Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
London ist die Stadt, in der sich drei Personen wiedertreffen, die sich fast 30 Jahre nicht gesehen haben. Sie waren früher gemeinsam auf der Schule und jahrelang dick befreundet. Der eine, Alten John, hat mittlerweile einen anderen Namen als früher, ist ein berühmter Musiker, weltweit erfolgreich. Er hat große gesundheitliche Probleme und lädt daher, in der Hoffnung, dass ein Anknüpfen an alte Zeiten, ihm gut tun könnte, seine beiden alten Freundinnen zu sich ein. Die eine, Lulu, ist seit vielen Jahren erfolgreiche Chefin einer großen Firma. Nelly, die dritte im Bunde, ist Schriftstellerin. Die Geschichte wird aus Nellys Perspektive erzählt. Gemeinsam mit Lulu begibt Nelly sich auf die Reise nach London. Alten John erweist sich als der perfekte Gastgeber und Stadtführer. Er zeigt den beiden alten Freundinnen viele tolle Plätze Londons und sie tauschen sich über das Leben aus. Besonderer Anreiz des Buches sind dabei die Lieder, die in den Verlauf der Handlung thematisch eingebettet sind. Sämtliche Liedtitel sind leichte Abwandlungen zu real existierenden Liedern des berühmten Musikers, zu dessen Name der Name Alten John eine Abwandlung ist. Sämtliche Liedtexte sind von Friederike Twardella geschrieben (auf Englisch, mit deutscher Übersetzung).
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für alle,
die sich mehr Mut wünschen,
mitzuteilen, was sie fühlen und zu zeigen, wer sie sind.
Für alle,
die London, Reisen
und schöne Lieder lieben.
Für alle,
die Ehrlichkeit schätzen
und von einer Welt träumen,
wo Menschen einander sein lassen und Kraft geben.
Für alle,
die gern
mit Nelly und Lulu
auf die Reise gehen wollen.
And when you look up to the stars,
the only ones that seem to hear you
– don’t think they couldn’t,
don’t fear they wouldn’t,
because they always will.
Just tell them what you feel inside
and cry for life.”
(deutsch:
Und wenn du hinauf siehst, zu den Sternen,
den einzigen, die dich scheinbar hören können
– denke nicht, sie könnten es nicht,
hab keine Angst, sie würden es nicht,
denn sie werden es immer tun.
Sag ihnen einfach, was du tief innen fühlst
und schrei nach Leben.)
- aus dem Lied „The Cry For Life“ von Friederike Twardella
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
SONGLISTE
Liste der Muffins (auch Schneeweißchen genannt)
Ablauf der gemeinsamen Woche in London
Quellen und Anmerkungen
Liste der wichtigsten Personen des Buches
Das Leben ist eine Reise durch viele Höhen und Tiefen. Es ist wichtig, gute Verbündete auf dieser Reise zu finden. Diese Verbundenheit können wir zum Beispiel in Freundschaften finden. Manchmal treten alte Freundschaften nach langen Jahren wieder in unser Leben und wir stellen fest, dass das Band und das Verstehen noch genauso stark wie früher ist.
Diese Geschichte voller Musik und Muffins handelt davon, wie heilsam miteinander geteilte Echtheit und Lebendigkeit sein kann. Gleichzeitig ist es eine Reise durch London, mit vielen Einzelheiten über sehenswerte Plätze. Alle aufgeführten Informationen zu den Sehenswürdigkeiten entsprechen der Realität. Alle Angaben über Stil, Einrichtung und Lage der Restaurants basieren auf realen Fakten, mit Ausnahme dessen, was ich über das Restaurant The Phoenix schrieb (alle benannten Lokale existieren, auch letzteres).
Es ist eine Geschichte über die Kraft der Träume, da zwei der Hauptfiguren ihren Visionen gefolgt sind und innerhalb der langen Jahre, in denen sie einander nicht gesehen haben, sehr erfolgreich wurden. Es geht darum, dass auch die vermeintlich so Starken, Erfolgreichen unter uns ihre Schwächen haben und andere brauchen. Leben heißt, sich mitzuteilen, mit allem, was wir fühlen und sind. Es ist wichtig und befreiend, wir selbst zu sein und uns ehrlich zu zeigen und einander zu respektieren, wie wir sind.
Nicht zuletzt ist das Buch ein Dank an einen sehr bekannten Musiker, dessen Lieder mir persönlich viel gegeben haben (und auch vielen anderen, da er weltweit erfolgreich ist). Sämtliche Songtitel im Text sind Variationen zu realen Songtiteln dieses Musikers (jeweils mindestens ein Buchstabe ist anders, oft ein auch ein oder mehrere Worte). Die Songtexte sind alle von mir geschrieben. (Ich schrieb die Lieder erst auf Englisch und dann übersetzte ich sie auf Deutsch. Daher sind Reime eher in der englischen Fassung der Lieder zu finden). Die an den berühmten Musiker angelehnten Person im Buch, Alten John, meist AJ genannt, ist in all ihren Verhaltensweisen und Facetten ebenso wie alle anderen Personen im Buch und ebenso wie die komplette Handlung frei erfunden.
Nach fast 30 Jahren treffen sich nun Lulu, Nelly und Alten John, die zusammen zur Schule gingen und dick befreundet waren, in London wieder. Sie tauschen einander über ihr Leben und ihre Gedanken aus. Die alte Gemeinsamkeit stellt sich wieder heraus. Sie suchen tolle Parks, Gebäude und Gegenden von London auf. Bei allem Schönen, was sie erleben, beschäftigt die drei eine Sache sehr: Alten John hat große gesundheitliche Probleme. Die gemeinsame Zeit ist wohltuend – und nicht nur für Alten John. Auch für Nelly und Lulu ist die Woche in vieler Hinsicht bereichernd. Bei ihrer Tour durch London lernen Lulu und Nelly auch viele interessante Leute aus AJs Freundeskreis kennen. Leute, die zum Teil selbst im späten Alter noch begannen, ihr Leben zu verändern. So ist dieses Buch voll Lebendigkeit, vielen ernsten Themen, aber auch viel Phantasie, Buntheit und Witz. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Nelly erzählt. Viel Spaß beim Lesen!
