Die Legende der Adlerkrieger - Jin Yong - E-Book
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Die Legende der Adlerkrieger E-Book

Jin Yong

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Beschreibung

Kurz bevor sie von den Soldaten des Jin-Reiches getötet werden, schließen die beiden Kung-Fu-Kämpfer Guo Xiaotian und Yang Tiexin einen Pakt: Auf immer sollen ihre beiden noch ungeborenen Kinder einander in Treue verbunden sein. Während der Weg des Schicksals Yangs schwangere Frau an den Hof des Jin-Prinzen führt, verschlägt es Guos Frau in die weiten Steppen der Mongolei. Dort bringt sie ihren Sohn Guo Jing zur Welt, und die beiden finden Unterschlupf beim Clan des aufstrebenden Mongolenfürsten Dschingis Khan. Bald wird Guo Jing von den Sieben Sonderlingen des Südens, den herausragendsten Kung-Fu-Meistern, zum Kämpfer ausgebildet. Und schon bald findet sich der tapfere und gutherzige junge Krieger inmitten eines gewaltigen Abenteuers wieder, bei dem es um nichts Geringeres geht als das Schicksal Chinas selbst. Noch ahnt Guo Jing nicht, dass sein mächtigster Gegenspieler der von seinem verstorbenen Vater auserkorene Schwurbruder Yang sein wird ...

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Das Buch

Kurz bevor sie von den grausamen Soldaten des Jin-Reiches getötet werden, schließen die beiden Kung-Fu-Kämpfer Guo Xiaotian und Yang Tiexin einen Pakt: Für immer sollen ihre beiden noch ungeborenen Kinder einander in Treue verbunden sein. Während der Weg des Schicksals Yangs schwangere Frau an den Hof des Jin-Prinzen führt, verschlägt es Guos Frau in die weiten Steppen der Mongolei. Dort bringt sie ihren Sohn Guo Jing zur Welt, und die beiden finden Unterschlupf beim Clan des aufstrebenden Mongolenfürsten Dschingis Khan. Bald wird Guo Jing von den Sieben Sonderlingen des Südens, den besten Kung-Fu-Meistern Chinas, zum Kämpfer ausgebildet. Und kurz darauf findet sich der tapfere und gutherzige junge Krieger inmitten eines gewaltigen Abenteuers wieder, bei dem es um nichts Geringeres geht als das Schicksal Chinas selbst. Noch ahnt Guo Jing nicht, dass sein mächtigster Gegenspieler der von seinem verstorbenen Vater auserkorene Schwurbruder Yang Kang sein wird …

Die Legende der Adlerkrieger ist der Auftakt zu Jin Yongs großer Fantasy-Saga, die seit ihrem Erscheinen Generationen von Leserinnen und Lesern in ganz Asien begeistert hat und inzwischen zu den großen Klassikern der modernen chinesischen Literatur zählt.

»Voller Action und brillanter Figuren – Fantasy-Fans werden diesen Klassiker des Genres lieben!«

BOOKLIST

»Jin Yongs Werk begeistert seit Generationen Millionen von Lesern.«

BBC

Der Autor

Jin Yong wurde 1924 in Haining, China, geboren. Er studierte kurze Zeit an der »Zentralen Politischen Hochschule« in Chongqing und war anschließend als Übersetzer und Zeitungsredakteur tätig. 1955 veröffentlichte er seinen ersten Roman, dem noch viele weitere folgen sollten. Jin Yongs Hauptwerk Die Legende der Adlerkrieger hat sich über 100 Millionen mal verkauft, wurde mehrfach verfilmt sowie in zahlreiche Sprachen übersetzt und gilt in China als Meilenstein der Kung-Fu-Literatur. In Hongkong gibt es sogar ein eigenes Jin-Yong-Museum. Der Autor starb 2018 im Alter von 94 Jahren in Hongkong.

Jin Yong

DIE LEGENDE DERADLERKRIEGER

Roman

Aus dem Chinesischen übersetztund mit einem Vorwort von Karin Betz

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der chinesischen Originalausgabe:

射鵰英雄傳

(Shediao yingxiong zhuan)

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 11/2020

Redaktion: Kristof Kurz

Copyright © 1959, 1976, 2003 by Jin Yong (Louis Cha)

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e. V. fürdie großzügige Unterstützung ihrer Arbeit durch ein Stipendium.

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München,unter Verwendung einer Illustration vonMing Ho Publications Corporation Limited and Lee Chi Ching

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-23776-9V001

www.heyne.de

Inhalt

Vorwort

Personenverzeichnis

1    Ein folgenreicher Schneesturm

2    Die Sieben Sonderlinge des Südens

3    Der Wind der Steppe

4    Die Zwillingsmörder der dunklen Winde

5    Den Bogen spannen, den Adler schießen

6    Auf dem Felsen überlistet

7    Duell um die Braut

8    Schau der großen Talente

9    Eisenspeer und Pflugschar

10    Der Rauch der Vergangenheit

Anmerkungen

Vorwort

IM WALD DER KAMPFKUNST

Jin Yong und der Kung-Fu-Roman

»Jetzt darf aber auch ich mir einen Schluck gönnen!« Han Xiaoying, die Meisterin des Yue-Schwerts, stieß sich mit einem Bein ab, flog wie eine Schwalbe durch die Stube über den Kessel hinweg und tauchte im Flug kurz den Mund in den Schnaps, bevor sie elegant auf dem Fenstersims landete.

Es war einmal eine Gesellschaft von merkwürdigen, weisen und verschlagenen, schrulligen und schönen Männern und Frauen, die in der Welt der Kampfkünste – dem Jianghu – zu Hause waren. Ihre Lehrer sind Meister ihres Fachs, und in ihrer Welt gibt es keine Klassenunterschiede, denn im Gegensatz zum korrupten Staatsapparat fühlen sie sich dem einfachen Volk verpflichtet und ihre Handlungen werden von moralischen Werten wie Gerechtigkeit, Treue und Ehre geleitet. Doch auch unter ihresgleichen lassen Stolz, Eitelkeiten und Rivalitäten die hehren Ziele leicht vergessen, und überall im »Kampfwald« Wulin lauern unwägbare Gefahren und Intrigen. Die rebellischen Kung-Fu-Krieger bezwingen ihre Gegner jeder auf seine Art, mal mit magischer Schwebekunst, mal mit einer Atemtechnik, die ihnen einen natürlichen Panzer verleiht, oder mit geheimen Giftwaffen. Und sie verfügen über unzählige Kampfformen wie die Kunst der goldenen Gans, die Berge zerteilende Hand oder Aufsteigender Phönix und tanzender Drache. Sie alle möchten den Schlüssel zur Unbesiegbarkeit finden, ein verschollenes Buch mit dem Titel Der Wahre Weg der Neun Yin.

Willkommen in der Welt von Jin Yong, dem meistgelesenen chinesischen Schriftsteller unserer Zeit. »Leider zu populär für den Nobelpreis« schrieb ein Hongkonger Kritiker in einem Nachruf, als Jin Yong 2018 starb, und zahlreiche bekannte Gesichter von Jackie Chan bis Jack Ma reihten sich in die endlose Schlange der Kondolierenden ein. Seit 1948 lebte der 1924 in Haining geborene Roman- und Drehbuchautor, Journalist und Verleger in der ehemaligen britischen Kronkolonie. Das Hongkong Heritage Museum hat Jin Yong und seinen Romanfiguren schon zu Lebzeiten eine eigene Abteilung gewidmet – natürlich direkt neben der für die Kung-Fu-Legende Bruce Lee.

Jin Yong war unbestritten der größte Kung-Fu-Autor aller Zeiten. Wer sein berühmtestes Werk, die immer wieder neu verfilmte Legende der Adlerkrieger liest, versteht, warum diese Romanserie als Meilenstein des Genres gilt. Denn bei Jin Yong geht es um sehr viel mehr als fliegende Tritte und lähmende Schläge. Seine Figuren sind stets auf der Suche nach Selbstvervollkommnung und dabei auf liebenswerte Weise niemals unfehlbar. In ihren besten Momenten trinken sie entspannt im Schwebeflug einen Schluck guten Weins aus einem Riesenkrug, rezitieren dabei Gedichte und scheren sich keinen Deut um Regeln und Ruhm. Guo Jing, der Held des ersten Bandes, den wir auf seinem abenteuerlichen Lebensweg begleiten, ist weder besonders gescheit noch besonders geschickt, aber tapfer und treu wie kein Zweiter. Er stellt seinen Begriff von Ehre über alle politischen oder pragmatischen Ziele und interessiert sich allein für das Wohlergehen des Volkes. Die Loyalität gegenüber seinem mongolischen Ziehvater Dschingis Khan endet erst dann, als es darum geht, das Leben Unschuldiger zu retten. Eines Tages wird er zu ihm sagen: »Schon immer werden nur diejenigen Helden von ihren Zeitgenossen bewundert und von ihren Nachfahren vermisst, die das einfache Volk geliebt und beschützt haben. Wer viele Menschen tötet, ist für mich noch lange kein Held.«

Zunächst haben diese aufmüpfigen Helden des Jianghu, der »Welt der Flüsse und Seen«, so die wörtliche Bedeutung, sicher einiges gemeinsam mit gewissen berühmten Galliern oder Robin Hoods fröhlichen Gesellen. Aber sie verfügen nicht nur über ein unendlich größeres Repertoire an Kampfkunst mit und ohne Waffen. Was Jin Yongs Epos zu großer Weltliteratur macht, ist zum einen seine sprachmächtige und kreative Verbindung fiktiver Charaktere und Legenden mit historischen Figuren und Ereignissen. Dazu gehören die fantasiereiche Erfindung und Beschreibung einer Fülle von Kampftechniken und die Zusammenführung sämtlicher Mythen rund um die Kampfkunst. Die Legende der Adlerkrieger bewegt sich von einer detailreichen Beschreibung zur nächsten, dabei ist jeder Kampf anders, der Leser wird durch immer neue Tricks und Wendungen überrascht. Der überwiegende Teil der vielen Kampfkunstschulen, die in den Adlerkriegern eine Rolle spielen, ist von Jin Yong frei erdacht, genauso wie beneidenswerte übernatürliche Fähigkeiten wie die Schwebetechnik Qinggong oder die Lähmung des Gegners durch einen Schlag auf die Nervenpunkte. Keine Erfindung Jin Yongs hingegen ist die Unterscheidung zwischen der äußeren, auf Techniken basierenden Kampfkunst Waigong, die von buddhistischen Mönchen wie den Shaolin überliefert worden ist, und der inneren Kampfkunst Neigong der daoistischen Wudang-Schule, bei der die richtige Handhabung der Lebensenergie Qi die Grundlage für das wahre Kung-Fu bildet.

