauen vom Weißen Kamelberg, deren Pläne sie in der Herberge belauscht hatten, dicht auf den Fersen geblieben. In derselben Nacht fanden sie heraus, dass es sich bei ihnen um Konkubinen von Ouyang Ke handelte, des Meisters vom Weißen Kamelberg, die in seinem Auftrag die Tochter einer respektablen Familie entführen sollten. Das konnten die sechs nicht stillschweigend geschehen lassen.
Ouyang Kes Kampfkunst mochte überragend sein, aber mehr als ein Jahrzehnt in der rauen Steppe der Mongolei hatte die Sonderlinge gestählt. Als ihm Ke Zhen’e, genannt Flinke Fledermaus, einen Hieb mit seinem Metallstab versetzte und Wunderhand Zhu Cong ihm dann mit der ihm eigenen Kunst Muskeln teilen und Knochen brechen den kleinen Finger der linken Hand brach, ließ er die Gefangene los und floh ohne seine Beute. Zwei der Konkubinen, die Ouyang Ke in seinem Treiben unterstützt hatten, starben von der Hand Nan Xirens, genannt Holzfäller der südlichen Berge, und Quan Jinfas, dem Heimlichen Helden des Marktplatzes.
Unmittelbar nachdem die Sonderlinge die Entführung vereitelt und das Mädchen sicher nach Hause gebracht hatten, hatten sie die Verfolgung Ouyang Kes aufgenommen. Der verschlagene Lüstling verstand sich gut darauf, seine Spuren zu verwischen, doch da keiner von ihnen ihm allein gewachsen war, hatten sie es nicht gewagt, sich bei der Suche aufzuteilen. Seine auffälligen Gefährtinnen, die stets in weißen Kleidern auf weißen Kamelen ritten, waren leichter aufzuspüren gewesen und hatten die sechs schließlich bis zur Residenz des Sechsten Prinzen von Jin, Wanyan Honglie, geführt.
Ouyang Kes weiße Kleider leuchteten so auffällig im Dunkeln, dass sich Reiterkönig Han Baoju und seine Gefährten sofort auf ihn stürzten. Dann hörten sie die Stimme Guo Jings. Doch als sie sich freudig überrascht nach ihm umdrehten, sahen sie ausgerechnet Eisenleiche Mei Chaofeng peitschenschwingend auf seinen Schultern sitzen! Erschrocken griff Han Xiaoying, die Meisterin des Yue-Schwerts, die Erzfeindin an. Quan Jinfa rollte unterdessen unter der tanzenden Peitsche hindurch, um Guo Jing zu befreien.
Als Peng Lianhu und seine Kumpane sahen, dass die sechs Neuankömmlinge sowohl Ouyang Ke als auch Mei Chaofeng angriffen, wussten sie nicht, ob sie es mit Freund oder Feind zu tun hatten. Mit ein paar Sprüngen seiner Kunst des Bodenboxens entwischte Peng Lianhu Mei Chaofengs Peitschenhieben und schrie seinerseits: »Halt! Lasst uns reden!«
Seine Stimme dröhnte in aller Ohren wie ein mächtiger Paukenschlag. Liang Ziweng und Sha Tongtian zogen sich aus dem Kampfgetümmel zurück.
»Dritter Bruder, Siebte Schwester, sofort aufhören!«, befahl Ke Zhen’e. Er wusste, dass mit einem, der eine solche Stimme hatte, nicht zu spaßen war. Han Xiaoying und Han Baoju ließen von Mei Chaofeng und Ouyang Ke ab.
Keuchend ließ auch Mei Chaofeng ihre silberne Peitsche ruhen. Huang Rong trat auf sie zu. »Du hast dich wirklich hervorragend geschlagen«, sagte sie mit zuckersüßer Stimme zu ihr, »Vater wäre stolz auf dich.« Dabei bedeutete sie Guo Jing, die blinde Mei Chaofeng endlich von seinen Schultern abzuwerfen.
»Essenz wird zu Qi, Qi wird Geist, Geist wird Leere. Das ist die Bedeutung von Drei Herrlichkeiten sammeln sich auf der Krone, merkt es Euch gut«, antwortete Guo Jing rasch auf Mei Chaofengs letzte Frage, bündelte sein eigenes Qi und warf sie von seinen Schultern, während sie noch über den Sinn dieser Erklärung nachdachte. Schnell sprang er zurück, doch noch bevor seine Füße wieder den Boden berührten, tanzten schon die Widerhaken ihrer Weißen Schlangenpeitsche vor seinem Gesicht.
Mit einem Salto rückwärts ließ Reiterkönig Han jetzt seine eigene Peitsche fliegen. Als sie sich um Mei Chaofengs Schlangenpeitsche wickelte, verspürte er einen schmerzhaften Ruck in der Hand. Sie hatte ihm seine Waffe kurzerhand entwunden.
Mei Chaofeng federte ihren Sturz elegant mit beiden Armen ab und landete unversehrt auf der Erde. Natürlich hatte sie sofort Ken Zhen’es Stimme erkannt. Die Sieben Sonderlinge des Südens! Jahrelang habe ich nach ihnen gesucht, und ausgerechnet heute tauchen sie hier auf, dachte sie wütend. Als ob ich nicht schon genug Ärger mit den anderen vier hätte …
Wieder erinnerte sie sich an jene schicksalhafte Nacht in der Mongolei. Es ist mir gleich, was aus diesem alten Pillendreher und dem Rest wird. Heute Nacht will ich meine Rache, jeden Einzelnen der Sieben Sonderlinge will ich vernichten, und wenn ich dabei zugrunde gehe!
Sie hielt ihre Peitsche gepackt und lauschte auf jedes Geräusch. Warum sind sie nur zu sechst, wo hat sich der siebte versteckt? Sie wusste nicht, dass Zhang Ahsheng, der Lachende Buddha, in jener Nacht, als sie ihr Augenlicht und ihren Geliebten verloren hatte, seinen Verletzungen erlegen war.
In sicherem Abstand zu Mei Chaofengs tödlicher Waffe hielten die Sechs Sonderlinge und die anderen Kämpfer den Atem an. Keiner wagte es, sich ihr zu nähern oder ein Wort zu sagen.
Schließlich flüsterte Zhu Cong Guo Jing zu: »Was hat es mit diesem Kampf auf sich? Warum hast du dieser Hexe geholfen?«
»Diese Leute wollten mich umbringen, und Mei Chaofeng hat mich gerettet.«
Diese Antwort machte Zhu Cong noch ratloser.
»Wer seid Ihr?«, fragte Peng Lianhu nun barsch. »Wie kommt Ihr dazu, in die Residenz von König Zhao einzudringen?«
»Mein Name ist Ke Zhen’e. Man nennt meine Geschwister und mich die Sieben Sonderlinge des Südens.«
»Die Sieben Sonderlinge? Welch unverhoffte Ehre!«, spottete Peng Lianhu.
»Allerdings! Der alte Sha wollte schon immer gern wissen, aus welchem Holz Ihr geschnitzt seid«, rief Sha Tongtian zähneknirschend dazwischen. Allein dieser Name ließ ihn an die schmähliche Niederlage denken, die er und seine vier Kampfbrüder vor den Augen der Mongolen- und der Jin-Armee durch die Hand ihres Schülers Guo Jing erlitten hatten.
Mit einem Schrei stürzte er sich auf Nan Xiren und holte zu einem Handkantenschlag auf dessen Kopf aus. Nan Xiren rammte seine Schulterstange in die Erde, um ihn abzublocken, und hob die Arme. Es war abzusehen, dass Nan Xiren dem Gegner unterlegen war. Rasch eilten Han Xiaoying und Quan Jinfa ihrem Bruder mit Schwert und eiserner Balkenwaage zu Hilfe.
Nun sprang Peng Lianhu mit Geheul auf Quan Jinfa zu, um ihm die Waffe zu entreißen. Mit einem Rückwärtssalto schleuderte Quan Jinfa die Eisenhaken am Ende der Balkenwaage hoch. Eine solche Waffe war dem Metzger mit den zehntausend Händen in der Welt der Kampfkünste noch nicht untergekommen. Mit einer Form namens Die wilde Schlange windet sich wich Peng Lianhu gerade noch den Haken aus. »Was soll das für eine Waffe sein?«, wütete er ungläubig. »Eine Waage?«
»Um arme Schweine wie dich zu wiegen!«, konterte Quan Jinfa.
Erbost schwang Peng Lianhu seine harten Fäuste. Quan Jinfa duckte sich. Wie sollte er gegen diesen wild gewordenen Tiger bestehen? Han Baoju stand ihm mit Fäusten und Fußtritten bei, aber ohne die Peitsche fehlte seinem Kung-Fu die wahre Meisterschaft. Selbst zwei gegen einen wurde es bei diesen Gegnern für die Sonderlinge eng.