Friederike Twardella
Es war der 25. Mai 2015. Ich hatte wirklich nicht gedacht, dass in diesen Tagen irgendetwas passieren würde, was Geschichte schreiben könnte. Doch ich hatte mich getäuscht. In meiner Wohnung in Köln hatte ich soeben mal wieder einen neuen Tag begonnen. Nichts Besonderes erwartend war ich aufgestanden. Als ich nach dem Frühstück zum Briefkasten ging, fand ich darin einen rosa Briefumschlag. Von wem mochte der sein? Ich riss ihn auf und fand darin die Zeilen:
„Hallo, Nelly! Erinnerst du dich an mich? Wir haben damals auf dem Gymnasium 8 Jahre lang zusammen die Schulbank gedrückt und viel zusammen unternommen. Oft haben wir auf Partys gemeinsam gesungen, waren 5 Jahre dick befreundet und verstanden uns prächtig. Als ich nach England auswanderte, haben wir leider den Kontakt verloren. Früher hieß ich Tom. Seit ca. 20 Jahren trage ich schrille Anzüge, bunte Hüte, hin und wieder auch Perücken, sehr gern ausgefallene Brillen und nenne mich Alten John. Ich bin jetzt seit einigen Monaten sehr krank und daher sehne ich mich idiotischer Weise nach der alten Zeit. Kommst du mal vorbei? Ich würde mich sehr freuen.“
Nur zu gern sagte ich eilig zu und Tom alias Alten John freute sich sehr. „Da ich ein sehr erfolgreicher und bekannter Musiker geworden bin, fehlt es mir, was das Materielle betrifft, an nichts. Das Fahrtgeld nach London, wo ich seit vielen Jahren lebe, erstatte ich dir dann selbstverständlich. Während deines Aufenthaltes hier, werde ich für alles aufkommen – Restaurantbesuche, Ausflüge u.v.m. Mach dir daher, was deine Zeit in England angeht, wegen Finanziellem keine Gedanken. Ich komme gern für alles auf“, schrieb er, „denn ich schwimme im Geld.“
Dann endlich war der große Tag gekommen. Im Nachhinein denke ich oft an diesen Montag, den 15. Juni 2015 - den Tag, an dem ich nach London reiste – und die darauffolgende Woche. Sicher, ich war im Laufe der letzten Jahre viel herumgereist. Doch diese Reise brachte so viel frischen Wind in mein Leben. Ich kam vollgepackt mit vielen schönen Eindrücken einer wunderbaren Stadt, so wertvollen Begegnungen, wiedergefunden Freundschaften und neuen Zukunftsideen zurück. Ich hatte viel gesehen, viele tolle Muffins gegessen und viele wunderbare Lieder gehört. Doch lasst mich von vorn beginnen…
Ich fuhr mit einem Nachtzug, der um Mitternacht von Köln startete. Ich fand, manchmal konnten solche Nachtreisen sehr abenteuerlich sein. Daher hatte ich bewusst den Nachtzug gewählt, mit der Möglichkeit, die Sitze in eine Liege umzuwandeln. Die Bahn kam pünktlich und ich setzte mich auf meinen reservierten Platz in einem hell erleuchteten Abteil. Außer mir schien kaum jemand unterwegs zu sein, denn bis jetzt saß ich völlig allein im Abteil. Ich setzte mir die Kopfhörer auf und nudelte zum 1000. Mal den Song „I Guess That’s Why They Call It To Lose“ von Alten John auf meinem tragbaren CD-Player durch, als plötzlich eine alte Dame das Abteil betrat und mir gegenüber Platz nahm. Sie drehte in einer Tour ihre faltigen Hände ineinander, sah nervös aus dem Fenster, dann wieder ganz direkt in mein Gesicht. Dann kramte sie in ihrer geblümten Handtasche und plötzlich fiel ein schneeweißer Muffin aus ihren zittrigen Händen direkt auf meine Füße. Daran erkannte ich sie. Meine Güte, die Dame war keine andere als Törtchen-Lulu, die mit Tom und mir dick befreundet gewesen war! Lulu und ich waren gemeinsam mit Tom in dieselbe Klasse gegangen und hatten alle drei in der Oberstufe zusammen den Musik-Leistungskurs besucht. Zudem waren wir 5 Jahre lang ein Team, dick befreundet und unternahmen viel zusammen. Bereits damals fiel Lulu am gesamten Gymnasium durch ihre schneeweißen Muffins auf, die sie mit in den Unterricht brachte. An manchen Tagen stand sie mitten in der Stunde auf und verteilte reihum ihre Törtchen. Einmal pflasterte sie die Eingangstür unseres Heidelberger Gymnasiums mit den Törtchen, als sie einen Wutanfall hatte. Ein anderes Mal warf sie die Muffins wie Schneebälle durchs Treppenhaus und fing sich damit eine 6 ein. Gut, von schlechten Noten ließ Törtchen-Lulu sich nicht abhalten, ihre Gefühle zu zeigen - egal, ob sie begeistert, wütend oder unglücklich war. Das imponierte Tom und mir, und so schrieb er ihr gewidmet damals das Lied „Chrissy“, in dem es um den Mut, die Originalität und die Ideen einer Powerfrau ging. Chris war Lulus zweiter Vorname und uns als ihren besonderen Vertrauten gebührte damals die Ehre, sie so nennen zu dürfen. Denn in einer stillen Stunde hatte sie uns einmal anvertraut, dass sie ihren Zweitnamen viel lieber mochte. Sie traute sich allerdings nicht, sich allgemein so nennen zu lassen. Zwei Jahre lang dauerte die Phase, in der wir sie Chris nennen durften. Dann bat sie uns, sie doch wieder wie alle anderen Lulu zu nennen. Wenn ihr jetzt aber glaubt, in Lulus Törtchen wären Drogen gewesen, so habt ihr euch geirrt. Sie färbte sie damals schon mit einem Geheimrezept (noch bevor es künstliche Farbstoffe gab!). Ja, und oft mixte sie sogar Heilpflanzen, Tinkturen und Kräuter in ihre Muffins.
Ich nahm die Kopfhörer ab und wagte ein zaghaftes: „Hallo, Lulu! Lange nicht gesehen.“ Sie erwiderte meine Begrüßung mit einem kurzen Nicken und sagte: „Hallo, Nelly, fährst du auch zu Tom?“ Noch bevor ich antworten konnte, klatschte sie mir eins ihrer Törtchen in die Hand. „Danke, ja“, antwortete ich und schleckte das Törtchen von meiner Hand. Von früher wusste ich, dass ihre Muffins stets lecker waren, daher nahm ich ihr kleines Geschenk wortlos an. Immer schon hatte sie dazu geneigt, kleine Geschenke gern mit einem Spaß zu verbinden. Wenn wir uns auch lange nicht gesehen hatten, so mochte ich ihre Art von Humor nach wie vor und war nur einen kurzen Moment überrascht über den Muffin in meiner Hand. Das Törtchen schmeckte nach Zimt, Vanille und weiß der Teufel, was sie noch reingemixt hatte – ich fing an, mich zu beruhigen. Da saßen wir also nach all den Jahren mal wieder vereint beieinander – Lulu Zihfrohnatury und Nelly Walisenbrella. Warum nur sah Lulu aus, als wäre sie um die 20 Jahre älter als ich? „Falls du meine grauen Haare meinst und so“, meinte Lulu da, als hätte sie meine Gedanken gelesen: „die Ärzte wissen auch keine Antwort. Fakt ist: ich fühle mich keinen Tag älter als du es bist. Es ist also nur meine Hülle. Ja, vielleicht kommt es durch all die Törtchen und all die wilden Mischungen, die ich im Lauf der Jahre zusammengestellt habe, mag sein. Aber ich bereue nichts, nicht ein winziges kleines Törtchen. Und weißt du was: da ich seit 7 Jahren Diabetes habe, habe ich auch viele Muffins mit Salz gebacken, weniger als die Süßen. Hier, möchtest du mal probieren? Ich habe „Spinat-Mandel-Muffin“ dabei, „Bärlauch-Pesto-Muffin“ und „Zink-Vitamin C-Sanddorn-Muffin“. Hier habe ich die feurigen Renner „Paprika-Chili-Knoblauch-Muffin“ und „Salsa-Pfeffer-Erbsen-Muffin“. Ich habe über 300 Rezepte entwickelt, weltweit vermarktet und viel verkauft. Ich habe eine Firma gegründet: „World-Life-Muffin“ und bin im Gesundheitswesen sehr bekannt. Auf Gesundheitsmessen halte ich Vorträge und mit Apotheken habe ich Verträge. Ich habe Muffins gegen Grippe, gegen Depressionen, gegen Lähmungserscheinungen und Panikattacken entwickelt. Die Liste ist zu lang, um dir mal eben alles aufzuzählen. Daher bat mich Tom zu sich – teils aus Sehnsucht nach der alten Zeit, teils aus der Hoffnung, ich könne ihm helfen.“ Lulu seufzte und fuhr sich durch ihre grauen Haare. „Zum Glück habe ich seit vielen Jahren eine Art Leitungsteam aufgebaut. Das sind ein paar ganz fähige Leute, die mich, wenn ich mal ausfalle, problemlos vertreten können. Sie sind informiert, dass ich mich mit meiner vollen Aufmerksamkeit und all meinen Fähigkeiten in dieser Woche in London ganz auf alles hier Anstehende konzentrieren möchte. Daher habe ich mein Leitungsteam gebeten, mich in meiner Abwesenheit auch mit keiner Mail und keinem Anruf zu stören. Ich kann mich da voll auf meine Leute verlassen. Ich bezahle sie sehr gut und sie werden sich bestens um alles kümmern und mich in dieser Woche in Ruhe lassen. Ich hoffe doch sehr, dass ich unserem alten Freund helfen kann und bin froh, mich voll darauf konzentrieren zu können. Wenn man eine so große Verantwortung trägt, muss man auch in der Lage sein können, sich mal freizuschaufeln. “
Ich nickte. Ja, nun wusste ich Bescheid. So verbrachten wir viele Stunden gemeinsam im Abteil - meist schweigend. Am nächsten Tag kamen wir gegen 11 Uhr vormittags in London an. Als ich nachts auf der umfunktionierten Liege schlief, träumte ich von kichernden Törtchen und einer riesengroßen Bäckerei, in der ich alles bestellen konnte, was ich wollte. Das war eine Wiedergutmach-Bäckerei. Für jeden Kummer, alle Sorgen und für jeden kleinen oder großen Wunsch gab es kleine Törtchen. Ich aß sie im Traum und wachte beruhigt und zufrieden auf.
Am Bahnhof empfing uns Tom alias Alten John, begleitet von 2 Leibwächtern, 2 schwarzen Doggen und einer riesigen Parfumwolke. Er trug das Haar schulterlang und blondgefärbt und dazu eine atlantikblaue Brille mit schwarzen Pfeilen in der Umrandung. Wenn ich längere Zeit diese Pfeile beobachtet und überlegt hätte, wohin sie wohl weisen, hätte ich vermutlich angefangen zu schielen.
