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Der See der unzähligen Wunder, das ist eine von vielen Geschichten in diesem Buch. Lynn und Joleen reisen nach Amerika, um eine Freundin zu besuchen und finden an einem sagenumwobenen See einige Antworten. Da ist z.B. auch die Geschichte von Annika, die aus ihrem alten Leben ausbricht, um auf wundersame Weise ein neues zu finden. Back To Life, das ist die Devise von Gisela Roggeltau, genannt Backy, die ihren Traum von mehr sozialem Miteinander in ihrer quicklebendigen Backstube umsetzt. Dabei begegnet Backy auch einer ehemaligen Berühmtheit, die ebenso wie Annika den Wunsch hat, einfach wieder Mensch unter Menschen zu sein. Wir begegnen der Kuhflüsterin aus dem Unkental, die mit ihrer besonderen Gabe ihren Hof führt. Mit Nikki, Loreen und Melody reisen wir an den Polarkreis, nach Rovaniemi. Die Lehrerin Jeany findet aus ihrem verstaubten Alltagstrott wieder zu mehr Lebensfreude. Auf der Insel Rügen sorgt Sister D mit ihrem Lokal und ihren Piratengeschichten für Gesprächsstoff und Larry Otter, der Freund von Robin und Frau Mine, findet seinen ganz eigenen Weg. Reisen Sie mit den Hauptpersonen auch an den Polarkreis, nach Kanada, Berlin, Heilbronn, Kassel, Regensburg etc. Die Themen der Geschichten sind, wie die Orte, sehr vielfältig. Freundschaft als ein wichtiges Thema taucht dabei immer wieder auf. In diesem Buch sind zudem ein paar Namen zu finden, die leichte Abwandlungen von real existierenden Berühmtheiten sind. Es ist spannend, wie diese ihr Leben als Star sehen! Die Geschichtenreihe um Nessie rundet dieses Buch ab. Nessie zeigt uns, wie es möglich ist, sich als Erwachsene mit viel Lebendigkeit, Lebensfreude und Phantasie die innere Freiheit zu bewahren und diese mutig und kraftvoll in die Welt zu tragen. Auch mit Nessie gibt es viele Wunder zu erleben!
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Seitenzahl: 481
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für alle,
die sich ein Leben voll von
Lebendigkeit, gutem Miteinander
und Respekt wünschen.
Für alle,
die die Melodie in ihrem Innern
wichtig nehmen
und danach leben möchten.
Für alle,
die Spaß an phantasievollen,
bunten
Geschichten haben.
Morgenlicht,
nimm deinen Lauf.
Lass mich wandern,
bis ich Sterne finde,
Sterne, die bei mir bleiben,
auch wenn alles
in das Dunkel fällt.
Sterne,
die
dann endlich mir enthüllen meine Welt.
(von Friederike Twardella)
Vorwort
Der See der unzähligen Wunder
Freigeister
In unserem Garten
Alles für die Insel
Die Wölfin
Rotraud, Stimme des Lebens
Das magische Band der Freundschaft
Annika
Das Kamel Edda
Unser Lied
Marieluise - Ein Leben als Star
Die Sicherheitsfabrik
Der Stein „Pferdefuß
“
Flügel, um so weit zu gehen
Das Mädchen in Blau
Die Kuhflüsterin vom Unkental
Der Schatz aus Rom
Larry Otter und die sieben Strahlen des Glücks
Der goldene Kompass
Die Melodie der Bäume
Die Stimme der Vergänglichkeit
Die Wette
Whelma
Eine Zukunft in Bremen
Back To Life
Jeany und die Motte des Glücks
Feuer und Eis
Nessie
Teil I – Viel Dampf um gläserne Badewannen
Teil II – Tanz im Park
Teil III – La Dampf kauft Eis
Teil IV – Im Krankenhaus
Teil V – Kunst und Kultur in Haus und offener Flur
Teil VI – Nessie feiert Geburtstag
Teil VII – Geöffnete Türen
Teil VIII – Happy birthday, liebe Erde
Teil IX – Die Reise in die Zukunft
Teil X – Warum bauchig?
Teil XI – La Dampf contra Lady In Black
Teil XII – Nessie verliert eine Freundin
Teil XIII – Schottland, wir kommen!
Teil XIV – Du bist ein Wunder
Quellen und Anmerkungen
Diese bunte, phantasievolle Mischung von Geschichten lädt dazu ein, mit den Hauptpersonen auf die Reise zu gehen. In uns selbst und in der Welt um uns herum warten doch so viele kleine und große Wunder auf uns. In „Der See der unzähligen Wunder“ begeben Joleen und Lynn sich nach Amerika und finden an einem sagenumwobenen See einige Antworten. In „Rotraud, Stimme des Lebens“ geht es um den Mut, Selbstverwirklichung und Erfüllung im eigenen Leben wahrzumachen. Wo ist der Weg, diese Antworten in sich selbst und in der Welt zu finden? Wo sind passende Begleitpersonen, mit denen wir uns zuhause angekommen fühlen? Auf diese Fragen möchte das Buch durch die lebendigen Geschichten einige Antworten geben und zum Nachdenken anregen. Dabei geht es auch immer wieder um die Kraft der Freundschaft. Die Geschichtenreihe um Nessie, eine lebendige, kraftvolle Frau, der durch die Kraft ihrer Phantasie und ihrer inneren Freiheit so vieles möglich ist, runden das Buch ab. Auch mit Nessie gibt es viele Wunder zu erleben!
Zu vielen Geschichten, die an realen Orten spielen, habe ich einiges recherchiert. Einzelne Personen, deren Namen Abwandlungen von berühmten Personen sind, tauchen in einigen Geschichten auf. Zu all diesen Besonderheiten gibt es am Ende des Buches eine umfangreiche Liste, wo bei Interesse zu jeder einzelnen Geschichte nachgesehen werden kann.
Viel Spaß beim Lesen!
Friederike Twardella
1
„Zweimal nach Baltimore, bitte!“ Lynn und ich standen am Schalter des Pariser Flughafens. „Hältst du bitte mal kurz meine Taschen, Joleen?“ bat Lynn mich. Wir freuten uns auf unsere gemeinsame Reise in die Staaten. Wir waren beide in Amerika aufgewachsen und hatten mehr als die Hälfte unseres Lebens dort verbracht. Seit einigen Jahren lebten Lynn und ich nun zusammen in Deutschland, in Bad Pyrmont.
In größeren Abständen überquerten wir gemeinsam den Ozean, um Personen in den USA zu besuchen, die Lynn und mir wichtig waren. Meistens verschlug es uns dabei wieder nach Maryland, dem Bundesstaat, in dem wir uns kennengelernt hatten. So auch dieses Mal. Unser Ziel war der kleine Ort Waldorf in der Nähe von Baltimore.
Beim Erwähnen des Ziels unserer diesjährigen Sommerreise, hatten uns immer wieder irritierte Blicke getroffen. „Waldorf? Ist das nicht diese besondere Pädagogik, für die es spezielle Schulen gibt?“ Diese Frage kam dann unvermeidlich. Dass ein Ort in Amerika denselben Namen wie diese Pädagogik trägt, schienen viele ebenso wenig zu wissen, wie dass es in jener Gegend auch einen kleinen Ort namens Berlin gibt. Unsere Freundin Muriel lebte in Waldorf und wir freuten uns darauf, mit ihr einige Ausflüge ins Umland zu machen. Sehr geheimnisvoll hatte Muriel uns am Telefon mitgeteilt, dass dabei auch ein ganz besonderer Platz sei, den sie uns zeigen wolle. Um was genau es sich dabei handelte, hatte sie Lynn und mir jedoch noch nicht verraten.
Lynn und ich hatten einander während unseres Studiums an der „Maryland University Of Integrative Health“, der „MUIH“, kennengelernt. Inzwischen kannten wir uns 14 Jahre. Damals hatte ich noch in dem schönen Ort Chesapeake City in Maryland gewohnt, unweit der wundervollen Chesapeake Bay.
Ich liebte diese Gegend, die von klein auf mein Zuhause gewesen war, und hatte eigentlich vorgehabt, sie niemals zu verlassen. Auch Lynn, die schon in verschiedenen amerikanischen Städten gelebt hatte, schloss Chesapeake City schnell in ihr Herz. Doch sie war die Veränderung gewohnt. Sie wollte noch so viel von der Welt sehen und war auch schon viel herumgereist. Ihr Wunsch, die Welt zu entdecken, war ansteckend und bald war auch mein Kopf voll von Träumen von der großen weiten Welt.
Lynn und ich waren sehr interessiert an alternativen Heilmethoden und da war die Universität in Maryland, kurz „MUIH“ genannt, genau das Richtige. An der „MUIH“ gibt es drei verschiedene Doktortitel, die erworben werden können. Genau wie Lynn studierte ich auf den „D.O.M.“ hin, den Titel „Doctor Of Oriental Medicine“.