Nun trat der Erste Bruder Ke Zhen’e mit seinem Wunderstab an der Seite Nan Xirens und Han Xiaoyings gegen Sha Tongtian an. Der Zweite Bruder Zhu Cong kam Quan Jinfa und Han Baoju zu Hilfe, indem er mit seinem Ölpapierfächer auf Peng Lianhus Nervenpunkte zielte. Das Kung-Fu der beiden ältesten Sonderlinge übertraf das der anderen bei Weitem, und da es zusätzlich je drei gegen einen stand, gewannen sie die Oberhand über ihre Gegner.
Unterdessen setzte Huang Rong weiter Hou Tonghai zu, der ihr fraglos überlegen war, aber wegen des Eisernen Igels, den sie an Kopf und Körper trug, nicht zuzuschlagen wagte. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihn immer wieder spielerisch anzugreifen.
»Das ist kein gerechter Kampf!«, rief Hou Tonghai. »Leg gefälligst den Eisernen Igel ab, du elendes Luder!«
»Gern, sobald du deine drei Riesenwarzen auf der Stirn abschneidest!«, gab sie zurück.
»Meine Warzen tun niemandem weh!«
»Und ob! Mir wird ganz schlecht von ihrem Anblick, und dadurch bist du im Vorteil. Na los, eins, zwei, drei, weg damit, und ich lege den Eisernen Igel ab.«
»Niemals!«
»Weg damit, sonst ist der Kampf ungerecht.«
»Ich lasse mich nicht noch einmal von dir ins Bockshorn jagen!«
Ouyang Ke beobachtete das Geschehen von der Seite. Die alte Hexe kann in ihrem Zustand wenig ausrichten, mit der kann ich mich später befassen. Zunächst müssen wir diese sechs Unruhestifter erledigen. Denen werde ich zeigen, was wahres Kung-Fu ist!
Er sprang hoch und war im Nu bei Ken Zhen’e; eine überragende Zurschaustellung der besonderen Schwebekunst seiner Schule, bekannt unter dem Namen Tausend Li in einem Atemzug. »Da ich sonst nichts zu tun habe«, rief er dabei, »will ich dir blindem Giftzwerg eine Kostprobe der Kampfkunst meiner noblen Vorfahren geben!« Und schon schnellte seine Rechte auf Ke Zhen’e zu. Der Erste unter den Sonderlingen wirbelte seinen Stab zur Abwehr herum, doch Fürst Ouyang schlug unvermittelt mit der Linken zu. Ke Zhen’e duckte sich weg und konterte mit der Form Der Buddhawächter Vajrapani. Schon war Ouyang Ke zum Angriff auf Nan Xiren übergegangen. Geschickt teilte er nach allen Himmelsrichtungen Schläge aus, und es schien ganz so, als würde er binnen kürzester Zeit alle sechs Sonderlinge ins Nirwana befördern.
Liang Ziweng hingegen hatte Guo Jing keinen Moment lang aus den Augen gelassen. Jetzt, wo die sechs Meister des jungen Mannes mit Fürst Ouyang beschäftigt waren, sah er seine Gelegenheit gekommen. Er packte Guo Jing mit beiden Händen, und ehe dieser sich wehren konnte, holte er zu einem Schlag in seine Magengrube aus. Guo Jing zog den Bauch ein und wich mit der Kraft der Verzweiflung rückwärts aus. Dabei riss sein Hemd entzwei, und die Medizin, die er Liang gestohlen hatte, fiel heraus. Liang Ziweng roch die Kräuter, schnappte sofort zu, verstaute sie in seinem eigenen Hemd und setzte gleich zum nächsten Schlag an.
Guo Jing gelang es knapp, seinen Pranken auszuweichen. Er rannte auf Mei Chaofeng zu. »Rette mich!«
Dein Glück, dass ich noch ein paar Fragen zum inneren Kung-Fu der Daoisten habe, dachte sie grimmig. »Nimm mich auf deine Schultern«, rief sie mit rasselndem Atem. »Vor diesem Ginseng-Unsterblichen brauchen wir uns nicht zu fürchten.« Sie auf die Schultern zu nehmen, war ein Leichtes, sie wieder abzuschütteln war es nicht. Also lief Guo Jing doch lieber geradewegs an ihr vorbei. Liang Ziweng folgte ihm dicht auf den Fersen. Als Guo Jing jedoch in Reichweite von Mei Chaofengs silberner Schlangenpeitsche kam, hielt Liang Ziweng sich vorsichtshalber zurück.
Der passende Augenblick, den Tod ihres Geliebten zu rächen, war gekommen. Mei Chaofeng lauschte Guo Jings Schritten nach. Eine rasche Drehbewegung aus dem Handgelenk, und schon drohte ihre Peitsche, sich um Guo Jings Beine zu winden.
Huang Rong, die immer noch mit Hou Tonghai Katz und Maus spielte, hatte Guo Jing ebenfalls keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Als Liang Ziweng ihm zusetzte, war sie zu weit entfernt gewesen, um einzugreifen, doch jetzt rannte er in ihre Richtung, und sie sah entsetzt, wie Mei Chaofengs Peitsche nach ihm schnappte. Flugs sprang sie dazwischen. Das Peitschenende wand sich um ihre Taille und schleuderte sie in festem Griff durch die Luft.
»Du wirst mir doch nicht wehtun wollen, Mei Ruohua?«, rief Huang Rong.
Oje, die scharfen Widerhaken meiner Peitsche haben doch nicht etwa das Mädchen erwischt? Mein Meister wird mir niemals verzeihen! Was nun? Erst einmal will ich sie gründlich untersuchen. Mit einem Ruck zog Mei Chaofeng das Peitschenende zu sich heran, befreite zitternd die Gefangene aus der Umklammerung und stellte beruhigt fest, dass die Widerhaken nur Huang Rongs Kleider zerrissen hatten. Das Mädchen selbst war unversehrt.
»Du hast mir das Kleid ruiniert! Das wirst du büßen!«
Wie kann es sein, dass ihr meine Waffe so gar nichts anhaben konnte? Ah, ich weiß es! Der Meister hat ihr den Eisernen Igel gegeben! »Ich bitte um Vergebung. Selbstverständlich werde ich meiner jüngeren Schwester das Kleid ersetzen.«
Huang Rong wich zurück und winkte Guo Jing zu sich. Sie standen jetzt außerhalb der Reichweite Mei Chaofengs, aber noch nah genug, dass sich Liang Ziweng nicht zu nähern wagte.
Die Sonderlinge bildeten Rücken an Rücken einen geschlossenen Kreis und mühten sich mit all ihrer Kunst, die Angriffe Sha Tongtians, Peng Lianhus, Hou Tonghais und Fürst Ouyangs abzuwehren. Diese Aufstellung hatten sie in der Mongolei erprobt, um sich den Rücken von Angriffen freizuhalten. Trotz der auf diese Weise gewonnenen Stärke blieben ihre Gegner überlegen und ihre Lage ernst. Han Baoju war bereits an der Schulter verletzt, kämpfte aber mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Auf keinen Fall durfte eine Lücke in ihrer Abwehr entstehen. Allerdings hatte Peng Lianhu die Schwachstelle längst entdeckt und traktierte den Reiterkönig fortgesetzt mit mörderischen Angriffen.
Guo Jing zögerte nicht, seinem Meister beizustehen, rannte los und stieß Peng Lianghu mit der Bewegung Mit den Wolken den Mond verjagen beide Handflächen in den Rücken. Der Angegriffene lachte höhnisch und beförderte Guo Jing mit nur drei Handbewegungen auf die Knie.
Ist das Liebste in Gefahr, ist jedes Mittel recht, dachte Huang Rong. Um Guo Jing aus seiner misslichen Lage zu retten, reichte ihr Kung-Fu nicht aus, darum galt es, mit anderen Mitteln zu kämpfen.
»Mei Chaofeng!«, rief sie laut. »Du hast meinem Vater Der wahre Weg der Neun Yin gestohlen. Her damit, ich will es ihm zurückbringen!«
Sofort drehten sich Ouyang Ke, Sha Tongtian, Peng Lianhu und Liang Ziweng wie ein Mann zu Mei Chaofeng um. Jeder von ihnen hatte denselben Gedanken. Sie hat es also! Die Schrift, die das Geheimnis zur Unbesiegbarkeit enthält! Ich muss sie besitzen! Die Sonderlinge interessierten sie nicht mehr.
Mei Chaofeng wusste, was sie erwartete, und ließ ihre Peitsche in alle Richtungen wirbeln, um die vier Kämpfer auf Abstand zu halten.
Rasch packte Huang Rong Guo Jing am Arm. »Schnell weg von hier«, flüsterte sie.