Lulu und ich hatten in seinem äußerst geräumigen Haus jede eine 50 qm große Suite mit schönstem Prunk-Styling zugewiesen bekommen. Wir waren begeistert. Nach dem reichhaltigen Mittagessen, das es zum Empfang in AJs Haus als erstes gegeben hatte, hatten Lulu und ich uns daher erstmal ganz in Ruhe in unseren Zimmern eingerichtet und uns auch nochmal für eine kleine Weile aufs Ohr gelegt. Danach spazierten Lulu, Alten John und ich noch eine Weile durch die große Parkanlage, die zu seinem Anwesen gehörte. Alten John erklärte uns sämtliche, dort stehenden Pflanzen und saß zuletzt sehr lange mit uns an dem kleinen idyllischen Weiher, der mitten im Park lag. „Was bin ich froh, dass ihr zwei da seid!“ seufzte unser alter Freund, auf den Weiher blickend. „Ich liebe meinen Mann Bear Ray und ohne ihn wäre ich zweifellos an meinen gesundheitlichen Problemen längst total verzweifelt. Bear Ray gibt mir so viel Kraft und ich bin sehr glücklich mit ihm. Er ist für mich so ein Geschenk und nichts und niemand könnte ihn ersetzen. Was wäre ich ohne ihn?“ Alten John blickte in die Wipfel der Bäume, die den Weiher umsäumten. Ich sah, dass im Weiher einige Fische schwammen. In der Idylle des schönen Parks fiel der Stress der langen Fahrt ein Stück von mir ab. Alten John sah Lulu und mich an, lächelte und fuhr fort: „Und dann ist da unser kleiner Sohn Frankie, der uns beiden natürlich sehr viel Freude macht. Wir sind sehr froh, ihn vor einigen Jahren adoptiert zu haben!“ Einen Moment lang schwieg unser alter Freund, dann seufzte er und sagte: „Aber der ganze Ruhm hat mich doch mittlerweile so leer gemacht, dass ich mich danach sehnte, noch einmal der einfache Tom von damals zu sein. Mit euch kann ich das sein. Das tut so gut! Klatsch mir nochmal eins deiner Törtchen ins Gesicht, Lulu“, bat Alten John lachend. Da Lulu immer eine Tasche mit ein paar Törtchen mit sich trug, befolgte sie dies nur zu gern. Lachend wischte Alten John sich die „Erdbeer-Ananas-Creme“ aus dem Gesicht und schleckte sich die Finger ab. „Toll, das ist wie früher! Saubere Aktion!“ Das war früher immer unser gemeinsamer Ausdruck gewesen, wenn wir zufrieden mit etwas waren. Alten John wiederholte: „Saubere Aktion, dass ihr da seid, Mädels!“ Er sah uns beiden an und sagte dann: „Ich hoffe, du hast mir die erbetenen Spezial-Törtchen und viele Rezepte mitgebracht, Lulu!“ Diese salutierte grinsend.
Abends führte Alten John uns in die Poem Bar aus. „Wie gefällt euch dieses wunderhübsche Viertel, in dem ich wohne?“ hatte Alten John gefragt, als wir einen kleinen Abendspaziergang durch die Straßen machten. Sein Haus lag im Stadtteil St.John’s Wood und Lulu und ich waren total begeistert. Es war ein wohlhabendes Viertel mit sehr vielen Bäumen und wir fühlten uns auf Anhieb sehr wohl dort. „Toll, hier würde ich mich auch pudelwohl fühlen!“ sagte Lulu daher im Überschwang. „Wie ihr euch denken könnt, gefällt mir hier nicht nur der Stadtteil selbst, sondern auch sein Name!“ hatte Alten John gelacht. „Ich mag es, in einem Viertel zu wohnen, das quasi meinen Namen trägt, auch wenn es natürlich nicht nach mir benannt wurde!“ Lulu und ich grinsten. Ja, so kannten wir unseren alten Freund und wir gönnten ihm sein tolles Haus, das schöne Viertel und die Freude an dessen schönem Namen aus vollem Herzen. Ich wusste genauso gut wie Lulu, dass unser alter Freund nie ein Mensch gewesen war, der von sich eingenommen war. Er hatte seine Höhen und seine Tiefen und war nicht der Typ, nach außen den Gewinner zu spielen oder einen auf überheblich zu machen. Er war eine durch und durch ehrliche Haut, ein Mensch, der auch zu seinen Schwächen stand. Von daher war mir klar, dass diese Aussage über den Namen des Viertels nicht aus einer Selbstverliebtheit kam, weil er einfach nicht so war. Es war einfach seine Verspieltheit und die hatte ich immer schon an ihm gemocht. Gerade durch diese Aussagen und seine Art, wie er einfach war, kam bei mir gleich wieder ein altvertrautes Gefühl hoch und ich fühlte mich bereits jetzt sehr wohl mit den beiden. „Ich habe für den heutigen Abend extra ein kleines hübsches Lokal ausgesucht, das nur ein paar Straßen von meinem Haus entfernt liegt. Nach eurer langen Zugfahrt heute noch durch Londons Straßenverkehr zu düsen, schien mir doch zu viel für euch!“ hatte unser alter Freund gesagt. Wir waren ihm dankbar und der kleine Abendspaziergang durch den Londoner Abend tat gut. „Das Lokal, in das wir gehen, liegt direkt in der sagenumwobenen Abbey Road“, hatte Alten John uns begeistert unterbreitet. „So bekommt ihr gleich an eurem ersten Abend einen spannenden Eindruck. Was es mit der Abbey Road auf sich hat, erzähle ich euch ein anderes Mal. In der Nähe unseres Lokals, der Poem Bar, ist auch der Lord’s Cricket Ground. Auch verschiedene andere Plätze, die ich euch im Laufe der Tage zeigen möchte, sind von hier aus sehr gut erreichbar, wie z.B. auch der Regent Park. Dort gehe ich sehr gern und oft spazieren. Aber ihr seid sicher müde und wenn ich mich auch darauf freue, euch einiges über das wunderbare London zu erzählen, so hat das ja Zeit. Ich will euch nicht gleich heute Abend damit überfallen.“ In der Poem Bar angekommen, sagte Alten John: „Am allerliebsten hätte ich euch, um ehrlich zu sein, als erstes in ein total nobles Restaurant eingeladen, um euren Empfang gebührend zu feiern. Das holen wir die Tage nach. Aber auch wenn Geld bei mir keine Rolle spielt, mag ich durchaus auch Lokale wie dieses und gehe nicht nur in die super edlen. Mir gefällt es hier sehr. Ich habe mir überlegt, euch im Lauf der Tage ein paar verschiedene Restaurants vorzustellen, teils von der richtigen Luxusklasse, teils etwas einfacher und liebenswert. So lernt ihr London auch von verschiedenen Seiten kennen. Ganz abgesehen von all den spannenden Orten, die ich vorhabe, euch zu zeigen!“ Alten John lachte in offensichtlicher Vorfreude auf die gemeinsamen Tage. „Wir werden uns auf jeden Fall eine schöne Zeit machen. Ich freue mich sehr, dass ihr meine Einladung angenommen habt und gekommen seid. Nun lasst uns feiern! Esst und trinkt, was immer ihr wollt!“ eröffnete uns Alten John, als wir die Speisekarte studierten. Wieder begleiteten uns die beiden Leibwächter. Wie wir schnell bemerkten, lud Alten John sie traditionell bei jedem Restaurantbesuch der Einfachheit halber gleich mit ein. Da unser alter Freund recht häufig in Restaurants essen ging, führte allein dieser großzügige Zug seinen Leibwächtern gegenüber schon zu einem sehr guten Verhältnis zwischen Alten John und seinen Begleitern. Wir bestellten uns tolle Gerichte, diverse Getränke und Nachtische und schlemmten erst einmal nach Herzenslust.
Einige Zeit später stellte Lulu dann abends die erste Ration Spezialtörtchen vor Alten John. Es waren 6 weiße Törtchen. Lulu hatte in jedes einzelne mit größter Sorgfalt viel Heilkraft und Genesungsmaterial gemixt. Alten John aß sie alle andächtig, eins nach dem anderen. Danach hielten wir drei uns am Tisch an den Händen und sangen gemeinsam: „Goodbye, Yellow Chick Road“. Wahnsinn, auch mir war, als hätte ich eins dieser magischen Törtchen gegessen. Ein Stein fiel von mir ab. Lulu lächelte mystisch und ihr fielen spontan ein paar graue Haare aus. „Ich glaub, ich merke schon, dass die Übelkeit nachlässt und dass dieses abartig nebulöse Gefühl, das mich seit Monaten überkommen hat, ein wenig weniger wird. Danke, Lulu. Morgen machen wir dann Teil 2 der Törtchen-Heilungs-Zeremonie – du hast ja für 7 Teile bzw. Tage Rezepturen mitgebracht. Ihr bleibt also mindestens eine Woche. Ihr seid von früh bis spät meine Gäste, alles vom Feinsten, und ich zeig euch London. Was meint ihr?“ fragte Alten John und sah uns grinsend aus Törtchen verschmiertem Gesicht an. „Saubere Aktion“, antworteten Lulu und ich wie aus einem Munde.