Zum anderen gelingt es Jin Yong gerade durch die Allgegenwart der buddhistischen und daoistischen Philosophie in seinem Werk, einen anderen Blick auf die chinesische Geschichte zu werfen und den chinesischen Nationalgedanken neu zu definieren. Auch wenn die politischen Geschicke des Kaiserreichs und die Wiedereroberung verlorener Gebiete den historischen Rahmen der Adlerkrieger bilden, werden in Jin Yongs Welt die eigentlichen Grenzen Chinas durch den von Mythen und Legenden untermauerten Ehrenkodex der Gegengesellschaft Jianghu bestimmt. Die Chinesen bilden hier keine nationale Einheit, sondern eine bunte, zuweilen in alle Winde verstreute Kulturgemeinschaft, die sich ihrer Dichtung, Kalligrafie, Medizin, Kochkunst, ihrer Waffen und natürlich der Kampfkunst rühmt und sich darin eint. Eine Referenz an diese Traditionen steckt auch in der Verwendung einer eigenen Kunstsprache, die Anleihen beim klassischen Chinesisch nimmt und muttersprachlichen Lesern und Leserinnen als typischer Jin-Yong-Sound vertraut ist.

Die chinesische Geschichte als Kung-Fu-Drama wird bei Jin Yong zu einer Geschichte der Freiheit. Historisch betrachtet hatten während der Song-Dynastie (960–1279), in der dieser Roman spielt, Buddhismus und Daoismus an Bedeutung verloren. An ihre Stelle rückte der Neokonfuzianismus mit seiner streng hierarchischen und patriarchalischen Ordnung. In dieser Zeit kam auch der brutale Brauch auf, jungen Mädchen die Füße so abzubinden, dass der Fuß verkrüppelte und dem Schönheitsideal kleiner »Lotosfüße« entsprach. In der Welt der Adlerkrieger dagegen sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Jin Yongs Heldinnen haben keine Lotosfüße und kämpfen mindestens so formidabel, gewitzt oder grausam wie ihre männlichen Mitstreiter oder Gegner. Der sture und geradlinige Guo Jing wird erst durch die Liebe der klugen und frechen Huang Rong zum Helden. Und auch diese Liebe setzt sich über alle Grenzen hinweg – so wie die Liebe des titelgebenden Adlerpaars, ein Sinnbild der Freiheit, das der Handlung in der Mitte des ersten Buches eine neue Wendung gibt.

Die Geschichte spielt zu Beginn des 13. Jahrhunderts in der südlichen Song-Zeit. Kaiser Qinzong hatte die nördliche Hälfte seines Großreichs kampflos einer fremden Macht überlassen und China damit zu einem Vasallenstaat degradiert, und auch seine Nachfolger kümmerten sich wenig um die Geschicke ihres Volks und gaben sich lieber einem ausschweifenden Lebensstil hin. Die Handlung der Adlerkrieger setzt zwei Generationen später zur Regierungszeit des Kaisers Ningzong (1194–1224) ein. Wir lernen zwei Männer kennen, Guo Xiaotian und Yang Tiexin, die sich Bruderschaft geschworen haben und als Bauern in einem Dorf unweit der Hauptstadt des südlichen Song-Reichs leben.

Auch Guo Xiaotian und Yang Tiexin fühlen sich der Welt des Jianghu verbunden und teilen ihren Hass auf das korrupte Kaiserhaus und den Wunsch nach Gerechtigkeit für das einfache Volk. Aus ihrer schicksalhaften Begegnung mit einem großen Meister der Kampfkunst dieser Gegenwelt, dem daoistischen Mönch Qiu Chuji, entspinnt sich die turbulente Handlung des Romans. Im Mittelpunkt des ersten Bandes steht der Lebensweg der beiden Kinder von Guo Xiaotian und Yang Tiexin, die jeweils unter fremden Völkern des Nordens aufwachsen. Zunächst sieht es nicht so aus, als ob sie das Versprechen ihrer Väter, dereinst Schwurbrüder zu werden und die Schmach ihrer Nation wiedergutzumachen, einlösen werden. Wäre da nicht die Wette zwischen dem daoistischen Mönch und einer Bande von Kampfkünstlern, die als die Sieben Sonderlinge des Südens bekannt sind …

Zum ersten Mal können nun auch deutsche Leserinnen und Leser sich auf dieses wilde und poetische Kung-Fu-Abenteuer einlassen und mitfiebern, wenn eine Handvoll Meister dieser Kampfkunst über das Schicksal eines Großreichs entscheidet.

Karin Betz

Personenverzeichnis

PROTAGONISTEN

Guo Jing, Sohn von Guo Xiaotian und Li Ping

Huang Rong, geheimnisvolle Kung-Fu-Kämpferin

Guo Xiaotian, Nachfahre von Guo Sheng, einem Räuber vom Liangshan-Moor

Yang Tiexin, Schwurbruder Guo Xiaotians, Nachfahre des Helden Yang, der unter General Yue Fei gedient hat

Bao Xiruo, Yang Tiexins Frau, Mutter von Yang Kang

Li Ping, Guo Xiaotians Frau, Mutter von Guo Jing

Qu San, Inhaber der Dorfschenke von Niu, geheimnisvoller Kung-Fu-Veteran

Mu Yi, wandernder Kung-Fu-Kämpfer

Mu Nianci, Adoptivtochter Mu Yis

KORRUPTE VERTRETER DES SONG-KAISERHAUSES(Hauptstadt Lin’an, heute Hangzhou)

Duan Tiande, Offizier der Song-Armee

Wang Daoqian, Botschafter des Song-Kaiserhofs

DIE SIEBEN SONDERLINGE DES SÜDENS

Ke Zhen’e, der Bezwinger allen Übels, genannt Fliegende Fledermaus

Zhu Cong, der Gelehrte, genannt Wunderhand

Han Baoju, der Reiterkönig, genannt Hüter der Ställe

Nan Xiren, der Holzhacker, genannt Holzfäller der südlichen Berge

Zhang Ahsheng, der Metzger, genannt Lachender Buddha

Quan Jinfa, der Herrliche, genannt Heimlicher Held des Marktplatzes

Han Xiaoying, die Fischerin, genannt Meisterin des Yue-Schwerts

DIE DAOISTEN

Wang Chongyang, genannt Zweifache Sonne, einer der fünf Großmeister des Jianghu, Gründer der Quanzhen-Kung-Fu-Schule der Daoisten

Die Sieben Jünger der Quanzhen-Schule:

Ma Yu, genannt Zinnoberrote Sonne

Tan Chuduan, genannt Ewige Wahrheit

Qiu Chuxuan, genannt Langes Leben

Qiu Chuji, genannt Ewiger Frühling

Wang Chuyi, genannt Jadesonne

Hao Datong, genannt Große Ruhe

Sun Bu’er, genannt Wandelnde Klarheit

Yin Zhiping, Novize; Schüler Qiu Chujis

SCHULE DER PFIRSICHBLÜTENINSEL DES OSTMEERS

Apotheker Huang, genannt Ketzer des Ostens, einer der fünf Großmeister des Jianghu

Seine Schüler:

Mei Chaofeng, genannt Eisenleiche

Chen Xuanfeng, genannt Kupferleiche

(Zusammen bekannt als die Zwillingsmörder der Dunklen Winde)

Qu Lingfeng

Lu Bingfeng

Wu Baifeng

Feng Qianfeng

DIE MONGOLEN

Temüdjin, der Große Khan, später Dschingis Khan

Seine Kinder:

Joci

Chagatai

Ögedei

Tolui

Khojin

Verbündete Temüdjins:

Jamukha, Temüdjins Schwurbruder (Anda)

Jebe, Sübütai, Jelme: Hundertschaftsführer, später Generäle Temüdjins

Weitere Generäle Temüdjins:

Mukhali

Bo’orchu

Borokhul

Chila’un

Wang Khan, Großkhan, Schwurbruder von Temüdjins Vater

Senggüm, Sohn Wang Khans

Tusakha, Sohn Senggüms

JIN-KAISERHAUS (JURCHEN), Eroberer Nordchinas mit der Hauptstadt Zhongdu (vordem Yanjing, heute Peking)

Wanyan Honglie, der Sechste Prinz von Jin, Titel König Zhao

Wanyan Hongxi, der Dritte Prinz von Jin

Wanyan Kang, Adoptivsohn Wanyan Honglies

KAMPFKÜNSTLER IM GEFOLGE WANYAN HONGLIES

Ouyang Ke, Meister vom Weißen Kamelhügel

Sha Tongtian, der Drachenkönig vom Dämonentor

Hou Tonghai, der Dreihörnige Drache

Liang Ziweng, der Ginseng-Unsterbliche

Peng Lianhu, der Metzger der zehntausend Hände

Lobsang Choden Rinpoche, Lama Ewige Weisheit

Die vier Dämonen des gelben Flusses, Schüler Sha Tongtians:

Shen Qinggang, genannt Seelensäbel

Wu Qinglie, genannt Todesspeer

Ma Qingxiong, genannt Teufelspeitsche

Qian Qingjian, genannt Unheilsaxt

射鵰英雄傳

DIE LEGENDE DER ADLERKRIEGER

風雪驚變

1

Ein folgenreicher Schneesturm

Tag um Tag und Nacht um Nacht schwollen die weiten Wasser des Qiantang an, rauschten vorbei an einem Dorf namens Niu unweit der Hauptstadt Lin’an und ostwärts bis zum Meer. An jenem heißen Augusttag leuchteten die Blätter der hohen Talgbäume an seinem Ufer flammend rot. Das Gras rings um das Dorf färbte sich bereits gelb, und die Bäume warfen in der untergehenden Sonne lange Schatten auf das öde Land. Um die zwei großen Pinien auf dem Marktplatz scharten sich die Dorfleute, Frauen, Männer und Kinder, wo sie gebannt den Geschichten eines hageren älteren Mannes lauschten.