In diesem Augenblick tauchte eine atemlose Gestalt aus dem Dunkel des Gartens auf. Dann erkannten sie die goldene Krone, die ihm schief auf dem Kopf hing. »Verehrte Meister«, keuchte Wanyan Kang. »Mein Vater benötigt Eure Hilfe. Meine Mutter … Meine Mutter wurde aus dem Palast entführt.«
In seiner Aufregung bemerkte der junge Prinz nicht, dass seine heimliche Meisterin Mei Chaofeng gelähmt auf dem Boden hockte.
Widerwillig hielten die vier Meister inne. Es wäre in höchstem Maße ungehörig gewesen, sich dem Hilferuf ihres Gönners zu widersetzen. Ob die Sonderlinge sie nur deshalb herausgefordert hatten, um von der Entführung abzulenken? Aber wie konnten sie sich so mir nichts, dir nichts die einmalige Gelegenheit entgehen lassen, in den Besitz des begehrten Handbuchs zu kommen? Und wie verhindern, dass einer der drei anderen es sich schnappte? Sie überlegten hin und her und gelangten endlich zu dem Schluss, zunächst dem Ruf des Sechsten Prinzen von Jin zu folgen. Immerhin wussten sie jetzt, wo das Handbuch war.
Liang Ziweng folgte als Letzter. Im Vorübergehen warf er Guo Jing einen vernichtenden Blick zu. Das kostbare Blut seiner Schlange floss noch immer durch die Adern dieses elenden Diebs, aber ohne die anderen konnte der Ginseng-Unsterbliche es nicht mit Mei Chaofeng und den Sonderlingen aufnehmen.
»Heda, ich will die Medizin zurück!«, rief Guo Jing.
Das war zu viel für Liang Ziweng. Eine Bewegung aus dem Handgelenk – und eine feine Nadel zischte pfeilschnell auf Guo Jings Stirn zu.
Zhu Cong war schneller. Im Handumdrehen wehrte er die Nadel mit seinem Ölpapierfächer ab und fing sie mit der freien Hand auf. Er roch an der Spitze. »Sieh einer an. Eine Knochenbrechernadel, getränkt mit dem giftigen Extrakt des Maulbeerbaums. Bringt den sicheren Tod.«
Liang Ziweng erstarrte. Wer wusste seine Geheimwaffe so treffsicher beim Namen zu nennen?
»Bitte sehr.« Zhu Cong bot ihm die Nadel auf seiner Handfläche dar. Verächtlich nahm Liang Ziweng seinen Besitz wieder an sich. Was hatte er von einem dieser stümperhaften Sonderlinge schon zu fürchten! Grimmig folgte der Alte den anderen nach und kümmerte sich nicht weiter um Zhu Cong, der ihm im Vorübergehen noch freundlich etwas Dreck vom linken Ärmel abklopfte.
Guo Jing war niedergeschlagen. Nach all den Strapazen dieser fürchterlichen Nacht stand er nun wieder ohne die Medizin für den todkranken Bruder Wang Chuyi da. Was jetzt?
»Gehen wir.« Ke Zhen’e erklomm als Erster die Palastmauer. Seine Kampfbrüder und Guo Jing folgten ihm nach. Auch Huang Rong machte einen Satz hinauf, hielt sich jedoch in einiger Entfernung zu den Sonderlingen und vermied, sie zu begrüßen.
»Wo ist mein Meister, kleine Schwester?«, fragte Mei Chaofeng Huang Rong noch einmal.
»Auf der Pfirsichblüteninsel natürlich«, kicherte Huang Rong, »warum fragst du? Willst du ihm einen Besuch abstatten?«
Mei Chaofeng rang nach Luft. »Hast du nicht eben noch gesagt, dass er jeden Augenblick hier sein wird?«, brachte sie schließlich keuchend heraus.
»Sicher, er wird schon kommen, sobald ich ihm berichtet habe, dass du hier bist!«
Na warte, du kleines Miststück, aus dir werde ich die Wahrheit herauswürgen! Außer sich vor Wut schnellte Mei Chaofeng hoch und schnappte taumelnd nach Huang Rong.
Als sie in den vergangenen Tagen versucht hatte, ihr inneres Kung-Fu auf den Dumai-Nervenpunkt zu konzentrieren, war ihr Qi sozusagen dort gefangen geblieben und hatte ihren Unterkörper gelähmt. Jener Nervenpunkt sitzt am unteren Ende der Rückenwirbel und beherrscht die Yin- und die Yang-Organe. Je mehr sie versucht hatte, ihr Qi zu befreien, desto stärker hatte sie an Beweglichkeit eingebüßt. Nun aber war sie so sehr von ihrer Wut beseelt, dass sie ihren Körper darüber vergaß. Eine plötzliche Wärme durchdrang ihr Innerstes. Ihre Beine gehorchten ihr wieder.
Als Huang Rong sie auf sich zuwanken sah, sprang sie erschrocken von der Palastmauer und verschwand in den Straßenfluchten der Jin-Hauptstadt.
Ich kann wieder gehen!, jubelte Mei Chaofeng. Doch in dem Augenblick, als ihr dieser Gedanke kam, versagten ihre Beine erneut, und sie sackte zusammen.
Für die Sechs Sonderlinge wäre es ein Leichtes gewesen, Mei Chaofeng in diesem Zustand den Garaus zu machen, aber ein derart ungleicher Kampf wäre unehrenhaft gewesen. Außerdem wollten sie endlich wissen, was Guo Jing mit ihr zu schaffen hatte. Han Xiaoying zeigte auf Mei Chaofeng, die noch immer gelähmt und völlig erschöpft auf dem Boden hockte. »Was machen wir mit ihr?«
»Wir haben Bruder Ma Yu versprochen, ihr Leben zu verschonen«, sagte Ke Zhen’e und sprang von der Mauer.
Endlich wieder vereint, hielten sich Yang Tiexin und Bao Xiruo von Freude und Trauer überwältigt eng umschlungen. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Yang nahm seine Frau auf die Arme und erklomm die Palastmauer.
Seine Adoptivtochter Mu Nianci wartete bereits unruhig auf der anderen Seite.
»Vater, warum …?« Überrascht sah sie, wie ihr Ziehvater die Prinzengemahlin über die Mauer trug.
»Das ist deine Mutter. Komm, schnell, wir müssen gehen!«
»Meine Mutter?«
»Still! Ich erkläre es dir später.« Mit Bao Xiruo auf den Armen rannte er weiter.
Während sie dem ersten Licht der Morgendämmerung entgegenliefen, wurde sich Bao Xiruo erst wirklich bewusst, was geschehen war. Sie lag auf den Armen des Mannes, nach dem sie sich achtzehn Jahre lange gesehnt hatte und wusste nicht, ob sie wachte oder träumte.
Zitternd berührte sie sein Gesicht. »Bin ich tot?«
»Wir sind beide wohlauf, Liebes …«, versicherte ihr Yang Tiexin schluchzend.
Lautes Hufgetrappel unterbrach ihn. Ein grimmige Horde Reiter mit lodernden Fackeln war ihnen auf den Fersen.
»Schnappt ihn euch! Lasst den Entführer ihrer Hoheit nicht entkommen!« Die Palastwachen senkten ihre Speere zum Angriff.
Möge der Himmel uns beschützen, dachte Yang Tiexin. Doch jetzt, wo ich sie endlich wieder in meinen Armen halte, werde ich glücklich sterben können. Er wandte sich an Mu Nianci. »Nimm du dich bitte deiner Mutter an.«
Vor Bao Xiruos Augen tauchten Bilder der Vergangenheit auf – wie Yang Tiexin damals, vor achtzehn Jahren, in Niu mit ihr um sein Leben gerannt war, die mordenden Soldaten jener Nacht, die vielen Jahre der Trennung, der Trauer, der Demütigung. Nie wieder!, dachte sie und klammerte sich fest an den Hals ihres Mannes.
Gleich hatten die Soldaten sie erreicht. Lieber sterben als noch einmal von ihr getrennt sein! Entschlossen legte er seine Frau in die Arme Mu Niancis, machte kehrt und stürmte den Verfolgern entgegen. Mit einem Faustschlag streckte er den ersten Fußsoldaten nieder und griff sich dessen Speer.
Mit seiner Speerkunst war er zehnmal stärker als mit bloßen Händen. Mit einem einzigen Stoß warf er den Kommandanten der Palastwache, Tang Zude, aus dem Sattel. Ihres Anführers beraubt, zerstreute sich die berittene Palastwache planlos in alle Richtungen. Erleichtert stellte Yang Tiexin fest, dass diese Männer nichts von Kampfkunst verstanden. Schade nur, dass er keinem der Pferde hatte habhaft werden können.