Bereiche unserer Ausbildung waren dabei Ernährung, Yoga Therapie, Akkupunktur, Pflanzenkunde und das für uns beide besonders spannende Gebiet der Gesundheits- und Wellness-Beratung. Menschen dabei zu unterstützen, ihren ganz eigenen Weg zu Gesundheit und Wohlbefinden zu finden, das war Lynns und mein wohl größter Traum. „Wie ist Heilung möglich?“ war eine Frage, die für uns beide sehr wichtig war, und Lynn und ich waren fasziniert von der nicht enden wollenden Flut von Antworten und Möglichkeiten. Aus dieser Studienzeit nahmen wir beide eine große Tasche voll Wissen mit, die wir beruflich und privat umsetzen wollten.
Nach dem Studium - beide mit dem Doktortitel D.O.M. in der Tasche - beschlossen Lynn und ich, gemeinsam nach Deutschland zu gehen. „Warum ausgerechnet Deutschland?“ hatte Lynn mich an jenem Morgen gefragt, als ich ihr meinen Traum zum ersten Mal eröffnete. „Du und deine verrückten Ideen, Joleen!“ seufzte Lynn und sah zum Fenster hinaus. Ich wusste, sie liebte Chesapeake City mittlerweile fast ebenso wie ich. Hatte Lynn womöglich den Wunsch hier zu bleiben, sie, die sich mit Ortswechseln doch so leicht zu tun schien? Stundenlang sprachen wir an jenem Morgen über unsere Zukunftspläne. Immer wieder legte ich Lynn nahe, wie wertvoll es sein könne, all unser kostbares Wissen nach Deutschland zu bringen. Am Ende stimmte sie zu.
Inzwischen wohnten Lynn und ich nun schon 9 Jahre zusammen in Deutschland. Immer mal wieder zog es uns in unsere alte Heimat, nach Maryland, und dieses Mal freuten Lynn und ich uns besonders darauf, Muriel wieder zu sehen. Wir liebten das Fliegen nicht unbedingt, aber wir waren immer wieder dankbar über diese doch verhältnismäßig sichere und schnelle Art des Reisens. Lynns lange Haare sahen ziemlich zerzaust aus und auch sie war müde. Tiefe Ringe gruben sich unter ihre Augen. Sie hakte sich bei mir ein und wir liefen zum Flugzeug, das uns von Paris nach Baltimore in meine Heimat Maryland bringen sollte.
Wir überstanden den Flug mittels Stunden langer Konzentration bei Meditationsmusik und ich war einander abwechselnden Verfassungen unterworfen. Mal packte mich, gebannt von der Majestät, über den Wolken zu fliegen, ein besonderes Gefühl von Freiheit. Dann wieder fühlte ich mich eingezwängt in die engen Sitze der Maschine und ohne festen Boden unter den Füßen sehr beengt und mir war unwohl. Beide waren wir dankbar, als wir den Fuß auf amerikanischen Boden setzen konnten.
2
Am Flughafen in Baltimore empfing uns Muriel und wir verstauten unser Gepäck in ihrem Jeep. Diesmal hatte sich Lynn, die mit ihren 48 Jahren sonst an die Freiheit ihres Autos gewöhnt war und auf Reisen meist massenweise Dinge mitnahm, auf ihren großen Wanderrucksack nebst zwei Umhängetaschen beschränken müssen. Verständlich also, dass sie selbst jetzt, bei 25 Grad im Schatten, ihre geliebte Outdoor-Jacke trug, die sie für mögliche Kälteeinbrüche mitgenommen hatte. Immerhin hatte sie das Innenteil aus Fleece herausgeknöpft und trug es über dem Arm. Wahrscheinlich wäre sie sonst vor Hitze explodiert, denn normalerweise ist Lynn ein lebendiger Heizkörper und schwitzt bei der kleinsten Anstrengung. Dennoch macht ihr Kälte zu schaffen und sie geht gern auf Nummer sicher. Muriel wusste all dies und umarmte uns daher herzlich, ohne überflüssige Fragen zu Lynns Verpackung zu stellen. Als wir dann über endlose Straßen düsten, vergaß ich all diese Gedanken und Lynn vergaß ganz zu schwitzen. Der Anblick der wunderschönen Landschaft, getaucht in sanftes Abendlicht, war einfach zu schön. Ewig hätten wir so fahren mögen. Doch Muriel, die hier lebte, war nach 2 Stunden Fahrt schließlich froh, endlich daheim zu sein.
„Herzlichen willkommen in Waldorf!“ rief Muriel fröhlich, als ihr Jeep am Ortseingangs-Schild vorbeifuhr. Nun waren wir gespannt auf das süße kleine Häuschen, in dem Muriel lebte. Sie hatte uns so oft am Telefon davon vorgeschwärmt. Dann standen wir endlich davor. „Wow!“ sagte Lynn nur. Mir fehlten die Worte.
Muriel hatte uns erzählt, wie sie das Haus damals mit einigen
Freundinnen und Bekannten gebaut hatte. Sie hatte uns sämtliche Besonderheiten dieses Häuschens beschrieben. Die schöne Atmosphäre, die das Häuschen verstrahlte und wie wohl wir uns auf Anhieb darin fühlten, übertraf allerdings unsere kühnsten Vorstellungen von Muriels Zuhause.
„Toll, dass wir dein trautes Heim endlich mal kennen lernen dürfen, Muriel!“ sagte Lynn. „Ich freu mich so, dass wir hier bei dir zu Besuch sein können“, fügte ich hinzu. Gemeinsam umarmten Lynn und ich Muriel, bis diese quietschte und sagte: „Dann wollen wir mal euer Gepäck in die gute Stube bringen. Ich habe euch ein schönes Willkommens-Essen vorbereitet. Lasst uns gemütlich in der Küche zu Abend essen. Ich erwarte euch dort in einer halben Stunde.“ Muriel drückte Lynn und mich noch einmal liebevoll an sich, dann löste sie sich aus der Umarmung und ging ins Haus.
Nach dem überaus leckeren Abendessen, saßen Lynn und ich satt und zufrieden in Muriels heimeliger Küche. Schließlich stand unsere Freundin auf und begann den Tisch abzuräumen. „Morgen brechen wir um 6 Uhr früh auf“, sagte Muriel. „Lasst uns daher bald schlafen gehen. Ich kenne keine Gnade, euch morgen zu wecken, so müde ihr auch sein mögt. Wir schaffen sonst den Teil der geplanten morgigen Reise nicht, denn ich möchte mit euch um 11 Uhr am Vormittag da sein. Wenn es mittags so heiß wird, ist es nämlich unerträglich, im Auto zu sitzen. Stattdessen werden wir dann am See unter den Bäumen liegen, Geschichten erzählen, uns ausruhen, schwimmen, essen und es uns einfach gut gehen lassen. Der „Lake Of First Birth“ ist ein sehr magischer Platz. Von einer Indianerin erfuhr ich einst, dass dieser schöne kleine See, der ganz versteckt liegt, von den Indianern und vielen anderen Leuten so genannt wird. Offiziell hat dieser See einen anderen Namen, den ich ehrlich gesagt vergessen habe. Für mich ist es einfach der „Lake Of First Birth“. Die Indianerin, die mir von diesem schönen Platz erzählte, sagte außerdem, dass nur wenige Leute sich dorthin verirren. Die Frau fügte geheimnisvoll hinzu, er würde nur von Leuten gefunden, denen es bestimmt sei, an ihm zu verweilen. Ich war schon öfters an diesem See. Es ist für mich ein ganz besonderer Platz und ich wollte ihn euch gern zeigen. Freut euch schon mal darauf und träumt schön davon.“ Wir wünschten einander eine „Gute Nacht“ und dann legten Lynn und ich uns auf das von Muriel liebevoll bereitete Lager. Bald hörten wir aus dem Nebenraum Muriels Schnarchen. Wir flüsterten noch eine Weile, dann waren auch Lynn und ich tief und fest eingeschlafen.
