Der Schwur des Mönchs - Yngra Wieland - E-Book

Der Schwur des Mönchs E-Book

Yngra Wieland

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Beschreibung

„Als die Nacht auf ihre dunkelste Stunde zuging, tat er einen Schwur.“

Bodensee, 814 n.Chr. - Der sechsjährige Atto wird von seinen Eltern dem Inselkloster Reichenau übergeben. Der Junge hasst sein neues von Tristheit und Konflikten bestimmtes Leben. Die Freundschaft zu dem jungen Walahfrid Strabo gibt ihm schließlich Halt. Auch im Baumeister des Klosters findet Atto einen Mentor, die Leidenschaft fürs Bauen weckt seine Lebensgeister. Da geschieht ein tragischer Unfall, der Atto in tiefe Verzweiflung stürzt. Er leistet einen Schwur, der ihn auf ewig bindet und sein Schicksal für immer verändert …

Hochatmosphärisch und detailreich recherchiert erzählt Yngra Wieland in ihrem neuesten historischen Roman die Geschichte um die Entstehung des Sankt Galler Klosterplans.

Zehn Verlage, zehn Bücher, eine gemeinsame Reihe: Das ist die Schöne Bücher Bibliothek. Die Edition der unabhängigen Verlage vereint ausgewählte Titel zeitgenössischer Autorinnen und Autoren. Das »Best of« der Independents: mal mit Witz, mal ganz ernst. Mal mit Blick auf große Fragen unserer Zeit, mal auf das Kleine, ganz Private. Und stets absolut lesenswert. Zehn literarische Stimmen, zehn kuratierte Perlen für Buchfans - ob erfrischendes Erstlingswerk oder preisgekrönte Lektüre. Vom historischen Roman über Krimi und Mystery bis zu Science-Fiction oder Satire: ein Literatur-Kanon, wie er im Buche steht. Die Schöne Bücher Bibliothek verspricht Highlights für alle, die gern lesen.

  • Trauzeugen küsst man nicht. Roman, Annabelle Costa, ISBN 978-3-98906-007-4, Second Chances Verlag
  • Wie ich lernte, den Fluss zu lieben. Roman, Laura Vinogradova, ISBN 978-3-947409-57-0, Paperento Verlag/Edition Wannenbuch
  • Inside Underdog. Backstage-Notizen, Iris Antonia Kogler, ISBN 978-3-947857-22-7, Mirabilis Verlag
  • Restluft. Roman, Gerhard Richter, ISBN 978-3-96887-023-6, Ultraviolett Verlag
  • Die Kümmerer. Thriller, Achim Albrecht, ISBN 978-3-949902-09-3, OCM Verlag
  • Der Schwur des Mönchs. Historischer Roman, Yngra Wieland, ISBN 978-3-910789-00-5, Burgenwelt Verlag
  • Die Farbe der Sprachlosigkeit. Roman, Corinna Antelmann, ISBN 978-3-947066-60-5, Verlag Monika Fuchs
  • Das Kudernatsch Kompott. Satiren, André Kudernatsch, ISBN 978-3-96285-057-9, Salier Verlag
  • Die Blutfinca. Mallorca-Mystery-Krimi, Jorge de la Piscina, ISBN 978-3-947805-21-1, Epyllion Verlag
  • Hier und anderswo. Reisebilder aus Europa, Thomas Michael Glaw, ISBN 978-3-947724-41-3, Mediathoughts Verlag

Mehr: www.schoenebuecher.net/bibliothek/

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Seitenzahl: 567

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Der Schwur des Mönchs

 

Historischer Roman

von Yngra Wieland

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-910789-01-2

ISBN 978-3-910789-00-5 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstraße 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Christine Jurasek

Korrektorat: Tatjana Stöckler

Umschlaggestaltung: Jens Korch

Satz | Gestaltung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

I. Teil 808-823

 

Prolog

 

Alamannin, Festung Benzenburg bei Rohrdorf

Anno domini 808, Heiligmonat

 

Und er tat einen Schwur

 

Carolina von Rohrdorf lag bereits zwei Tage und eine Nacht in den Wehen und die Hebamme schüttelte mit düsterer Miene den Kopf.

»Es wäre ein Wunder, wenn die beiden überlebten«, sagte sie mit stockender Stimme zum Grafen und in ihrem Blick flackerte Angst vor dem Tod und vor Eginhart von Rohrdorfs Zorn. Sie nahm ihren Mut zusammen.

»Herr, die Sächsin aus dem Wald kennt Mittel …«

»Nein! Kein Zauber dieser Heidin in meinem Haus!«

Eginhart ballte die Faust und die Frau wandte sich still ab. Als die Hebamme die Tür zur Schlafkammer öffnete, in der sein Weib lag, vernahm er Carolinas Aufschrei und es zerriss ihm Herz und Seele. Eginhart ging in die Kapelle der Festung und warf sich auf die kalten Steinfliesen. Stunde um Stunde flehte er zum Herrn um Gnade und Vergebung für ihre gemeinsam begangene Sünde und schließlich, als die Nacht auf ihre dunkelste Stunde zuging, tat er einen Schwur.

»Herr, ich schenke dir mein Erstgeborenes, wenn du Carolina und das Kind am Leben lässt!«

Als Eginhart mit vor Kälte steif gewordenen Gliedmaßen ins Wohngebäude zurückkehrte, eilte ihm eine Magd mit leuchtendem Blick entgegen.

»Graf Eginhart, es ist ein Sohn! Ein gesunder, kräftiger Junge! Die Gräfin verlangt nach dir.«

Eginhart war, als würde er vom Blitz getroffen, der ihn wie einen morschen Baum in zwei Hälften spaltete. Ein Teil seines Herzens jubelte über den Segen eines Stammhalters und über das Geschenk des Lebens des geliebten Weibes. Der andere Teil in ihm krümmte sich schmerzvoll. Wenn das Kind sein sechstes Lebensjahr erreichen würde, musste Eginhart den Knaben in ein Kloster bringen, für immer. So lautete sein Schwur, das war der Handel mit Gott und der Herr hatte in seiner Güte das Opfer angenommen. Eginhart straffte seine Schultern und betrat das Gemach. Im Raum roch es nach Schweiß und Blut, fremd und süßlich. Die Hebamme verbrannte in einer Ecke der Kammer Kräuter. Carolina lag auf der mit Fellen und Tüchern gepolsterten Bettstatt, im Rücken von Kissen gestützt. Ihr Antlitz war totenbleich und gezeichnet von den Anstrengungen der Geburt, aber ihre Augen strahlten grün wie ein Waldsee im Frühling. An ihrer Brust saugte mit eifrigem Ernst der Knabe, eingehüllt in ein leinernes Tuch. Feuchte dunkle Locken klebten am Köpfchen des Neugeborenen. Eginhart kniete neben dem Bett nieder und küsste Carolina auf die Stirn.

»Es ist ein Knabe!«

Stolz und Freude schwangen in ihrer Stimme und Eginhart verspürte einen Stich im Herzen. Wie konnte er ihr begreiflich machen, was er in seiner grenzenlosen Verzweiflung mit Gott ausgehandelt hatte? Liebevoll strich er ihre wirren Strähnen aus der Stirn.

»Du musst dich ausruhen. Die Amme wird sich um das Kind kümmern.«

Er gab der Frau einen Wink. Die beugte sich über das Bett und nahm Carolina das Kind ab.

»Er soll Atto heißen«, murmelte die Gräfin von Rohrdorf mit matter Stimme, bevor sie in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung sank.

 

I. Festung Benzenburg bei Rohrdorf

 

Anno domini 814

 

… und er ein Kind ist

 

»Atto, wo bleibst du? Wir müssen aufbrechen!«

Die Stimme des Grafen Eginhart von Rohrdorf verriet mühsam beherrschte Ungeduld. In einer Ecke des Stalls vergrub der sechsjährige Atto sein Gesicht im rauen Fell seiner Hündin. Mit aller Macht versuchte er, die Tränen zurückzuhalten.

»Auf Wiedersehen, Arla«, murmelte er mit erstickter Stimme. »Vergiss mich nicht.«

Widerstrebend löste er sich von dem Tier, das aus goldbraunen Augen zu ihm aufblickte, als würde es jedes Wort verstehen.

»Atto! Komm jetzt!«

Eginhart von Rohrdorfs hochgewachsene Gestalt erschien im Eingang des Stalls.

»Ich muss mich doch von Arla verabschieden, Vater!«

Atto versuchte, das Zittern in der Stimme zu verbergen, den Kopf hielt er gesenkt. Seine Tränen durfte der Vater nicht sehen. Graf von Rohrdorf machte einen Schritt auf Atto zu und legte die Hand auf die Schulter des Jungen. Seine Miene zeigte ein Wechselspiel an Regungen. Heute, zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche war der Tag gekommen, an dem er seinen Teil der Schuld einlösen musste. Nie hätte Eginhart gedacht, dass es ihm derart schwerfallen würde. Die Jahre schienen schneller vergangen als der Sturzflug eines Raubvogels. Er blickte auf die dunklen Locken des Jungen und erinnerte sich an den Tag der Geburt des Stammhalters von Rohrdorf, als wäre es gestern gewesen.