Die drei flohen weiter. Im Licht des neuen Tages entdeckte Bao Xiruo das Blut auf Yang Tiexins Kleidern. »Bist du verletzt?«, rief sie alarmiert.
Erst bei ihrer Frage wurde sich Yang Tiexin wieder der stechenden Schmerzen auf seinen Handrücken bewusst.
Wanyan Kang hatte ihm nach dem Duell mit Mu Nianci mit den Fingern zehn blutende Wunden in seine Handrücken gegraben. Zwei Tage war das nun her, und der Schmerz, dem er in all der Aufregung keine Beachtung geschenkt hatte, brach nun plötzlich mit aller Macht über ihn herein. Er konnte kaum mehr die Arme heben. Bao Xiruo wollte eben seine Wunden verbinden, als hinter ihnen erneut laute Rufe ertönten und berittene Garden heranpreschten.
»Lass es bleiben«, sagte Yang Tiexin seufzend und wandte sich an Mu Nianci: »Lauf, mein Kind. Wir bleiben hier.«
»Nein!«, antwortete sie ruhig und entschieden. »Dann lasst uns gemeinsam sterben.«
»Wie kommt es, dass sie deine Tochter ist?«, fragte Bao Xiruo endlich.
Yang Tiexin wollte es erklären, aber die Soldaten waren schon zu nah. Wütend wandte er sich um und sah zu seiner Überraschung zwei daoistische Mönche an ihm vorübergehen. Der Ältere hatte ein mildes, freundliches Gesicht mit buschigen grauen Augenbrauen und einem langen, zerzausten Bart. Der Jüngere strotzte vor Kraft und trug ein langes Schwert auf dem Rücken. Sein Bart glänzte rabenschwarz.
»Bruder Qiu! Was für eine Freude, Euch wiederzusehen!«, rief Yang Tiexin.
Es waren Meister Ewiger Frühling Qiu Chuji und Meister Zinnoberrote Sonne Ma Yu. Die beiden waren mit Meister Jadesonne Wang Chuyi in der Hauptstadt Zhongdu verabredet gewesen, um mit ihm den Wettstreit mit den Sieben Sonderlingen des Südens zu bereden.
Qiu Chujis hervorragendes inneres Kung-Fu hatte ihm sein jugendliches Aussehen bewahrt, und er schien sich bis auf die leicht ergrauten Schläfen seit jener Nacht vor achtzehn Jahren kaum verändert zu haben. Überrascht drehte er sich nach dem Fremden um, der ihn begrüßt hatte. Sollte er diesen Mann kennen?
»Achtzehn Jahre ist es her, dass wir in Niu in der Präfektur Lin’an miteinander gezecht und den Feind bekämpft haben. Erinnert Ihr Euch nicht daran, Bruder Ewiger Frühling?«
»Darf ich fragen, wer …?«
»Euer ergebener Yang Tiexin.« Yang ging vor dem Mönch auf die Knie und machte einen Kotau.
Qiu Chuji legte die Hände ineinander und verbeugte sich. Doch er traute der Sache nicht. Yang Tiexin? War der nicht vor langer Zeit verschollen? Dieser Mann hier war von langer Wanderschaft und schweren Wunden gezeichnet und erinnerte ihn überhaupt nicht an den strammen jungen Burschen von damals.
Gleich würden die Soldaten zu ihnen aufschließen, es galt, keine Zeit zu verlieren. Schnell griff Yang Tiexin den Speer und ließ ihn mit wehender Quaste mit der Form Nickender Phönix vor Qiu Chujis Brust tanzen.
»Mich mögt Ihr vergessen haben, Bruder Qiu, aber an die Speerkunst der Familie Yang erinnert Ihr Euch doch wohl?«
Der Anblick der Speerkunst der alten Schule rief Qiu Chuji endlich jene Winternacht ins Gedächtnis zurück, in der sie sich im Schnee miteinander gemessen hatten. Konnte es wahr sein?
»Bruder Yang! Du lebst? Dem Himmel sei Dank!«
Yang Tiexin richtete den Speer wieder auf. »Helft uns, Bruder Qiu!«
Mit einem Blick auf die nahenden Reiter sagte Qiu Chuji grinsend zu Ma Yu: »Seid mir nicht böse, Bruder Ma, aber es sieht ganz so aus, als ob ich heute einmal wieder mein Mönchsgelübde vergessen und töten müsste.«
»Jag ihnen Angst ein, Bruder«, gab Ma Yu zurück, »aber töte sie nicht.«
Qiu Chuji lachte schallend. Mit wenigen Schritten war er vor die Reiter gesprungen, streckte die Arme aus, hob mit der gewaltigen Kraft seiner Hände die ersten beiden Reiter aus dem Sattel und schleuderte sie gegen die nachfolgenden. Die Männer prallten aufeinander, brachen zusammen und blieben auf einem Haufen liegen. So verfuhr Qiu Chuji blitzschnell auch mit den nächsten acht Reitern. Entsetzt wendeten die übrigen Wachen ihre Pferde und flohen um ihr Leben.
Unvermittelt tauchte aus dem Staub, den die Reiter aufgewirbelt hatten, ein Mann auf. Er war hochgewachsen und stämmig und hatte einen glänzenden Glatzkopf. »Wer ist dieser dahergelaufene Hundsfott?«
Mit einem Satz hatte sich der Mann vor Qiu Chuji aufgebaut und holte zum Schlag aus. Der Mönch riss den Arm hoch.
Ihre Arme prallten mit solcher Wucht gegeneinander, dass beide ein paar Schritte zurücktaumelten.
Qiu Chuji war verblüfft. Wer war dieser Mann, der über so erstaunliches Kung-Fu verfügte?
Sein tauber Arm brachte Sha Tongtian, den Drachenkönig vom Dämonentor, noch weiter in Rage. Mit furchtbarem Gebrüll ließ er die Fäuste fliegen. Qiu Chuji konterte entschlossen mit flinken Händen.
Ein dutzend Mal ging der Schlagabtausch hin und her, bis Qiu Chujis Pranken schließlich fünf rote Blutspuren in Sha Tongtians glänzende Glatze gegraben hatten. Mit bloßen Händen würde sich dieser Daoist nicht besiegen lassen. Der Drachenkönig griff nach dem eisernen Ruder, das er auf dem Rücken trug. Mit der Form Su Qin trägt das Schwert ließ er es mit Wucht auf Qiu Chujis Schulter niedersausen. Qiu Chuji wandte Mit bloßen Händen die blanke Klinge abwehren an. Damit gegen Sha Tongtian anzukommen, war dennoch kein Leichtes. Dieser hatte mit diesem eisernen Ruder schon wildgewordene Tiger an Land und drachengleiche Aale im Wasser getötet. Durch jahrzehntelange Übung meisterte er diese Waffe wie kein Zweiter.
Qiu Chuji wollte soeben nach dem Namen seines beeindruckenden Gegners fragen, als zu seiner Linken eine markerschütternde Stimme ertönte, so laut, dass der Boden bebte. »Mit welchem der Brüder der Quanzhen-Schule haben wir die Ehre?«
Erschrocken sprang Qiu Chuji ein Stück weit nach rechts, um sich den Sprecher und seine drei Gefährten aus sicherer Entfernung anzusehen. Peng Lianhu, Liang Ziweng, Ouyang Ke und Hou Tongtian starrten ihn finster an. Er war diesen Männern noch nie zuvor begegnet. Qiu Chuji legte die Hände zu einem höflichen Gruß zusammen.
»Qiu ist der Name dieses Daoisten. Wenn ich um die Euren bitten darf?«
Der Name Qiu Chuji war allerdings im ganzen Reich bekannt. Dieser Daoist macht seinem Ruf alle Ehre, dachte Sha Tongtian. Er und seine Gefährten wechselten bedeutungsschwangere Blicke. Für Peng Lianhu stand bereits fest, dass Qiu Chuji als Feind zu betrachten war. Gestern haben wir Wang Chuyi vergiftet, dann können wir uns auch mit seinem Ordensbruder anlegen. Wenn wir heute auch noch Qiu Chuji erledigen, können wir uns künftig rühmen, gleich zwei Meister der Quanzhen-Schule besiegt zu haben!
»Zum Angriff!«
Mit einem Ruck zog Peng Lianhu seine Geheimwaffe, den Richterpinsel, aus der Tasche und zielte damit auf zwei vitale Nervenpunkte des Daoisten, das Wolkentor und die Große Erleuchtung. Es war offensichtlich, dass er entschlossen war, Qiu Chuji ohne Erbarmen zu töten.
Ganz schön dreist, dieser Zwerg!, dachte Qiu Chuji. Obwohl seine Kunst sich durchaus sehen lassen kann!