3
Pünktlich um 5 Uhr des nächsten Morgens goss Muriel Zitronenspritzer über unsere noch schlafenden Gesichter. Im Nu waren Lynn und ich wach, denn der klare saure Geist der Zitrone dringt in die tiefsten Sphären des Schlafs. Dies sei ein altes Rezept aus ihrer Familientradition, erklärte Muriel uns, halb ernst, halb belustigt über unsere doch leicht erschreckten Mienen. „Daran werdet ihr euch schon noch gewöhnen“, lachte sie. „Es sei denn, ihr wacht von selbst so früh auf. Dann brauche ich das natürlich nicht mehr zu tun. Aber es macht mir Spaß“, gab sie lachend zu. Ich sprang aus dem Bett und begann, spielerisch ein wenig mit Muriel zu balgen. Der Geist der Zitrone hatte tatsächlich gewirkt und hatte mich so frisch und wach gemacht, dass ich trotz einer recht kurzen Nacht gewann. Muriel liebte es, uns auf spielerische Art herauszufordern, ein wenig abgehärteter zu werden. Ich mochte die freundliche Art, wie sie uns gern einen Streich spielte. Muriel war mit ihren 44 Jahren genau 2 Tage älter als ich. Sie war eine tolle Freundin, von der Lynn und ich schon vieles gelernt hatten. Kennengelernt hatten wir sie vor zwei Jahren, in einem besonders kalten Winter in Deutschland. Damals war sie mit einigem Geld in der Tasche durch das Weserbergland gereist. Ihr ursprünglicher Plan für jene Reise hatte sich aufgrund zerschlagener Kontakte in Wohlgefallen aufgelöst. So stand Muriel eines Abends vor unserer Haustür in Bad Pyrmont.
Bad Pyrmont war der Ort, für den Lynn und ich uns von Amerika aus entschieden hatten. Diese Wahl hatten wir nie bereut.
Von Anfang an liebten Lynn und ich das Weserbergland.
Bad Pyrmont schien uns mit allem, was der Kurort Menschen mit gesundheitlichen Problemen zu geben hatte, genau der richtige Platz für unser Leben und Arbeiten zu sein. Die alternativen Heilmethoden, die wir anboten und vermittelten, kamen gut an.
Unsere gemeinsame Praxis lief gut, wurde von den Menschen in Bad Pyrmont angenommen und geschätzt.
„Deine Idee mit Deutschland war goldrichtig!“ sagte Lynn immer wieder zu mir. In dem schönen Kurort Bad Pyrmont fühlten wir uns rundum wohl. Wir waren am richtigen Platz angekommen.
Als Muriel damals zu uns kam, lebten Lynn und ich bereits seit 5 Jahren in Deutschland. Auf Anhieb merkten Lynn und ich, dass wir dieser Frau, die um Hilfe suchend vor unserer Tür gestanden hatte, vertrauen konnten und nahmen sie vorübergehend bei uns auf. Schon möglich, dass unser gutes Gefühl, dass wir von Anfang an hatten, auch damit zusammenhing, dass Muriel Amerikanerin wie wir war und in Maryland lebte. Oft saßen wir abends zusammen und tauschten Erlebnisse aus, die wir dort gehabt hatten. Dass Muriel Maryland ebenso liebte wie wir, gefiel Lynn und mir sehr. Sie gab auch uns, die wir nun in Deutschland lebten, mit ihren Erzählungen aus unserer alten Heimat sehr viel und half uns im Haus, wo sie nur konnte. Muriel war sehr dankbar für die Unterkunft bei uns.
Seit jenem Winter, in dem Muriel 3 Monate bei Lynn und mir in Bad Pyrmont gelebt hatte, waren wir in Kontakt geblieben. Meist mailten wir uns, ab und zu telefonierten wir stundenlang. „Kommt mich doch mal besuchen!“ hatte Muriel schon oft zu Lynn und mir gesagt. Nun hatte es auf beiden Seiten gepasst und wir freuten uns sehr, endlich bei ihr zu sein.
4
Nachdem ich Muriel noch einmal umarmt hatte, drehte ich mich zu Lynn um. Auch sie war durch den Geist der Zitrone hellwach.
Sie hatte sich bereits umgezogen. Gerade goss sie Wasser in die Kanne, um Kaffee zu kochen. „Hey, ich bin hier die Gastgeberin!“ rief Muriel lachend und riss Lynn die Kanne aus der Hand.
Wasser spritzte, ein Stuhl fiel um, wir alle lachten. So viel Munterkeit um 5 Uhr morgens! Trotz des Schreckens im ersten Moment, beschloss ich, mir den Zitronen-Weck-Trick zu merken.
Es hatte eine Menge für sich, morgens früh so fit zu sein. Lynn fragte Muriel nach der Route für die heutige Fahrstrecke. Muriel breitete die Karte vor uns aus. Der Weg zum „Lake Of First Birth“ schien es in sich zu haben. „Wirklich abenteuerlich“, dachte ich.
„Das liegt ziemlich abseits der großen Straßen, Muriel.
Möglicherweise ein bisschen risikoreich, oder?“ fragte ich sie und sah auch zu Lynn hinüber. Diese jedoch sah ganz entspannt und voll freudiger Erwartung auf die Karte. Da ließ auch ich die Unsicherheiten davonfliegen, die mich soeben kurz angefallen hatten. „Eine tolle Landschaft, die du uns da zeigen willst, das steht außer Frage. Außerdem sind wir ja bestens auf alles vorbereitet, oder?“ fügte ich daher, an Muriel gewandt, hinzu.
„Eben, Joleen“, antwortete diese. „Drei Powerfrauen wie wir – was soll denn da passieren? Und ich bin eine alte Trapperin. Ich sagte euch doch: ich war schon oft am „Lake Of First Birth“.
Macht euch keine Sorgen. Nun aber los: lasst uns mal frühstücken!“ bat Muriel sanft zur Eile.
Kurz darauf saßen wir in Muriels Jeep und während der Fahrt bestaunten Lynn und ich die wunderschöne Gegend. Mit festem Blick auf die Straße enthüllte Muriel uns: „Früher einmal, vor dem Eintreffen der Europäer, lebten in dieser Gegend viele Indianer vom Stamm der Piscataways. Heutzutage wird ihre Kultur im „American Indian Cultural Center“ in Waldorf dokumentiert.“
Lynn und ich seufzten. In unseren Augen war das, was den indianischen Ureinwohnern Amerikas angetan worden war, ein sehr trauriges Kapitel der USA. Lynn und ich hatten uns viel mit der Kultur und Geschichte der indigenen Völkern, der Indianer befasst. Als wir noch in Amerika gelebt hatten, hatten wir ja auch einige indianische Bekannte gehabt. Leider hatten wir durch den Umzug nach Deutschland den Kontakt zu ihnen verloren.
Doch in unserer Wohnung in Bad Pyrmont erinnerten Lynn und mich ebenso wie in unserer gemeinsamen Praxis täglich viele, für uns sehr kostbare, Dinge an die Indianer. Diese Dinge hatten wir in Amerika teils gekauft, teils geschenkt bekommen. Da waren z.B. mit Leder; Holz und Federn geschmückte Kraftgegenstände, schöne Bilder mit Wölfen und Bären, Schmuckstücke mit Perlen und Silber. Zudem liebten wir schöne Steine, besondere Hölzer aus dem Wald und Naturfotos, die wir zu Postern vergrößerten.
Mit all diesen Dingen dekorierten wir unsere privaten und auch die Praxis-Räume. Lynn und ich hatten, ebenso wie unsere Freundin Muriel, großen Respekt vor der Kultur, den Weisheiten und der Naturverbundenheit der Indianer. Viele Menschen in Deutschland - das hatten wir im Lauf unserer Jahre in Bad Pyrmont immer wieder festgestellt - wussten so wenig über die Indianer. Daher legten Lynn und ich auch häufig Infomaterialien in Form von tollen Büchern und Flyern zu Veranstaltungen rund um die Thematik in unserer Praxis aus. Denn immer mal wieder fanden auch im Weserbergland Veranstaltungen zur Lebenssituation und Geschichte der Indianer statt, die Lynn und ich gern besuchten.
Während wir noch unseren Gedanken nachhingen, waren wir schon, ganz ohne Komplikationen, am „Lake Of First Birth“ angekommen. Fernab der großen Straßen gelegen, wirkte alles ruhig und vollkommen ungestört. Offenbar waren wir die einzigen menschlichen Lebewesen weit und breit. Oder schien das nur so? Der See war von dichtem Wald umgeben. Darin hätten sich gut Menschen verstecken und uns beobachten können. „Leben hier Indianer?“ fragte ich Muriel. „Ja“, antwortete sie. „Hier lebt ein ganz besonderes Volk von Indianern, das sich und seine ureigene Kultur und Lebensweise erhalten konnte. Es ist schon extrem, dass sie sich hier im Wald in ihre eigene Welt zurückziehen müssen, um ungestört auf ihre ursprüngliche Art leben zu können.“ Muriel seufzte und zeigte auf den wundervollen See, der vor uns lag. „Der Bereich um den „Lake Of First Birth“ ist irgendwie ein magischer Bereich, in dem die Indianer immer beschützt waren. Ich traf einmal eine Frau dieses Volkes hier am See. Sie sind sehr sensibel und wunderschön.“
5
Ich dachte noch über Muriels Worte nach, als Muriel und Lynn sich schon ihre Badesachen angezogen hatten und in den See gesprungen waren. Sie schwammen bereits weit draußen. Der Wind wehte ihr Lachen und Kreischen über das Wasser zu mir herüber und sie winkten mir gerade zu, als ich ein Rufen aus dem Wald hörte. Leise stand ich auf und spähte vorsichtig in das Dickicht hinein. Waren dort Menschen? Der Wald schien unendlich groß und verworren und ohne meine Begleiterinnen fürchtete ich mich, weiter hineinzugehen und mich vielleicht zu verirren.