Im Dezember hatte sich Attos Geburtstag zum sechsten Male gejährt; vor wenigen Wochen war der große Kaiser Karl gestorben und das Reich versank in Trauer. Ludwig, der jüngste und einzige überlebende Sohn Karls, hatte sich bereits im Vorjahr auf Geheiß seines Vaters ohne den Segen des Papstes zum König und Mitkaiser gekrönt, und trat nun die schwere Nachfolge Karls an. Ludwig stand von Beginn an im übermächtigen Schatten seines Vaters. Niemand glaubte so recht daran, dass er die Rolle ausfüllen würde, die Karl der Große über siebenundvierzig Jahre hinweg meisterhaft bewältigt hatte. Am Hof in Aquisgranum hatte der junge Kaiser viele Kritiker und seit Karls Tod fanden heftige Machtkämpfe unter den Hofleuten statt, munkelte man. Somit war die politische Lage ungewiss und im Falle eines Krieges wollte Eginhart wenigstens seinen Ältesten in Sicherheit hinter Klostermauern wissen. Also wann, wenn nicht jetzt sollte er sein Versprechen einlösen? Mit diesem Gedanken besänftigte Eginhart sein Gewissen ein klein wenig. Carolina hatte darauf bestanden, ihn und ihren Sohn auf dem Opfergang zum Inselkloster Augia dives, die reiche Aue, zu begleiten, obwohl sie erneut ein Kind unter dem Herzen trug. Arwin, der bald seinen fünften Geburtstag beging, würde bei der Kinderfrau und einigen seiner Getreuen zurückbleiben.

»Komm.«

Eginhart schob Atto sanft, aber nachdrücklich vor sich her, hinaus auf den Hof, wo die Pferde gesattelt und aufgezäumt warteten. Zwei in Lederpanzer gekleidete Lehnsmänner würden die gräfliche Familie begleiten und für ihre Sicherheit sorgen. Neben der sanften grauen Stute, die Carolina reiten würde, warteten Attos Wallach, Eginharts Brauner, die Pferde für die beiden Bewaffneten und ein mit Gepäck, Proviant und Geschenken beladenes Lastpferd Hufe scharrend und schnaubend auf den Aufbruch. Der Atem aus den Nüstern der Tiere stieg dampfend auf und vermischte sich mit Nebelfetzen, die sich langsam in der Morgensonne auflösten. Eginhart hob Atto auf den Wallach, überprüfte mit geübten Handgriffen Steigbügel und Zaumzeug und gab dem Jungen die Zügel in die Hände.

»Wo ist Mutter?«

Atto rutschte unbehaglich auf dem Sattel herum. In den letzten Wochen hatte er immer wieder die Stimmen seiner Eltern aus der Halle dringen hören, wenn er abends neben seinem Bruder in der Kinderstube lag. Die Stimme seiner Mutter hatte etwas Drängendes, Flehendes gehabt, die des Vaters klang unerbittlich und bestimmt.

»Carolina, ich habe einen Eid vor Gott geleistet. Den kann ich nicht einfach zurücknehmen. Du als Christin musst das doch verstehen!«

»Ich verlange nicht von dir, dass du deinen Eid zurücknimmst oder brichst. Aber statt unser Kind zu opfern, könntest du dem Kloster eine großzügige Schenkung machen. Unser Landbesitz ist groß genug, um der Abtei etwas mehr davon zu schenken und damit betrügst du Gott nicht. Atto ist doch noch so klein. Außerdem liebt er das Leben auf der Feste. Er eifert dir nach, will Lehnsmann des Kaisers werden. Atto wird ein guter Nachfolger werden, wenn deine Zeit gekommen ist. Ist er älter, können wir ihn immer noch ins Kloster geben, damit er eine gute Ausbildung erhält.«

»Glaube mir, Weib, mir fällt es genauso schwer wie dir, ihn hergeben zu müssen. Aber unsere Sünde hätte dich und ihn beinahe das Leben gekostet.«

Stundenlang hatte Atto wachgelegen und gegrübelt, welche Sünde seine gottesfürchtigen Eltern begangen haben mochten. Für ihn war es unvorstellbar, dass seine sanfte, liebevolle Mutter überhaupt eine Untat begehen könnte. Der Vater bemerkte manchmal mit zärtlichem Spott, dass sie es zu sehr liebte, sich schön zu kleiden und übermäßig viel Zeit damit verbrachte, ihre Haare zu pflegen, die ihr unter dem Schleier wie schimmernde Kupferfäden in dicken Zöpfen bis zur Hüfte fielen. Aus Attos Sicht jedoch war sie frei von allen Lastern. Auch sein Vater schien ein gerechter und frommer Mann zu sein, darin waren sich Knechte, Stallburschen, Mägde und alle einig, die auf der Festung lebten. Atto hörte so manches, wenn er in Ställen und bei den Unfreien herumstreunte. Es war unbegreiflich für ihn, dass er sein vertrautes Heim verlassen musste. Atto lebte so gern auf der Burg, die sich, umgeben von Wäldern, stolz auf einem steilen Bergsporn erhob. Unterhalb lagen saftige Wiesen, fruchtbare Felder und eine Ansammlung von Hütten. Er wollte nicht weg von den Pferden, Hunden und Schafen, nicht fort von seiner Mutter, die er über alles liebte. Er wollte nicht fort aus der wohligen Geborgenheit der Küche, in der die Köchin oder eine Magd ihm stets ein Stück Käse oder einen Streifen Speck zusteckten, wenn er hungrig war von seinen Streifzügen durch die Festung, und die ihn liebevoll ‚unseren kleinen Gebieter‘ nannten.

Carolina von Rohrdorf trat aus dem Wohnturm. Sie trug einen dicken, mit Otterfell verbrämten Wollumhang. Arwin klammerte sich an ihr Bein und greinte. Die Mutter trat an die Seite des Wallachs und hob Arwin hoch. Ihre Augen waren gerötet.

»Verabschiede dich von deinem Bruder, Atto.«

Als der sich gehorsam zu Arwin beugte, um ihn zu umarmen, drehte sein Bruder den Kopf weg.

»Nein! Will nicht.«

Atto richtete sich gekränkt auf. Arwin würde er nicht vermissen.

»Ich darf eine Reise mit Mutter und Vater machen und du musst daheim bleiben, weil du klein und schwach bist!«, sagte er und legte die größtmögliche Verachtung in seine Stimme. Nein, es war nicht schlimm, in die Welt hinauszuziehen. Es war ein Abenteuer und er war stark genug dafür. Stolz hob er das Kinn. Seine Mutter übergab seinen Bruder an die Kinderfrau, die sich mit den übrigen Bediensteten im Hof versammelt hatte. Eginhart von Rohrdorf half seiner Frau aufs Pferd, ging zu seinem Ross und schwang sich in den Sattel.

»Atto, du reitest hinter mir«, befahl er.

Der Trupp setzte sich in Bewegung, an der Spitze Eginhart, nach Atto seine Mutter, gefolgt von den beiden Bewaffneten mit dem Packpferd. Als sie durchs Tor ritten, drehte sich Atto noch einmal um. Er sah, wie sich Wiltrud, die Kinderfrau, und die Köchin Gersind weinend aneinanderklammerten. Selbst Udo, der Stallbursche, für seine rauen Späße bekannt, rieb sich verlegen das Gesicht. Atto winkte ihnen ein letztes Mal zu, dann ließen sie das Tor hinter sich. Das Geräusch des herabfallenden Riegels hallte in Attos Ohren und er fror plötzlich. Nie zuvor hatte er eine Reise gemacht. Solange er konnte, hielt er den Blick auf die Benzenburg gerichtet, den quadratischen Wohnturm, die Dächer der Wirtschaftsgebäude, den zweiten Turm, in dem die Dienstboten wohnten. In dem Wäldchen, das sie bergab durchquerten, hatte er sich stets nur in Gesellschaft eines der Lehnsmänner des Grafen, eines Stallburschen oder mit dem Vater selbst aufhalten dürfen, manchmal hatte der Vater ihn mit in die Siedlung am Fuß der Burg genommen. Weiter war Atto nie gekommen.

Die Tritte der Pferde klangen dumpf auf dem weichen Waldboden. Zwischen Buchen und Eichen hoben sich langsam die Nebelschleier und im Moos glitzerten Tauperlen in den Spinnweben. Tiefer im Wald waren noch vereinzelt Schneeflecken zu erkennen. Der Vater hatte einen guten Tag für die Reise ausgesucht, es war frisch, aber nicht zu kalt. Der Winter zog sich jeden Tag mehr zurück und machte dem Frühling Platz, der sich mit dem ersten Grün an manchen Büschen und mit zarten weißen und rosa Blüten im braunvertrockneten Laubteppich hervorwagte. Während Atto die Wärme und das Schaukeln des Pferdeleibes unter sich genoss, dachte er darüber nach, was der Vater am gestrigen Tag zu ihm gesagt hatte.

»Du hast als Oblate, also als dargebrachtes Kind, das Privileg, eine erstklassige Erziehung im Konvent der Benediktinerabtei auf der Insel Reichenau im Bodomo zu genießen. Dieses Kloster führt eine der berühmtesten Schulen im Reich. Vergiss niemals, uns Ehre zu machen und Gott für seine Gnade zu danken, durch alles, was du tust.«

Atto hatte nicht verstanden, was ein Privileg war, oder warum er Latein, Dichtung, Musik und Schreiben lernen sollte, wo er doch viel lieber mit einem Holzschwert Kämpfe austrug und Gerichtstag spielte, doch die Miene seines Vaters hatte deutlich gezeigt, dass dieser weder Fragen noch Widerworte dulden würde.

Sie ließen den Wald hinter sich und passierten eine Ansammlung von strohgedeckten Hütten, in denen die Hufebauern lebten, die des Vaters Felder bestellten. Als der kleine Tross den Weg entlang ritt, kamen die Leute angelaufen und knieten nieder, um der gräflichen Familie zu huldigen.

»Gottes Segen mit euch, Carolina und Eginhart! Gottes Segen für den jungen Herrn Atto!«, schallte es ihnen entgegen und Atto sah auf seinen Vater und neigte wie er grüßend den Kopf. Ein flachsblonder Junge in seinem Alter mit Ohren, die wie Henkel vom Kopf abstanden, kniete barfüßig und mit zerrissenem Kittel neben seiner Mutter. Er sah zu ihm hinauf, zögerte einen Augenblick und streckte Atto die Zunge heraus. Die Mutter des Bengels sah es und verpasste ihm eine Ohrfeige, dass der Junge umfiel. Atto grinste und streckte dem am Boden Liegenden ebenfalls die Zunge heraus. In aufrechter Haltung, das Kinn erhoben, ritt er mit dem angenehmen Gefühl davon, auf der besseren Seite des Lebens zu stehen.