Schneller als der Wind zog er sein Schwert. Mit einem einzigen Hieb stieß er mit der Spitze nach Peng Lianhus Handrücken, schlug mit der Klinge nach Sha Tongtians Hüfte und zielte mit dem Griff direkt auf das Siegeltor in Hou Tonghais Brustkorb. Durch seine Schwertkunst nahm er es mühelos mit drei Gegnern gleichzeitig auf. Während es Peng und Sha gerade so gelang, ihn mit ihren Waffen abzuwehren, blieb Hou nur, mit einem Sprung zurückzuweichen, wo ihn allerdings schon ein Tritt in den Hintern erwartete. Er stürzte der Länge nach hin und landete ausgerechnet auf seinen drei Stirnwarzen. Hou Tonghais fürchterlichem Wehgeschrei zum Trotz wagte nun auch Liang Ziweng den Angriff auf Qiu Chuji.
Jetzt oder nie! Als Ouyang Ke den Daoisten mit drei Gegnern gleichzeitig ringen sah, wähnte er den passenden Augenblick für eine tödliche Attacke gegen Qiu Chuji gekommen. Er täuschte einen Schlag mit der Linken an und zielte mit dem eisernen Fächer in seiner Rechten auf drei lebenswichtige Nervenpunkte auf Qiu Chujis Rücken – den Weg des Töpfers, das Seelentor und das Zentrum. Qiu Chuji konnte nicht mehr ausweichen.
Da griff wie aus dem Nichts plötzlich eine Hand nach Ouyang Kes Fächer und lenkte ihn mit gewaltiger innerer Kraft weg von Qiu Chuji.
Ma Yu hatte das Geschehen aus einigem Abstand verfolgt und bestürzt mit angesehen, wie sich ein großer Kampfkünstler nach dem anderen auf seinen Ordensbruder gestürzt hatte. Drei Finger seiner Hand genügten, um den tödlichen Schlag mit dem Fächer abzuwenden. Erschrocken wich Ouyang Ke zur Seite.
»Darf ich die Herrschaften nach ihren Namen fragen?« Ma Yu verzichtete auf einen Angriff. »Wir kennen einander nicht und sollten gewiss in der Lage sein, miteinander zu reden und ein mögliches Missverständnis gewaltlos aus der Welt zu schaffen, nicht wahr?«
Seine Stimme war sanft, doch lag darin ein so gewaltiges Qi, dass jedes Wort den Kämpfenden wie ein Glockenschlag in den Ohren dröhnte. Erstaunt ließen Sha Tongtian und die anderen von ihrem Gegner ab, um den Sprecher in Augenschein zu nehmen.
»Wie lautet Euer Name, ehrwürdiger Bruder?«, fragte Ouyang Ke.
»Mein Familienname ist Ma.«
»Oha, demnach haben wir es mit dem unsterblichen Meister Zinnoberrote Sonne zu tun. Ich bitte um Vergebung, Eure Gegenwart nicht genügend gewürdigt zu haben«, höhnte Peng Lianhu.
»Ich bin nur ein schlichter Daoist, mich einen unsterblichen Meister zu nennen, ist zu viel der Ehre.«
Peng Lianhu freute sich bereits darauf, diesen beiden Daoisten zusammen mit seinen vier Mitstreitern eine Lektion zu erteilen. Wenn es ihnen gelang, diese beiden herausragenden Meister zu bezwingen, würde ihnen die Quanzhen-Schule nie wieder Ärger machen. Aber was, wenn sich noch mehr von ihrer Sorte in der Nähe herumtreiben? Argwöhnisch sah er sich um, erblickte jedoch nur die Prinzgemahlin, den alten Bauern und ein junges Mädchen.
»Ihr beachtlicher Ruf eilt den sieben Meistern der Quanzhen-Schule voraus. Ob uns wohl auch die anderen fünf Meister heute die Ehre erweisen?«
»Wir Mönche führen ein Leben in Abgeschiedenheit. Wir streben nicht danach, uns mit anderen zu messen. Meine Brüder mögen dazu neigen, sich in weltliche Angelegenheit zu mischen und dadurch zu zweifelhaftem Ruhm zu gelangen und geben doch vor Euresgleichen eine ziemlich lächerliche Figur ab. Wir sieben leben in verschiedenen Klöstern und sehen uns nur selten. Nun aber sind Qiu Chuji und ich auf der Suche nach unserem Ordensbruder Wang Chuyi und es ist ein glücklicher Zufall, dass wir alle uns heute hier getroffen haben. Es gibt zahlreiche Kampfkünste, doch alle eint dasselbe Ziel, so wie die rote Lotusblüte und ihre weiße Wurzel eins sind. Warum also sollten wir keine Freunde sein?«
Hervorragend, sagte sich Peng Lianhu, die anderen Daoisten sind weit weg, der hier hat keine Absicht zu kämpfen und Wang Chuyi haben sie noch nicht gefunden. Wir haben leichtes Spiel. »Wenn die beiden Ordensbrüder sich nicht zu schade sind, unsere Namen zu erfahren … wir gehören zur Familie Drei, Drei Schwarze Katzen nennt man uns.«
Ma Yu und Qiu Chuji runzelten die Stirn. Das sind doch herausragende Kampfkünstler. Wie kann es sein, dass man im ganzen Jianghu noch nie etwas von Kämpfern mit so wunderlichen Namen gehört hat?
Peng Lianhu verstaute seine Richterpinsel und verbeugte sich grinsend vor Ma Yu. »Es ist mir eine Ehre, werter Ma Yu«, sagte er und bot Ma Yu seine Hand mit der Handfläche nach unten dar, als wollte er mit ihm einschlagen.
Ma Yu witterte keine böse Absicht und hielt ihm seinerseits die Hand hin. Peng Lianhu drückte zu. Ah, du willst meine Fähigkeiten auf die Probe stellen? Nur zu, dachte Ma Yu. Lächelnd bündelte er sein inneres Kung-Fu in der Hand. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, als ob zehntausend Nadeln in seinen Handballen stächen und zog entsetzt die Hand zurück. Mit einem hämischen Lachen machte auch Peng Lianhu einen Schritt nach hinten.
Ma Yu betrachtete seine Hand. Fünf schwarze Löcher klafften knochentief in den Wurzeln seiner fünf Finger. Seine Pinsel hatte Peng Lianhu zwar verstaut, doch hatte er sich heimlich einen Ring mit vergifteten Nadeln auf die Hand gezogen. Sich als Drei Schwarze Katzen vorzustellen, hatte allein dazu gedient, die Aufmerksamkeit Ma Yus abzulenken.
In der Welt der Kampfkunst war es nicht unüblich, anhand eines Handschlags die Stärke des Gegners zu prüfen, bevor man sich auf einen Kampf einließ. Die vermeintlich freundliche Geste endete zumeist mit splitternden Knochen, schweren Blutergüssen oder unerträglichen Schmerzen, bis einer von beiden um Gnade flehte. Auf die Regeln des Jianghu vertrauend, hatte Ma Yu sich durch die eigene Kraft das Gift tief in die Hand gerammt.
»Was ist passiert?«, rief Qiu Chuji alarmiert.
»Der Schurke hat mich vergiftet.«
Qiu Chuji hatte seinen älteren Ordensbruder bestimmt seit einem Jahrzehnt nicht mehr die Hand gegen einen Menschen erheben sehen, jetzt aber stürzte sich dieser mit einer der härtesten Künste der Quanzhen-Schule, Frost zertrampeln und das Eis brechen, auf Peng Lianhu. Qiu Chuji zog sein Schwert und schloss sich ihm mit ein paar flinken, gegen Peng Lianhu gerichteten Hieben an.
Doch Peng Lianhu hatte sich schon mit seinen Richterpinseln gewappnet, die er den Schwertern entgegensetzte. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass der Daoist gleichzeitig seine linke Faust auf ihn losließ. Mit einer Drehung des Handgelenks hatte Qiu Chuji Peng Lianghus Pinsel gepackt. »Lass los!«, brüllte er und drückte mit gebündelter Energie zu. Obwohl sein Arm von diesem Druck sofort betäubt war, gab Peng Lianhu nicht nach. Qiu Chuji stach mit dem Schwert zu. Jetzt war Peng Lianhu zum Ausweichen gezwungen und musste dabei seine Waffe loslassen. Qiu Chuji schleuderte die Pinsel fort und bearbeitete Peng weiter von rechts und links mit Faust und Schwert. Peng Lianhu, seiner Waffe entledigt und mit taubem Arm, gab endlich auf. Ouyang Ke und Hou Tongtian eilten ihm zu Hilfe, aber das brachte Qiu Chuji noch weiter in Rage. Wie ein Orkan ließ er abwechselnd Faust und Schwert auf die drei Gegner niedergehen, ohne müde zu werden.