Daher lief ich schnell zu unserem Platz am See zurück. Doch was war das? Nebel hatte sich über das Wasser gelegt und ich sah und hörte nichts von meinen Begleiterinnen. Unsere Sachen lagen am Ufer, doch sie sahen verlassen und irgendwie alt aus. War so viel Zeit verstrichen? Oder war ich in eine andere Erlebnisebene geraten? Vielleicht machte der Geist der Zitrone für all dies empfänglicher? Oder war es die magische Aura, die den „Lake Of First Birth“ umhüllte? Was hieß das überhaupt, „See der ersten Geburt“, was hatte das zu bedeuten?
Der Nebel lag grau um mich und mein geheimnisvolles Verlassen-Sein machte mir Angst. „Muriel!“ rief ich. Und lauter noch: „Lynn!“ Keine Antwort kam. Plötzlich war mir sehr kalt und ich wünschte, wir wären daheim geblieben. Muriel immer mit ihren verrückten Idee, ich mit meiner Empfänglichkeit dafür und meiner Begeisterung für neu entdeckte Natur und Lynn, die zu einer Reise größeren Umfangs nie „nein“ sagen konnte. Drei schräge Frauen, dem Zufall unterworfen? Oder machte dieser kühle, eigensinnige Moment voller Fragen hier am „Lake Of First Birth“ für mich und für mein Leben irgendeinen Sinn?
Während ich mich noch nach einer Art Zeichen umsah und all das zu begreifen versuchte, stand plötzlich eine Indianerin neben mir. Ich war nur wenig erschreckt, hatte ich in dieser ungewöhnlichen Situation doch mit beinahe allem gerechnet.
„Ich grüße dich“, sagte sie. „Vorhin hatte ich dich gerufen, doch du bist nur bis zum Waldrand gekommen, weil du Angst hattest.
Ich musste deine vertraute Welt sowie deine Gefährtinnen in Nebel hüllen und dich so ganz deiner Angst stellen, um dir überhaupt begegnen zu können. Denn du kannst mir nur begegnen, wenn du dich deiner Angst stellst und dennoch losgehst.“
„Wieso heißt dieser See „Lake Of First Birth“? fragte ich die Indianerin. Es war das Erste, was mir in den Sinn kam und es schien mir das Wichtigste zu sein, über das ich mit ihr zu reden hätte. Sie nickte still und senkte die Augen. „Ich weiß, du fragst dich dies.“
6
Die Indianerin sah mir einen Augenblick still und unverwandt in die Augen. „Es ist kein Zufall, dass dein Weg dich zu unserem Platz geführt hat. Ich werde dir die Geschichte des „Lake Of First Birth“ erzählen.“ Ruhig blickte die Indianerin über das Wasser und schien ganz in Gedanken versunken, als sie dann begann:
„Schau, vor langer, langer Zeit lebten hier viele, viele Wesen:
Tiere, Elfen, Geistwesen, Menschen verschiedener Hautfarben und Klanggestalten. Sie lebten in Frieden miteinander, einmal abgesehen vom alltäglichen, normalen Maß des Streites, das zum Frieden gehört. Das Wasser des Sees schenkte ihnen mit jedem Tag Licht und tiefe, tiefe Freude. Sie alle wunderten sich oft über die Reinheit von Schmerz, die es ihnen schenkte. Sogar Krankheiten fielen oftmals von ihnen ab. Die heilsame Wirkung des Seewassers war am stärksten, wenn die Wesen, die damals hier lebten, im See badeten. Daher wurde selbst im Winter das Eis oft aufgeklopft und viele tauchten kurz in das eisige Wasser ein. Doch da das Wasser damals noch so rein und klar war, konnte es auch problemlos getrunken werden. Normalerweise wurde das Wasser aus den Quellen getrunken, doch für Heilungszwecke nahmen sie das Wasser aus dem See. Manche füllten auch einfach ein bisschen Wasser in eine Schale ab und benetzten damit verletzte Stellen. Immer wieder staunten sie alle, was das Wasser des Sees zu bewirken vermochte. Es konnte nicht nur körperliche, sondern auch seelische Wunden heilen.
Damals nannten alle, die hier lebten, diesen Ort den „See der unzähligen Wunder“.
Eines Tages kam eine fremde Frau von weit, weit her. Die Seele dieser Frau war von Angst und Schmerz erfüllt. Sie hatte Schweres erlebt, das sie sehr belastete.
Mehr vermochte die arme Frau den Wesen am See nicht mitzuteilen. Sie alle boten der Frau ihr Wasser der Heilung an, den See. Doch diese Frau hatte so starken Kummer, dass ein Bad im See nie reichen wollte, um froh und leicht zu werden. Sie weinte Tag und Nacht. Bald legte sich ein leichter Nebel über die Gemüter aller, die hier lebten, und die lichtvolle Gegenwart wich der bangen Frage, wie sie jemals diese schier nach dem Wasser des Sees unersättliche Frau zum Frohsein bringen könnten.
Die Weisesten aller Völker – Menschen wie Tiere - trafen sich und berieten viele Tage und Nächte, ohne Erfolg.
Eines Tages kam eine Krähe geflogen, die meinte, Rat zu wissen. „Hört zu“, sprach sie. „Ihr alle, Groß und Klein, solltet für einige Zeit spurlos im Wald verschwinden. Irgendwann wird diese Frau aus ihrem Trauma erwachen und zum ersten Mal richtig merken, wo sie sich befindet. Sie wird sich an die Schemen eurer Gestalten erinnern und sie wird euch sehr vermissen. Sie wird sich an Momente erinnern, wo euer Lachen ihr Herz fröhlich machte und sie wird an den Anblick eurer Schönheit denken. Ihr alle werdet ihr fehlen. Sie wird euch suchen und wenn sie euch wiedergefunden hat, wird ihr Herz voll Freude sein. Der Schock von all dem Erlebten wird endlich von ihr abfallen können, und sie wird mit ihrem vollen Bewusstsein unter euch zur Ruhe kommen. Eine von euch soll sie dann im See reinwaschen und sie wird geheilt sein. Es wird für sie sein wie die Geburt zu neuem Leben.“ Die Weisen hatten in tiefem Schweigen den Worten der Krähe gelauscht. Jetzt nickten sie und sprachen einig: „Ja, das wollen wir versuchen.“ So zogen sie denn los, an einem sonnigen Tag, alles, was hier lebte, flog, kroch, tanzte – sie alle entfernten sich in den Wald, in einer unbeachteten Stunde, als die gequälte Frau wieder einmal sehr lange in den Tiefen des Sees nach Korallen tauchte, die sie nie fand.
Als die Frau wieder auftauchte, was es eigentümlich still im und um den See herum. Auch ihr Auge konnte keine Gestalt erfassen. „Wo seid ihr?“ rief sie bang. Nur die Bäume standen still um den See herum. Die Frau schwamm ans Ufer und kleidete sich an. Vor Schreck vergaß sie sogar zu weinen, was sie sonst immer getan hatte, wenn sie ans Ufer zurückkehrte. Allein im See selbst hatte sie nie geweint. Eine Weile saß sie ruhig am Ufer. Plötzlich dachte sie über vieles nach. Wie sie hierhergekommen war. Die schrecklichen Zeiten davor, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen waren. Plötzlich war ihr, als ob sie seit langer, langer Zeit in einem Dämmerzustand gelebt hatte, aus dem sie mit einem Mal aufgewacht war. Sie schüttelte ihre nassen Haare, so dass die Wassertropfen nur so flogen. Wie leicht ihr Kopf sich doch anfühlte. Früher war er stets so bleischwer gewesen und hatte sie geschmerzt von all der Angst, den schweren Gedanken, dem vielen unterdrückten Kummer und all dem, was sie erlebt hatte. Ihr Kopf war ihre rettende Burg gewesen, in die sie geflohen war, und gleichzeitig ein bleischweres Gefängnis, aus dem sie endlich erwachte. Ja, sie war geflohen, von da, wo sie gelebt hatte, doch es zum Glück hatte sie niemand verfolgt.