Sie zogen durch liebliche Auen und finstere, grünschwarze Tannenwälder. Manchmal war kaum ein Pfad zu erkennen unter der dichten Decke aus vertrocknetem Laub, aber Eginhart fand den richtigen Weg ohne Mühe. Gegen Mittag machten sie am Ufer eines Flüsschens Rast. Sie aßen mit Kümmel gewürztes, luftiges Brot und Käse, und die Mutter reichte Atto als Einzigem einen Honigkuchen, den er hungrig verspeiste. Kaum hatten sie gegessen, drängte der Vater zum Aufbruch.

»Wir müssen vor Beginn der Dunkelheit Alaspach erreichen.«

Der Graf trieb sein Pferd in einen weichen Trab, und Atto bemühte sich, mit seinem kurzbeinigen Wallach nicht den Anschluss zu verlieren. Langsam wurde er müde, er war es nicht gewohnt, so lange im Sattel zu sitzen. Ab und zu sah er zurück, um dem Blick seiner Mutter zu begegnen. Bleich und angestrengt sah sie aus, und ihre Augen schienen überzulaufen vor Liebe zu ihm. Atto lächelte ihr zu und schnitt eine Grimasse, mit der er sie sonst immer zum Lachen brachte. Heute antwortete sie nur mit einem müden, zittrigen Lächeln. Bald darauf erreichten sie eine Furt. Attos Vater lenkte sein Pferd behutsam ins Wasser, das dem großen Braunen bis an den Bauch reichte. Attos Pferd blieb nach wenigen Schritten stehen und begann, mit den Hufen im Wasser zu scharren. Graf von Rohrdorf hörte das Platschen und wandte sich um.

»Junge, treib dein Pferd an, sonst legt es sich womöglich noch mit dir in den Fluss!«

Panisch begann Atto, dem Wallach die Fersen in die Seiten zu hacken, daraufhin wurde das Tier noch unruhiger, begann zu tänzeln und brach bockend zur Seite aus. Verbissen krallte sich Atto in der dicken Mähne fest, um nicht herunterzufallen.

»Eginhart, der Junge! Hilf ihm!«, rief Attos Mutter mit gellender Stimme.

Der Graf wendete unverzüglich. Mit zwei Galoppsprüngen war er bei Atto, packte den Zügel des widerspenstigen Gauls und zog ihn hinter sich her durch die Furt. Das Pferd sträubte sich nicht länger, sondern ging gehorsam durch den Fluss und kam sicher auf der anderen Seite an. Atto atmete auf und nahm die Zügel wieder auf. Seine Stiefel waren nass, die Hosen klebten feucht an der Haut. Bald kamen sie auf eine gepflasterte Straße und der Vater, der Attos Müdigkeit bemerkt hatte und nun neben ihm ritt, erklärte dem Jungen, dass die Römer vor langer Zeit diese Art von Straßen im ganzen Land gebaut hätten. Kurze Zeit später passierten sie ein Dorf. Eine so große Ansammlung von Hütten und sogar Steinhäusern hatte Atto nie zuvor gesehen. Inzwischen waren die Sonnenstrahlen erstaunlich kraftvoll und die Menschen genossen die Wärme nach einem langen und harten Winter. Staunend beobachtete Atto einen Mann, der in einer Werkhütte Eimer aus Holz herstellte, sah einem Jungen zu, der eine Schar Gänse vor sich hertrieb und bewunderte die leuchtenden Gelbtöne von Wollsträngen, die eine Frau vor ihrer Behausung zum Trocknen an einer Stange aufhängte. Auf einer Anhöhe seitlich der Straße erblickte er eine Baustelle.

»Vater, was wird das dort oben?«

»Dort entsteht eine Festung«, antwortete Eginhart. »Diese hier wird deutlich größer als unsere Benzenburg.« Er warf Atto einen ermutigenden Blick zu. »Bald haben wir den Bodomo-See erreicht, in dem die Klosterinsel liegt. Jetzt haben wir etwa die Hälfte des Weges geschafft.«

»Erst die Hälfte?«, fragte Atto ungläubig. »Mir tut alles weh, ich kann nicht mehr so weit reiten!«

Hilfesuchend sah er sich nach seiner Mutter um, doch sie saß teilnahmslos auf ihrem Pferd, sah mit leerem Blick vor sich hin und schien ihn nicht wahrzunehmen.

»Das wirst du leider müssen. Du bist stark, Atto, du kannst das. Wenn man etwas wirklich will, schafft man es.«

Lange Zeit ritten sie schweigend Seite an Seite. Atto hatte durch den überzeugenden Tonfall in der Stimme seines Vaters auf wundersame Weise das Gefühl, seine Erschöpfung ließe nach. Er vertraute dem gleichmäßigen Gang seines Pferdes und besah sich die Umgebung. Vor ihnen tauchte ein Waldsee auf, dessen Oberfläche vom Wind spielerisch gekräuselt wurde. Nicht weit vom Ufer ragten Baumstämme aus dem Wasser. Manche waren vom Sturm gebrochen und kahle Stämme strebten himmelwärts wie Finger, die sich mahnend gegen die Reisenden erhoben. Atto erinnerte sich an die Geschichten, die seine Mutter ihm manchmal erzählte, von Riesen, Zwergen, Feen und mächtigen Zauberern. Wer würde ihm in Zukunft Geschichten erzählen? Zwei Schwäne flogen mit mächtigen Flügelschlägen über den Wald und landeten mit klatschenden Geräuschen auf dem See. Atto beobachtete, wie eines der majestätischen Tiere den Schnabel ins Wasser tauchte.

Vor ihnen verengte sich der Weg und Eginhart von Rohrdorf trieb sein Pferd an, damit es sich an die Spitze des Zuges setzte. Der Graf sah zum Himmel und Attos Blick folgte seinem. Wie dickes graues Moos wuchsen Wolken am Himmel zu einer bedrohlichen Mauer heran. Eginhart drückte seinem Braunen die Fersen in die Flanken und sie fielen erneut in Trab, den sie für lange Zeit beibehielten. Trotzdem gelang es ihnen nicht, dem Schauer zu entkommen. Erst fielen wenige zarte Tropfen, die Attos Wangen wie Feentränen streichelten, dann begann der Regen gleichmäßig und dicht zu strömen. Atto nahm die Zügel in eine Hand und zog mit der anderen die Kapuze seines Umhangs über den Kopf. Er konnte nicht sagen, wie lange sie durch die Nässe ritten, seine Hände, die Zügel umklammernd, waren steif und gefühllos vor Kälte. Am liebsten hätte er sich einfach vom Pferd ins nasse Gras fallen lassen, aber vor ihm saß sein Vater aufrecht und standhaft im Sattel und Atto biss die Zähne zusammen. Unvermittelt, wie der Regen begonnen hatte, hörte er auf, doch Eginhart behielt unnachgiebig das flotte Tempo bei, das er angeschlagen hatte. Die Sorge um seine schwangere Frau und seinen Sohn trieb ihn an. Um jeden Preis mussten sie die Fähre in Alaspach vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Allerdings hatte der Regen auch sein Gutes, denn auch Strauchdiebe und Gesindel verkrochen sich. Eginhart atmete auf, als er in der Ferne unter Dunstschleiern eine riesige glitzernde Fläche erkannte. Er hielt sein Pferd an und deutete darauf.

»Seht! Das ist der Bodomo.«

Atto blickte auf das geheimnisvolle Funkeln am Horizont und eine unbestimmte Vorahnung überkam ihn. Etwas Großes und Bedeutsames wartete dort. Es machte ihn neugierig, aber gleichzeitig kroch unbezähmbare Angst in ihm hoch, Angst vor all dem Unbekannten, das dort in diesem großen Wasser auf ihn wartete wie eines der Seeungeheuer aus den Geschichten der Mutter. Trotz des zügigen Tempos zog die Dämmerung bereits herauf, als sie die Stelle erreichten, an der die Fähre übersetzte.

Weder der Fährmann noch einer der anderen Bootsführer zeigten sich bereit, in der Dunkelheit zur Insel überzusetzen, und die Reisenden waren gezwungen, in einer einfachen Herberge zu nächtigen. Attos Glieder waren so verkrampft, dass sein Vater ihn vom Pferd heben und in die Herberge tragen musste. Er setzte Atto auf einer Bank nahe der Feuerstelle ab. Die Mutter nahm ihm den durchnässten Umhang ab und hüllte ihn in ein Schaffell. In dem halbdunklen Raum roch es nach Zwiebeln und Rauch und feuchter Wolle. Carolina von Rohrdorf ließ sich mit einem Seufzer neben Atto sinken, er rutschte dicht zu ihr und lehnte sich an sie. Das Feuer unter dem Rauchabzug aus geflochtenen Weiden prasselte heimelig und der Duft der Fleischstücke, die zum Räuchern aufgehängt waren, ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Atto war dankbar für die Wärme und den Körper seiner Mutter neben ihm.

Eginhart und die beiden Panzerreiter kümmerten sich um die Pferde und schafften das Gepäck in die ihnen zugeteilten Kammern. Eine Magd setzte ihnen Schalen mit Rübeneintopf vor, dazu gab es warmes, knuspriges Haferbrot. Atto war so hungrig, dass er gierig den Löffel mit heißem Eintopf in den Mund schob und sich die Zunge verbrannte. Kaum hatte er die Schale geleert, verschränkte er die Arme auf dem Tisch, legte den Kopf darauf und schlief ein.