Ma Yu dagegen hatte seine Not, gegen Sha Tongtian und Liang Ziweng anzukommen. Seine rechte Hand war geschwollen, und sein Arm wurde langsam taub. Das Gift war stark, es galt, schnell zu handeln. Es fiel ihm immer schwerer, seine Gegner mit dem Schwert auf Distanz zu halten. Er keuchte. Zwar gelang es ihm, mit seinem inneren Kung-Fu das Gift in Schach zu halten, aber allein mit seinem äußeren Kung-Fu kam er den Angreifern nicht bei. Je mehr von seiner Kraft er in den Kampf steckte, desto schneller würde das Gift sein Herz erreichen.
Sein Kopf dampfte, als wäre er am Überkochen. Qiu Chuji war zu sehr von den drei anderen Angreifern in Beschlag genommen, um ihm zu helfen.
Liang Ziweng kämpfte mit einer Hacke, die man zum Ausgraben von Ginsengwurzeln benutzte, und so verwendete er sie auch, hackend, grabend, pflügend, die Varianten seiner schnellen Bewegungen schienen endlos. Und Sha Tongtians eisernes Ruder war eine noch schwerere, erbarmungslosere Waffe.
Hou Tonghai mochte ein vergleichsweise schwacher Gegner sein, Ouyang Ke dagegen war mit allen Wassern gewaschen. Seine trickreiche Kampfkunst war der Peng Lianhus noch einmal haushoch überlegen. Wer ist dieser Mann?, fragte sich Qiu Chuji. Seine Methoden erinnern an den schlimmsten Feind unserer Schule: Gift des Westens. Ob er etwa zu dessen Schule gehört? Der Alte Giftmolch wird doch nicht wieder in Zentralchina sein Unwesen treiben?
So von seinen Gedanken abgelenkt, hatte Qiu Chuji sich beinahe einen Schlag eingefangen.
Yang Tiexin hielt es nicht länger aus. Er wusste, dass sein Kung-Fu bei Weitem nicht an das dieser Truppe heranreichte, aber er konnte nicht einfach mit seiner Familie die Flucht ergreifen und die beiden Mönche mitten im Kampf im Stich lassen. Er nahm seinen Speer und zielte auf Ouyang Kes Rücken.
»Halt, Bruder Yang, nicht! Er wird …«, rief Qiu Chuji noch, aber schon war Ouyang Ke in die Luft gesprungen, trat mit dem linken Fuß den Speer weg und mit dem rechten hart in Yang Tiexins Rippen. Der Speer brach entzwei und Yang Tiexin sackte zusammen.
In diesem Augenblick erscholl Pferdegetrappel und schon preschte ein Reitertrupp heran, angeführt von Wanyan Honglie, dem Sechsten Prinzen von Jin, und seinem Sohn Wanyan Kang.
Als Wanyan Honglie seine Frau auf dem Boden sitzen sah, ritt er freudig auf sie zu. Doch kaum saß er ab, durchschnitt eine glänzende Klinge die Luft vor ihm. Er wich gerade noch zur Seite aus und sah eine rot gekleidete junge Frau mit dem Schwert in der Hand neben seiner Gattin stehen. Sofort stürzte sich seine Leibwache auf Mu Nianci.
Wanyan Kang hatte unterdessen seinen Meister bemerkt und erschrak. »Aufhören!«, rief er laut, »das ist einer von uns!« Er musste seine Forderung mehrfach wiederholen, bis Peng Lianhu und die anderen von ihren Gegnern abließen. Auch die Leibwache Wanyan Honglies ließ die Waffen sinken.
Wanyan Kang trat auf Qiu Chuji zu und verneigte sich. »Meister, wenn ich Euch diese Herrschaften vorstellen darf. Sie alle sind Kampfkünstler im Gefolge meines Vaters.«
Qiu Chuji nickte nur brummend und warf einen Blick auf seinen Ordensbruder. Ma Yus rechte Hand hatte sich schwarz gefärbt. Schnell rollte er seinen Ärmel auf. Das Gift war bereits den ganzen Arm hinaufgekrochen. Ein unerhört tödliches Gift! »Her mit dem Gegengift!«, rief er Peng Lianhu zu. Peng wollte es sich nicht mit dem jungen Prinzen verderben, aber sollte er dem Daoisten wirklich das Leben retten, wo er ihn schon fast besiegt hatte? Ma Yu nutzte die Verschnaufpause, um mit seiner inneren Kraft das Gift zu bezwingen und das schwarze Blut bis hinunter ins Handgelenk zurückzudrängen.
Wanyan Kang rannte zu seiner Mutter. »Endlich haben wir dich gefunden, Mutter!«
»Ich kehre nicht zurück in die Residenz, niemals!«, sagte Bao Xiruo entschlossen.
»Was?«, riefen Wanyan Honglie und Wanyan Kang wie aus einem Mund.
Bao Xiruo zeigte auf Yang Tiexin. »Mein totgeglaubter Mann lebt. Ich werde ihm überall hin folgen.«
Wanyan Honglie begriff. Er warf Liang Ziweng einen Blick zu und bewegte stumm die Lippen. Liang verstand sofort. Mit einer schnellen Handbewegung warf er drei seiner Knochenbrecher-Meridiannägel auf Yang Tiexins wichtige Nervenpunkte. Qiu Chuji erfasste mit einem Blick, dass Yang Tiexin nicht mehr ausweichen konnte und auch keine Waffe hatte, um die todbringenden Geschosse abzuwehren. Kurz entschlossen packte er eine von Wanyan Honglies Leibwachen und warf ihn zwischen Yang Tiexin und die Geschosse.
Der Soldat schrie wie am Spieß, als die eisernen Nägel in seinen Körper drangen.
Liang Ziweng, der sich eine Menge auf seine einzigartige Waffe einbildete, deren Handhabung er sein Leben lang geübt hatte, kochte vor Wut. Noch nie hatte er ein Ziel verfehlt! Es war an der Zeit, diesem Daoisten eine Lektion zu erteilen. Brüllend stürzte er sich auf Qiu Chuji.
Angesichts dieser unvorhergesehenen Wendung überlegte Peng Lianhu nicht lange und behielt das Gegengift. Der Prinz von Jin will nur seine Gemahlin zurück, das ist alles, dachte er. Ich will sie ihm bringen. Er wollte Bao Xiruo am Arm packen.
Aber Qiu Chuji ließ sein Schwert wirbeln und hielt mit Spitze und Klinge sowohl Liang Ziweng als auch Peng Lianhu auf Abstand. Dieser jähzornige Daoist vermochte nach wie vor, ihnen Respekt einzuflößen.
»Du dummer Junge!«, schrie er jetzt Wangyan Kang an. »Achtzehn Jahre lang hast du einen Schurken für deinen Vater gehalten. Jetzt hast du endlich deinen leiblichen Vater vor dir. Zoll ihm gefälligst Respekt!«
Als seine Mutter ihm am Abend zuvor erzählt hatte, wer dieser Mann war, hatte Wanyan Kang ihr nicht glauben wollen. Jetzt, wo sein Meister erneut von diesem Mann als seinem Vater sprach, war er sich nicht mehr so sicher. Er warf einen Blick auf Yang Tiexin. Ein einfacher Mann in zerschlissener Kleidung und einem abgehärmten Gesicht. Sein Blick schweifte von ihm zu Prinz Wanyan Honglie, der in seiner jadeverzierten Brokatrobe eine Erscheinung von stolzer Eleganz abgab. Zwischen diesen Männern lagen Welten. Soll ich denn auf Reichtum und Ansehen verzichten, um mit diesem Bauerntrampel auf der Straße zu leben? Niemals! »Meister, hört nicht auf die wirren Reden dieses Kerls und rettet meine Mutter vor ihm!«
»Wie kannst du so verbohrt sein, den eigenen Vater zu verleugnen! Du elendes Tier!« Qiu Chuji tobte.
Für Peng Lianhu war die Sache klar. Nun konnte er endgültig auf brutalste Weise mit diesem Daoisten abrechnen, ohne befürchten zu müssen, bei seinen Gönnern auf Widerstand zu stoßen.
Wanyan Kang wagte kein Widerwort gegen seinen Meister; er fürchtete Qiu Chujis Zorn so sehr, dass er insgeheim hoffte, Peng Lianhu und die anderen würde ihn töten. Schon färbte sich Qiu Chujis rechter Ärmel blutrot. Liang Ziweng hatte ihn mit seiner Ginsenghacke attackiert. Qiu Chuji bemerkte das Lächeln auf Wanyan Kangs Gesicht. »Du räudiger Hund!«
Ma Yu griff in seine Brusttasche. Im nächsten Augenblick flog ein Leuchtgeschoss nach oben und eine Flamme erhellte den Himmel.