Allein die Tränen waren aufgetaucht, waren aus ihr gebrochen wie ein nie enden wollendes Meer der Verzweiflung, hatten sie niedergekämpft und zu Boden geworfen: Tränen, die sie zuvor nie zu weinen gewagt hatte und die sie zuvor nie ertragen hatte. Diese Tränen hatten sie in Besitz genommen und manchmal war sie richtig froh über diesen Strom des Vergessens ihrer Kraft, der sie forttrug an die Ufer der Nacht. Sie ließ sich im Weinen fallen in diesen Strom, der sie aller Verantwortung enthob, der sie zudeckte mit seiner scheinbar endlosen Tiefe und sie schließlich benommen machte, bis sie erschöpft in Schlaf sank. Manchmal schien ihr dieser Tränenstrom wie eine Mutter, die sie auf ihre Schultern nahm und forttrug von der schweren Realität. Diese Tränenmutter wiegte sie in ihren Armen und dankbar hielt die Frau sich daran fest, auch wenn sie manchmal erkannte, dass ihre Tränenmutter sie gar nicht so sicher trug. Denn oftmals tanzte diese mit der Frau in ihren Armen hoch über den Abgründen tiefer, tiefer Schluchten. Doch Leben oder Tod – was bedeutete das noch? Oft schien es der Frau das Gleiche zu sein.
All dies überdachte die Frau, als sie am Ufer des Sees saß und das Verschwinden all der anderen Lebewesen bemerkte. Und plötzlich fühlte sie Einsamkeit. Sicher, dieses Päckchen Verlassen-Sein hatte sie all die Zeit in sich getragen. Doch plötzlich merkte sie, dass all die freundlichen Wesen um sie herum ihr gut getan hatten, auch wenn sie viel zu sehr mit ihrem Schmerz beschäftigt gewesen war, um das bewusst zu spüren. Ja, jetzt fehlten sie ihr und sie spürte sogar Sehnsucht nach der ein oder anderen Gestalt, die ihr ab und an zugelacht hatte. Voll Liebe dachte sie plötzlich an all die Schönheit, die diese wunderbaren Wesen um sie herum verbreitet hatten. Was für ein Geschenk, hier mit ihnen in Frieden und an diesem Zauber-See leben zu dürfen. Und sie hatte nie begriffen, wie beschenkt sie war! Und nun waren sie fort! War es zu spät, ihnen zu danken, war es zu spät, ernsthaft zu versuchen, mit ihnen zu leben, ja mit ihnen, nicht nur neben ihnen?
Die Frau stand auf. Sie blickte über den See, tauchte mit ihren Augen tief in das Blau und in die sanften Wellen ein und fühlte plötzlich, wie all der Schmerz wie ein schwerer Stein von ihr abfiel. Dort, wo dieser Stein gelegen hatte, breitete sich die Schönheit des Sees in ihrem Herzen aus, die Stille und auch der Wunsch, der nie gekannte Wunsch, neu und wirklich zu leben. Sie streckte sich und dankte dem See. Dann wanderte sie in den Wald.
Lange wanderte die Frau so. Um ihre Willenskraft zu prüfen, hatten sich alle Lebewesen tief in den Wald zurückgezogen und hatten dafür viele Tage den Ort verlassen, den sie so liebten:
ihren See. Doch die Frau, die endlich ihren Lebenswillen, ihre Kraft und ihre Sehnsucht gefunden hatte, wurde nicht müde und gab nicht auf, bis sie alle im tiefsten Wald fand.
Das war eine Freude für sie alle! Sie feierten die ganze Nacht lang. Endlich waren sie eins. Das machte sie stark.
Und alle am See lebenden Völker nahmen auch das Weinen der Frau an. Diesen Kummer, der die Frau in seiner Heftigkeit so sehr niedergedrückt hatte, dass er ihr beinahe die Tür zum Leben versperrt hatte, weil sie nichts anderes mehr sah. Beide Seiten – die schon so lange am See lebenden Völker und die Frau - sahen einander offen in die Augen, bereit, voneinander zu lernen. Denn wenn auch der Dämmerzustand ewiger Trauer von der Frau gefallen war, so hieß das ja nicht, dass sie nie mehr traurig gewesen wäre. Und sie umarmten einander in Frieden. Gemeinsam zogen sie alle dann zum See zurück.
Die Frau hatte ihren bisherigen Namen nie erwähnt. Vielleicht wollte sie auch nicht mehr so genannt werden? Mit solchen Gedanken hatten sich ein paar von den Weisen beschäftigt und hatten eine Idee. Als Zeichen eines Neubeginns schenkten sie der Frau den Namen „Emerald“. Die Bedeutung des Namens wurde weitergereicht als: „du schöne Kraft, wir freuen uns an dir“. Emerald schenkte dem See in einem feierlichen Ritual ihre große Kraft und Fähigkeit zu trauern und sprühte in einem Schälchen eingefangene Tränen von sich über den See hinaus. Und sie gaben dem See den Namen „Lake Of First Birth“.
Fortan lebte Emerald als eine akzeptierte Weise unter all den Wesen am See und sie lebten in Frieden.“
Die Indianerin legte ihre Arme um meine Schultern. „Sicher möchtest du jetzt wissen, wo all diese wundervollen Wesen geblieben sind. In dieser heutigen Welt voll Krieg und Gier haben sie sich auf eine Bewusstseins- und Existenzebene zurückgezogen, die wir weder sehen noch berühren können. So sind sie geschützt. Sie sind immer noch hier. Manchmal, wenn wir, die wir hier im Wald leben, ein besonderes Fest feiern, zeigen sie sich für unsere Augen und sprechen mit uns. Ihr Geist wohnt in uns, und viel mehr noch, ihr Frieden.“
„Wie schön“, sagte ich. „Danke, dass du mir all dies erzählt hast.“
Die Indianerin sah mich aus ihren dunklen, ernsten Augen freundlich an und sagte: „Ja, deshalb rief ich dich ja zu mir und musste nun so, auf diese neblige Weise, zu dir kommen – ich wollte und musste es dir erzählen. Ich weiß, dass du diese Geschichte brauchst und dass du sie gut hüten wirst.
Und du hast Ähnlichkeit mit Emerald.“
Die Indianerin zwinkerte mir zu. „Ich werde sie von dir grüßen.“
„Ja“, bat ich sie. „Hab Dank für alles“, sagte ich und wir umarmten uns zum Abschied.
7
Plötzlich war die Indianerin verschwunden und nichts, rein gar nichts, deutete auf die Richtung hin, in die sie gegangen war. Ich sollte ihr also nicht folgen. Sie hielten ihre Welt im Wald sehr gut geschützt, die Indianer, die hier am „Lake Of First Birth“ lebten. Das stellte ich mit Dankbarkeit im Herzen fest.
Der Nebel war wieder verschwunden und der See glänzte in vollem Sonnenlicht. „Hey, schläfst du im Stehen?“ rief Lynn mir vom See aus zu. „Bist du taub?“ rief Muriel. „Wir rufen dich schon seit 2 Minuten pausenlos.“ 2 Minuten? Schlafen im Stehen?
Scheinbar hatten die beiden sich sehen können, während ihr Anblick für mich verhüllt war. Und was in meiner Welt, wo immer ich gerade gewesen war, ein langes Gespräch gewesen war, waren hier 2 Minuten gewesen.
Naja, egal. Das war so unwesentlich wie der Geist der Zitrone mir zu sein schien. Aber vielleicht fing schon da mein Fehler an?
Nahm ich die falschen Dinge wichtig? Der Geist der Zitrone hatte mich nicht in diese Welt versetzt, aber er hatte mich frisch und stark gemacht, vielleicht auch, geistig klar genug, um all dies hier heute zu erleben.
„Will eine von euch noch eine Zitrone?“ schrie ich übers Wasser und feuerte behände ein gelbes Etwas mitten zwischen die zwei im See planschenden Frauen. Diese kreischten halb belustigt, halb empört und verdattert. Aber das war mir egal.
Mein Auge verfolgte nur die Zitrone. Denn die – das konnte ich und vielleicht nur ganz allein ich, sogar von der Entfernung aus sehen – sank im Wasser immer tiefer, wurde dort von einem funkelnden Strudel erfasst und empfangen und landete schließlich am Boden des Sees, wo sie sich in eine Koralle verwandelte. Hier war sie, die Koralle, nach der die gequälte, von Tränen der Verzweiflung zerfurchte, Emerald stets getaucht und die sie nie gefunden hatte. Hier war diese Koralle und ich allein konnte sie sehen, verstehen, begreifen und die Wunder, den Sinn und die tiefe Magie des Sees in meinem Innern spüren. Ich fühlte mich eins mit dem wunderschönen „Lake Of First Birth“, eins mit Emerald nach ihrer Befreiung und eins mit den Indianern, die heute hier im Wald lebten. Und ich war eins mit mir selbst, eins mit der leuchtenden Koralle im See, eins mit der Freude. Ich fühlte Emeralds Geistwesen in Frieden neben mir ruhen, fühlte sie leben, tanzen im Wind, leise, leicht.