 

Atto erwachte von ungewohnten Geräuschen. Räder knarzten draußen und von fern tönte das Hämmern auf Metall. Verwirrt sah er sich um. Er lag auf einer Bettstatt unter einer rauen Decke. Langsam setzte er sich auf. Von seinem Vater war nichts zu sehen. Die Mutter war damit beschäftigt, Kleidung aus einem Bündel zu nehmen. Als sie seine Bewegung wahrnahm, wandte sie sich um. Ihr Blick ruhte auf ihm und bis an sein Lebensende würde Atto die unendliche Traurigkeit in ihren schilfgrünen Augen nicht vergessen können. Sein Herz zog sich zusammen. Sie kam zu ihm und schlang die Arme um ihn, als wolle sie ihn niemals wieder loslassen. Atto sog den Duft ihrer Haut ein, genoss die Weichheit ihrer Haarflut, die ihr offen über die Schultern fiel. Behutsam löste sie sich von ihm.

»Du musst dich anziehen.«

Die Mutter reichte ihm eine Hose aus Leinen, viel feiner als die, die er sonst trug. Er fuhr hinein, streifte den Kittel über, darüber eine hellgrüne Tunika aus weicher Wolle, und nahm den Umhang entgegen, der von einem dunkleren Grünton war. Sie half ihm mit den Beinwickeln und fuhr ihm mit einem Kamm durch die wirren Locken, flocht dann ihr eigenes Haar zu einem festen Zopf und steckte ihn fest. Sie trat zu ihm und legte beide Hände auf seine Schultern. Erst jetzt fiel ihm auf, wie vornehm seine Mutter aussah. Über dem Untergewand aus blütenzartem Leinen trug Carolina eine Tunika in der Farbe ihrer Augen, deren Halsausschnitt, Saum und Ärmelkanten eine feingemusterte Borte zierte. Die Wölbung des Leibes war bereits deutlich zu sehen. Außer einem zierlichen silbernen Kreuzanhänger hatte sie auf Schmuck verzichtet.

»Du bist ein kluger Junge, Atto, und wirst glücklich werden bei den Mönchen. Schreiber kannst du werden, Abt oder vielleicht sogar eines Tages als Gesandter im Auftrag des Hofes Verhandlungen führen«, sagte sie mit beschwörender Stimme. Ihr weicher Mund verzog sich schmerzlich. Atto beobachtete sie stumm. Ihm war fremd und unbehaglich zumute, wenn seine Mutter weinte. Die Tür öffnete sich und Eginhart trat ein. Sein Blick glitt über Frau und Sohn, flüchtig, als wagte er nicht, ihn länger verweilen zu lassen. Auch er war vornehm gewandet. Die Schenkelbänder, die seine Hosen schnürten, waren vom gleichen blaugrün wie die Tunika, die Füße steckten in Lederstiefeln, der Umhang wurde von einer fein gearbeiteten Spange gehalten.

»Lasst uns aufbrechen, damit wir die Insel rechtzeitig zur Messe erreichen.«

»Warum tragen wir so feine Sachen?«, fragte Atto, der nicht begreifen konnte, warum sie gekleidet waren wie für einen Festtag, wenn er doch die Eltern verlassen musste.

»Die Mönche sollen sehen, dass du aus einer vornehmen Familie stammst und das Geschenk, das sie mit dir erhalten, wertvoll ist und mit Achtung zu behandeln«, antwortete sein Vater ernst.

Eginhart hätte geschmunzelt über den wachen Geist seines Sohnes, wäre sein Herz vor Trauer nicht zu einem Bleiklumpen erstarrt. Die Mönche würden ihre Freude an Atto haben.

Die Dämmerung zog bereits über dem See herauf. Beide Panzerreiter warteten mit den Pferden vor der Herberge. Sie stiegen auf und ritten los. Bald kamen sie an einem Markt vorbei, an einem Stand wurden Schaffelle verkauft. In einem Weidenkorb sah Atto rostrote und hellgelbe Wolle leuchten, es gab Käfige mit Hühnern und Unmengen an Tontöpfen. Ein Händler stellte mit achtsamen Bewegungen geheimnisvoll aussehende Tiegel auf seinen Tisch. Eine frische Brise wehte über den Platz und trug den Geruch von See, Fischen und Wasserpflanzen zu ihnen herüber. Am Ufer der Bucht, die einen natürlichen Hafen bildete, wuchs Schilf, es wirkte wie mit einer weichen Borte gesäumt. Attos Lebensgeister erwachten.

»Fahren die Boote jetzt los?«, wollte er wissen. Nie zuvor hatte er so viel Wasser gesehen.

»Ja, das tun sie. Dort drüben ist die Klosterfähre«, versetzte der Vater. Die Mutter war in dumpfes Brüten verfallen. Der feine Schleier, gehalten von einem schmalen Silberreif, fiel ihr ins Gesicht und sie wirkte auf beunruhigende Art und Weise fremd, als würde sie nicht in dieser Welt verweilen. Über dem See schwebten Dunstschleier, hinter denen sich der rosagoldene Schein der Morgensonne verbarg. Sie ritten bis zum Ufer, wo mehrere Boote in den Wellen schaukelten. Eines lag etwas abseits vertäut, groß genug, um mehreren Pferden oder Rindern Platz zu bieten. Eine Planke führte hinauf. Zwei Ziegen, Körbe mit Kohlköpfen, Hanf und Flachs waren schon verladen worden. Eginhart gab einem der Gepanzerten die Zügel seines Pferdes, der andere hielt Carolinas und Attos Pferde. Atto stieg nicht ab. Seine Finger krampften sich in die Mähne seines Pferdes.

»Kommt Ebo mit mir?«, fragte er mit der verzweifelten Hoffnung, wenigstens etwas Vertrautes bei sich behalten zu können.

»Auf der Insel brauchst du kein Pferd. Du wirst die Zahlenkunst und Rechenlehre erlernen, Musik, Astronomie und das schöne Sprechen.«

»Aber …«

Eginhart von Rohrdorf hob die Hand in einer Weise, die jeden Widerspruch in Attos Kehle ersterben ließ. Teilnahmslos glitt er vom Pferd. Er fuhr über die weichen Nüstern Ebos, zum letzten Mal. Als er seinem Vater zum Wasser folgte, hatte er das Gefühl, er beobachte sich dabei, wie er mühsam einen Fuß vor den anderen setzte. Ein paar Knechte schafften eine Truhe mit Geschenken für die Abtei über die schwankende Planke auf die Fähre, das Reisegepäck blieb bei den Panzerreitern zurück. Zweifelnd sah Atto auf das Brett. Eginhart half der Mutter auf das Boot, streckte dann Atto die Hand entgegen.

»Jetzt du.«

Mit jedem Schritt, den Atto über die Planke ging, verließ er sein bisheriges Leben und alles, was er gekannt hatte. Er schwankte und griff nach der Hand des Vaters, die ihn hielt. Kaum war er an Bord, stießen der Fährmann und sein Gehilfe das Boot mit einer langen Stange vom Ufer ab. Schwerfällig bewegte sich die Fähre in Richtung der Insel, die nun deutlich in der Morgensonne zu erkennen war. Bang sah Atto den Klostergebäuden entgegen, die auf einer Plattform im Hang nahe beim Nordufer der Insel thronten, umgeben von einer Aura der Abgeschiedenheit. Klatschend tauchten die Ruder ins Wasser, über ihnen ließen sich Seevögel vom Wind tragen und stießen wehmütige Rufe aus. Atto tastete nach der Hand der Mutter. Sie fühlte sich eiskalt an. Ihre Finger verflochten sich ineinander. Atto hatte sich gerade an das Schaukeln gewöhnt, als sie an dem kastenförmigen Damm der Insel anlegten. Der Fährmann sprang mit einem beherzten Satz an Land und zurrte das Boot fest. Er half Carolina von Rohrdorf ans Ufer, dann Atto. Nachdem Eginhart ebenfalls Boden unter den Füßen hatte, wurde die Truhe mit den Geschenken ausgeladen. Knechte kamen aus dem Wirtschaftstrakt und nahmen sie entgegen. Eginhart sprach einen der Männer an und gab ihm den Auftrag, dem Abt kundzutun, dass Graf und Gräfin von Rohrdorf vorsprechen und ihren Sohn Atto als Oblate darbringen wollten. Atto ging zwischen den Eltern in Richtung der Kirche. Eine Atmosphäre besonderer Ruhe und der Gelassenheit lag über der Insel und verlieh dem kühlen Frühlingsmorgen etwas Unwirkliches, als wäre man unversehens in eine andere Welt eingetreten. In Attos Kopf hallten die Worte des Vaters wider. Als Oblate darbringen – als Oblate darbringen – als Oblate darbringen. Wenn man etwas will, kann man es schaffen. Aber er wollte doch gar nicht!

Er erinnerte sich an eine Geschichte aus der Bibel, in der jemand ein Lamm darbrachte, indem er ihm die Kehle durchschnitt, und er fragte sich, ob mit ihm dasselbe geschehen würde. Atto holte tief Luft und stieß den Atem zitternd wieder aus. Mit jeder Bewegung, die er auf die gewaltige Kirche zutat, wurde sein Herz schwerer und wollte ihn hinunter in den Boden ziehen. Aus dem Gotteshaus trat ein Mann und kam gemessenen Schrittes auf sie zu. Er trug das blaue Gewand eines Mönchs, darüber eine Kapuzenkukulle aus brauner Wolle. Die Füße steckten in Holzschuhen, das Kreuz, das an einem Band um den Hals hing, schaukelte bei jedem Schritt vor seiner Brust. Atto blieb stehen. Der Mann hatte kein Messer bei sich. Sein schmales Gesicht wurde von einer hohen Stirn beherrscht, die Nase war lang und kräftig. Der säuberlich gestutzte graue Bart umrahmte die Wangen und den Mund, der sich zu einem breiter werdenden Lächeln verzog, je näher der Mönch kam. Atto sah angstvoll in das Gesicht des Mannes, der kein Geringerer war als Abt Heito, Bischof von Basilia, ehemaliger Vertrauter des großen Kaisers Karl und nun Berater von Ludwig. Attos Atem ging flach und er fürchtete, ihm könnte jeden Augenblick übel werden. Erstaunlicherweise achtete der Abt nicht auf Attos Eltern, die sich ehrerbietig vor ihm verneigten, sondern ging geradewegs auf Atto zu, beugte sich zu ihm hinunter und nahm seine Rechte in beide Hände. Attos innerliches Zittern ließ ein klein wenig nach.