Als wir uns am Tag darauf in Alten Johns 60 qm großem Esszimmer zum Frühstück trafen, servierte Alten John uns im schwarz-rosa Nadelstreifenanzug Rühreier und Schinken mit Orangensaft. Aus einem alten Plattenspieler knarzte sein Song „Too Low For Thousand“ in den frühen Morgen. Lulu knallte ihre Tasche mit Muffins auf den Tisch und gab erstmal einen aus. „Ganz ohne meine Schneeweißchen kann ich nicht leben!“ rief sie und verteilte passend zu dem würzigen Tagesbeginn ihren Muffin-Schlager „Tagesanbruch Am Fluss“.
„Tja!“ rief die Gute beherzt. „Da ihr wisst, dass ich alles andere als eine Langweilerin bin, habe ich mich nicht lumpen lassen und mir für einige Muffinkreationen, genauer gesagt für 100 der beliebtesten Törtchen, Namen ausgedacht. Der Muffin „Tagesanbruch Am Fluss“ ist eine Kreation, die mit ihrem feinen Fischgeschmack gepaart mit Kartoffelessenzen und Lauchverfeinerungen zu einem verträumten Morgen einlädt. Probiert selbst!“ Ich biss gerade in den Muffin, als ich tatsächlich ein leises Plätschern im Ohr hatte. Ich musste an meine Zeit in Afrika denken, am Nil. „Ich weiß, woran du denkst, Kleines“, sagte Lulu und zwinkerte. „Ich kann den langen Fluss in deinen Augen sehen, den Nil.“ Wahnsinn, wieder musste ich über sie staunen. Waren wir drei so seelenverwandt? Da wir drei ja fast 30 Jahre gar keinen Kontakt gehabt hatten, musste Lulu es in der Zeitung gelesen haben. Damals hatte ich 5 Jahre in einer Kinderklinik in einem total ärmlichen Dorf am Nil gearbeitet.
Nichts hatte mich nach dem Abitur davon abhalten können, nach Afrika zu gehen. So fing meine Reise in der Ferne an. Ich sah die Sonne aufgehen über diesem weiten Land, ich durchlitt mit den Kindern ihre Schmerzen und Nöte. Ihnen zu helfen gab mir Kraft und ich hatte keine Angst. 5 Jahre lebte ich dort als einfache Krankenschwester. Als eines Tages unser Kinderkrankenhaus abbrannte, rettete ich unter Einsatz meines Lebens 75 Kinder. Dies stand weltweit in allen Zeitungen, mit meinem Namen. Doch für mich persönlich war dieser weltweite „Ruhm“ kein Erfolg, denn ich hatte alles verloren, was mein Lebensinhalt gewesen war. Die Kinder kamen landesweit in andere Einrichtungen und ich beschloss, mein Leben woanders weiterzuführen. So zog ich nach Island, auf eine sehr einsame Insel. Ich fühlte mich 3 Jahre total ausgebrannt und leer. Ich schrieb und schrieb. Das Schreiben war meine Erfüllung. Ich schickte 4 meiner Bücher an Verlage – sie kamen alle zurück. In einer großen Truhe sammelte ich diese Schätze und 3 Schränke waren voll mit Tagebüchern. In Island liebte ich die Kälte, ihre Kraft und Klarheit und ich brauchte die Einsamkeit, um wieder zu mir zu finden. Dann ging ich nach Berlin.
Ich war so in Gedanken und Erinnerungen versunken gewesen, dass ich kaum wahrgenommen hatte, dass ich Lulu und Alten John das alles soeben erzählt hatte. „So, ihr Lieben! Sorry, dass ich dich so abrupt unterbreche, Nelly. Erzähl uns doch bitte später weiter davon. Es ist jetzt Zeit aufzubrechen, schließlich wartet einiges an Unternehmungen auf uns!“, rief Alten John mitten in die sentimentale Stimmung, die meine Erzählung ausgelöst hatte. Hektisch fegte er ein Stück Rührei von seinem Nadelstreifenanzug. „Bevor wir starten, noch eine kurze Ansage von mir: Ihr könnt mich AJ nennen. So nennen mich hier alle Freunde. Wenn ich mit meinem Mann in Clubs unterwegs bin, werde ich nur „AJ“ oder „Turteltäubchen“ gerufen. Lulu, bist du so gut und steckst für die nächste Tortenzeremonie das nötige Handwerk ein?“ „Nicht nötig, mich daran zu erinnern, du Turteltäubchen!“ zwinkerte Lulu und schwenkte triumphierend ihre geblümte Handtasche. Verschwörerisch blinzelnd stimmte sie AJs Song „Can You Bake The Tartlet Tonight“ an und tanzte dann summend durch den Raum. Dann fuhr sie fort: „Heut Nacht, während ihr Hübschen tief und fest geschlummert habt, bin ich in deine Küche gegangen und habe alles Notwendige aus den Schränken gezogen und einen deiner Backöfen in meine Dienste gestellt. Da du beim Empfang gesagt hast: „Mein Heim ist euer Heim, ihr könnt an alles drangehen!“, ging ich davon aus, dass das in Ordnung ist.“ Wieder sang Lulu, „Can You Bake The Tartlet Tonight“ und sah AJ fragend an. „Logisch, meine Liebe!“ rief unser alter Freund. „Alles in Butter! Ich vertrau dir, deinen Backkünsten und deinen Törtchen voll und ganz. Tu mir nur den einen Gefallen und füttere meine 2 Doggen nicht mit deinen Törtchen. Die kriegen davon Durchfall.“ Verlegen sah Lulu zu Boden. „Oh, sorry, das konnte ich nicht ahnen!“ antwortete sie dann. „Als ich heute Nacht im Halbdunkel die Treppe hinunterstieg, nur mit einer Taschenlampe und meiner Handtasche bewaffnet, standen die 2 schwarzen Schönheiten mit wild fletschenden Zähnen vor mir. Da habe ich mir einfach keinen anderen Rat gewusst, als tief in meinen Törtchen-Vorrat zu greifen. Ich gab ihnen meine letzten Reserven. Dafür habe ich heute Nacht in einer 4-stündigen Aktion weitere 50 Muffins gebacken. 6 Spezial Muffins für die heutige Heilungsaktion, ca. 20 zum Verschenken in der City und den Rest so für uns für zwischendurch. Wenn sie alle sind, backe ich Nachschub. Vorrat hast du ja genug, AJ. Gut ausgerüstet ist deine Küche, alter Junge! Ich bin blass geworden vor Neid. Dieser abgefahrene Herd von Siemens – Hammer! Der geht ab wie eine Nudel! Alles voll gut durchgebacken! Die kleineren Törtchen habe ich in dem kleinen Öfchen gebacken, der aussieht wie aus dem Elfenland. Total goldiges Exemplar. Mensch, alter Knabe – wusstest du, dass ich auf Herde abfahre wie andere auf Motorräder? Meine Güte, mit sowas kannst du mich echt hinter dem Ofen hervorlocken! Der war gut, was?“ Vor Begeisterung über ihren eigenen Witz quetschte Lulu sich eins ihrer Törtchen wie andere beim Schokokuss-Abklatschen vor ihre eigene Brille. „Ihr bringt mich in Stimmung, wie in der guten alten Zeit!“ lachte sie. „So, und jetzt geh ich mich erstmal schick und frisch machen“, trällerte sie. „Wir können uns ja dann so in einer halben Stunde am Tor treffen!“ Da Lulu AJ und mich wieder mit ihrer schrägen Ulk-Stimmung mitriss, sangen AJ und ich auf ein geheimes Zeichen von ihm hin gemeinsam wie aus Protest gegen ihren Wunsch zum Aufbruch seinen Song „I’m Still Sitting“. Einen Moment lang taten wir singend und lachend so, als wären unsere Hosen mit geheimnisvollem Kleber an die Stühle festgepappt und wir außerstande uns zu erheben. Dann schob AJ seinen Hut hoch und nickte mir zu. Gemeinsam standen wir auf, verdrückten noch eilig je einen Muffin und gingen dann alle auf unsere Zimmer.