Was für einen schönen Namen die weisen Wesen dieser Frau geschenkt hatten, die so viel durchmachen musste! In Bad Pyrmont kannten wir auch eine Esmeralda – was ja die deutsche Form von Emerald ist – fiel mir plötzlich ein.
Es war eine alte Frau von nahezu 80 Jahren, die ganz in unserer Nähe wohnte. Alle nannten sie nur bei ihrem Vornamen und es hieß, sie sei ein wenig eigentümlich. Waren Lynn und ich zu beschäftigt gewesen, um wahrzunehmen, welch wertvolle Person sich möglicherweise hinter ihrem ungewöhnlichen Verhalten verbarg? Wir mochten Eigenheiten an Menschen, schätzten es, wenn Menschen sich offen und lebendig zeigten, sich nicht vom Druck der Normen und gesellschaftlichen Zwänge daran hindern ließen, sie selbst zu sein. Ich nahm mir vor, Esmeralda einmal besuchen zu gehen, wenn wir wieder zuhause waren. Wer weiß, was für spannende und bereichernde Dinge aus ihrem Leben sie mir möglicherweise mitteilen würde.
„Hey, was ist mit dir, Joleen?“ Lynn und Muriel traten ans Ufer und schauten mich fragend an. „Ya´at´eeh“ kam es aus mir heraus und wir fühlten uns in einem höheren Verstehen verbunden, ohne den Sinn der Worte zu kennen. Schweigend umarmten wir uns im Kreis und blickten über den See. Dass Lynn und Muriel klatschnass waren, störte mich dabei kein bisschen. Ich war einfach froh, wieder bei den beiden zu sein.
„Deine Zitronen sind ein Gedicht, Muriel“, sagte ich und wir lachten. Was alles geschehen war, würde ich in mir bewahren - so war es versprochen, so war es gut. Allein durch meinen Gesichtsausdruck konnten Lynn und Muriel vielleicht erahnen, was mich und den See jetzt an tiefem Wissen verband. Und sie beide wussten, dass der tiefe Zauber des „Lake Of First Birth“ in mich geflossen war. Mein Lächeln sagte alles.
Der Fluss trägt unsere Träume und Gedanken durch das Tal. Wenn das Wasser glitzert und sich kräuselt, wissen wir, dass unsere Träume sich im Wasser verwandelt haben und nun zu den Sternen aufsteigen. Uns solche Dinge vorzustellen, gibt uns Kraft, macht uns reich und neugierig auf die Zukunft. Gemeinsam in die Zukunft zu schreiten, ist etwas Schönes. Ja, da hatten wir alle Glück. Wir konnten diese Träume teilen und gemeinsam mit unseren Visionen über die Wellen des Lebens gleiten. Denn uns verband ein tiefes Band der Freundschaft.
Neulich saßen wir mal wieder zu siebt am Fluss. Pauline, Eva-Mae, Krümelchen, Janine, Bille, meine Wenigkeit Kerstin und Silva. Ihr kennt Silva nicht? Doch, bestimmt! Es ist keine andere als die berühmte, mittlerweile auf die 80 Jahre zugehende Sängerin aus Italien. Mit Sicherheit habt ihr schon mal das ein oder andere Lied von ihr gehört, auch wenn sie mittlerweile im Ruhestand ist. Silva lebt ja inzwischen recht zurückgezogen hier bei uns in Kempten im Allgäu. Die Frau weiß eben, wo es schön ist, die hat Geschmack! In unserer Mitte möchten wir die Gute jedenfalls nicht mehr missen. Wir sind eine Gruppe von Frauen verschiedener Altersstufen. Was uns vereint, ist der Wunsch nach Freiheit und die lassen wir einander auch – sei es im Geiste, sei es im Lebensalter, in verschiedenen Lebensweisen und Einstellungen. Wir sind glücklich, einander an all unseren Unterschiedlichkeiten und Lebenserfahrungen teilhaben zu lassen. Die Freude daran ist es, die uns zusammenhält.
Mit dem festen Kern unserer Gruppe waren wir auch diesmal an unserer Lieblingsstelle am schönen Fluss Iller versammelt. Bille war, wie meistens, mit ihren 23 Jahren die Jüngste von allen. Krümelchen und sie hatten sich vor 3 Jahren in einem VHS-Kurs zum Thema „Internetseiten selbstgestalten“ kennengelernt. Krümelchen nannten wir Angie deshalb, weil sie mit ihren 63 Jahren einfach die Größte war. Sie war fast 2 Meter lang und hatte immer einen Witz auf Lager. Die Frau hatte einfach die Sonne im Herzen.
Es war Anfang Februar und wir trugen wegen des rauen Wetters alle Regenjacken mit dicken Wollpullovern darunter. Janine ritzte gerade mit ihrem roten Taschenmesser ein dickes Herz in die Rinde ihres Lieblingsbaumes, als Silva mal wieder wie aus der Pistole geschossen anfing, eins ihrer alten Lieder zu trällern. Wir hatten es schon so oft live und in Farbe von ihr gehört, aber um ehrlich zu sein, hatten wir sie allesamt so gern, dass es uns immer wieder aufs Neue gefiel. Ja, sie konnte uns damit regelrecht in eine Gruppentrance versetzen: „Ich hab keine Furcht“ sang Silva. Das war so mehr oder weniger unser aller Lieblingslied, mit dem sie uns immer wieder wie mit einem magischen Staubsauger alle Sorgen und Kümmernisse aus den Klamotten zu ziehen schien. Wir blickten auf das Wasser, Eva-Mae und Pauline holten ihre Gitarren raus und der Rest summte mit. Unten am Fluss haben wir übrigens unser kleines Bootshaus mit der megabreiten Überdachung, unter der wir wie immer auf den alten Plastikstühlen saßen. Ein paar Kerzen brannten auf dem Tisch.
Als sie geendet hatte, sagte Silva mit ihrer heiseren Stimme:
„Was für ein Abend, Kinder! Mit euch ist es immer noch am schönsten. Euch und das Wasser vom Fluss, mehr brauch ich nicht.“ Die italienische Sängerin, die es einst mit 10 Alben zu internationaler Berühmtheit gebracht hatte, fühlte sich in unserer Runde immer wieder pudelwohl. Sie lebte nun seit 10 Jahren in Kempten im Allgäu und wir waren sehr froh, dass sie den Weg in unsere kleine Frauenrunde gefunden hatte. „Wie bist du damals, kurz nachdem du ins Allgäu kamst, auf unsere Gruppe aufmerksam geworden?“ fragte Pauline. Sie alle liebten es nicht nur, wenn Silva sang, sondern auch wenn sie erzählte.
Silva sah Pauline an und lachte: „Ach, Pauli, das weißt du doch!
Ihr hattet diese Anzeige in die Kemptener Frauenzeitschrift „Frauenzimmer am Start“ gesetzt. Euer Text hat mir sehr gut gefallen. Ich weiß ihn immer noch auswendig:
„Die Freiheit ruft uns hier inmitten der Berge zum Träumen auf!
Wir wollen segeln - nicht über das Meer, doch an die Strände unserer Visionen!