»Du musst Atto sein und bestimmt hast du furchtbare Angst«, sagte Abt Heito und lächelte ihn unverwandt an.

Atto blinzelte überrascht in die dunkelbraunen Augen, die ihn auf merkwürdige Weise anzogen. Es waren Augen, in die man gern blickte, in denen man Halt finden und Vertrauen fassen konnte. Der Mann hatte einen Blick, der die Seele umarmte. Er war viel älter als sein Vater, und Atto, der seine Großeltern nie kennengelernt hatte, wünschte sich, dieser Mann könne vielleicht eine Art Großvater für ihn werden. Die warmen, trockenen Hände hielten seine Rechte immer noch umschlossen wie einen jungen Vogel, der aus dem Nest gefallen war.

»Ich war fünf Jahre alt, als ich hierher gebracht wurde«, sagte der Abt. »Das ist schon sehr, sehr lange her und trotzdem habe ich niemals vergessen, wie ich mich an diesem Tag gefühlt habe.«

Er richtete sich auf. Erst jetzt beliebte Abt Heito, Graf und Gräfin von Rohrdorf seine Aufmerksamkeit zu schenken. Mit mildem Lächeln nahm er die Achtungsbezeugungen des gräflichen Paares entgegen und breitete segnend die Arme über der Familie aus.

»Willkommen auf augia dives, Gottes reicher Aue. Nachher feiern wir gemeinsam die Messe. Aber zunächst gehen wir ins Skriptorium, dort fertigen wir die Urkunde an, in der festgehalten wird, dass ihr euren Sohn dem Kloster schenkt.«

Sie gingen durch einen Torbogen ins Innere des Klosters, Abt Heito führte Atto an der Hand, der die unzähligen Gänge und Räume kaum wahrnahm, die sie auf dem Weg ins Skriptorium passierten.

Manchmal wandelten Mönche an ihnen vorbei, verneigten sich im Gehen und verschwanden wie Schatten. Sie gingen durch eine Gartenanlage, Beete in ordentlichen Steinfassungen lagen nebeneinander, die aufgeworfene Erde erinnerte an frische Gräber. Vereinzelt drängten junge, hellgrüne Spitzen aus der krümeligen Erde. Der Abt öffnete eine Tür und sie betraten einen Raum voller Pulte. In Regalen an der Wand befanden sich Gänsefederkiele, Tintenhörner und Pergamentrollen. Das Zimmer war leer bis auf einen jungen Mönch, der nahe am Fenster saß. Versunken in seine Tätigkeit beschrieb er ein Stück Pergament.

»Bruder Meginbrecht«, sprach der Abt ihn an, »sei so gut und bring mir ein Pergament. Gleichwohl sei Zeuge für diese Oblation.«

Der Angesprochene sah auf, als erwache er aus einer Trance. Er steckte die Schreibfeder hinters Ohr, stand auf und ging zum Regal. Mit ruhigen Bewegungen suchte er ein Pergament heraus, verneigte sich vor dem Abt und seinen Besuchern und setzte sich an das Schreibpult vor ihnen. An der Seite hingen zwei Rinderhörnchen mit roter und schwarzer Tinte, Feder und Messer lagen griffbereit auf dem Pult.

»Soll die Oblation endgültig sein oder soll Atto bei Volljährigkeit darüber entscheiden, ob er dem Konvent beitritt«, Heito machte eine Pause und sah erst die Eltern, dann Atto an, »oder das Kloster verlässt? In diesem Fall könntet ihr das Land, welches ihr dem Kloster neben eurem Sohn schenken wollt, für einen symbolischen Solidus zurückkaufen und Atto könnte sein Erbe antreten. Wenn die Oblation endgültig sein soll, erklärt ihr vor Meginbrecht unter Eid, dass weder ihr noch eine Person, die als Mittler auftritt, dem Knaben nach Eintritt ins Kloster etwas schenken werdet, oder ihm auf andere Art und Weise die Möglichkeit bietet, etwas zu besitzen. Wenn ihr dennoch etwas Gutes tun wollt, könnt ihr dem Kloster eine Spende machen. Wenn es sich um Land handelt, könnt ihr euch die Nutznießung vorbehalten. Auf diese Weise ist gewährt, dass der Knabe nicht von materiellem Besitz betört oder verderbt wird.«

Im Raum herrschte Stille, von draußen tönte das gleichmäßige Schlagen einer Axt in der Ferne. Atto verstand den Sinn der Worte nicht, die der Klostervorsteher sprach, aber er ahnte durch die Art und den Tonfall, wie der Abt sie sagte, dass es vielleicht doch noch einen Ausweg geben könnte. Flehend sah er erst zum Vater, der den Blick abwandte, dann zur Mutter. Er sah, wie sie die Hand auf den Arm des Vaters legte. Die Knöchel ihrer Finger traten weiß hervor.

»Die Oblation ist endgültig«, hörte Atto den Vater sagen und gleichzeitig vernahm er einen unterdrückten Wehlaut der Mutter. Von weit weg hörte er den Mann mit den seelenvollen Augen Sätze in einer fremdartig klingenden Sprache sprechen und der junge Mönch schrieb eifrig mit kratzender Feder auf das Pergament. Atto erschien es endlos lange, bis alles geschrieben war und der Mönch Meginbrecht die Feder niederlegte. Der Abt nahm das Pergament, ein unregelmäßig geformtes Stück Tierhaut, und las das Geschriebene vor. Als er geendet hatte, trat Eginhart von Rohrdorf einen Schritt vor.

»Vater, wir vertrauen dir unser höchstes Gut an, unseren ältesten Sohn. Außerdem überlassen wir dem Konvent Grund in der Größe von vier Hufen unseres Landes.«

Er bückte sich, hob die kleine Kiste empor, die sie mitgebracht hatten, und öffnete sie.

»Nehmt auch diesen Leuchter, er soll einen Altar in eurer Kirche schmücken.«

Er nickte Carolina zu, die den silbernen Leuchter aus der Truhe holte, und beugte das Knie vor dem Abt, während sie ihm die Kostbarkeit darbot. Über ihre Wangen strömten unablässig Tränen und hinterließen Flecken auf ihrem Gewand, dabei gab sie keinen Laut von sich. Sanft berührte der Abt ihren Kopf.

»Deine Tränen, meine Tochter Carolina, zeigen mir, wie groß die Liebe ist, die du für deinen Sohn empfindest. Also vergönne ihm, in unsere Gemeinschaft hineinzuwachsen, Künste und Wissenschaften zu erlernen und vor allem Tag für Tag Gottes Gnade zu erfahren. So beweist du die größtmögliche Liebe zu deinem Fleisch und Blut und zu Gott.«

Eginhart nahm die Feder und setzte mit ungelenker Hand seinen Namen unter das Geschriebene. Atto wäre nicht niedergeschmetterter gewesen, hätte sein Vater das Todesurteil über ihn unterzeichnet.

»Lasst uns die Messe feiern.«

Der Abt wies zur Tür, fasste Atto wieder an der Hand, als befürchtete er, der Junge könne davonlaufen. Meginbrecht trug in feierlicher Haltung den Leuchter und sie gingen gemeinsam zur Kirche. Balsamische Düfte umhüllten sie beim Betreten der Kreuzbasilika, deren Inneres von unzähligen Kerzen in flackerndes, honigduftendes Licht getaucht vor ihnen lag. Die unvollendeten Wandmalereien verrieten, dass der Kirchenbau nicht ganz fertiggestellt war, trotzdem entbehrte das Gotteshaus nicht an Feierlichkeit und Prunk. Viele Altäre befanden sich darin, der Hochaltar war mit dem ersten Frühlingsgrün geschmückt, goldene Plättchen schimmerten am Kreuz.

Die Mönche hatten sich bereits versammelt. So viele fromme Männer auf einmal hatte Atto nie zuvor gesehen. Zu Hause auf der Festung Benzenberg lebte ein Mönch, der regelmäßig die Gottesdienste in der Kapelle der Festung abhielt. Atto bemerkte einige Kinder in der Kirche, alle älter als er, ein paar Halbwüchsige, die Mönchskleidung und Tonsur trugen, andere in weltlicher Gewandung, junge und uralte Mönche mit faltenfurchigen Gesichtern. Einer der Alten, der nicht weit von Atto stand, riss den Mund auf und gähnte – Atto sah, dass er keine Zähne mehr hatte. Diese Jungen und Männer würden in Zukunft Attos Familie sein und die Kirche sein Heim.

Der Abt führte ihn bis ins Mittelschiff, dort ließ er ihn bei seinen Eltern zurück und begab sich hinter den Lettner, eine reichverzierte Abtrennung, welche die Begrenzung zum Chor markierte. Dies war die Schranke zur Welt, hier durften sich nur Geistliche aufhalten. Der Gesang der Mönche setzte ein und Atto stockte der Atem. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und er faltete andächtig die Hände. Nie zuvor hatte er so etwas Schönes gehört. Die Klänge schwebten durch die mächtige Kirche und legten sich wie Balsam auf sein verängstigtes, wehes Herz. Stundenlang hätte er lauschen wollen, sich mit der Schönheit der Musik betäuben, doch der Gesang verstummte und Abt Heito begann erneut in der fremdklingenden Sprache auf eine Art zu sprechen, die eher Gesang ähnelte. Dazwischen sangen die Mönche einzelne Sätze oder das Amen, das Attos Lippen stumm und immer etwa zu spät mitsprachen. Der Abt, der die ganze Zeit dem Altar zugewandt gestanden hatte, drehte sich zu ihnen um.