Punkt 10 Uhr trafen wir uns dann am Tor. Mir verschlug es fast den Atem beim Anblick des gigantischen weißen Rolls Royce. Ein Leichenwagen war von der Länge her nichts dagegen. Vorn saß einer der Leibwächter als Fahrer und daneben AJ, in der 2. Reihe Lulu und ich und auf der Rückbank der zweite Leibwächter. Während der ca. 8 Meter lange Wagen durch Londons Straßen glitt, fühlte ich mich fast, als würde ich fliegen. Wahnsinn, bei manchen Autos spürte ich bei jedem kleinen Stein ein Holpern, manche Motoren knarrten und brummten und solche Autos verursachten mir die diversesten Formen von Übelkeit. Dieser Wagen jedoch glitt mit einer Sanftheit über alle Unebenheiten hinweg und stob leicht wie ein Funke durch alle Kurven, so dass ich ihn auf der Stelle Kuschel-Rakete taufte. Ich war schon viel herumgekommen in der Welt, ja, aber London war mir völlig neu. Lulu ging dies genauso. AJ wusste das und wollte uns daher alles Sehenswerte zeigen. Während der Fahrt unterhielt uns AJ mit seinem grandiosen Song „Ladies What’s Today“, so dass unsere Erwartungen auf einen spannenden Tag gepaart mit einem dicken Schwung Unternehmungslust und guter Laune wie ein dicker Heißluftballon gen Himmel stiegen Jäh quietschend bremste der Wagen, als wir vor einem riesigen Gebäude hielten, das wie ein eingequetschtes Ei aussah.
„Aussteigen, Mädels!“ rief Alten John. „Nachdem wir uns so sattgegessen haben, möchte ich als erstes eine kleine sportliche Übung mit euch machen. Dies ist übrigens die City Hall, unser Rathaus. Sicher habt ihr nicht vergessen, wie gern wir drei zusammen gejoggt und um die Wette gelaufen sind, oder? Dieses Hobby teilten wir ja mit derselben Begeisterung wie auf Partys zu gehen. Und ein kleiner Wettkampf hat uns da immer Spaß gemacht. Erinnert ihr euch?“ Lulu und ich nickten. Und ob ich mich erinnerte! Vor allem in dem großen Wald in der Nähe unseres Gymnasiums in Heidelberg – der Stadt, in der wir alle drei unsere Kindheit und Jugend verbracht hatten - waren wir damals sehr oft zusammen joggen gegangen. Vor allem Lulu und Alten John hatten es stets geliebt, ihre Kräfte zu messen und immer wieder aufs Neue zu testen, wer schneller war. Mir machte das gemeinsame Erleben einfach Spaß und ich fand es schön, wenn wir bei gemütlichem, langsamem Lauf, über das ein oder andere Thema sprachen. Im Gewinnen wechselten wir uns immer ab. Ich war genauso gut wie die beiden, auch wenn ich diesen Kampfgeist nicht hatte. Bei mir kam der Erfolg dann eher aus einer inneren Ruhe, ganz von selbst. Ich sah AJ an, der nun zwischen uns vor der City Hall stand. Herausfordernd klatschte er in die Hände und fragte: „Wie sieht es aus? Ich dachte, wir checken mal, wer mittlerweile am fittesten und schnellsten ist. Die Wendeltreppe im Innern der City Hall ist 500m lang. Wer am schnellsten oben ist – seid ihr dabei?“ Natürlich konnten und wollten wir uns vor unserem alten Kumpel keine Blöße geben und sagten zu. „Ich dachte, du bist krank?“ fragte Lulu staunend.
Doch AJ schnippte mit den Fingern: „Ab einem gewissen Grad von Erkrankung reizt dich jeder Spaß, jedes Risiko, weil es nochmal Schwung in dein Leben bringt. Verdammt, wieso hätte ich euch zwei sonst eingeladen?“ Er lachte und verdrehte schalkhaft die Augen. Wir standen inzwischen alle drei im T-Shirt da, hatten die Jacken abgelegt. „Ok, auf drei“, rief AJ und zählte abwärts. Dann spurteten wir in das Gebäude und die Treppen hinauf. Die beiden Leibwächter bemühten sich, bei dem Galopp die Treppen hinauf stets mit AJ Schritt zu halten. Wir waren gerade knapp 10 Minuten hinaufgerannt, als AJ zusammenklappte. „Stopp!“ rief einer der Leibwächter. Wir versammelten uns erschrocken um Alten John. Einer der Leibwächter fühlte seinen Puls, ein anderer gab ihm ein paar Tropfen. „Lasst Mama mal ran!“ bat Lulu und kramte einen Muffin aus ihrer Tasche. „Spezielle Muffins für Notfälle hab ich immer dabei!“ Wahnsinn, sie brauchte das Törtchen nur unter AJs Nasenflügel zu halten, schon flatterten diese mit neuer Energie und seine Augen öffneten sich. „Wo bin ich?“ fragte er, da stopfte Lulu ihm auch schon den Muffin in den Mund. Diese Kreation mit dem Namen „Wake Me Up, Baby“ war, wie sie später erzählte, eine wilde Mischung aus Notfalltropfen, getrocknetem Heu, einer Meeresbrise, viel Pfeffer und ein paar Geheimzutaten. AJs Augen tränten kurz, dann sprang er auf, warf die Hände gen Himmel und begann sein Lied „Healing Dreams“ zu singen und zu tanzen. Den Plan, die City Hall-Wendeltreppe hinaufzulaufen, hatte er offenbar vergessen. Aus seiner Jackentasche zog AJ ein paar Wunderkerzen, zündete sie an und sang dann für uns seinen „Mad Song“. Plötzlich schien er die Energie von 4 Personen zu haben. Sanft aber bestimmt schoben seine Leibwächter AJ die Treppe hinunter. „Wir gehen jetzt erstmal zum „SEA LIFE London Aquarium“, sagte Sam, der Kräftigere der beiden Leibwächter, der offenbar in Extremsituationen die Führung übernahm. „Unser Chef liebt das sehr und der Anblick der Tiere beruhigt ihn immer, wenn er aus irgendeinem Grunde überdreht ist.“
Auf dem Weg zum „SEA LIFE London Aquarium“ kicherte AJ in einer Tour ziemlich aufgedreht und konnte sich kaum beruhigen. „Meine Güte, Lulu!“ mahnte ich diese. „Was in aller Welt war in diesem Muffin drin?“ „Alles rein pflanzlich!“ trällerte Lulu. „Vertrau mir!“ Doch ich war irgendwie froh, nicht auf ihre Hilfe angewiesen zu sein. Lulu, die meinen misstrauischen Blick sah, wandte sich mir erneut zu: „Hey, meine Gute! Vergiss nicht, was ich dir erzählt habe: ich halte Vorträge auf Gesundheitsämtern und habe Verträge mit Apotheken. Dafür musste ich den Gesundheitspass für Leitung und Verbreitung (kurz GefLeiVer genannt) erringen – das ist wie die goldene Anstecknadel für Bergsteigende. So eine goldene Anstecknadeln fürs Bergsteigen kriegt nur, wer entsprechend viele Gipfel bestiegen und dort oben Stempel gesammelt hat – ihr kennt das ja vielleicht. Nur dass ich für den Gesundheitspass in unzählige Länder gereist bin, die Pharmazie und Heilkunde von Asien, Lateinamerika und den USA studierte und meine eigene Misch-Version aus all dem schuf. Immer wieder, wenn ich eine Stufe dieser Leiter, die ich erklomm, erreichte, bekam ich einen weiteren Stern in meinem Gesundheitspass. Es gibt, soweit ich informiert bin, nur 10 Personen auf der ganzen Welt, die im GefLeiVer 12 Sterne haben. Zu diesen Personen gehöre ich.“ Beeindruckt sahen AJ und ich Lulu an. „Ja, führte Lulu ihre Ausführungen fort, „für das Erlangen meines Ziels habe ich viel gegeben. Da habe ich, wie es so schön heißt, keine kleinen Törtchen gebacken!