Kemptener Frauencrew sucht inspirierende Sängerin für lauschige Abende. Bezahlung nach Absprache.“
Aber, du hast ja Recht“, sagte Silva und sah Pauline in die Augen, „zu dem Zeitpunkt warst du ja noch gar nicht dabei. Du kamst sogar später als Krümelchen und Bille zur Gruppe dazu. Zum Zeitpunkt der Zeitungsanzeige bestand der feste Kern der Gruppe ja zunächst mal aus Janine, Eva-Mae und Kerstin. Ab und zu gesellten sich auch mal andere Frauen dazu, manche für nur einen Abend, andere kamen hin und wieder mal. Bille und Krümelchen kamen ja ebenso wie du erst später dazu. Meist waren an den Abenden, wo ich als Sängerin eingeladen war, natürlich noch viel mehr Frauen da. Das war ja aus Sicht der Mädels ein vorrangiger Grund dabei, mich einzuladen: die Gruppe zu vergrößern. Dass dies durch mich persönlich geschehen würde, das war allerdings nicht geplant!“
Silva fuhr sich in Gedanken vertieft durch ihre grauen Haare und fuhr fort: „Krümelchen lernten wir kennen, als wir vor 7 Jahren mal wieder in unserem tollen Kemptener Freizeitbad Cambo Mare schwimmen waren. Ich liebe dieses wundervolle Schwimmbad. Aber allein darin herumstrolchen, so als Seniorin, das behagt mir nicht so, um ehrlich zu sein. Mit euch zusammen fühle ich mich dort – wie auch überall sonst – sicher und wohl. An jenem Tag im Juli, als wir Krümelchen, unsere Angie, kennenlernten, da spielten wir gerade Wasserball. Mit euch kann ich mich auf Anhieb so jung fühlen, das ist einfach toll! Ihr gebt mir auch nie das Gefühl, für irgendetwas zu alt zu sein. Ihr schaut mich nie komisch von der Seite an, wie das manche andere Leute schnell tun, wenn ein alter Mensch ausgelassen ist. Von Senioren wird immer nur Ernst und Ruhe erwartet. Ich möchte aber genau wie ihr auch lebensfroh und bunt sein dürfen. Die Leute erwarten von alten Menschen oft, sich als graue Maus zu geben, sich immer schön im Hintergrund und den Ball flach zu halten. Dazu habe ich aber gar keine Lust. Allein jedoch wäre mir wohl nichts anderes übrig geblieben, als so zu leben. Um im Alter nicht in jene Ecke zu rutschen, braucht es zweifellos die richtige Gesellschaft. Und die hab ich mit euch, was für ein Glück!“
Janine sah Silva liebevoll an und sagte: „Du hast verdammt viel Pepp für dein Alter und das lieben wir an dir.“ Silva strahlte. „Genau das hat auch mir von Anfang so an dir gefallen!“ rief Angie. „Ich sah diese Gruppe von Wasserball spielenden Frauen, die kreischten und lachten. Interessiert ging ich langsam näher. Und dann sah ich dich, Silva. Eine so vergnügt lachende ältere Frau, die sich mit vielen Falten im Gesicht einfach ganz beherzt wie ein Jungspund mit den anderen im Wasser tummelt, johlt und lacht, das fand ich super. Die schöne Gemeinschaft, die ihr alle ausstrahltet und all der Spaß – das hat mich angezogen.“ Silva sah Angie an und fuhr fort zu erzählen: „Dass auch du nicht mehr die Allerjüngste bist, dich aber gern noch jung und frei verhalten möchtest, fiel mir auch an deiner Ausstrahlung sofort auf. „Darf ich mitmachen?“ hast du gefragt und ich wusste auf Anhieb, dass du nicht eine von den Frauen bist, die mal kurz in unsere Gruppe reinschneien, um sich nach ein paar kurzen Einblicken rasch wieder zu verabschieden. Ich wusste, dass du genau zu uns passt. Ich warf dir den Ball zu, du lachtest, warfst ihn Kerstin direkt in die Arme und riefst: „Volltreffer!“ Ich wusste sofort: das warst auch du für uns.“
Angie, genannt Krümelchen, nahm sich ein Stück Streuselkuchen von dem großen Teller, der in der Mitte des Tisches stand. Dann reichte sie den Teller an Eva-Mae weiter. Silva beobachtete, wie der Kuchenteller von Frau zu Frau gereicht wurde und spürte auch in diesem Moment wieder so deutlich die stille Harmonie, die diese kleine Frauengruppe verband. Silva sah die Frauen liebevoll an und fügte hinzu: „Ja, und ein Volltreffer ist jede einzelne von euch für diese Gruppe. Ihr seid allesamt spitzenmäßig. Ich möchte keine von euch in meinem jetzigen Leben vermissen. Hab ich auch alles gehabt, wovon andere Menschen nur träumen - Erfolg, Reichtum, internationale Berühmtheit - so kann ich nur immer wieder sagen: ein Teil dieser wunderbaren Gruppe zu sein, das ist das, was mich heute reich macht. Ich bin wirklich froh, nach Kempten gekommen zu sein. Es war damals eine schwere Entscheidung für mich, denn ich bin Italienerin aus Fleisch und Blut, wie ihr ja wisst. Aber ich brauchte Abstand zu allem, was hinter mir lag und hier in Kempten habe ich ja zumindest meine geliebten Berge, die ich von meiner Heimat gewöhnt bin.“
Silva trank noch einen Schluck und räusperte sich. „Ich habe euch ja schon oft erzählt, dass ich ursprünglich gar nicht singen wollte. Ich habe mit dem Singen begonnen, um meiner Familie finanziell zu helfen. In späteren Jahren bin ich durch Enttäuschungen mit Männern (einmal innerhalb einer Ehe, ein paarmal in lockeren Beziehungen) auch lange Zeit richtig depressiv gewesen. Hier in Kempten zu leben, ist die pure Erholung, hier bin ich wieder aufgeblüht. Die Bergluft und die schöne Gegend tun mir so gut. Auch das Städtchen hat so viel zu bieten – und damit meine ich nicht nur das tolle Schwimmbad Cambo Mare. Ich bin glücklich hier zu leben, vor allem, seit ich mit euch zusammen bin.“ Silva sah in die Runde und lächelte die Frauen zufrieden an. „Wenn ich bedenke, dass ihr mir ja in eurer Anzeige in der Frauenzeitschrift „Frauenzimmer am Start“ sogar Geld für das Singen angeboten hattet! Ich habe nicht wegen des Geldes Kontakt zu euch aufgenommen. Es war der frische Wind, der in eurer Anzeige rüberkam, der mich angesprochen hat. „Die Truppe schau ich mir mal an!“ dachte ich so bei mir. Ich sang dann an ein paar Abenden gegen Geld für euch, doch dann merkte ich ja schnell, dass ich das so nicht weiter handhaben möchte. Ihr habt mir so gut gefallen, dass ich lieber ein Teil eurer Gruppe sein wollte, als Geld für meine Lieder zu erhalten. Ihr habt mich auf meine Anfrage hin augenblicklich als neues Gruppenmitglied akzeptiert. Das werde ich euch nie vergessen und habe euch das alles, so gut ich kann, mit vielen Liedern gedankt.“
Eva-Mae reichte Silva eine Decke, da sie gemerkt hatte, dass diese doch leicht zu frieren begonnen hatte. Sie waren ein munterer Haufen und ließen sich von keinem Wetter davon abhalten, gemütlich am Fluss zusammenzusitzen. Wenn es mal ein bisschen frischer wurde, legten die Frauen sich halt zusätzlich zu den angemessen dicken Klamotten noch ein oder zwei Decken über. In ihrem Bootshaus hatten sie genügend Getränke, haltbare Nahrungsmittel, Decken und viele andere Sachen gelagert, um es sich hier am Fluss so richtig gemütlich zu machen. Der Iller ist ein wunderbarer Fluss“, sagte die italienische Sängerin und sah auf das Wasser, das so friedlich und beruhigend vor ihnen lag.
„Das Bootshaus habt ihr tatsächlich selbst gebaut, Mädels?“ fragte Silva. Sie liebte das hübsche Häuschen aus Erlenholz, das ich mit Pauline und Eva-Mae gebaut hatte. Dass die Sängerin manche Fragen zum wiederholten Male stellte, übersahen wir freundlich und geflissentlich. Sie war eben schon ein wenig in die Jahre gekommen, doch das minderte unsere Wertschätzung für sie nicht im Geringsten. „Ja, Silva, was denkst du denn, wen du hier vor dir hast?“ lachte ich. „Wir sind Frauen, aber das heißt nicht, dass wir nicht anpacken könnten! Wie du weißt, bin ich von meinem ersten Beruf her Tischlerin und baue auch nach wie vor ab und zu mal ein Möbelstück. Falls du mal einen Schrank, ein Bett oder sonstiges in Auftrag geben möchtest, weißt du ja, an wen du dich wenden kannst.“ Silva sah mich an und ihre Augen wurden ganz groß. „Warum hast du das nicht eher schon mal gesagt? Ich dachte, das Bauen mit Holz ist Vergangenheit für dich und wollte dich da nicht zu irgendwas drängen. Du arbeitest doch seit 10 Jahren im Kindergarten.“ Ich lachte: „Das eine schließt das andere nicht aus, oder? Ok, ich arbeite nur noch selten mit Holz, aber für besondere Anlässe stehe ich gern zur Verfügung und für Anfragen von Freundinnen sowieso. Sorry, dass ich das noch nicht so klar zu dir gesagt hab. Brauchst du was, Silva?“
Verträumt blickte die italienische Sängerin über das Wasser und seufzte: „Mein absoluter Traum war von Kindheit an eine Hollywoodschaukel. Frag mich nicht, warum ich bisher nie zu einer gekommen bin, so viel Geld ich auch hatte. Vielleicht war einfach nicht die richtige, glückliche Stimmung dafür da.“ Silva sah in die Runde, verschränkte ihre Hände ineinander und sah mich dann auf diese niedliche Art an, die kleine Kinder haben, wenn sie einen besonders großen Wunsch haben. Mit großen Augen fragte unsere Lieblingsitalienerin mich: „Kannst du eine Hollywoodschaukel bauen? So eine hätte ich zu gern für meinen kleinen Garten hinter dem Haus. Da abends zu sitzen und zu träumen, das wäre wundervoll.“ Ich nickte. „Kein Problem, Silva! Für dich mach ich das gern. Aber nur unter einer Bedingung: dass du uns alle dann auch ab und zu einlädst, mit dir darauf zu schaukeln und uns von deinen Liedern singst.“ Nun sah Silva erstaunt aus. „Wie kommst du darauf, dass es anders wäre? Wie oft seid ihr schon zum Grillen in meinem Garten gewesen! Als ob ich euch nicht auf meine Hollywoodschaukel lassen würde!“ Ich lachte und umarmte unsere alte Freundin. „Das war doch ein Scherz!“ sagte ich. „Ich weiß doch, dass wir bei dir immer willkommen sind, ob mit Hollywoodschaukel oder ohne.“ Ich zog meine Jacke enger um mich. Auch mir wurde langsam etwas frisch. „Du kennst doch Kerstin!“ sagte Pauline jetzt zu Silva. „Die macht halt immer gern mal einen Spaß. Damit hält sie uns ja auch oft genug bei Laune!“ Silva lächelte und winkte ab: „Ja, das weiß ich doch. Manchmal bin ich vielleicht einfach zu alt, um immer so schnell mitzukommen.“ Eva-Mae erhob sich und begann aufzuräumen. „Das stimmt doch gar nicht!“ sagte Eva-Mae. „Von uns kriegst du diese Sprüche in Bezug auf dein Alter nicht zu hören, also lass sie doch auch selber! Du hast das nicht nötig! Immerhin bist du Silva, die weltberühmte Sängerin! Die kann sich nahezu alles erlauben, oder?“ Wir lachten.