»Heute ist ein besonderer Tag«, sagte er in gemessenem Tonfall. »Eginhart und Carolina von Rohrdorf bringen uns ihren ältesten Sohn. Der junge Atto wird als Oblate in unserer Gemeinschaft und als Schüler des Konvents verbleiben. Nehmt ihn auf in eure Mitte und eure Herzen. Tretet vor, Eginhart und Atto.«

Atto vernahm Gemurmel, alle Gesichter wandten sich ihm und den Eltern zu. Seine Mutter senkte den Blick und blieb demütig zurück. Am liebsten hätte Atto sich hinter seinem Vater versteckt. Er sah zu Boden. Sein Vater schob ihn nach vorn zum Abt und kniete nieder. Atto tat es ihm nach.

»Ich gebe euch und Gott meinen Sohn Atto. Hier ist die Urkunde, die das bestätigt«, sagte Eginhart mit rauer, aber kräftiger Stimme und überreichte Heito das Pergament.

»Sprich mir nach, Atto«, hörte der den Abt sagen.

»Ich verspreche –«

Attos Vater nickte ihm aufmunternd zu.

»Ich verspreche –«, murmelte Atto kaum hörbar.

»dem Abt, den Lehrern und den Brüdern –«

»dem Abt, den Lehrern und den Brüdern –«, echote Atto, elend war ihm dabei zumute und die Worte lagen in seinem Mund wie hartes Brot.

»Gehorsam zu leisten und allen Anweisungen –«

Atto wiederholte die Worte stockend.

»zu folgen, ohne Widerspruch –«

»zu folgen, ohne Widerspruch –«, eigentlich wollte er widersprechen, er wollte schreien und davonlaufen,

»und den klösterlichen Lebenswandel –«

»und den Lebenswandel –«

»den klösterlichen Lebenswandel –«, verbesserte der Abt nachsichtig.

»mit Achtung und Beständigkeit zu verfolgen.«

»mit Achtung und Beständigkeit zu verfolgen«, sagte Atto, der schon jetzt nicht mehr wusste, was er am Anfang versprochen hatte.

»Amen«, sang der Abt und »Amen« sagte auch Eginhart. Attos »Amen« klang wie ein Aufschluchzen.

Heito zeichnete andächtig das Kreuz über ihm und die Mönche zogen in Zweierreihen singend aus der Kirche. Der Abt trat zu Atto, fasste ihn an der Hand und folgte den Brüdern. Vor der Kirche hielt er inne.

»Verabschiede dich nun von deinen Eltern.«

Atto war, als packe ihn jemand an der Kehle und drücke ihm die Luft ab. Das Herz schlug ihm wie ein Schmiedehammer gegen die Rippen. Sein Vater trat vor ihn und beugte sich zu Atto hinunter.

»Versprich mir, unserer Familie zur Ehre zu gereichen, mein Sohn«, sagte er mit brüchiger Stimme. Eginhart legte ihm die Hand auf die Schulter und ließ sie einen Augenblick dort verweilen. Als er sie zurückzog, war Atto, als streiften die warmen Finger seine Wange. Seine Mutter kniete sich vor ihn auf die Erde, ohne Rücksicht auf ihr schönes Gewand zu nehmen. Ihr Mund verkrampfte sich, als sie ihm in die Augen sah.

»Leb wohl, mein geliebter Junge. Vergiss niemals, dass wir dich von Herzen lieben. Vergiss mich nicht.«

Ihr letzter Satz glich einem Aufschrei. Schnell trat Graf Eginhart herbei, zog sie sanft hoch und legte ihr den Arm um die Schultern. Beide verneigten sich vor dem Abt, der etwas sagte, Atto, der nur noch verschwommen sah und hörte, konnte den Sinn der Worte nicht erkennen. Er beobachtete, wie sein Vater die Mutter wegführte, weg von ihm. Es sah aus, als bäume sie sich auf, als würde sie sich losreißen wollen, aber der Vater zog sie mit sich. Ein ärmlich gekleideter, barfüßiger Junge, der ihnen entgegenkam, trat zur Seite und blickte ihnen nach.

»Mutter!«, hörte Atto sich mit schriller Stimme rufen. »Mutter! Nimm mich mit, lass mich nicht allein! Lass mich doch bitte nicht allein!«

Er wollte zu ihr rennen, aber der Abt griff flugs nach ihm, hob ihn hoch und trug ihn davon. Atto hörte seine Mutter aufschreien, der schwere Riegel fiel ins Schloss und schnitt ihn von der Welt da draußen ab.

 

Als Atto zu sich kam, lag er auf einer schmalen Bettstatt. Sein Kopf schmerzte vom Schreien und Weinen, die Lider fühlten sich schwer an und brannten. Vorsichtig blinzelnd sah er sich um. Auf einem Tisch stand eine Tranlampe, die ihren schwachen Schein auf mehrere Betten warf, die ordentlich aufgereiht an den Wänden standen.

»Du bist es wohl nicht gewohnt, ohne den Rockzipfel deiner Mutter auszukommen?«, sagte eine helle, spöttische Stimme nahe bei ihm.

Atto drehte den Kopf, um zu sehen, zu wem die Stimme gehörte. Vor ihm stand der Junge, der vor der Kirche den Weggang von Attos Eltern beobachtet hatte. Er musste etwa in seinem Alter sein, aber die sorgfältig gewählten Worte ließen ihn reifer wirken. Seine nackten Füße sahen sehr schmutzig aus, die Haare standen unordentlich vom Kopf ab und irgendetwas an seinem Gesicht kam Atto merkwürdig vor. Das Dunkle des rechten Auges war in den Innenwinkel gerutscht, was dem Jungen den Ausdruck verlieh, er würde eher in sich hineinblicken als in die Welt hinaus. Über diesen sonderbaren Augen wuchsen dichte Brauen und das Gesicht des Jungen zeigte die Miene eines Erwachsenen.

»Was starrst du mich an wie eine Erscheinung? Ich heiße Walahfrid, Sohn des Ubo. Du kannst mich aber auch Strabus nennen, das ist Latein und bedeutet der Schieler. Und wer bist du?«

Mit verschränkten Armen stand Walahfrid vor Attos Lager.

»Ich bin Atto von Rohrdorf«, brachte dieser mühsam hervor und legte die Hand an seine Kehle, die sich wund anfühlte. »Wo sind deine Eltern?«

Walahfrid grinste schief.

»Daheim. Ich bin mit einem Händler auf seinem Ochsenkarren hergekommen. Beinahe drei Tage lang waren wir unterwegs.«

Er ließ sich auf das Lager neben Atto fallen und streckte sich genussvoll.

»Wie herrlich, ein Bett nur für mich!«

»Du bist ganz allein hergekommen?«

Atto überlegte, was das schlimmere Schicksal sei, ohne Begleitung von zu Hause wegzufahren oder abgeliefert zu werden und die Eltern gehen zu sehen. Walahfrid grinste schief.

»Meine Eltern müssen den Lebensunterhalt für sich und meine Geschwister erarbeiten. Meine Familie ist ziemlich arm, anscheinend ganz im Gegensatz zu deiner. Das bedeutet, ich werde mich in allem doppelt so sehr anstrengen müssen wie du. Wenn man mein Äußeres dazunimmt, wahrscheinlich dreimal so sehr.«

Walahfrid sprach in fast hochmütigem Tonfall, als wären seine ärmliche Herkunft und sein Aussehen eine Auszeichnung und kein Makel.

»Habt ihr keine Klosterschulen, dort, wo du her bist?«

»Natürlich haben wir Klöster, aber ich wollte hierher kommen, in die beste und berühmteste Schule im Frankenland, weil …«

Die Tür öffnete sich und ein Mönch trat ein. Die Haare um seine Tonsur kringelten sich wie die kleinen Schneckenhäuser, die Atto zu Hause im Krautgarten der Festung gefunden hatte.

»Willkommen, Atto und …?«

Er sah Walahfrid fragend an.

»Walahfrid«, versetzte der Knabe. »Noch kennst du meinen Namen nicht, aber das wird sich bald ändern.«

Der Mönch warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Demut gehört wohl nicht zu deinen herausragenden Eigenschaften, will ich meinen. Du siehst aus wie ein Bettler und sprichst wie ein Gelehrter. Aber wie dem auch sei, ich bin Bruder Reginbert, Bibliothekar und Schreiber. Heute ist mir die Aufgabe zuteil geworden, euch eure neue Heimat zu zeigen. Kommt mit!«

Die beiden Jungen folgten dem Mönch.

Während sie durch die Klosteranlage gingen, machte Reginbert sie auf verschiedene Gebäude aufmerksam.

»Das ist die Kapelle für Novizen und Kranke. Da drüben ist das Krankenhaus, hier der Heilkräutergarten«, er zeigte auf die grabähnlichen winterkahlen Beete, »und nun kommen wir zum wichtigsten Teil – Bibliothek und Skriptorium.«

Walahfrid bekam einen sehnsüchtigen Blick.

»Können wir hineingehen und uns die Bücher ansehen?«

Reginbert schüttelte den Kopf und blieb mit verschränkten Armen vor Walahfrid stehen.

»Kannst du denn lesen?«

Auf Walahfrids trotziges Schweigen hin fuhr er fort.

»Siehst du. Wenn ich einen von euch in der Bibliothek erwische, bevor ihr gelernt habt, den Buchschätzen andachtsvoll und mit dem nötigen Respekt zu begegnen, setzt es Rutenschläge, dass euch Hören und Sehen vergeht.«

Seine Rechte, deren Finger voller braunschwarzer Flecke waren, vollführte eine Bewegung, als ließe er eine Rute niedersausen.