»Vorsicht, der alte Mönch ruft Hilfe herbei!« Peng Lianhu hatte seine Absicht sofort durchschaut und griff die Mönche noch wütender an. Am nordwestlichen Himmel stieg ebenfalls eine Flamme auf. Qiu Chuji frohlockte. »Bruder Wang und die anderen sind nicht weit.« Mit dem Schwert in der Linken zwang er seine Gegner mit einer Abfolge wieselflinker Stöße zum Zurückweichen.
Ma Yu zeigte nach Nordwesten. »Da entlang!«
Yang Tiexin und Mu Nianci packten ihre Waffen und rannten mit Bao Xiruo in ihrer Mitte los, gefolgt von Ma Yu und Qiu Chuji, der den Fliehenden mit seinem Schwert den Rücken freihielt. Sha Tongtian versuchte mehrfach, mit seiner Kunst der wandelnden Form Qiu Chujis Schwertwirbel zu durchbrechen, doch die windschnellen Bewegungen der Klinge waren wie ein undurchdringlicher Schutzschild.
Bald erreichte die Gruppe das Gasthaus, in dem sich Wang Chuyi aufhielt. Warum ist er uns nicht entgegengekommen?, fragte sich Qiu Chuji. Er erhielt Antwort in Gestalt des geschwächten Bruders, der auf einen Stock gestützt heranhumpelte.
Welcher dieser drei großen Kampfkünstler der Quanzhen-Schule hätte gedacht, dass sie bei ihrem Wiedersehen alle drei schwer verwundet sein würden?
»Schnell, hinein in die Schenke«, drängte Qiu Chuji die anderen.
»Gebt die Prinzgemahlin heraus und ich werde Euer Leben verschonen!«, rief Wanyan Honglie.
»Wir brauchen keine Gnade von euch Jin-Hunden!«, brüllte Qiu Chuji zurück und focht weiter. Sie waren umzingelt, aber er war entschlossen, bis zum Äußersten zu kämpfen. Seine Klinge durchschnitt flink und geschmeidig in immer neuen Manövern die Luft wie ein schillernder Regenbogen. Die unermüdliche Tapferkeit und die große Meisterschaft des Daoisten rang Peng Lianhu zwar Bewunderung ab, dennoch gratulierte er sich innerlich bereits dazu, innerhalb eines einzigen Tages drei Quanzhen-Meister vernichtet zu haben.
Für Yang Tiexin schien der Kampf aussichtslos. Bald würde das Gift den Daoisten bezwingen. Wenn er jetzt handelte, konnte er wenigstens Qiu Chujis Leben retten. Er fasste Bao Xiruo an der Hand und trat mit seinem Speer vor. »Hört auf! Dies muss ein Ende haben, hier und jetzt.«
Er richtete die Speerspitze auf sich und stieß sie in sein Herz. Tiexin! Mit einem irren Lachen zog Bao Xiruo mit beiden Händen den Speer heraus und rammte ihn mit der Spitze nach oben vor sich in den Boden. Dann wandte sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht Wanyan Kang zu. »Mein Sohn, verleugnest du noch immer deinen eigenen Vater?« Ohne die Antwort abzuwarten, sprang sie hoch und ließ sich vornüber in die Speerspitze fallen.
»Mutter!«
Die Kämpfenden ließen voneinander ab.
Wanyan Kang stürzte auf seine Mutter zu. Weinend umschlang er ihren Körper, der blutend und schlaff über dem Speer hing. Rasch untersuchte Qiu Chuji die Wunden der beiden, doch jede Hilfe kam zu spät. Während Wanyan Kang seine Mutter in den Armen hielt, umfasste Mu Nianci ihren Ziehvater. Beide saßen schluchzend nebeneinander auf dem Boden.
»Bruder Yang«, flüsterte Qiu Chuji dem Sterbenden zu, »wenn es noch etwas gibt, das ich für dich tun kann, sag es mir, und ich erfülle dir jeden Wunsch … Ich …« Er brach in Tränen aus.
Hufgetrappel erscholl und im nächsten Augenblick erschienen Guo Jing und die Sechs Sonderlinge des Südens am Ort des Geschehens. Als sie Peng Lianghu und seine Bande erblickten, zückten sie sofort die Waffen. Aber dann bemerkten sie überrascht, dass niemand ihnen Beachtung schenkte. Alle starrten wie versteinert von der Tragödie, die sich vor ihren Augen abgespielt hatte, auf einen Mann und eine Frau, die blutend am Boden lagen.
Die Sonderlinge traten näher heran und ihre Überraschung war noch größer, als sie sahen, dass auch Qiu Chuji und Ma Yu hier waren. Dann erkannte Guo Jing, wer der Mann war, der dort in seinem Blut lag.
»Onkel Yang! Was ist passiert?«
Ein Lächeln glitt über Yang Tiexins Gesicht. »Weißt du, Guo Jing«, hauchte er, »dein Vater und ich, wir haben uns damals geschworen, dass … wenn wir einen Sohn und eine Tochter hätten, dass die beiden heiraten sollten …« Er rang nach Luft. »Meine Adoptivtochter hier, sie ist wie meine eigene Tochter …« Er sah Qiu Chuji an. »Wenn du mir diesen Wunsch erfüllen könntest, Bruder Qiu … dann … kann ich in Frieden sterben.«
»Ich werde dafür Sorge tragen, Bruder Yang, das verspreche ich«, sagte Qiu Chuji.
Halb bewusstlos klammerte sich die sterbende Bao Xiruo an Yang Tiexins Arm, um ihn vor dem eigenen Tod nicht noch einmal zu verlieren. Als sie ihn den alten Schwur wiederholen hörte, zog sie mit letzter Kraft einen Gegenstand aus ihrem Kleid. »Hier … das Symbol …«
Qiu Chuji nahm den Dolch aus ihrer Hand, den er selbst vor achtzehn Jahren Yang Tiexin geschenkt und in dessen Griff er eigenhändig den Namen »Guo Jing« geritzt hatte.
»Wie glücklich ich bin … Endlich vereint, nach so langer Zeit … auf ewig.« Mit einem seligen Lächeln auf ihrem schönen Gesicht schloss Bao Xiruo die Augen.
»Im Namen deines toten Vaters«, wandte sich Yang Tiexin noch einmal an Guo Jing. »Pass gut … auf meine Tochter auf.«
»Ich … aber …«, stammelte Guo Jing.
»Ich kümmere mich darum, du kannst in Frieden sterben«, versicherte Qiu Chuji.
Das Duell um die Braut, ein Wettbewerb, mit dem Yang Tiexin unter dem Decknamen Mu Yi mit Mu Nianci vorgeblich durch das Land gezogen war, um einen Gatten für seine Adoptivtochter zu finden, hatte keinem anderen Zweck gedient, als den Sohn seines Schwurbruders Guo Xiaotian aufzustöbern. Nun hatte er am selben Tag nicht nur seine geliebte Frau wiedergefunden, sondern auch den erwachsenen Sohn seines Freundes kennengelernt. Und auch für seine Adoptivtochter war nun gesorgt. Alles, was er sich vom Leben noch erhofft hatte, war in Erfüllung gegangen, und er konnte ohne Reue sterben.
Guo Jing dagegen beunruhigten Yang Tiexins letzte Worte. Unter die Trauer um den Freund seines Vaters mischte sich ein anderer Kummer. Aber es ist doch Huang Rong, der mein Herz gehört, wie könnte ich eine andere heiraten? Siedend heiß fiel ihm noch etwas anderes ein: Ich habe Khojin ganz vergessen! Der Khan hat mir persönlich seine Tochter versprochen … Was mache ich nur?
Seit er die mongolische Steppe verlassen hatte, hatte er seinen Anda Tolui oft vermisst. An dessen Schwester Khojin aber hatte er so gut wie überhaupt nicht mehr gedacht. Die Sonderlinge erinnerten sich sehr wohl an die Worte des Khans und wussten um das Dilemma, das Yang Tiexins Wunsch bedeutete, hielten aber aus Respekt vor dem Sterbenden den Mund.
Wanyan Honglie hatte alles getan, um Bao Xiruo nicht nur zu seiner Frau zu machen, sondern auch, um ihr Herz zu gewinnen, aber sie hatte niemals ihren ersten Mann vergessen. Jeden Wunsch hatte er ihr erfüllt. Als sie unbedingt den alten Plunder aus ihrem bäuerlichen Leben wiederhaben wollte, hatte er Soldaten in den Süden geschickt, um ihre alte Hütte abzutragen und auf dem Palastgelände aufzubauen. Mit solchen großen Gesten hatte er gehofft, ihre Zuneigung zu gewinnen, am Ende aber hatte er nur verloren. Wie glücklich und liebevoll hatte sie im Tode ausgesehen. Hatte er sie in den vergangenen achtzehn Jahren auch nur einmal so voller Zuneigung erlebt? Er mochte ein hoher Prinz sein, aber für sie hatte er nie an diesen einfachen Bauern herangereicht. Sein gebrochenes Herz ertrug keine anderen Menschen um sich. Er wendete sein Pferd und ritt zurück zum Palast.