Plötzlich stand Silva wie von der Tarantel gestochen auf und begann ihr berühmtes Lied „Juchhu, wir leben noch“ zu singen. Pauline und Eva-Mae schnappten sich ihre Gitarren und begleiteten ihren Gesang. Einige von Silvas bekanntesten Songs folgten, darunter auch die beiden immer wieder gern von uns allen mitgesungenen Lieder „Wenn der Wind weht“ und „Du hast es toll“. Um sich ein wenig aufzuwärmen, begannen Janine, Krümelchen und ich zu tanzen. Bille, die im Umgang mit Feuer sehr gewandt war, erkannte die Lage und brachte an unserer Feuerstelle ein Feuer in Gang. Zuvor waren wir noch zusammen kegeln und essen gewesen. „So eine Kugel ist mordsschwer, aber es macht einfach immer wieder riesigen Spaß!“ hatte Silva gesagt, als wir in unserem Lieblingsrestaurant „Alte Bleiche“, direkt am Fluss, nach dem Kegeln gegessen hatten. Nach sportlichen Aktivitäten hatte Silva immer ziemlich viel Farbe im Gesicht. „Na, das hält die Leute wenigstens davon ab, mir den selben Namen zu geben, den unser Lieblingslokal trägt!“ kommentierte Silva ihre Gesichtsfarbe bei solchen Anlässen.
Nachdem wir alle in unserem Lieblingslokal mal wieder die hausgemachten Käsespätzle genossen hatten, hatte es uns doch noch an unseren geliebten Platz am Fluss gezogen. Es war zunächst als kurzer Ausklang des Abends am Wasser gedacht gewesen und daher hatten wir es erstmal ohne Feuer probiert. Doch unser Ausflug hierher hatte sich unerwartet in die Länge gezogen und nun war es kalt geworden. Im Bootshaus hatten wir einiges Holz gelagert. Während unserer Unterhaltung war Bille ins Häuschen gegangen und hatte schon begonnen, ein paar Holzscheite am Feuerplatz zu stapeln. Bille war nicht nur sehr gewandt im Umgang mit Feuer, sie war unglaublich naturverbunden und wusste vieles über die Natur und über viele Tiere. Sie war vor zwei Jahren zu unserer Gruppe dazu gekommen und wir alle empfanden sie als Bereicherung. Bille konnte gut zuhören, war sehr gutmütig, hilfsbereit und zuverlässig. Obwohl sie mit Abstand die Jüngste von uns allen war, kam sie uns oftmals sehr weise vor. Pauline war 37 Jahre alt, Eva-Mae 53, Janine 44 und ich war 50 Jahre alt. Krümelchen und Silva nannten wir manchmal spaßeshalber unsere „Stammesältesten“. Aber Bille mit ihren 23 Jahren konnte in so vielem locker mit uns allen mithalten. Wir alle genossen die Altersunterschiede innerhalb der Gruppe, die verschiedenen Lebensstile und fühlten uns eng verbunden und wohl in unserem Gruppengefühl.
Als das Feuer langsam nicht mehr nur knisterte, sondern auch Wärme zu verbreiten begann, fuhr Silva mit dem Erzählen fort.
An manchen Abenden hatte sie diesen Drang, im Mittelpunkt zu stehen, sei es durch Lieder oder Erzählungen. Für uns war das ok. Wir hörten ihr gern zu. Silva sah in die Runde, während Pauline und Eva-Mae die Gitarren ablegten und ihre Hände über dem Feuer wärmten. „Wie ich euch ja bereits erzählte, war ich auch mal verheiratet. Mein Mann war genervt, wenn ich sang, daher habe ich es bei ihm gelassen. Das ist, als wenn du dich mit einem ganz wesentlichen Teil von dir nicht verstanden fühlst. Es fehlt etwas. Und das macht einsam. Da konnten wir stundenlang zusammen sitzen, aber es war eine furchtbare Leere da.“ Pauline, die auch mal verheiratet gewesen war und sich dabei ähnlich gefühlt hatte, nickte. Sie konnte das alles nur zu gut verstehen und sagte: „Ich denke, in vielen Fällen ist das so, wo sich im Zusammenleben eine Art Gewohnheit einschleicht, die die Freude und das Interesse aneinander regelrecht abtötet. Am Ende schweigen die beiden einander nur noch an. Das ist schon traurig. Für viele ist das ein Gefängnis, aus dem sie sich nie mehr heraustrauen.“ Pauline seufzte, doch da rief Krümelchen beherzt: „Da haben wir es gut, oder? Wir sind frei!“
Silva summte ein Lied. Das Singen war so sehr ihr Leben gewesen, dass sie immer mal wieder zwischendrin ins Summen oder Singen verfiel. Das konnte beim Spazierengehen sein oder im Restaurant, überall eigentlich, wo Silva gerade die Puste dazu hatte. Sogar manchmal wenn wir alle gemeinsam im Kino saßen, begann Silva plötzlich zu singen. „Entschuldigung!“ flüsterte Silva dann gelegentlich, wenn sie sich dessen plötzlich bewusst wurde.
„Das ist bei mir ein derartiger Automatismus geworden! Obwohl ich mit dem Singen ja eher zwangsweise, aus finanziellen Gründen begann. Aber wenn du mal so viele Alben aufgenommen hast und die Stimme so geölt ist, wird das Singen mehr und mehr zum Lebenselixier. Auf einmal kannst du gar nicht mehr ohne!“
Da wir dies wussten, lauschten wir Silvas Summen einfach still, bis sie weiter sprach: „Ich kann gar nicht oft genug betonen, wie froh ich bin, dass ich euch kennenlernte, Mädels! Mit euch bin ich zuhause angekommen. Ich wohnte ja bereits 3 Jahre in Kempten, liebte die Berge, aber mir fehlte menschlich die richtige Anbindung. Mit euch hab ich sie gefunden. So eine Gruppe zu haben, wo ich so tolle Freundinnen hab, die ich jederzeit anrufen kann, wo ich mich von allen verstanden fühl und für niemanden der Star sein muss, das ist so schön. Die schönen Ausflüge, die wir machen – zum Glück keine stundenlangen Wanderungen, da ich das gar nicht mehr kann - mal ein schöner Stadtbummel, ein Treffen in einem netten Cafe, schwimmen, kegeln oder essen gehen, eine gemeinsame Feier .. Das alles ist so abwechslungsreich. Ich glaube, mit euch könnte mir niemals langweilig werden. Und immer wieder freut ihr euch, wenn ich für euch singe.“ Silva sah in die Runde der inzwischen so vertrauten Gesichter. „Wenn ich mit euch zusammen bin, fühl ich mich auch gar nicht alt, wisst ihr das?“ sagte Silva. „Das bist du doch auch gar nicht!“ meinte Eva-Mae. „Eben!“ rief Bille, „im Innersten sind wir alle gleich alt!“ Ein zustimmendes Murmeln erfüllte unsere Runde.
Zum Abschied umarmten wir uns alle. „Wann singst du uns mal wieder dein Lied „Miteinander Leben“?“ fragte Bille. „Ein andermal“, antwortete Silva, „da leg ich mich nicht fest.
Wir sind schließlich Freigeister, oder?“
„Wie Recht du hast“, stimmte Bille zu und löschte das Feuer.
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