»Bücher sind das Wertvollste, was wir besitzen, denn die Regel des Heiligen Benedikt schreibt uns Mönchen Bildung vor. Ein Benediktinerkloster ohne Bibliothek ist wie, wie –«, er suchte nach passenden Worten und blickte dabei umher, als schwebten sie zufällig vorüber, »– wie eine Kirche ohne Kreuz!«

Der Vergleich gefiel ihm, er nickte zufrieden, drehte sich um und ging weiter.

»Natürlich kann ich lesen. Dem werde ich es zeigen!«, flüsterte Walahfrid Atto zu, der ihn ungläubig ansah. Dieser schielende Junge war eigenartig und ein ziemlicher Angeber. Wie sollte ein Junge in seinem Alter und noch dazu aus ärmlichen Verhältnissen lesen gelernt haben, wo sogar der Mönch, der auf der Festung des Grafen von Rohrdorf lebte, kaum lesen und schreiben konnte?

»Hier werdet ihr die nächsten Jahre die meiste Zeit verbringen, das ist die Schule.«

Das Schulgebäude, ein einstöckiger Steinbau, befand sich zwischen der Pfalz des Abtes und der Unterkunft für die besseren Gäste. Die Oblaten würden zusammen mit Schülern unterrichtet, die aus der ganzen Welt auf die Augia Felix kämen, um zu lernen, dozierte der Bibliothekar. Atto überkam ein dringendes Bedürfnis. Er trat von einem Fuß auf den anderen.

»Die Aborte für Schüler sind da hinten.«

Reginbert hatte seine Not bemerkt. Atto eilte auf die Bretterwand zu, hinter der sich eine Reihe von Abtritten verbarg. Als er Wasser gelassen hatte, setzten sie die Führung fort. Verpflegt würden die Schüler, die nicht ins Kloster eintraten, im domus hospitum, wie Reginbert erklärte, die Novizen speisten mit den Mönchen im Refektorium.

»Im Sommer gibt es einmal täglich Essen, im Winter zweimal.«

Atto warf Walahfrid einen ungläubigen Blick zu. Er hatte ständig Hunger und er war sicher, dass es in der Küche hier niemanden gab, der ihm Leckerbissen zustecken würde. Das Bild seiner Mutter, wie der Vater sie weggezogen hatte, kam Atto in den Sinn, ihre weißen Hände, die ihm Honigkuchen reichten und ihr Lächeln. Er schluckte und sein Herz wurde eng, als schrumpfe es ein wenig. Walahfrid zuckte nur mit den Achseln. Sie gingen an der Nordwand der Kirche vorbei und am Haus für die vornehmen Gäste.

Reginbert führte sie durch die Wirtschaftsgebäude, wo die Unterkünfte der Gotteshausleute – Bauern, Handwerker, Knechte – und das Wächterhaus lagen. Über einhundert Mönche lebten im Kloster und noch mehr Gotteshausleute mit ihren Frauen und Kindern, die in den Werkstätten arbeiteten und sich um die Tiere kümmerten. Erst als sie die Ställe erreichten, hellte sich Attos Miene ein wenig auf. Pferde, Ziegen, Rinder und Schafe gaben ihm das Gefühl des vertrauten Lebens auf der heimatlichen Festung, Seite an Seite mit Tieren. Er sog den Geruch nach Heu, Dung und Tierkörpern ein und streichelte die samtige Nase eines Fohlens, das neugierig an der Seite seiner Mutter aus dem Stall lugte. Wenn er nur Ebo hätte mitbringen können, oder Arla! Hunde hatte er bislang nirgendwo gesehen.

»Tiere sind Gottes Geschenke an uns Schreiber!«, bemerkte Reginbert überschwänglich und hob dabei die Brauen.

»Allen voran die Schafe und Ziegen, die geben ihre Haut für das Pergament. Von den Rindern bekommt man das Horn für die Tinte, und die Gänse schenken uns ihre Federn zum Schreiben.«

Er hielt inne, als fiele ihm etwas Wichtiges ein.

»Am besten sind die Kiele der Flügelspitze, merkt euch das! Und die Schafe geben ihre Wolle für unsere Gewänder«, fügte er beiläufig hinzu, als erinnere er sich plötzlich an seinen Auftrag, den Jungen alles zu zeigen.

»Was ist mit der Tinte?«, fragte Walahfrid. Sein Blick glitt gleichgültig über die Tiere.

»Eine sehr gute Frage, Strabo!«, lobte Reginbert. »Die braune Tinte wird aus Galläpfeln oder Eisensulfat gewonnen, die rote aus Heidelbeersaft und …«, er unterbrach sich und winkte ab. »Das lernt ihr noch früh genug. Nun kommt weiter, wir müssen vor der Vesper fertig werden mit dem Rundgang.«

Reginbert zeigte ihnen die Küferei, die Drechslerei, die Darre, schließlich die Mühle und die Werkstätten der Handwerker. Reginbert deutete auf unzählige umgestülpte, mit Lehm verkleidete Körbe, die weit abseits standen.

»Dort drüben sind die Rutenstülper für die Bienen. Die liefern uns Honig und Wachs für die Urkunden und Kerzen. Bleibt ihnen fern, sie werden reichlich ungemütlich, wenn sich ihnen Fremde nähern.«

Sie hatten die Klosteranlage beinahe umrundet.

»Hier ist der Gemüsegarten und dort der Friedhof und der Obstgarten«, merkte Reginbert mit einer unbeteiligten Geste an. Er wollte daran vorbeigehen, aber Walahfrid hielt ihn am Ärmel seiner Kutte fest.

»Können wir hineingehen?«

Schon hatte der Junge das Tor der Einfriedung geöffnet und eilte zu den Beeten.

»Da wächst Salbei, und hier«, er kniete sich vor eines der Beete hin, »hier kommt Minze. Sag, Reginbert –«

»Bruder Reginbert, wenn ich bitten darf!«,

»… Bruder Reginbert, kann ich wohl im Garten mithelfen? Zu Hause habe ich mich auch darum gekümmert.«

Reginbert betrachtete Strabo kopfschüttelnd.

»Du bist so ziemlich das Merkwürdigste, was mir seit langem untergekommen ist«, versetzte er.

»Frag Bruder Gunthar, der bemüht sich um den Garten und kann jede helfende Hand gebrauchen. Und jetzt auf zum Gebet, es läutet zur Vesper.«

Eiligen Schrittes strebte Bruder Reginbert zum Kreuzgang und deutete auf ein kleineres Gebäude.

»Hier sind das Bad für Novizen und Oblaten und daneben die Küche. Ihr solltet euch übrigens lieber nicht vor dem Küchendienst drücken, das sage ich euch. Bruder Gisilfridus, der Cellerar, kennt keine Gnade mit denen, die es versuchen. Ihr werdet tagelang Gemüse putzen müssen, seid gewarnt.«

Atto und Walahfrid, für den weder eine feierliche Zeremonie abgehalten noch ein Dokument ausgefertigt worden war, mussten sich in der Kirche zu den anderen oblatii begeben, die alle älter waren als die Neuankömmlinge. Atto gab sich Mühe, den Gebeten zu folgen, die in fremden und undurchschaubaren Abläufen durchgeführt wurden, dabei schweifte sein Blick immer wieder umher. Heute Morgen war es ihm entgangen, dass die meisten Altäre in den Seitenschiffen nicht fertiggestellt waren und sich in den Fensteröffnungen zum Teil Holzgerüste befanden. Wie lange dauerte es, eine so gewaltige Kirche zu bauen? Wie schaffte man es, dass die Wände nicht schief und krumm wurden?

»Amen.«

Einer der älteren Schüler versetzte ihm einen heftigen Stoß in den Rücken.

»Schlaf nicht, Tölpel«, zischte er.

»Macht einer einen Fehler, werden wir alle bestraft!«

Atto erschrak. Tränen traten ihm in die Augen. Wie sollte er lernen, sich richtig zu verhalten, wie konnte er sich jemals in diesem Wirrwarr aus Gängen, Gebäuden und Plätzen zurechtfinden? Als er aus der Kirche trat, ließ er sich zurückfallen und suchte Strabos Nähe, der unbekümmert in seiner zerschlissenen Kleidung barfüßig hinter den anderen hermarschierte.

»Hoffentlich gibt es etwas Anständiges zu essen«, sagte er zu Atto. »Ich hatte seit einem trockenen Stück Brot gestern nichts mehr zu beißen.«

Atto, der außer dem faden Morgenbrei in der Herberge nichts gegessen hatte, spürte bei Walahfrids Bemerkung, dass auch er großen Hunger hatte. Die Mönche betraten nacheinander den Speisesaal. Atto sog gierig den Geruch nach Zwiebeln und frisch gebackenem Brot ein. An den Wänden entlang standen Tische und Bänke. Mehrere Leuchter mit Kerzen und Talglichter tauchten den Raum in warmes Licht. Alle gingen zu ihren Plätzen, Atto und Walahfrid standen verloren in der Mitte des Raumes. Manche Brüder unterhielten sich in gedämpften Ton.

»Setzt euch dort hin!«

Erleichtert erkannte Atto die Gestalt des Abtes, der soeben den Raum betrat, und folgte der Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers. Die Jungen schlüpften auf die Bank nahe dem einzelnen Tisch für Abt Heito. Einige Brüder trugen Essen auf. Krüge mit Wasser und Tonbecher wurden ausgegeben knusprig aussehendes Brot in Körben auf die Tische verteilt. Als eine Schale vor ihn gestellt wurde, sah Atto, dass sich in dem Eintopf aus Kohl, Zwiebeln und Mohrrüben auch Speckstückchen befanden. Er leckte sich die Lippen, griff nach dem hölzernen Löffel – ließ ihn aber sofort wieder fallen, denn der größere Junge neben ihm, derselbe, der ihn in der Kirche zurechtgewiesen hatte, versetzte ihm einen scharfen Schlag auf die Finger. Der Ältere war massig und grobknochig. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er auf Atto.