“ Wir lachten, doch mit ihren Worten erreichte Lulu mehr und mehr, dass meine anfängliche Skepsis ihren Muffins und ihrer Gesundheitsphilosophie gegenüber dahinschmolz wie Schnee in der Wüste. Stattdessen stand mir regelrecht der Mund offen, weil ich merkte, wie sehr unsere alte Freundin mit Leib und Seele für das Erreichen ihres Ziels gekämpft hatte. Offenbar hatte sie große Kenntnisse erlangt und sich auch die offiziell erteilte Erlaubnis, diese weiterzugeben, hart und sehr diszipliniert erarbeitet. In ihren Törtchen schien sie die Weisheit der gesamten Welt zu versammeln und das imponierte mir. AJ hatte ja ohnehin von Anfang an große Stücke auf ihre Fähigkeiten und ihre Heilungs-Muffins gehalten, sonst hätte er sie ja nicht mit der Bitte eingeladen, ihm mit Hilfe der Törtchen zu helfen. Doch jetzt sah auch er kein bisschen weniger beeindruckt aus als ich. Lulu sonnte sich in der wohlverdienten Aufmerksamkeit und Anerkennung und fuhr voller Begeisterung fort: „Diese Wissenschaft, die ich erschuf, stecke ich Kraft meiner Hände in meine geliebten Törtchen. Das ist weit mehr als Worte und Bücher. Das ist umgesetzte und geteilte Energie. Ich nenne diese Wissenschaft und Methode „Harobi“. Das ist die Abkürzung von unserem Firmenmotto „Health As Result Of Baking Ideas“. Bitte nicht zu verwechseln mit dem ganz ähnlich klingenden Wort „Haribo“! Nein, sorry, die Rede ist nicht von Lakritz, Gummibärchen und Co!“ Lulu lachte. „Ich finde, ein bisschen Phantasie und ein kreativer, pfiffig klingender Begriff tun der Sache auf jeden Fall gut. Und melodisch klingende Worte ziehen Interesse und Menschen an wie die Motten das Licht. Noch dazu klingt Harobi nahezu interkulturell und das passt wunderbar zu der Tatsache, dass sich meine Methode aus dem Wissen so vieler verschiedener Länder plus meiner persönlichen Note zusammensetzt! Zudem vermarkte ich die wundervollen Produkte meiner Firma „World Life Muffin“ weltweit.“ Lulu ereiferte sich bei ihren Erzählungen so sehr und sprach mit so viel Herzblut und Begeisterung von ihrer Firma, dass sie kurz tief aufatmen musste, bevor sie fortfuhr. „Ach, ihr ahnt ja nicht, wie sehr mich das alles erfüllt! So großartige Produkte herzustellen, zu sehen, wie toll sie weltweit angenommen werden und was für wahre Wunder sie bewirken! Es ist unglaublich! Es gibt so viele Methoden und Dinge, die Menschen Heilung und Gesundheit bringen und versprechen. Manche davon sind irdischer Natur, manche überirdisch. Ich persönlich glaube an beides. Und daher ist immer ein Hauch Magie mit in meinem Gebäck. Und nicht zuletzt natürlich ganz viel Herz!“ Lulu lachte glücklich. „Es war schon sehr früh nach dem Abitur mein Traum, irgendetwas in Richtung Gesundheit und Heilkraft für die Menschen zu tun. In der früheren Schulzeit empfand ich meine Muffins zunächst als witzige Spielerei. Ich war mir meiner Zauberkräfte und meiner Möglichkeiten noch gar nicht bewusst. Ich experimentierte mit meinen Ideen, hatte einfach Spaß daran. Meine Güte, wir waren jung! Aber später, schon so ab dem 12. Schuljahr, spürte ich meine größeren Wünsche und Träume und es wurde mein großes Lebensziel. Und ich bin glücklich und fühle mich geehrt, dass unser guter alter AJ mich wegen seiner Gesundheit um Hilfe bat. Ich helfe ihm nur zu gern.“ Lulu hielt kurz inne, verdrehte die Augen und ging in Gedanken auf Zeitreise: „Wisst ihr noch, wie mich einmal, im 13. Schuljahr, unsere Mathelehrerin Frau Litschi allen Ernstes bat, vor die ganze Gruppe zu treten und zu schwören, dass in meinen Törtchen keine Drogen sind? Ich fand es reichlich unverschämt, mir zu unterstellen, irgendetwas mit Drogen zu tun zu haben. Denn schließlich sah ich bereits damals schon meine Törtchen als eine Art Alternativmedizin, für die ich zu der Zeit noch keinen Namen wusste. Und Medizin ist für Gesundheit, oder? „Gesundheit!“ sagte ich zu Frau Litschi, wie ihr euch ja sicher erinnern könnt, nachdem ich ohne mit der Wimper zu zucken vor der ganzen Gruppe den gewünschten Schwur getan hatte. „Wissen Sie, wie sich dieses Wort schreibt?“ Mensch, war ich sauer in dem Moment! Ich hätte platzen können!“ Lulus Empörung kam. selbst während sie von damals erzählte, wieder voll und ganz bei mir an. Natürlich hatte auch ich die Szene noch genau vor Augen. Aber ich merkte, dass Lulu es in diesem Moment offenbar brauchte, darüber zu reden, obwohl AJ und ich ja dabei gewesen waren. „Erinnerst du dich, Nelly? Meine Güte, ich dachte, die schmeißen mich von der Schule, aber in dem Moment war mir alles egal. Auf meine Törtchen lasse ich einfach nichts kommen. Auch ich habe meinen Stolz! Sie sollte schon wissen, mit wem sie es zu tun hat, die gute Frau! Auch wenn sie Mathelehrerin war und ich nur ein kleines Würstchen. Ja, ich war natürlich wie wir alle, dem ganzen Schulapparat ziemlich ausgeliefert.“ So hilflos war mir Lulu damals gar nicht vorgekommen, als sie unserer Lehrerin die Meinung sagte. Ich bewunderte sie für das Rückgrat, mit dem sie für ihre Dinge eintrat und dabei auch manches zu riskieren bereit war. Frau Litschi dagegen kam mir damals plötzlich vor, als wäre sie ein wenig geschrumpft und ihre Augen wirkten auf mich, als würden sie bei diesen Worten von Lulu fast aus ihren Augenhöhlen heraus schwappen. Uns allen war klar: auf diese Frechheit ihrer Schülerin fiel Frau Litschi so schnell nichts ein. Vielleicht hatte unsere Mathelehrerin auch bemerkt, wie tief sie Lulu, deren Mission mit ihren Törtchen sie bisher als den schrägen Klamauk einer Schülerin betrachtet hatte, getroffen hatte. Denn wir wunderten uns im Anschluss an jenen Vormittag alle, dass dieser Auftritt von Lulu Frau Litschi gegenüber offenbar nie beim Direktor landete und keine Folgen hatte. Ich erinnere mich gut, wie Lulu ihren Finger hob, ihn vor den erstaunten Augen unserer Mathelehrerin hin und her schwenkte und rief: „Was in aller Welt haben Drogen mit Gesundheit zu tun, kann ich Sie das mal fragen? Sie als Lehrerin sollten doch am allerbesten wissen, dass das Eine dem Anderen wohl eher gegenläufig ist. Meine Muffins habe ich der Gesundheit verschrieben. Also wagen Sie es nie wieder, mich derartig mit solchen Unterstellungen zu beleidigen. Denn mit Drogen und überhaupt jeder Art von abhängig-machenden Stoffen möchte ich nichts zu tun haben. Genauso wenig werde ich jemals so etwas verbreiten - dessen können Sie sich sicher sein. Habe ich Ihre Fragen jetzt hinreichend beantwortet? Dann kann ich ja gehen!“ Und die aufgebrachte Lulu schnappte sich, ohne eine Reaktion der total geplätteten Lehrerin zu erwarten, ihre Jacke und ihre Tasche, verabschiedete sich mit einem „Bis morgen, alle miteinander!“ von der ganzen Klasse und verschwand. Ich tauchte aus meiner Erinnerung an jenen Vormittag unserer Schulzeit wieder auf in die Gegenwart. „Nelly, hörst du mir zu?“ fragte Lulu mich. Ich sah hinüber zu AJ, der Lulu mit großen Augen, beeindruckt von ihrer Entwicklung und ganz offensichtlich voller Vertrauen in sie, ansah. Lulu tippte mir an die Schulter und zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Wegen AJs Überdrehtheit vorhin, Nelly“, flüsterte sie mir zu, „du kannst mir vertrauen. Ich weiß, was ich tue! Ich setze meine Heil-Essenzen in sehr hoch potenzierten Dosen ein, wenn es um Notfall Muffins geht. Da kann es schon mal zu einer Überschussreaktion kommen. Aber glaub mir: es ist alles rein pflanzlich und in keinster Weise schädlich. AJ ist wieder belebt, das ist doch die Hauptsache. Und diese extreme Stimmung wird bald vorüber sein bei ihm.“ Ich wusste, wie ernst sie die Sache mit ihren Törtchen, die sie als ihre Lebensaufgabe betrachtete, bereits damals genommen hatte. Ich hatte gehört, wie sehr sie all die Jahre an ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten gearbeitet hatte. Und ich vertraute ihr jetzt, das konnte sie in meinen Augen sehen.