Jener Mann schien um die fünfzig Jahre alt und trug eine lange Kutte, die einmal schwarz gewesen sein musste, ihm jedoch nun in verwaschenem Blaugrau um den Leib schlotterte. Schon hörte man ihn mit den Birnenhölzern klappern und mit dem Bambusstock in seiner Linken rhythmisch die Sanduhrtrommel schlagen. Dazu sang er:

Die Pfirsichbäume, besitzerlos, öffnen ihre Blüten.

Die Tabakfelder, brach und weit, locken die Krähen.

An alten Brunnen inmitten verfall’ner Mauern,

Sah man einst Familien zusammenstehen.

Wieder schlug der Geschichtenerzähler seine Hölzer aufeinander und hob an: »Dieses Lied handelt von der Zeit nach dem Krieg, als die Dörfer vernichtet und die Familien auseinandergerissen waren. Heute sollt ihr von der Familie Ye hören, Vater, Mutter, Sohn und Tochter, die durch die Invasion der Jin getrennt wurden und erst nach vielen Jahren und verschlungenen Pfaden glücklich wieder vereint waren und in ihr Heimatdorf Weizhou zurückkehrten. Das Dorf allerdings fanden sie von den Truppen der Jin zu Schutt und Asche niedergebrannt. Nichts anderes blieb den Yes übrig, als nach Kaifeng zu gehen und dort einen Neuanfang zu wagen. Wie heißt es doch: Immerfort drohen Unwetter vom Himmel, immerzu ist der Mensch von Unheil bedrängt.

Kaum in Kaifeng angekommen, traf die bedauernswerte Familie auf Soldaten der Jin. Der Blick des Kommandanten fiel sogleich auf die Tochter der Yes, die zu einer hübschen jungen Frau herangereift war. Flugs sprang er vom Pferd und schnappte sie sich. Höhnisch lachend warf er sie über seinen Sattel und rief: ›So, junge Frau, du kommst mit mir und wirst dich um meine alte Mutter kümmern.‹ Sie strampelte und versuchte verzweifelt, sich dem Soldaten zu entwinden. ›Gehorchst du nicht, dann töte ich deine Familie!‹, fuhr der Soldat sie an und versetzte ihrem Bruder einen solchen Hieb mit seinem Wolfzahnknüppel, dass er ihm den Schädel spaltete und der Arme sogleich sein Leben aushauchte. Das Jenseits empfängt eine arme Seele, das Diesseits ist eines jungen Menschen beraubt.

Der alte Ye und seine Frau warfen sich schluchzend über den Leichnam ihres Sohnes, doch der Anführer holte abermals mit seinem Wolfszahnknüppel aus und schlug auch die Eltern tot. Die Tochter heulte und flehte nicht mehr und sagte nur: ›Lasst ab, Herr Kommandant, ich komme mit Euch.‹ Der Kommandant freute sich, seinen Willen zu bekommen. Kaum hatte er sie aber losgelassen, schnappte sich die junge Frau sein Schwert, zog es aus der Scheide und hielt es ihm zornig vor die Brust. Der Kommandant war jedoch ein geschickter Kampfkünstler und hatte nicht umsonst viele Gefechte für sich entschieden. Allein mit der Kraft seines Atems stieß er sie so heftig von sich, dass sie zu Boden stürzte. ›Elendes Weibsstück!‹, schrie er.

Schon hatte die Tochter der Yes sich mit dem Schwert die Kehle durchgeschnitten. Die Beklagenswerte! Schön wie die Blumen und das Mondlicht wanderte die untröstliche Seele hinter die neun Quellen.«

Singend und erzählend schlug der Mann die Sanduhrtrommel mit dem Bambusstock im Takt. Das gebannt lauschende Volk begleitete seine Worte in einem Chor von Zähneknirschen, Wutgeschrei und tiefen Seufzern.

»Hört mich an, ihr Leute, und merkt euch gut:

Wer ein Mensch ist, sieht auf and’re nicht herab,

aber zu den Göttern sieht er auf;

Wenn böse Taten nicht vergolten werden,

frisst auf Erden

bald der Mensch den Menschen auf.

Die Truppen der Jin haben das Reich unserer großen Song-Dynastie erobert, gemordet und gebrandschatzt, vergewaltigt und geplündert, jede erdenkliche Untat verübt. Doch wer wird diese Untaten für uns rächen? Niemand als die Hüter unseres eigenen Reiches tragen Schuld daran. Als hätte China nicht genug Soldaten, die gegen die Invasoren kämpfen könnten! Doch kaum stehen sie ihnen gegenüber, ergreifen die Mächtigen die Flucht und überlassen uns arme Bauern unserem Schicksal. Im Norden des Landes hat viele Familien das gleiche Schicksal ereilt wie das der unglücklichen Familie Ye. Ihr hier im Süden, verehrte Zuhörer, lebt dagegen im Paradies. Doch was, wenn die Jin eines Tages auch euch überfallen? Wer wäre nicht lieber ein Hund in Friedenszeiten als ein Mensch in Zeiten des Kriegs?

Der euch heute die Geschichte von der sittsamen Tochter der Yes zu Gehör gebracht hat, heißt Fünfzehnter Zhang mit Namen und dankt für eure geschätzte Aufmerksamkeit!«

Noch einmal schlug der Geschichtenerzähler kräftig die Birnenhölzer aufeinander, dann ließ er einen Holzteller herumgehen. Die Dorfleute legten ein paar Münzen darauf, die er dankend einsteckte. Dann packte er seine Sachen zusammen.

Als die Menge auseinandergegangen war, trat ein ungefähr zwanzigjähriger Mann auf ihn zu und sprach ihn mit einem deutlich nordchinesischen Akzent an: »Darf ich fragen, Fünfzehnter Zhang, ob Ihr gerade aus dem Norden gekommen seid?«

Zhang musterte den hochgewachsenen Mann mit den buschigen Augenbrauen und den großen Augen von oben bis unten. »So ist es.«

»Dürfte ich Euch dann auf einen Schluck einladen?«

»Ich kann mich doch nicht von einem wildfremden Menschen einladen lassen.«

»Nach ein paar Bechern sind wir uns nicht mehr fremd«, lächelte der junge Mann. »Wenn ich mich vorstellen darf: Ich heiße Guo, mein Vorname lautet Xiaotian. Und das hier ist mein Freund Yang Tiexin«, sagte er und deutete auf einen Mann mit auffallend heller Haut neben ihm. »Wir haben gerade Eure Geschichte gehört und möchten uns für den gelungenen Vortrag bedanken. Allerdings hätten wir ein paar Fragen dazu.«

»Nur zu, fragt! Es freut mich, dass uns das Schicksal heute zusammengeführt hat.«

Die drei machten sich auf den Weg zur Dorfschenke, die von einem Krüppel namens Qu San geführt wurde, der ihnen auf Krücken zwei Krüge warmen Reisschnaps servierte, dazu geröstete Saubohnen, gesalzene Erdnüsse, getrockneten Tofu und halbe hundertjährige Eier. Dann ließ er die drei Männer allein, hockte sich auf einen Schemel an der Tür und betrachtete die untergehende Sonne am Horizont.

Guo Xiaotian schenkte dem alten Zhang Schnaps ein und schob ihm die Teller hin. »Prost! Hier auf dem Land bekommen wir nur am zweiten und am sechzehnten Tag des Monats Fleisch zu kaufen, bitte verzeiht, wenn ich Euch nichts anderes zum Schnaps anbieten kann.«

»Keine Sorge, mir ist der Schnaps genug. Sagt, dem Tonfall nach kommt Ihr aus dem Norden, nicht wahr?«

»Aus Shandong. Uns wurde die Barbarei der Jin zu viel, weshalb wir vor drei Jahren in den Süden geflohen sind. Der freundliche Menschenschlag hier gefiel uns, also sind wir geblieben. Ihr habt vorhin gesagt, das Leben im Süden sei ein Paradies, solange die Truppen der Jin nicht auch hier einfallen. Glaubt Ihr etwa, die Jin könnten bald den Jangtse überqueren?«

»Ach«, stöhnte Zhang, »der Süden ist voll von Schönheiten und üppig gedeihenden Landschaften, der Reichtum liegt im Vergleich zum Norden förmlich auf der Straße. Warum sollten die Jin nicht eines Tages danach greifen wollen? Ob sie es tun werden oder nicht, hängt aber weniger von denen ab als von unseren werten Regenten am Hof in Lin’an.«

»Wie kommt Ihr denn darauf?«, fragten Guo Xiaotian und Yang Tiexin wie aus einem Mund.