»Erst wird gebetet. Der Abt gibt das Zeichen, wenn du anfangen kannst zu essen«, fuhr der Junge ihn an.

Atto sank in sich zusammen. Sehnsüchtig dachte er an den behaglichen Wohnraum in der heimatlichen Festung mit dicken Wandteppichen, duftenden Binsen am Boden und dem prasselnden Feuer, vor dem sich die Hunde räkelten. Hier hing nur ein hölzernes Kreuz an sonst kahlen Wänden.

»Adalrich, übernimm die Tischlesung heute Abend«, wies der Abt den Jungen an, der Atto gerügt hatte.

»Jawohl, Ehrwürdiger Vater«, sagte der Angesprochene, stand auf und trat umständlich an das Pult. Heito räusperte sich und das Murmeln der Mönche ebbte ab. Atto beeilte sich, die Hände zu falten und den Kopf zu senken und bewegte die Lippen, obwohl er die Worte des Gebets nicht kannte. Kaum war das Amen gesprochen, begannen die Mönche schweigend zu essen. Nur das Schaben der Löffel in den hölzernen Schalen war zu hören, Schmatzen und Schlürfen und die Stimme des Jungen, der stockend und holprig die Geschichte über das Leben eines Heiligen vorlas. Atto leerte seine Schale schnell, der Eintopf schmeckte köstlich und er hätte gern mehr davon gehabt. Er hielt den Kopf gesenkt, ließ seinen Blick über die Tische wandern und stellte enttäuscht fest, dass nirgendwo Schüsseln standen, aus denen man einen Nachschlag nehmen konnte. Als alle fertig gegessen hatten, räumten die Brüder, die Küchendienst hatten, wortlos Schalen und Löffel ab. Die anderen standen auf und gingen hinaus.

»Was geschieht jetzt?«, wisperte Atto Walahfrid zu.

Der zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht.«

Wieder war es Abt Heito, der ihnen half.

»Jetzt werden die nötigen Arbeiten in der Küche verrichtet, sodann beten wir zum Tagesabschluss die Komplet. Danach beginnt die Nachtruhe. Ihr könnt schlafen, bis in der fünften Stunde zur Laudes geläutet wird, die jüngsten oblatii dürfen das Nachtgebet auslassen. Ihr könnt euch jetzt noch etwas umsehen, aber seid pünktlich zum Gebet. Morgen nimmt sich euch Bruder Berwin an, der Novizenmeister.«

»Wann beginnt der Unterricht morgen früh, Herr Abt?«, fragte Walahfrid eifrig.

Heito schmunzelte.

»Ehrwürdiger Vater ist die richtige Anrede, Walahfrid. Der Unterricht beginnt zur achten Stunde. Ich hoffe, dein Eifer zu beten kommt deinem Eifer zu lernen gleich. Nun geht, aber bleibt in der Nähe. Wenn die Glocke läutet, kommt in die Kirche.«

Gelassen schritt er davon und Walahfrid gab Atto einen Stoß mit dem Ellbogen.

»Los, komm. Wir schauen uns die Bibliothek an.«

»Nein!«

Attos Augen weiteten sich.

»Bruder Reginbert hat es verboten. Ich will keine Rutenhiebe!«

»Ach was, wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen. Sei nicht so ein Hasenfuß.«

Walahfrids strubbeliger Schopf verschwand hinter der nächsten Ecke und Atto, der weder allein zurückbleiben noch als Feigling gelten wollte, beeilte sich, ihm zu folgen. Walahfrid strebte auf das zweistöckige Gebäude zu. Er packte den Griff der schweren Tür und zerrte daran. Mit einem leisen Ächzen öffnete sich der Eingang und die Jungen schlüpften geschmeidig wie Aale ins Innere. Dämmrig und verlassen lag der Raum vor ihnen. Es war erst ein paar Stunden her, dass er hier im Skriptorium gestanden hatte und die Urkunde ausgefertigt wurde, mit der sein zukünftiges Schicksal besiegelt worden war. Er ging zu der Stelle, an der seine Mutter gestanden hatte und einen winzigen Augenblick lang war ihm, als könnte er den blumigen Duft wahrnehmen, den ihre Haut verströmt hatte. Jäher Schmerz durchzuckte ihn und er presste die Lippen zusammen, um nicht aufzuschluchzen. Walahfrid stand am Fuß der Treppe.

»Die Bibliothek muss dort oben sein. Los, wir sehen nach.« Er hatte gerade ein paar Stufen erklommen, als die Kirchenglocke zu läuten begann.

»Walahfrid, die Glocke! Wir dürfen nicht zu spät kommen«, stieß Atto keuchend hervor. Walahfrid hielt inne. Ein Fuß setzte sich zögernd auf die nächste Stufe, während sein Blick über die Schulter zur Tür wanderte. Dann sah er sehnsüchtig nach oben, dorthin, wo die Bücher verheißungsvoll in den Regalen auf ihn warteten.

»Komm!«, drängte Atto.

 

II. Kloster Reichenau

 

Anno domini 814

 

Die Schule im Dienste des Herrn

 

Walahfrid schlief tief und fest. Ihm träumte von einer Schreibfeder, die wie von selbst über das glatte Pergament glitt.

»Walahfrid, wach auf!«

Er blinzelte, hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Atto stand vor ihm. Sein Gesicht sah verschwollen aus. Jeden Abend hörte Walahfrid, wie der Grafensohn sich in den Schlaf weinte.

»Steh auf, wir müssen beten. Die Zimbel hat zur Prim geläutet.«

Walahfrid wälzte sich herum, gähnte und streckte sich. »Gleich.«

Atto fuhr in seine Schuhe.

»Du wirst Schwierigkeiten bekommen.«

Walahfrid erhob sich gemächlich, während Atto von einem Fuß auf den anderen tretend auf ihn wartete. Die größeren Jungen hatten den Schlafsaal bereits verlassen, die Neulinge schafften es gerade rechtzeitig in die Kirche, bevor sich die Tür schloss. Nach der Prim verschwanden Mönche und Novizen im Versammlungsraum der Kirche. Atto und Walahfrid schlossen sich ihnen an. Einer der älteren Jungen hielt sie zurück.

»Das ist nur für Novizen und Mönche.«

»Was tun sie dort?«, wollte Walahfrid wissen.

»Sie lesen ein Kapitel aus der Klosterregel. Die Namen der Verstorbenen werden verlesen und es wird der Toten gedacht.«

Der grobknochige Junge, der gestern die Tischlesung mehr schlecht als recht geleistet hatte, kam auf sie zu.

»Los, ihr Kleinkinder, wascht euch und macht euch bereit für den Unterricht. Wenn ihr sauber seid, geht zur Kleiderkammer und holt euch Kleidung bei mir ab.«

Mit verächtlichem Blick maß er Attos feine Ausstattung.

»Als Oblate bist du hier nichts Besseres als der Rest, Grafensöhnchen, merk dir das. Für dich ist es vorbei mit dem Leben der illustris. Dein Strahlen hat ein Ende.«

Walahfrid beobachtete, wie sich Attos Gesicht verzerrte bei dem Versuch, seine verzweifelte Wut zu zügeln.

»Und wo ist die Kleiderkammer?«, fragte er schließlich.

»Neben dem Refektorium«, sagte Adalrich und ging davon.

»Mein Vater hätte den Kerl für diese unverschämte Bemerkung auspeitschen lassen. Aber das ist nicht mehr mein Leben.«

Für einen Augenblick verzog sich sein Mund, als wolle er beginnen zu weinen. Walahfrid knuffte ihn und grinste.

»Der sollte sich selbst waschen. Seine Nägel waren ganz dreckig und er stinkt nach altem Käse.«

Atto zuckte mit den Schultern.

»Ist doch egal. Heute lernen wir lesen und schreiben und können die Bibliothek sehen!«

Walahfrid spürte tief in sich eine Ahnung, dass heute etwas Großes und Beachtenswertes für ihn geschehen würde. Es gelang ihnen, den Kreuzgang zu finden, und Atto erinnerte sich, dass er das Bad der Novizen und Oblaten bei den Abtritten gesehen hatte. Sie wuschen sich Hände und Gesichter in einem der bereitstehenden Kübel und gingen dann durch den Kreuzgang zur Kleiderkammer. Adalrich kramte schon in den Truhen und kam nach einer Weile mit Hemden aus grobem Leinen, Kapuzenumhängen und Holzschuhen zurück.

»Hier, nehmt das und zieht euch um«, sagte er mürrisch. Walahfrid streifte seine zerrissenen Sachen ab und schlüpfte in Hemd und Schuhe. Das Hemd reichte ihm bis zu den Knöcheln.

»Du hast den Strick zum Gürten vergessen«, belehrte er Adalrich. Der runzelte die Stirn. Atto legte zögernd seine Kleidung ab und stand ebenfalls im Hemd da. Adalrich stieß einen verächtlichen Laut aus und verschwand erneut in der Kleiderkammer. Als er wieder auftauchte, hatte er zwei Hanfstricke bei sich. Ehe die beiden Neulinge es sich versahen, hatte er ausgeholt und jedem einen scharfen Schlag mit dem Strick versetzt.

»Das wird euch lehren, frech zu den Älteren zu sein«, sagte er höhnisch grinsend und warf die Stricke vor ihnen auf den Boden.

»Adalrich, du hast unseren Zuwachs bereits ausgestattet, wie ich sehe«, sagte eine klare Stimme hinter ihnen. Der garstige Ausdruck in Adalrichs Gesicht wich einer leutseligen Miene und er mimte den Besorgten.