Da Sha Tongtian und die anderen mit der Ankunft der Sonderlinge ihre Überlegenheit eingebüßt hatten, schickten sie sich an, dem Prinzen zu folgen.
»Halt! Nicht so eilig, Drei Schwarze Katzen! Rück zuerst das Gegengift heraus«. Qiu Chuji schnitt Peng Lianhu den Weg ab.
»Haha, tut mir leid, aber mein Name ist Peng Lianhu, genannt der Metzger mit den tausend Händen. Ihr scheint mich zu verwechseln.«
Diesen Namen hatte Qiu Chuji allerdings schon einmal gehört. Jetzt wunderte er sich nicht mehr über die gefährliche Kampfkunst dieses Mannes. Um das Leben seiner Brüder willen ließ er sich nicht auf die Provokation ein. »Mir ist es gleich, ob Ihr drei Beine oder tausend Hände habt, aber Ihr geht nicht, ohne mir das Gegenmittel dazulassen.«
Metall blitzte auf und die grünglänzende Klinge seines Schwerts richtete sich auf Peng Lianhu. Diesem war zwar nur noch einer seiner Richterpinsel geblieben, aber dennoch konterte er den Angriff sofort.
Zhu Cong hatte beobachtet, dass Ma Yu auf dem Boden saß und mit aller Kraft sein Qi zu lenken versuchte. Seine rechte Hand war ganz schwarz. »Wie ist das passiert, Bruder Ma Yu?«, fragte er.
»Ich habe jenem Peng dort die Hand gereicht, und er hat meine Geste mit vergifteten Nadeln erwidert.«
»Wenn es weiter nichts ist.« Zhu Cong wandte sich an Ke Zhen’e. »Gibst du mir eine von deinen Kastanien, Erster Bruder?«
Ke Zhen’e begriff zwar nicht, was sein gewitzter Kampfbruder vorhatte, aber er langte in seinen Hirschlederbeutel und reichte ihm eine seiner Geheimwaffen.
»Lass uns zuerst Peng und Qiu Chuji auseinanderbringen, Großer Bruder«, flüsterte ihm Zhu Cong zu. »Ich weiß, wie wir Ma Yu retten können.«
Laut rief er: »Ah, wir haben es also mit dem Metzger der tausend Hände zu tun, dem Räuberhauptmann Peng. Wir kämpfen auf derselben Seite! Macht diesem sinnlosen Gerangel ein Ende, und hört mich an.«
Schnell stellten sich Zhu Cong und Ke Zhen’e zwischen Peng Lianghu und Qiu Chuji, der eine mit dem Ölpapierfächer in der Hand, der andere mit seinem Eisenstab.
Sowohl Peng als auch der Daoist waren von Zhu Congs Worten verwirrt. Was sollte das heißen, wir kämpfen auf derselben Seite? Auf wessen Seite? Überrascht ließen sie voneinander ab.
»Vor achtzehn Jahren haben wir Sieben Sonderlinge uns einen Kampf mit Meister Ewiger Frühling Qiu Chuji geliefert«, sagte Zhu Cong lächelnd. »Er hat damals fünf von uns verwundet, aber auch der im ganzen Jianghu berüchtigte Meister Ewiger Frühling ging mehr tot als lebendig aus dem Kampf hervor. Wir haben also noch eine Rechnung offen …« Er drehte sich zu Qiu Chuji um. »Habe ich recht, Meister Ewiger Frühling?«
»Was soll das nun wieder heißen?« Qiu Chuji konnte seine Wut kaum beherrschen. So, wollt ihr also meine Notlage ausnutzen?, dachte er grimmig.
»Aber wir sind leider auch Drachenkönig Sha auf die Füße getreten. Unser nichtsnutziger Schüler hat ganz allein vier seiner gefürchteten Gefolgsleute erledigt. Soweit ich weiß, sind der Drachenkönig und der Metzger der tausend Hände unzertrennliche Freunde. Schaden wir dem einen, machen wir uns auch den anderen zum Feind, fürchte ich.«
Peng Lianhu schnaubte höhnisch. »Aber nicht doch.«
»Da nun also zwischen uns sechs und jedem von Euch beiden böses Blut herrscht, sind wir Euer beider Feind. Macht das nicht andererseits Euch beide zu Verbündeten? Haha, warum kämpft Ihr dann noch gegeneinander? Und kämpfen wir sechs dann nicht auf derselben Seite wie Räuberhauptmann Peng? Wir sollten lieber Freunde sein.«
Er bot Peng Lianghu die Hand dar.
Was redet der Kerl für einen vermaledeiten Blödsinn? Als hätte nicht einer dieser Mönche vor zwei Tagen erst Euren dreckigen Schüler gerettet! Mich hältst du nicht so leicht zum Narren!, dachte sich Peng Lianhu und streifte heimlich den Ring mit seiner Geheimwaffe auf den Finger.
»Vorsicht, Zhu Cong!«, rief Qiu Chuji alarmiert. Ungerührt streckte Zhu Cong die Hand aus, den kleinen Finger abgespreizt, um ihn um Peng Lianhus mit dem Giftring bestückten Finger zu haken. Ahnungslos drückte der Drachenkönig mit aller Kraft Zhu Congs Hand. Ein dumpfer Druck durchfuhr seine Handfläche. Entsetzt schüttelte er Zhu Cong ab, sprang zurück und sah die drei Löcher in seiner Hand, viel größer als die, die seine Giftnadeln verursachten. Die Wunden bluteten, kribbelten beinahe angenehm, schmerzten aber nicht.
Tödliches Gift verursacht keine Schmerzen.
Seine ganze Hand war bereits taub. Wie hatte das passieren können?
Grinsend verschanzte sich Zhu Cong hinter Qiu Chuji und winkte Peng Lianhu mit einer Hand zu, an der dessen eigener mit Giftnadeln gespickter Ring steckte. In der anderen Hand hielt er etwas Schwarzes, das wie eine Wasserkastanie aussah, aber spitze Stacheln hatte, von denen Blut tropfte. Peng Lianhus Blut.
Zhu Cong kämpfte ebenso mit dem Kopf wie mit dem Geschick seiner meisterhaft flinken Hände. Für ihn war dieser doppelte Schachzug ein Kinderspiel gewesen.
Wie ein wildgewordener Affe wollte sich Peng Lianhu auf Zhu Cong stürzen. Qiu Chujis Schwert versperrte ihm den Weg. »Was jetzt, he?«
»Nun, Räuberhauptmann Peng«, sagte Zhu Cong lächelnd, »das ist die Geheimwaffe unseres Ersten Bruders. Uns interessiert nicht, wie du dich nennst, ob du ein Tiger, Panther, Schwein oder Hund oder ein anderes Tier bist, dieses Gift tötet innerhalb von vier Stunden jede lebende Kreatur. Glücklicherweise hast du tausend Hände, du kannst dir diese da also getrost abhacken und hast immer noch neunhundertneunundneunzig übrig. Nur musst du dir dann einen neuen Titel zulegen …«
Schweiß tropfte von Peng Lianhus Brauen. Inzwischen war auch sein Handgelenk taub, und die Angst bezwang sogar seine Wut über Zhu Congs Beleidigungen.
»Du hast deinen Giftnadelring, und ich habe meine Giftkastanie. Zwei Gifte, für die es zwei verschiedene Gegenmittel gibt. Wenn du dich also weiterhin Metzger mit den tausend Händen nennen willst, könnten wir doch auf derselben Seite stehen und einen freundschaftlichen Austausch vornehmen, meint Ihr nicht?«
Nun mischte sich Sha Tongtian ein. »Gut, dann her mit dem Gegenmittel!«
»Erster Bruder, gib mir das Gegenmittel.«
Ke Zhen’e zog zwei Päckchen mit Medizin aus seiner Tasche. Zhu Cong nahm sie in die Hand und hielt sie Sha Tongtian hin.
»Lass ihn erst sein Gegenmittel herausrücken, Bruder Zhu!«, warnte Qiu Chuji.
»Nicht doch. Ein Ehrenmann steht zu seinem Wort«, lächelte Zhu Cong.
Peng Lianghu griff mit der gesunden Hand in sein Hemd und wurde blass. »Wo ist es hin?«
»Schluss mit deinen miesen Finten!«, rief Qiu Chuji. »Gib es ihm nicht, Zhu!«
»Hier, nimm«, sagte Zhu Cong. »Die sieben Meister der Quanzhen-Schule und die Sieben Sonderlinge des Südens stehen zu ihrem Wort. Wie gesagt, so getan.«