»Wir Chinesen sind dem Volk der Jurchen an der Zahl weit überlegen. Würde sich der Hof dazu entschließen, ihnen ein Heer aus anständigen und treuen Soldaten entgegenzustellen, hätten die Jurchen keine Chance. Drei nutzlose Kaiser, Qinzong, Gaozong und ihr Vater Huizong, haben ihnen den Norden kampflos überlassen und unser Land in die Hände korrupter Beamter gelegt, die das Volk schikanieren. Die tapferen Generäle dagegen, die für ihr Land einstanden, haben sie eingesperrt und ihnen die Köpfe abgeschlagen. Auf beiden Händen haben sie den Jin unser blühendes Land dargeboten, und die haben das Geschenk bar jeder Demut angenommen und wissen es nicht zu schätzen. Wenn das so weitergeht, werden die korrupten Hofbeamten noch vor den Jin niederknien und sie um die Invasion bitten!«

»Genau so ist es!« Guo Xiaotian schlug mit der Hand so heftig auf den Tisch, dass die Trinkschalen, Teller und Essstäbchen tanzten.

»Huizong hatte nichts anderes im Sinn, als die Unsterblichkeit zu suchen«, fuhr Zhang Shiwu fort. »Die Staatsgeschäfte überließ er dem nutzlosen Cai Jing und diesem verkommenen Wang Yu, die nur die Steuern erhöhten, den faulen Speichelleckern Tong Guan und Liang Shichen und Gao Qiu und Li Bangyan, die zu nichts taugten, als dem Kaiser Konkubinen zuzuführen. Der Kaiser selbst verbrachte seine Zeit damit, Mönche zum Zweck der spirituellen Erleuchtung aufzusuchen und seltenes Gestein zu sammeln. Und als die Jin einfielen, verkroch er sich wie eine Schildkröte unter ihrem Panzer und überließ den Thron seinem Sohn Qinzong.

Wie Ihr wisst, verteidigte der dem Kaiser treu ergebene General Li Gang die Hauptstadt Kaifeng erfolgreich gegen die Truppen der Jin, die daraufhin den Rückzug antraten. Doch wie hätte er ahnen können, dass Qinzong den bösen Gerüchten korrupter Hofeunuchen Glauben schenken würde! Nicht nur, dass der Kaiser den erfahrenen und tapferen Li Gang unehrenhaft entließ, er ersetzte ihn durch einen Scharlatan, der sich als Kämpfer von Himmels Gnaden ausgab und behauptete, die Stadt mithilfe übernatürlicher Kräfte verteidigen zu können. Von wegen ›übernatürliche Kräfte‹! Wen wundert es, dass die Hauptstadt verloren war und sowohl Huizong als auch Qinzong von den Jin als Geisel genommen wurden? Auch wenn diese beiden Trottel es gewiss nicht besser verdient hatten, schließlich haben sie heilloses Unglück über das unschuldige Volk gebracht.«

Guo Xiaotian und Yang Tiexin lauschten Zhangs Worten mit wachsendem Unmut. »Wir haben natürlich davon gehört«, sagte Guo Xiaotian. »Von dem schändlichen Verrat an Li Gang, meine ich. Aber was diesen Scharlatan und seine ›Armee der übernatürlichen Kräfte‹ angeht, hielt ich das, ehrlich gesagt, für ein Gerücht oder einen schlechten Scherz.«

»Es ist die reine Wahrheit«, sagte der alte Zhang. Yang Tiexin kannte die Geschichte ebenfalls. »Immerhin hatte sich Fürst Kang danach in Nanjing zum Kaiser erklärt, und er hatte so fähige Generäle wie Han Shizhong und Yue Fei unter sich. Hätte er sofort einen Gegenangriff gen Norden geführt, wäre es ihm vielleicht nicht gelungen, ganz Nordchina zurückzuerobern, aber wenigstens die Hauptstadt Kaifeng. Doch dieser Verräter Qin Hui musste sich unbedingt bei den Jin einschmeicheln und ließ auf ihr Geheiß hin den beliebten General Yue Fei umbringen.«

Der alte Zhang schenkte allen dreien eine Schale Schnaps ein und leerte seine in einem Zug. Dann fuhr er fort: »Wie lauten doch gleich die berühmten Verse unseres verehrten Generals Yue Fei: ›Lasst unseren Hunger am Fleisch der Barbaren laben und lachend unseren Durst am Blut der Xiongnu stillen.‹ Damit hat er seinen Landsleuten aus der Seele gesprochen. Ach, und doch ist dieser elende Kanzler Qin Hui glimpflich davongekommen. Schade, dass wir sechzig Jahre zu spät geboren sind.«

»Wie meint Ihr das?«, fragte Guo Xiaotian.

»Sechzig Jahre früher, und zwei wackere Kerle wie Ihr würden nach Lin’an reiten und diesen Verräter meucheln. Und wir drei würden uns über sein Fleisch und Blut hermachen, anstatt mit ein paar Bohnen und lauwarmem Schnaps vorliebzunehmen.« Alle drei lachten.

Yang Tiexin bestellte noch einen Krug Reisschnaps, den ihnen der Wirt mit noch mehr Saubohnen und Erdnüssen brachte, während sie allesamt den verräterischen Kanzler Qin Hui verfluchten.

»Pah!«, schnaubte der Wirt plötzlich.

»Was denn, Qu San, bist du etwa anderer Meinung?«, fragte Yang Tiexin.

»Ach was, ihr habt völlig Recht! Schimpft ruhig weiter. Aber glaubt ihr denn wirklich, es stünde anders um uns, wenn der Hof weniger korrupt wäre? Seit Jahrhunderten sitzen die falschen Kaiser auf dem Thron, das ist doch das wahre Übel, da könnten die Beamten so ehrlich und gutmütig sein wie Buddha selbst, und es würde nichts nützen!«

Mit diesen Worten humpelte er zu seinem Stuhl an der Tür zurück und starrte nach draußen, wo inzwischen die Sterne am Nachthimmel funkelten. Qu Sans Gesicht war noch recht jugendlich, sein Rücken aber gramgebeugt, und weiße Strähnen durchzogen sein schwarzes Haar. Von hinten betrachtet wirkte er alt, sehr alt. Er hatte seine Frau verloren und war erst vor einem Jahr mit seiner Tochter vor seinen bösen Erinnerungen nach Niu geflohen.

Schweigend tauschten die drei Männer Blicke. »Wohl gesprochen«, sagte der Geschichtenerzähler schließlich. »Die Verantwortung für die Ermordung von General Yue trägt Kaiser Gaozong. Bei einem so miserablen Herrscher konnte nichts Besseres herauskommen.«

»Was meint Ihr damit?«, fragte Guo Xiaotian.

»General Yue führte damals eine erfolgreiche Schlacht nach der anderen an, die Truppen der Jin lagen in ihrem Blut, Haufen von toten Soldaten überall. Die Jin waren zu schwach, weiteren Angriffen standzuhalten. Ihnen blieb nur der Rückzug, aber das brave Volk im Norden schnitt ihnen die Fluchtwege ab. Die Moral der Jin war zerrüttet, sie wussten nicht mehr, wohin. Ausgerechnet da schickte unser Kaiser Gaozong plötzlich einen Boten mit einem Friedensgesuch an die Jin! Er hätte dem Herrscher der Jin keine größere Freude machen können. Und was gibt der zur Antwort? ›Gerne schließen wir Frieden, aber zuerst will ich den Kopf von General Yue Fei.‹ Nur deshalb lockte Qin Hui den tapferen General in einen Hinterhalt und ließ ihn im Pavillon des Sturmwinds meucheln. Im zwölften Monat des Jahres elf der Regierungsdevise Shaoxing wurde Yue Fei ermordet, und schon im ersten Monat des Jahres zwölf wurde der Friedensvertrag geschlossen und der Mittellauf des Huai als Grenze zwischen Jin und Song festgelegt. Gaozong hat unser Land zu Vasallen der Jin gemacht. Wisst Ihr, was in diesem Friedensvertrag steht?«

»Es wird wohl ein schändlicher Vertrag sein«, sagte Yang Tiexin.

»Was sonst?«, erwiderte der Geschichtenerzähler. »Ich weiß noch genau, was darin steht. Zhao Gou ist der Name von Kaiser Gaozong, und der Brief las sich wie folgt: ›Der Euch ergebene Zhao Gou bittet den König um Gnade, erklärt hiermit seinen Staat zu Eurem Vasallen und wird dafür Sorge tragen, dass auch seine Söhne und Enkel dies respektieren. Jedes Jahr sollen zum Geburtstag Seiner Majestät zweihundertfünfzigtausend Tael Silber und zweihundertfünfzigtausend Ballen Seide Tribut gezahlt werden.‹ Nicht nur sich selbst hat er zum Sklaven gemacht, sondern obendrein seine Kinder und Enkelkinder! Und sogar das könnte uns egal sein, wenn er nicht uns alle damit ebenfalls zu Sklaven der Jin gemacht hätte!«

Noch einmal schlug Guo Xiaotian polternd auf den Tisch, der so sehr wackelte, dass der Schnapskrug umkippte. »Eine Schande ist das! Aus welchem Nest kam dieser Mann, der sich unser Kaiser schimpfte, bloß gekrochen!«

»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie aufgebracht die kaiserlichen Soldaten waren, als sie von diesem Vertrag erfuhren. Doch alles Jammern half nichts, das chinesische Volk nördlich des Huai musste sein Land verloren geben. Der intrigante Qin Hui hatte dafür gesorgt, dass Kaiser Gaozongs Thron so felsenfest stand wie der heilige Berg Taishan. Auf Kaiser Gaozong folgte Xiaozong und auf diesen Guanzong. Und die ganze Zeit über kontrollierte das Jin-Reich den Norden Chinas. Jetzt ist die Reihe an Kaiser Ningzong, der seit fünf Jahren am Hof in Lin’an sitzt und ganz unter dem Einfluss von Kanzler Han steht. Schwer zu sagen, wie es weitergeht.« Unentwegt schüttelte der Geschichtenerzähler beim Reden den Kopf.