Blau, blau und nochmal blau – wo das Auge auch hinsah. In die Welt des gigantischen Wassertierparks einzutauchen war wirklich unglaublich beeindruckend und verschlug uns allen für 2 Stunden nahezu die Sprache. Lange liefen wir gemeinsam mit den Leibwächtern umher, bis wir schließlich auf einer riesigen Bank inmitten der Anlage ermüdet zur Ruhe kamen. Hier waren über 500 Tierarten aus allen Teilen der Erde vertreten. Was bei Lulu und mir besonderen Eindruck hinterließ, war die Meinung des „SEA LIFE London Aquariums“ über Haie. Es gab hier 12 verschiedene Hai-Arten und das Shark Reef Encounter, eine besondere Attraktion mit Haien, sogar mit einer Shark Academy. Mit diesem Themenschwerpunkt wurde uns, wie allen anderen Besuchern auch, nahegelegt, Haie mit anderen Augen zu sehen.
Ein Mitarbeiter des „SEA LIFE London Aquariums“, der vor dem Shark Reef Encounter stand, unterhielt sich auch kurz mit uns darüber und sagte: „Die Haie sind eins der wundervollsten Geschöpfe der Natur, nur leider sehr missverstanden. Wir versuchen, unseren Besuchern ein wenig die Augen zu öffnen, Haie in einem anderen Licht zu betrachten.“ Schließlich landeten wir auf einer Bank und machten unsere erschöpften Beine lang. Lulu steckte ihren Fotoapparat wieder in ihren Rucksack und sagte: „Bei aller Begeisterung über die guten Anregungen über die Haie, fand ich die Schildkröten aber auch total süß. Natürlich ist es fies und ungerecht, dass wir nicht mit solcher Liebe an die Haie denken. Das verstehe ich sehr wohl, dass die Leute hier versuchen möchten, das zu ändern. Na klar. Bei uns heißt es immer „Jeder Mensch hat Liebe und Respekt verdient“. Und was ist mit Tieren, die nur als Bösewichte hingestellt werden wie die Haie? Das sind schon interessante Gedanken, die mir der Ausflug hierher mitgegeben hat, mal ganz abgesehen von dem Blau, was uns von allen Seiten umgab hier und das mir einfach super-gut getan hat. Da so einzutauchen ist ja für die Seele das reinste Schlaraffenland!“ Die Sonne brach sich in den vielen Glasfenstern, hinter denen das Zuhause unzähliger wundervoller Tiere war. Während dieses Funkeln uns zu umgeben schien, seufzte unser alter Freund vor Zufriedenheit. „Versteht ihr jetzt, warum ich so gern hierher komme? All dieses Blau, das ist wie ein Zauber für mich, wie Medizin. Ich finde es total erholsam. Hier kann ich richtig abtauchen und alles Schwerwiegende vergessen. Es ist toll, mit euch hier zu sein.“ AJ klatschte begeistert in die Hände und rief: „Saubere Aktion!“ Lulu und ich nickten. Lulu teilte an alle ein paar Käse-Fenchel-Grieß-Muffins aus. Bei diesem leckeren Snack entspannten wir uns und plötzlich war der Notfall von vorhin total vergessen. Hatten das die Muffins bewirkt? Ich wusste es nicht, fand nur plötzlich, dass es ein schöner Tag war und einfach toll, mit Lulu und AJ hier in London zu sein. Leise fing Lulu an, eins ihrer Lieblingslieder von AJ zu summen, das optimal zu unserer zufriedenen Stimmung passte. Und wenn uns auch der Horizont im Augenblick gar nicht als Fluchttür nötig war und wir mit den Füßen direkt am Boden ganz glücklich waren, dort, im „SEA LIFE London Aquarium“, so sangen wir dann alle drei „Skyline Beauty“. Sogar die Leibwächter summten zufrieden mit.
„Wo sind übrigens dein Mann Bear Ray und euer kleiner Sohn Frankie?“ fragte Lulu urplötzlich. „Seit wir hier sind, habe ich von den beiden nicht das kleinste Bisschen gesehen oder gehört. Ich dachte doch, du würdest uns deine zwei Goldstücke wenigstens mal vorstellen!“ Lulus Stimme schwankte zwischen leichter Empörung und Enttäuschung. „ Das hätte ich auch gern getan“, versicherte Alten John, „aber sie sind einen Tag, bevor ihr kamt, urplötzlich nach Kalifornien aufgebrochen, wo Bear Rays Kusine lebt. Bear Ray meinte, Ella, seine Lieblingskusine, habe eine fette Lebenskrise und er wollte sie auf der Stelle aufbauen. Frankie wollte gern mit, da er in dem Ort, wo Ella lebt, mittlerweile auch unter den Kindern einige gute Freunde gewonnen hat. Wir waren ja schon sehr oft dort. Naja, und da gerade Ferien sind, war es ja ok. Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, dass unsere kleine Familie gemeinsam mit euch beiden eine schöne Zeit in London verlebt. Aber inzwischen merke ich, dass es mir sogar gut tut, mit euch ganz in Ruhe die Gespräche führen zu können. Da kommt so richtig die Atmosphäre von früher auf. Natürlich vermisse ich meine zwei Goldstücke, aber in 2 Wochen kommen sie ja wieder. Ich telefoniere jeden Abend mit den beiden. Ich möchte euch dann auch mal meine Lieblingsfotoalben von unserer kleinen Familie zeigen – mal sehen, ob wir das bei unserer Tagesplanung heute Abend noch hinkriegen.“ Lulu nickte verständnisvoll und sagte: „Oh, ja, Fotoalben gucke ich für mein Leben gern! Und wenn wir die beiden schon nicht live zu Gesicht kriegen, würde ich sehr gern mal wenigstens einige Fotos von ihnen sehen. Und dann erzählst du uns mal, wie ihr beiden euch kennengelernt habt!“ Alten John nickte: „Gern!“ Er sah zu mir herüber. Da ich, wie so oft, sehr still und in mir versunken war, fragte AJ mich plötzlich ganz direkt: „Was ist mit dir, Nelly? Früher hast du von dir aus viel mehr erzählt. Heute muss man dich ja regelrecht bitten! Du bist so still. Wisst ihr noch, wie wir damals im Musikunterricht, als wir das Thema „Liebe, Ehe und Lebensgemeinschaft in der Musik“ anhand von verschiedenen Musikstücken besprachen und interpretierten, alle drei laut protestierten? Gemeinsam sprengten wir den von unserer Lehrerin Frau Metronomina vorgesehenen Rahmen, indem wir uns für die Ehe für Homosexuelle ereiferten. Frau Metronomina ging ja sehr offen und freundlich auf das Thema ein und ließ dem gesamten Musikkurs auch Raum, das von uns aufgebrachte Thema differenziert auszuleuchten. Sie brachte dann ja auch Musikstücke homosexueller Musiker und Musikerinnen mit in den Unterricht. Da haben wir in unserem Musikkurs wirklich etwas in Bewegung gesetzt, das war toll! Was waren das für Zeiten! Und dann, mit der Zeit, durch unsere vielen Dreier-Gespräche über das Thema, wurde uns allen immer klarer, dass wir alle im Innersten schon seit Jahren wussten, wofür unser Herz schlägt!“ Nur zu gut konnte ich mich an all das erinnern und nickte. „Ja, diese blöde Erziehung!“ brach es dann aus mir heraus. „ Von klein auf wirst du indoktriniert durch Bücher, Familie, Filme - überall existiert angeblich nur das Mann-Frau-Paar. Und da ich natürlich in diese Welt gehören wollte, dachte ich als Kind logischerweise: ich werde einen Mann heiraten. Es wird immer so getan, als würden wir in einer ach so aufgeschlossenen und fortschrittlichen Welt leben. Aber in meinen Augen stimmt das nicht. Klar ist es besser und toleranter als früher. Aber der wirklich aufgeschlossene Plan für eine Gesellschaft wäre meiner Ansicht nach, wenn die Kinder von klein auf gezeigt bekommen würden, dass es egal ist, wen sie lieben. Mit dieser Entscheidungsfreiheit aufzuwachsen, das wäre wirklicher Fortschritt. Dies sollte sich meiner Meinung nach bereits im Grundschulunterricht, in der familiären Erziehung und in Büchern und Filmen für Kinder und Jugendliche zeigen. Dann gäbe es vermutlich viel mehr Lesben, Schwule und Bisexuelle, da sich bei den momentanen Verhältnissen sehr viele eben doch nicht trauen „anders“ zu sein. Die meisten möchten dem entsprechen, was als „die gesellschaftliche Norm“ betrachtet wird: der Heterosexualität. Viele haben Angst, von Eltern und Cliquen verstoßen zu werden, den Job zu verlieren, geschweige denn sich entspannt auf offener Straße als Paar zu zeigen. Da wird nämlich noch ganz schön geguckt, wenn sowas mal passiert, weil es sich eben doch die Wenigsten trauen. Es ärgert mich, dass Unsereins so an der eigenen Identität arbeiten und riskieren muss, andere zu verlieren, während die „Norm“ von allen anstandslos akzeptiert wird. Wie auch immer: ich bin glücklich, so zu sein wie ich bin und Frauen zu lieben! Ich empfinde das als ein großes Geschenk in meinem Leben.“ Lulu nickte eifrig. „Ja, geht mir genauso“, stimmte sie mir zu. „Aber schau mal, viele finden es für sich erst viel später raus, manche nie. Viele leben ihr Leben lang etwas, das sie eigentlich gar nicht sind und fühlen.“ AJ seufzte: „Und das alles aus Angst. Diese Angst vor Gesichtsverlust kann einen ganz schön lähmen. Zum Glück haben wir das überwunden, was Leute? Und wisst ihr, wie fantastisch es ist, sich als prominente Person für die Rechte von Lesben und Schwulen einsetzen zu können? Anfangs war ich noch ein wenig unsicher, als ich mich outete – das gebe ich zu. Aber mit der Zeit war mir, als wenn ich dadurch endlich meine Flügel ausbreiten und fliegen könne. So wie ich es in meinem Lied „Live Like Eagles“ beschreibe, das ich in meinem Outing-Prozess schrieb und das von dieser Freiheit erzählt. Mehrmals bin ich auch beim Christopher Street Day (CSD) aufgetreten, ohne etwas dafür zu bekommen. Das waren für mich unvergessliche Erlebnisse und besonders emotionale Auftritte.