»Wieso schwer zu sagen?«, fragte Guo Xiaotian. »Wir sind hier schließlich auf dem Land und nicht in der Hauptstadt. Uns wird schon keiner den Kopf abschlagen. Im ganzen Land ist man sich einig, dass Kanzler Han ein elender Betrüger ist, der nichts als Unglück über das Volk bringt. Den kann man mit Fug und Recht einen Schwurbruder Qin Huis nennen.«

Nun, da das Gespräch bei der Gegenwart angelangt war, wurde alte Zhang vorsichtiger und hielt seine Zunge im Zaum. Er nahm noch einen kräftigen Schluck Schnaps und sagte: »Ich danke den beiden Herren für die Einladung. Bevor ich mich verabschiede, erlaube ich mir, Euch einen kleinen Rat mit auf den Weg zu geben: Ihr scheint mir zwei streitbare junge Männer zu sein, aber seid vorsichtig mit Euren Worten und Taten. Nur so haltet Ihr Euch Unheil vom Leib. Wie die Dinge nun einmal stehen, bleibt dem gemeinen Volk nur, sich wacker durchzuschlagen. Ihr kennt doch sicher das alte Lied:

Grüne Hügel, hohe Berge, ein Hof nah am andern,

An den Ufern des Westsees Tänze und Lieder.

Der Duft des Südens benebelt die Sinne des Wand’rers,

Bis er meint, er sähe Kaifeng statt Lin’an wieder.

»Woher kommt dieses Lied?«, fragte Yang.

»Es gibt keine Geschichte dazu«, entgegnete der Fünfzehnte Zhang. »Seine Verse sagen bereits alles: Unser Hof und seine Beamten amüsieren sich am Ufer des Westsees, Lin’an wird noch für Generationen unsere alte Hauptstadt ersetzen, und der Norden wird so bald nicht zurückerobert werden.«

Und damit machte sich der betrunkene Geschichtenerzähler taumelnd auf den Weg in Richtung Lin’an. Beim Weggehen hörte man ihn Verse aus den Gedichten von General Yue Fei murmeln:

Unvergessen bleibt die anno Jingkang erlittene Schmach,

Und die Last der Untertanen lässt niemals nach.

Lenken wir die Wagen über den Helan-Pass …

Guo Xiaotian zahlte die Zeche und ging mit Yang Tiexin nach Hause. Sie waren Nachbarn, und ihre Höfe lagen nicht weit voneinander entfernt.

Vor Guo Xiaotians Haustor trafen sie seine Frau Li Ping, die gerade dabei war, die Hühner in den Stall zu jagen. Lächelnd sagte sie: »Ihr zwei habt mal wieder ordentlich getrunken, wie? Kommst du heute Abend mit deiner Frau zum Essen, Bruder Yang? Es gibt Hühnchen.«

»Gut, dann werden wir euch wieder einmal Umstände machen«, lachte Yang Tiexin. »Nicht, dass es bei uns zu Hause an Hühnern und Gänsen mangeln würde. Wir vergeuden aber nur das Futter, weil wir es nicht übers Herz bringen, sie zu schlachten.«

»Deine Frau ist zu gutmütig«, erwiderte Li Ping. »Sie habe sie schließlich von klein auf großgezogen, hat sie einmal zu mir gesagt, wie könne sie die Tiere dann umbringen?«

»So ist es. Und wehe, ich biete ihr an, das Schlachten zu übernehmen, dann weint sie und fleht mich an«, sagte Yang Tiexin. »Nichts zu machen! Aber weißt du was: Heute Nacht gehe ich jagen, und morgen laden wir dann euch zum Essen ein.«

»Genug«, unterbrach Guo Xiaotian, »wir sind schließlich wie Brüder, es ist doch gleich, wer wen einlädt. Lass uns zusammen jagen gehen heute Nacht.«

Um Mitternacht hatten Guo Xiaotian und Yang Tiexin schon seit zwei Stunden erfolglos in den Wäldern westlich des Dorfes darauf gewartet, dass ihnen ein Wildschwein vor die Speere lief. Als sie allmählich die Geduld verloren und nach Hause gehen wollten, hörten sie plötzlich von außerhalb des Waldstücks ein schepperndes Geräusch, wie wenn Holz auf Metall schlägt. Fragend sahen sie einander an.

Da huschten vor dem Wald die Gestalten dreier Männer vorüber, Rufe erklangen. »Wo willst du hin? Bleib stehen!«

Ein Schatten rannte durch den Wald, geradewegs auf sie zu. Dann fiel das Mondlicht auf die Kleider des Mannes, und sofort erkannten ihn die beiden. Es war Qu San, der verkrüppelte Wirt. Im Lauf stieß er sich mit seiner linken Krücke vom Waldboden ab und flog durch die Luft hinter einen Baum. Guo Xiaotian und Yang Tiexin sahen fassungslos zu. Über solche Schwebekunst verfügt nur ein Meister des Kung-Fu!, dachten sie verwundert. Nun wohnen wir schon drei Jahre hier und wussten nicht, dass Qu San sich auf die hohe Kampfkunst versteht. Sie hielten sich im Gebüsch versteckt und wagten sich nicht hervor.

Qu Sans Verfolger hatten inzwischen den Waldrand erreicht. Die drei Männer tuschelten miteinander und drangen weiter in Guos und Yangs Richtung vor. Sie trugen Soldatenuniformen und Säbel, die kalt im Mondlicht glänzten. »Komm raus, du verdammter Krüppel«, schrie einer von ihnen. »Wir sehen dich!« Doch Qu San blieb reglos hinter seinen Baum geduckt. Die Männer fuchtelten mit ihren Säbeln in der Nachtluft herum und zerhackten alles, was ihnen im Weg war. Sie kamen immer näher. Plötzlich ertönte ein dumpfer Schlag. Qu San hatte seine linke Krücke nach einem der Männer geschleudert, den die Wucht des Geschosses rücklings zu Boden stürzen ließ. Die anderen beiden schwangen wütend die Säbel gegen den Angreifer.

Qu San wich ihnen geschickt aus, indem er sich auf seine rechte Krücke stemmte und mit einem Satz nach links hüpfte. Dabei hob er die linke Krücke behände auf und stieß sie einem der Soldaten ins Gesicht. Auch der schien sich hinlänglich auf die Kampfkunst zu verstehen und parierte den Schlag sofort mit dem Säbel. Qu San zog die linke Krücke weg, bevor der Säbel sie zerschlagen konnte, und stützte sich flink darauf ab, um dem Mann nun die rechte Krücke gegen die Hüfte zu knüppeln. Das ging so schnell, dass man mit Blicken nicht nachkam. Ständig wechselte er zwischen beiden Krücken hin und her. Guo Xiaotian und Yang Tiexin bemerkten ein sperriges Bündel auf seinem Rücken, das im Verlauf des Kampfes schließlich von einem Säbel getroffen und mit einem Ruck aufgerissen wurde. Sein Inhalt verteilte sich klirrend auf dem Boden. Sogleich nutzte Qu San die Verwirrung, um einem Soldaten eine Krücke über den Kopf zu ziehen. Der fiel bäuchlings um und blieb reglos liegen. Der letzte unversehrte Soldat bekam einen solchen Schreck, dass er sich Hals über Kopf aus dem Staub machte. Qu San zog einen Gegenstand aus seinem Hemd und holte aus. Das Mondlicht reflektierte auf der metallenen Scheibe, als sie durch die Luft zischte. Ein dumpfer Schlag, dann stürzte der Fliehende mit einem gellenden Schrei zu Boden. Seine Glieder zuckten noch ein wenig, dann blieb er tot liegen.

Guo Xiaotian und Yang Tiexin waren soeben Zeugen geworden, wie der verkrüppelte Qu San im Handumdrehen drei Männer erledigt hatte. Ihr Herz raste, und sie versuchten, ihren Atem zu beruhigen, denn als Zeuge seines Kapitalverbrechens wollten sie lieber nicht riskieren, von Qu San entdeckt und ebenfalls umgebracht zu werden.

Da drehte sich Qu San nach ihnen um. »Bruder Guo, Bruder Yang, kommt raus!« Zitternd umklammerten sie ihre Waffen und krochen aus den Büschen. Yang Tiexin warf Guo Xiaotian einen Blick zu und stellte sich vor ihn. Qu San grinste. »Bruder Yang, ich weiß, die Speerkunst deiner Familie kann sich sehen lassen und nutzt im Kampf mehr als der kleine Doppeldolch, den dein Freund bei sich trägt. Wie anständig von dir, dass du ihm schützend vorangehst. Das ist wahre Freundschaft!« Bei diesen Worten fühlte sich Yang Tiexin ertappt. Was sollte er tun? »Bruder Guo, was meinst du – du mit dem Dolch und Bruder Yang mit dem Speer –, ob ihr mich schlagen könntet?«

»Nein.« Guo Xiaotian schüttelte den Kopf. »Wir müssen blind gewesen sein, dass wir dich so viele Jahre unterschätzt haben. Wie hätten wir wissen können, dass du ein großer Kampfkünstler bist, ein wahrer Meister!«

»Ach was«, stöhnte Qu San. »Ich kann nicht einmal richtig laufen, wie sollte ich ein Meister sein? Früher, ja, da hätte ich im Nu mit ein paar bewaffneten Wachen abgerechnet, aber heute? Ich bin zu nichts mehr nutze.« Die beiden Freunde wussten immer noch nicht, was sie sagen oder tun sollten.

»Könntet ihr einem armen Krüppel zur Hand gehen und diese Männer begraben?«

Guo und Yang wechselten Blicke. »In Ordnung«, antwortete Yang schließlich.

Sie gruben ein tiefes Loch, in das sie die drei Leichen warfen. Dem letzten Soldaten steckte noch die mysteriöse Scheibe eine halbe Handbreit tief im Hinterkopf. Mit einem Ruck zog Yang sie heraus. Ein eisernes Hexagramm! Er wischte das Blut ab und reichte sie Qu San.

»Verzeiht die Umstände«, sagte Qu San und steckte die tödliche Waffe wieder ein. Dann breitete er den Stoff, aus dem sein Bündel bestanden hatte, auf der Erde aus und sammelte seine Schätze wieder zusammen, während Guo Xiaotian und Yang Tiexin die Leichengrube mit Erde zuschütteten. Erst als sie sich nach getaner Arbeit Qu San zuwandten, sahen sie, was er da zusammenpackte: drei Bildrollen und eine Reihe goldglänzender, edel wirkender Kleinode. Qu San wickelte alles ein, außer einem goldenen Kessel und einer goldenen Tasse, die er den beiden Freunden hinhielt. »Hier. Die habe ich aus dem Palast in Lin’an entwendet. Der Kaiser hat das Volk so übel bestohlen, dass es nur recht und billig ist, sich ein wenig davon zurückzuholen. Bitte nehmt dies als kleines Zeichen meiner Dankbarkeit.«

Keiner von beiden mochte das Diebesgut annehmen. »Oha! Fürchtet ihr euch, es anzunehmen, oder wollt ihr es nicht?«, fragte Qu San streng.

»Wir haben solche Geschenke nicht verdient, deshalb wollen wir sie nicht. Was das Geschehene betrifft: Keine Sorge, Bruder, wir können ein Geheimnis für uns behalten«, erwiderte Guo Xiaotian.

»Pah, ich mache mir keine Sorgen, dass ihr mich verratet! Schließlich kennen wir uns. Ich weiß alles über euch, warum sonst ließe ich euch am Leben? Du, Guo Xiaotian, bist schließlich ein Nachfahre von Guo Sheng, einem der berühmten Räuber vom Liangshan-Moor. Daher auch dein geschickter Umgang mit dem Doppeldolch. Und du, Bruder Yang, bist ein Urenkel von Yang Zaixing, einem Offizier, der unter unserem verehrten General Yue Fei gedient hat. Alle beide seid ihr die Nachfahren patriotischer Helden. Nachdem die Jin den Norden unseres Landes erobert haben, wurdet ihr zu Wanderern in der Welt des Jianghu und habt euch Blutsbrüderschaft geschworen. Ihr seid zusammen in dieses Dorf gekommen. Habe ich recht?«

Sie nickten stumm. Woher wusste der verkrüppelte Wirt so gut über sie Bescheid?

»Eure Ahnen Guo Sheng und Yang Zaixing waren im Wald hausende Räuber, bevor sie sich in den Dienst des Vaterlands stellten, um gegen die Jin zu kämpfen, nicht wahr? Zuvor taten sie nichts anderes, als im Namen des Volkes die Regierung zu bestehlen. Also, sagt schon: Nehmt ihr jetzt mein Geschenk an oder nicht?«

»Danke«, sagten die beiden lachend und nahmen an.

Gut gelaunt warf Qu San sein Bündel auf den Rücken und sagte: »Zeit, nach Hause zu gehen.« Gemeinsam machten sich die drei auf den Weg. »Keine schlechte Beute heute«, sagte Qu San unterwegs, »zwei Gemälde von Kaiser Hui Zong persönlich, der sich selbst ›Edler des Dao‹ nennt, und eine seiner Kalligrafien. Als Kaiser taugte er nicht viel, aber sein feiner Pinselstrich und seine elegante Farbgebung sind unübertroffen.«

Guo und Yang verstanden nichts von Kunst und nickten nur brav.

Nachdem sie eine Weile gegangen waren, konnte Yang Tiexin nicht umhin, nachzufragen: »Hast du nicht heute gesagt, dass wegen der Unfähigkeit des Kaisers die Hälfte unseres Landes verloren sei? Wie kann dann etwas Gutes an seiner Kunst sein? Ich verstehe nicht, warum du so große Gefahr auf dich nimmst, in den Palast einbrichst und seine Bilder stiehlst.«

Qu San lächelte. »Das kannst du auch nicht verstehen, Bruder.«

»Wenn dieser Edle des Dao ein so versierter Kalligraf und Maler ist, sollte er leidlich gebildet sein. Es wäre besser, er würde seinen Verstand für sein Reich einsetzen. Als ich klein war, sagte mein Vater immer zu mir: Ein Mann muss sich darauf besinnen, eine einzige Sache wirklich gut zu machen. Wer ein bisschen hiervon und ein bisschen davon lernt und tut, wird am Ende nichts richtig machen.«

»Das mag auf einen gewöhnlichen Sterblichen zutreffen. Doch ich kenne einen auf dieser Welt, der ein Meister jedes Fachs ist. Ob Dichtung oder Kampfkunst, Kalligrafie oder Malerei, Musik oder Schach, Mathematik oder Kriegstaktik. Selbst in Medizin, Astronomie und der Lehre der fünf Elemente ist er bewandert. Es gibt nichts, auf das er sich nicht verstünde, und kein Gebiet, auf dem ihn ein anderer überträfe. Leider werdet ihr ihm nie begegnen.« Seufzend sah Qu San zum Horizont auf, an dem der abnehmende Mond schien.

Im Mondlicht bemerkten Guo und Yang die Tränen, die Qu San über die Wangen kullerten.

Wieder zu Hause angekommen, vergruben die beiden die goldenen Schätze tief in der Erde hinter dem Haus und ließen selbst ihre Gattinnen nichts davon wissen. Sie taten, als wäre nichts geschehen, lebten weiter von den Erträgen ihrer Höfe und der Jagd, und wenn Zeit dazu blieb, übten sie sich in der Kampfkunst mit und ohne Waffen. Selbst dann, wenn sie unter sich waren, sprachen sie nie über das Vorgefallene. Hin und wieder besuchten sie die Schenke, wo ihnen Qu San Erdnüsse, Erbsen und andere Kleinigkeiten zum Schnaps reichte. Hatte er den Schnaps serviert, setzte er sich wie üblich an die Tür und starrte gedankenverloren hinaus. Es war, als hätte es jene Nacht nie gegeben. Der einzige Unterschied zu vorher bestand darin, dass Guo Xiaotian und Yang Tiexin Qu San jetzt mit größerer Ehrfurcht begegneten.

Allmählich verabschiedete sich der Herbst, und die kalten Wintertage hielten Einzug. Eines Nachts begann es zu schneien. Am darauffolgenden Tag schneite es noch heftiger, am Himmel tanzten dichte Schneeflocken, und so weit das Auge reichte, war die Erde weiß wie edle Jade. Yang Tiexin verkündete seiner Frau, er wolle Schnaps und Essen besorgen, um Bruder Guo und dessen Frau für den Abend einzuladen und sich gemeinsam am Anblick der weißen Welt zu erfreuen. Als er mit zwei großen Weinschläuchen bepackt zur Schenke kam, fand er das Haus verschlossen vor, und auch das Schild fehlte.

»Bruder Qu San!«, rief Yang Tiexin. Erst klopfte, dann hämmerte er gegen die Tür, aber niemand antwortete. Als er durch ein Fenster in die Gaststube spähte, bemerkte er den Staub auf den Tischen. Sieht aus, als wäre Qu San selbst schon so lange nicht mehr hier gewesen wie ich. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen! Wohl oder übel musste er dem Schneesturm zum Trotz bis zur nächsten Schenke im viele Li weit entfernten Hongmei stapfen, wo er Schnaps und ein Huhn kaufte. Als er wieder zu Hause war, schlachtete er das Huhn und bat seine Frau, es zuzubereiten. Seine Frau, mit der er erst seit zwei Jahren verheiratet war, stammte aus der Familie Bao und hieß mit Vornamen Xiruo. Ihr Vater war Dorflehrer in Hongmei.

Bao Xiruo setzte das Huhn zusammen mit Kohl, Tofu und dünnen Bohnenmehlnudeln auf. Während es garte, schnitt sie Dörrfleisch und Trockenfisch auf. Dann ging sie hinüber zu den Guos und lud sie zum gemeinsamen Abendessen ein. Guo Xiaotian nahm die Einladung gern an, doch er kam allein, weil seine schwangere Frau Li Ping sich seit einigen Tagen nicht wohl fühlte und keinen Bissen bei sich behielt. Bao Xiruo und Li Ping waren wie Schwestern, deshalb blieb sie noch eine Weile bei der Freundin, um sich mit ihr zu unterhalten, und kochte ihr einen Tee, während Guo Xiaotian schon zu Yang Tiexin hinüberging. Als Bao Xirou schließlich wieder nach Hause kam, hatten die beiden Männer schon ohne sie angefangen und wärmten gerade den Schnaps über dem Kohlenherd.

»Tut mir leid, liebe Freundin«, entschuldigte sich Guo Xiaotian, »wir konnten einfach nicht abwarten. Komm, iss und trink mit uns.« Es war nicht etwa so, dass es den Freunden an guter Erziehung mangelte. Sie waren gewohnt, sich Gesellschaft zu leisten, und auf dem Land achtete niemand so streng auf die Anstandsregeln zwischen Männern und Frauen. Bao Xiruo lächelte nur, legte ein paar Kohlen nach und nahm sich eine Schale Schnaps. Die Zornesfalten auf den Gesichtern der Männer entgingen ihr nicht. »Was habt ihr denn schon wieder?«, fragte sie.

»Wir reden gerade über den Mistkerl am Hof in Lin’an«, erklärte ihr Mann.