Ich sprach dort zu den Leuten auch über unser Recht auf Freiheit und darüber, wie wunderbar es ist, dass wir sind, wie wir sind. Und dass wir darüber nicht nur glücklich sind, sondern auch stolz darauf. Für den einen CSD schrieb ich sogar das Lied „Kiss The Pride“, das dazu aufruft, sämtliche Angst und Scham, nicht in Ordnung zu sein, wie immer man ist, in den Wind zu schießen und stattdessen voller Stolz zu feiern.“ Alten John breitete seine Arme aus und begann sein Lied „Kiss The Pride“ zu singen:
„Pride is like a dancer,
pride deserves an answer,
because it leads you
to an open shore,
where you find life and
what is so much more:
your own real face,
so love it and take care.
Please, don’t destroy what is
your greatest wealth and beauty.
Take care of what you are,
this is your duty.
And when you look back
where you came from,
don’t forget who helped you
hold your head up high.
Yes, even when you were all alone,
there always was your pride.
So kiss the pride,
shake hands with life,
be thankful for that gift:
to know your way without a question.
So kiss the pride, don’t hide.”
(deutsch:
„Stolz ist wie ein Tänzer,
Stolz verdient eine Antwort,
denn er führt dich
an einen offenen Strand,
wo du Leben findest und
was noch viel mehr ist:
dein eigenes wahres Gesicht,
also liebe es und pass gut darauf auf.
Bitte, zerstöre nicht, was
dein größter Reichtum und deine größte Schönheit ist.
Gib acht auf das, was du bist,
das ist deine Pflicht.
Und wenn du zurück schaust,
woher du kamst,
vergiss nicht, wer dir geholfen hat,
den Kopf oben zu halten.
Ja, sogar wenn du ganz alleine warst,
war da immer dein Stolz.
Also, küss den Stolz,
schüttele dem Leben die Hand,
sei dankbar über dieses Geschenk:
deinen Weg ohne eine Frage zu wissen.
Also küss den Stolz, versteck dich nicht.“)
AJ ließ seinen Gesang mit einem Summen ausklingen und sah Lulu und mich dann herausfordernd an. Ganz offensichtlich hatten ihn die Erinnerungen an diese CSD-Konzerte und seine Zeit des Outings mit Kampfgeist und Begeisterung erfüllt, denn seine Augen strahlten und voller Überzeugung und Freude rief er: „Wir sind Freigeister! Wir zeigen es der Welt! Nicht wahr, Mädels?“ Während Alten John seine blonde Mähne triumphierend im Wind schwenkte, sah er doch noch etwas blass aus und mir fiel wieder seine mysteriöse Krankheit ein. War er wirklich so frei, wie er es vorgab zu sein? Für einige Bereiche seines Lebens mochte das ja stimmen. Mitten in meine Gedanken posaunte Lulu munter: „Eine kleine Stimmungsbombe zur Auflockerung!“ Sie verteilte ein paar Muffins an uns. Es war diesmal eine extrem abgefahrene Geschmackskombination. „Das sind meine „Rainbow Warriors“, lachte sie triumphierend, als sie unsere schon beim ersten Bissen beeindruckten Gesichter sah. Der Geschmack perlte wie ein besonders himmlisches Getränk den Gaumen und die Kehle hinunter. Plötzlich hatte ich das Gefühl, freier atmen zu können und fühlte mich gestärkt. Es folgte ein kleines Kribbeln im Magen und dann musste ich lächeln. Wow, die Dinger taten richtig, richtig gut! „Ja, es ist toll, dass wir so sind, wie wir sind!“ sagte Lulu, „Lasst uns das feiern! Und wir sind eine super Crew!“ Wir standen jetzt alle drei Arm in Arm und blickten auf die wunderbare Anlage des „SEA LIFE London Aquarium“, das uns umgab. AJ räusperte sich und stimmte die ersten Klänge seines Liedes über den Freigeist an, das er – wie er bereits erzählte - während seines Outings schrieb. Wir erkannten es sogleich, und sangen dann gemeinsam „Live Like Eagles“. Wir waren glücklich, beisammen zu sein und wir fühlten uns frei. Nachdem wir das Lied mit immer leiser werdendem Summen hatten ausklingen lassen, marschierte Lulu, wie um unsere soeben selbst ernannte Rainbow-Party zu vergrößern, auf die uns umgebende Menge zu und begann, an die Vorbeigehenden weitere „Rainbow Warrior“ zu verteilen. Ich sah nur die kleinen weißen Törtchen, die sie den begeisterten SEA LIFE-Besuchern in die Hand drückte – von außen sahen die Muffins ja alle gleich aus. Ich vermutete einfach, dass sie noch weitere „Rainbow Warrior“ verteilte. Dem zufriedenen Lächeln nach, das die Muffins auf die Gesichter der Beschenkten warf, waren die Leute jedenfalls glücklich und zufrieden – und das war ja die Hauptsache!
Big Ben schlug – es war Punkt 16 Uhr, als wir dann zum Ufer der Themse eilten. Lange blickten wir schweigend auf das Wasser und ich spürte: der Moment der Wahrheit war endlich gekommen. Da räusperte sich AJ auch schon, mitten in das sanfte Kräuseln der Wellen: „Es ist lange her, dass ich so entspannt hier an der Themse stand. Das liegt an euch, ja, ihr beruhigt mich – ich danke euch wirklich. Ich sagte euch ja bereits: der ganze Ruhm, er hat mich verändert und irgendwie leer gefegt. Manchmal stand ich hier und dachte: „Da schwingt eine Glocke, schwer wie Big Ben - also 13,5 Tonnen schwer - durch mein Inneres, doch ich spüre mich nicht mehr. Ihr Ton kann mich nicht mehr wecken.“ So vieles ist verblasst von dem, was ich einst war und fühlte. Durch euch fühle ich es wieder ein wenig.“ AJ seufzte: „Ihr ahnt nicht, wie gut das tut. Die vielen Schallplatten und CDs, die ich gemacht habe, die vielen Songs und Auftritte. Anfangs war ich berauscht von dem Jubel der Menge. Mit der Zeit hatte ich das Gefühl, er spült mich weg und ich treibe ziellos durch ein mir fremdes Gewässer. Da träumen so viele von Geld, Ruhm und Bekanntheit. Aber es beraubt dich des Wertvollsten, das du hast: es kann dich so seelenlos machen. Als ich Bear Ray vor 14 Jahren kennenlernte, waren wir die ersten Jahre überglücklich. Uns war, als wären wir endlich heimgekommen. Wie wir uns trafen, wollt ihr wissen?“ AJ lachte, in Erinnerungen schwelgend. „Es war genau hier, an dieser Stelle, wo wir jetzt stehen. Ich liebe diesen Platz und bin seit vielen Jahren oft hier. Ich stand also hier und sah über das Wasser, da kam er daher spaziert und bat mich um Feuer. Wie ihr wisst, rauche ich nicht. Wir kamen ins Gespräch und da wir einander auf Anhieb sympathisch waren, lud ich ihn noch am selben Abend zum Essen ein. Ich erzählte ihm anfangs, ich hieße Joe und da er mich trotz meiner Berühmtheit nicht erkannte und es wirklich ernst mit mir zu meinen schien, gab ich ihm eine echte Chance. Ich wollte einfach