»Ich war gestern im Pavillon des Regens, dem Teehaus am Fuß der Brücke des Friedens«, erzählte Guo Xiaotian, »als ich hörte, wie ein paar Leute sich über diesen Verräter, Kanzler Han Tuozhou, unterhielten. Was sie sagten, hörte sich nicht nach Gerüchten an. Sie erzählten, dass jeder Beamte, der einen Bericht oder ein Anliegen bei Hof einreicht, ihn mit dem Zusatz ›beigefügt ein Geschenk für den werten Kanzler‹ versehen muss, sonst wirft dieser Mistkerl keinen Blick darauf!«

»Wer so einen Kaiser hat, bekommt einen solchen Kanzler, und wer so einen Kanzler hat, bekommt solche Beamte«, schimpfte Yang Tiexin. »Der alte Huang, der vor dem Yongjin-Tor in Lin’an lebt, hat mir Folgendes berichtet: Eines Tages war er am Fuß der Berge beim Holzhacken, als er Soldaten in seine Richtung kommen sah, die eine Gruppe von Hofbeamten eskortierten. Es handelte sich um Kanzler Han, der mit seinem Gefolge einen Ausflug machte. Huang kümmerte sich nicht weiter um sie und fuhr mit der Arbeit fort, als die Stimme des Kanzlers an sein Ohr drang. ›Wirklich hübsch, diese strohgedeckten Häuschen und Bambuszäune. Schade nur, dass man gar kein Hühnergackern und Hundegebell hört.‹ Kaum hatte er das gesagt, jaulte im Gestrüpp ein Hund.«

Bao Xiruo lachte: »Wenn das kein dem Kanzler treu ergebener Hund war!«

»Und ob«, fuhr Yang Tiexin fort. »Nachdem er ordentlich gejault und gekläfft hatte, sprang er aus dem Gestrüpp heraus. Was meint ihr, was für ein Hund das war? Kein anderer als unser ehrenwerter Präfekt der Stadt Lin’an, Exzellenz Zhao!«

Bao Xiruo bog sich vor Lachen. Guo Xiaotian lachte nicht. »Diese kleine Vorstellung wird dem werten Präfekten Zhao wohl bald eine Beförderung bescheren.«

»Alles andere würde mich wundern«, sagte Yang Tiexin.

Sie tranken weiter und beobachteten das Schneegestöber vor den Fenstern. Mit dem Schnaps im Magen fühlten sie sich wohlig und warm. Dann hörten sie draußen jemanden schnellen Schrittes durch den Schnee stapfen. Sie spähten hinaus. Ein daoistischer Mönch! Was hatte der hier zu suchen?

Der Mann trug einen Bambushut und einen Umhang aus geflochtenem Stroh und war ganz von Schnee bedeckt. Auf seinem Rücken trug er ein Schwert, dessen gelbe Seidenquaste im Wind flatterte. Die einsame Gestalt, die auffallend leichtfüßig, mehr schwebend als gehend, durch das wilde Schneetreiben schritt, hatte etwas wundersam Erhabenes. »Dieser Daoist scheint mir ein großer Kung-Fu-Meister zu sein«, bemerkte Guo Xiaotian.

»Bitten wir ihn doch zu uns herein«, schlug Yang Tiexin vor. Guo und Yang waren ohnehin geselliger Natur, und die Neugier trieb sie vor die Tür. Der Mönch war aber schon gut hundert Schritte weiter. Er musste tatsächlich über eine hervorragende Schwebekunst verfügen.

Erstaunt sahen die Freunde einander an. »Meister, einen Augenblick bitte!«, rief Yang ihm nach. Sofort drehte sich der Mönch um und musterte ihn. »Ganz schön kalt, nicht wahr? Möchtet Ihr nicht hereinkommen und Euch bei uns aufwärmen?«

Der Mönch verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. Er war so schnell zurück bei den Männern, als hätte er Flügel, baute sich vor ihnen auf und meinte barsch: »So, hereinbitten wollt Ihr mich? Was führt Ihr im Schilde? Heraus mit der Sprache!«

Wir laden dich freundlich ein, und du antwortest derart unverschämt!, dachte Yang Tiexin und senkte nur stumm den Kopf. Guo Xiaotian dagegen grüßte höflich, indem er die Faust der rechten Hand vor der Brust in die linke Handfläche legte. »Ich bitte Euch! Wir saßen gerade am Feuer und tranken warmen Schnaps, als wir Euch allein hier draußen in der Kälte sahen. Daher haben wir uns erlaubt, Euch hereinzubitten. Verzeiht die Dreistigkeit.«

»So.« Der Daoist verdrehte die Augen. Dann sagte er mit kräftiger Stimme: »Ihr wollt trinken? Gut, trinken wir.« Und schon spazierte er ins Haus. Yang Tiexin passte dieses Benehmen gar nicht, und er packte den Mönch am Handgelenk. »Dürfte ich nach Eurem Ordensnamen fragen, Meister?«

Der Arm des Mönchs war unter seinem Griff plötzlich schlüpfrig wie ein Fisch geworden und entglitt seiner Hand. Das verhieß nichts Gutes. Yang Tiexin hatte sich kaum weggeduckt, als er schon einen heftigen Schmerz im eigenen Handgelenk verspürte, das der Mönch mit eisernem Griff gepackt hatte. Sosehr er sich auch wand, Yang Tiexin kam einfach nicht von der heißen Klaue des Mönchs los. Sein ganzer Arm fühlte sich schwach und wie gelähmt an.

Guo Xiaotian genügte ein Blick in das rot angelaufene Gesicht seines Schwurbruders, um zu begreifen, in welcher Notlage er war. Ihm war nicht an Streit gelegen, weder mit diesem Daoisten noch mit sonst einem Vertreter des Jianghu. Daher sagte er nur rasch: »Bitte, Bruder, nehmt doch Platz.«

Der Mönch schnaubte geringschätzig, ließ aber Yang Tiexin los, ging schnurstracks ins Zimmer und hockte sich ohne Umschweife auf einen Stuhl. Dann sagte er: »Eurem Tonfall nach stammt Ihr beide aus Shandong. Was tut Ihr dann hier? Gebt Ihr vor, Bauern zu sein? Vor mir könnt Ihr jedenfalls weder Euren Akzent noch Eure Kampfkünste verstecken. Denn seit wann können Bauern Kung-Fu?«

Ohne zu antworten stiefelte Yang Tiexin grimmig ins Hinterzimmer, wo er einen kleinen Dolch holte und in seinem Hemd versteckte. Dann kam er zurück, schenkte drei Schalen Schnaps ein und hielt, immer noch wortlos, seine Schale in die Höhe.

Der Daoist aber starrte zum Fenster hinaus, ohne den angebotenen Schnaps zu trinken. Aus seinem höhnischen Gesichtsausdruck schloss Guo Xiaotian, dass er fürchtete, Yang habe ihm etwas in den Schnaps getan. Er griff sich die Schale, die vor dem Daoisten stand, leerte sie und sagte: »Ich trinke lieber gleich, bevor der Schnaps kalt wird. Hier ist ein neuer, warmer für Euch!« Er schenkte dem Daoisten eine neue Schale ein, die der Mann sofort annahm und in einem Zug leerte.

»Nur, dass Ihr es wisst«, sagte der Daoist. »Selbst wenn Ihr mir etwas in den Schnaps getan habt, kann es mir nichts anhaben.«

Yang Tiexin hatte genug. »Wir haben Euch freundlich eingeladen, warum sollten wir Euch übelwollen? Wenn Ihr so mit uns reden wollt, dann geht besser wieder! Es ist ja nicht so, als ob wir so viel an Schnaps und Essen hätten, dass uns sonst schlecht davon würde!«

Der Daoist beachtete ihn gar nicht, schnaubte noch einmal durch die Nase, schnappte sich den Krug und schenkte sich selbst nach. Nachdem er drei Schalen Schnaps hintereinander geleert hatte, schleuderte er erst seinen Bambushut und dann seinen Umhang zu Boden. Guo Xiaotian und Yang Tiexin musterten den Mann genauer. Er musste etwa dreißig Jahre alt sein, hatte ein kantiges Gesicht mit schräg zulaufenden Augenbrauen, einer rosigen Haut und durchdringenden Adleraugen. Wortlos nahm er einen Lederbeutel von seinem Rücken, band ihn auf und warf ihn mit einem dumpfen Schlag auf den Tisch. Die beiden Männer sprangen vor Schreck auf. Aus dem Beutel kullerte ein blutüberströmter Kopf.

Bao Xiruo schrie wie am Spieß und rannte ins Hinterzimmer. Yang Tiexin tastete nach dem Dolch in seinem Hemd. Der Daoist stieß seelenruhig noch einmal den Beutel an, aus dem noch eine Leber und ein Herz fielen, die ganz offensichtlich nicht von einem Tier, sondern von einem Menschen stammten. »Verdammter Scheinheiliger!«, schrie Yang Tiexin und zog den Dolch aus seinem Hemd.

Der Daoist grinste. »Auf ein Kämpfchen, Adlerkralle?« Er schnippte scheinbar harmlos mit der Linken gegen Yang Tiexins Handgelenk. Yang Tiexin spürte einen betäubenden Schmerz, und seine Finger verloren jede Kraft. Ehe er sichs versah, hatte der andere ihm den Dolch entwendet.

Guo Xiaotian war fassungslos. Sein Schwurbruder stammte immerhin aus der Familie eines berühmten Helden, und seine Kampfkunst, das wusste er aus ihren Übungskämpfen nur zu gut, übertraf seine bei Weitem. Doch verglichen mit diesem Daoisten wirkte er wie ein Stümper. Was er gerade gesehen hatte, nannte sich Mit leerer Hand das Schwert entwenden, eine Kunst, die er bislang nur vom Hörensagen kannte. Schnell schnappte er sich einen Schemel, um damit einen Angriff auf seinen Freund abzuwehren.

Der Daoist aber kümmerte sich gar nicht um seine Gastgeber, sondern schnitt mit dem Dolch das Menschenherz und die Menschenleber auf dem Tisch in Stücke. Dann stieß er ein Gebrüll aus, das die Dachziegel wackeln ließ, hob die rechte Hand und ließ sie so kräftig auf den Tisch niedersausen, dass die Schalen und Schüsseln tanzten und das Holz splitterte.

Guo und Yang hatten sich noch nicht von dem Schreck erholt, als er schrie: »Schamloses Pack! Ein bisschen Respekt! Heute ist der Tag, an dem ein Daoist sein Ahimsa-Gelübde gebrochen hat!«

Yang Tiexin kochte vor Wut. Er schnappte seinen Speer, der in der Zimmerecke stand, öffnete die Tür und ging hinaus in den Schnee. »Los, kommt schon! Ich werde Euch zeigen, wie ein Yang mit dem Speer kämpft.«

Der Mönch lächelte spöttisch. Während er Yang gemächlich hinausfolgte, sagte er: »Der Vasall eines Lumpen will es wert sein, den Speer der Familie Yang zu führen?«

Das verhieß nichts Gutes. Guo Xiaotian griff nach seinem Doppeldolch und rannte ebenfalls hinaus. Der Daoist stand unbewaffnet da. Seine lange Kutte flatterte im kalten Wind. »Los, zieht Euer Schwert!«, schrie Yang Tiexin.

»Selbst wenn Ihr Euch beide mit Euren Waffen auf mich stürzt, werde ich mit leerer Hand mit Euch fertig«, erwiderte der Daoist gelassen.

Yang Tiexin stellte sich in Kampfpose und schwang den Speer in der Manier von Giftiger Drache entsteigt der Höhle. Die rote Quaste an seinem Griff rotierte im Flug und ließ den Speer wie einen roten Blitz aussehen, der geradewegs auf das Herz des Daoisten zielte.

»Vortrefflich!« Der Daoist hielt sich nicht lange mit Bewunderung auf, sondern wich nach links aus, drehte sich blitzschnell um die eigene Achse und fing unversehens mit der Rechten den Speer von vorn ab.

Nun hatte Yang Tiexin von Kindheit an die besondere Speerkunst seiner Familie von seinem Vater gelernt. Dieser Speer war nicht irgendeine Waffe. Zu seiner Zeit hatte Yang Zaixin damit dreihundert Song-Soldaten an der Xiaoshang-Brücke in die Schlacht gegen ein Jin-Heer von vierzigtausend Mann geführt. Zweitausend Jin-Soldaten hatte er eigenhändig niedergemetzelt, die wie ein Regen auf ihn niedergehenden Pfeile der Feinde im Flug gefangen und ihre Spitzen abgebrochen. Erst als sein Pferd im Schlamm stecken blieb, war er verloren und ließ sein Leben für sein Vaterland. Als die Armee seinen Leichnam verbrannte, verbrannte sie auch die Speerspitzen, die am Ende auf ihn eingeprasselt waren und zu erstaunlichen zwei Litern Eisen schmolzen. Die Jin-Armee war bestürzt gewesen, einen so Furcht einflößenden Mann unter ihren Gegnern zu wissen. Sein Speer war landesweit berühmt geworden.

Sicher war Yang Tiexin längst kein so vorzüglicher Speerkämpfer wie sein Urahn, aber er verstand sich dennoch gut auf seine Handhabung. Wie ein Wirbelwind wusste er zu parieren, zu stoßen, zu schwingen, zu drehen, zu blockieren, zu stemmen und durch die Luft zu schneiden. Die rote Quaste zeichnete den Weg der silberglänzenden Speerspitze nach. Es war eine Wonne, ihm zuzusehen!

Doch mit welch unglaublichem Geschick Yang Tiexin den Speer auch führte, immerzu die Stellung wechselnd und antäuschend, als wäre die Waffe eine Illusion – der Körper des Mönchs tanzte behände um den Speer herum, wich stets nach oben, unten, hinten und vorne aus. Kann es wirklich sein, dass ich ihn überhaupt nicht getroffen habe?, rätselte Yang Tiexin. Nachdem er alle zweiundsiebzig Angriffskünste des Yang-Speers bravourös angewandt hatte, der Daoist aber noch immer unversehrt war, schien Yang Tiexin genug zu haben. Wütend wandte sich von seinem Gegner ab und zog den Speer verkehrt herum hinter sich her. Wie erwartet folgte ihm der Daoist dicht auf den Fersen. Mit einem lauten Schrei wirbelte Yang Tiexin herum, packte den Speer mit beiden Händen, ging in die Hocke und stieß ihn mit einer Drehbewegung gegen das Gesicht des Gegners. Es war eine grausame Technik, die sein Vorfahr nicht selten angewandt hatte, wenn es darum ging, den Feind endgültig zu brechen und seine Anführer auszuschalten. Dieser Angriff hieß Das Pferd umwerfen, und damit hatte Yang Zaixin einst keinen Geringeren als Yue Fan, den jüngeren Bruder von General Yue Fei, getötet.

»Ausgezeichnet!«, spottete der Daoist und schlug die Hände so schnell zusammen, dass er die Speerspitze dazwischen einklemmte, bevor sie ihn erreichte. Yang Tiexin stieß mit aller Kraft zu, doch der Speer bewegte sich keinen Deut. Entsetzt versuchte er, den Speer zurückzuziehen, doch auch das gelang ihm nicht. Der Speer schien festzustecken wie unter einem Berg. Mit hochrotem Kopf zerrte Yang Tiexin an der Waffe, doch sie wollte den Händen des Daoisten nicht entgleiten. Der lachte schallend, dann sauste blitzschnell seine rechte Hand auf den Griff des Speers und die Stelle zwischen Yang Tiexins Daumen und Zeigefinger wurde sofort taub. Der Speer fiel ihm aus der Hand in den Schnee.

Der Daoist strahlte über das ganze Gesicht. »Ihr versteht Euch tatsächlich prächtig darauf, den Speer im Stil der Familie Yang zu führen. Ich möchte um Verzeihung bitten. Gern wüsste ich jetzt Euren Namen.« Yang Tiexin war noch völlig benommen und antwortete, ohne nachzudenken: »Mein Familienname ist Yang, der Vorname Tiexin.«

»Doch nicht etwa verwandt mit General Yang, Yang Zaixin?«

»Das war mein Ururgroßvater.«

Der Daoist legte die linke Faust zum Gruß in die rechte Handfläche und verbeugte sich. »Und ich habe geglaubt, ich hätte es mit zwei Halunken zu tun, dabei seid Ihr der Nachfahre eines bedeutenden Patrioten. Vergebt mir. Und wie ist Euer Name, junger Mann?«, wandte er sich an Guo Xiaotian.

»Guo. Guo Xiaotian.«

»Wir sind Schwurbrüder«, ergänzte Yang Tiexin, der sich wieder etwas gesammelt hatte. »Er ist ein Nachkomme von Guo Sheng, des berühmten Räubers vom Liangshan-Moor.«

»Ich habe allzu überstürzt und unhöflich gehandelt. Noch einmal bitte ich um Vergebung«, sagte der Daoist mit einer weiteren Verbeugung.

Nun verbeugten sich auch Yang und Guo. »Seid unbesorgt. Dürften wir Euch nun noch einmal auf einen Becher hereinbitten?«, fragte Yang Tiexin und hob dabei möglichst beiläufig seinen Speer auf.

»Wisst Ihr was? Ich habe gerade einen Riesendurst bekommen«, entgegnete der Daoist lächelnd.

Bao Xiruo hatte unterdessen zitternd im Türrahmen gestanden und bang auf den Ausgang des Kampfes gewartet. Erleichtert sah sie die drei miteinander lachen und ging ins Haus, um den Tisch neu zu decken.

Erst als sie sich wieder zusammengesetzt hatten, fragten die Freunde den Mönch noch einmal nach seinem daoistischen Ordensnamen. »Ich heiße Qiu, mit Vornamen Chuji …«

»Was?«, riefen Yang Tiexin und Guo Xiaotian im Chor. »Ihr seid Qiu Chuji, genannt Ewiger Frühling?«

»So nennt man mich, das ist richtig, ich selbst maße mir einen solchen Namen nicht an«, entgegnete Qiu Chuji.

»Also seid Ihr wirklich der berühmte Meister Ewiger Frühling der daoistischen Quanzhen-Schule. Welche Ehre, Euch kennenzulernen!« Guo Xiaotian und Yang Tiexin warfen sich dem Mönch ehrfurchtsvoll zu Füßen.

»Ich bitte Euch, steht auf«, sagte Qiu Chuji. »Heute habe ich einen Verräter getötet. Als Ihr mich hereingerufen habt, war ich auf der Flucht vor den Häschern und daher sehr misstrauisch. Wir sind schließlich unweit der Hauptstadt, und Ihr habt mir keinesfalls wie gewöhnliche Bauern ausgesehen.«

»Mein Schwurbruder ist ein bisschen aufbrausend«, entschuldigte sich Guo Xiaotian. »Wahrscheinlich hat er Euch mit seinem Verhalten nur noch misstrauischer gemacht.«

»Und ob. So verhält sich kein Bauer. Ich dachte wirklich, Ihr wärt Häscher der Regierung, die mir verdeckt auflauern. Deshalb war ich so grob.«

Nach ein paar fröhlichen Runden Schnaps deutete Qiu Chuji auf den zertrümmerten Kopf, der noch immer in einer Ecke lag. »Wang Daoqian hieß der Verräter! Vergangenes Jahr schickte unser Kaiser ihn als Abgesandten, um dem Jin-Kaiser zum Geburtstag seinen Respekt zu erweisen. Da hat er sich gleich auf die Seite der Jin geschlagen, um mit ihnen eine Invasion in den Süden zu planen! Nicht mit mir. Zehn Tage lang habe ich ihn gejagt.«

Guo und Yang hatten in ihren Kung-Fu-Kreisen schon viel von Qiu Chuji gehört, der unter dem Ehrennamen »Ewiger Frühling« wie ein Held verehrt wurde. Als sie hörten, dass er auf eigene Faust einen Verräter getötet hatte, bewunderten sie ihn umso mehr. Sie ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, den Meister mit Fragen zu seiner Kunst zu löchern.