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„Danke, Leben, dass du mich nicht stillstehen lässt, dass du mich weiterziehst in ungewisses Neuland, auch wenn ich noch so sehr an alten Gewohnheiten festhalten wollte. Danke, Welt, dass du da bist, mit all deinen Wundern und Geschenken, mit deinen Gefahren und Aufgaben, mit all dem Unbekannten, das ich kennenlernen darf, wenn ich nur mutig genug bin.“ Dies sind Worte von RIESALIA, einer 74-jährigen Frau, die in diesen bunten, erlebnisreichen Geschichten zeigt, dass Alter keineswegs ein festgefahrenes, freudloses Gefängnis sein muss. Mit Humor und Tiefsinn meistert sie viele Höhen und Tiefen. So ist sie mal Sheriff im wilden Westen, mal Clownin im Zirkus, Schaffnerin in der Bahn, Fremdenführerin in den Katakomben von Rom, sportliche Seniorin u.v.m. Es macht Spaß, mit dieser 74-jährigen Frau die Welt zu entdecken, gemeinsam mit ihr immer wieder in eine andere Haut zu schlüpfen, zu erleben, dass sie vor nichts zurückschreckt und aus dieser Kraft zu schöpfen, die immer wieder in ihren Gedanken lebt. Dass ihr hohes Alter sie nicht in Einsamkeit gefangen hält – das will uns zeigen, wie viel mehr wir alle im Leben wahr machen können, auch wenn wir uns manchmal nur von Mauern des „Das ist alles unmöglich“ umgeben fühlen. Die zentrale Figur RIESALIA teilt all ihre Gedanken mit uns, ihre Liebe zum Leben und ihre Kraft. Ein zusätzlicher Trumpf, den sie dabei in der Hand hält, ist die Kraft der Freundschaft, ein zentrales Thema von RIESALIA. Freundschaft kann Mauern niederreißen, auch die zwischen Alt und Jung. Auch davon handelt dieses Buch, das zugleich Dank ist für eine langjährige Freundschaft.
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Sind es Flügel, die uns verbinden,
sind es Träume, ist es unser gemeinsames Lachen,
sind es unsere Stimmen…
- alles fließt zusammen
in das große Meer der Verbundenheit.
Und welche Täler wir auch durchschreiten,
wie dunkel es mitunter auch sein mag
- wir spüren dennoch Freiheit in uns,
können den Horizont sehen
und die Sonne in und über allem,
weil wir verbunden sind.
Danke für diese Verbundenheit, Riesalia,
die über das hinausgeht, was wir „Leben“ nennen.
Für Riesalia und für alle, die mit ihr in den Geschichten des Buches (jede wie ein anderes Leben) auf den Spuren dessen wandeln wollen, was in uns steckt, die sich verwandeln lassen wollen.
Ich wünsche euch allen den Mut, die eigene Vielfalt zu leben, neue Möglichkeiten zu entdecken, was wir sein können. Und nicht zuletzt wünsche ich euch allen, die Kraft der Verbundenheit mit anderen zu finden und zu teilen.
Manchmal ist diese Kraft leicht, behende, erheiternd, wie ein Windhauch, der über unsere angestrengte Stirn streicht, manchmal kann sie trösten und erfreuen und manchmal kann sie Berge versetzen.
Sie kann uns nicht aus allem befreien, in dem wir gefangen sind, aber in dem, was wir teilen, erfahren wir dennoch eine große Freiheit.
Das ist die Freiheit des Vertrauens.
Friederike Twardella
Vorwort
Wellenreiterin Riesalia
Freundschaft hinter Mauern
Zur goldenen Riesi
Die Millionärin
Der Felsbrocken
Endstation Sehnsucht (Wiedererkennen)
Die Steppenwölfin
Unter den Steinen von Rom
Die Zauberkraft der Freude
„Es gibt beinahe nichts Unwesentlicheres als das Alter eines Menschen. Diese Tatsache gilt speziell für das Verständnis zwischen zwei Personen. Alter darf niemals als trennender Faktor betrachtet werden.“ Dies könnte ein Ausspruch der zentralen Person dieses Buches sein: Riesalia, eine 74-jährige Frau.
Im Mittelpunkt aller Geschichten um diese außergewöhnliche Frau stehen ihre zentralen Eigenschaften: Humor, Lebensfreude, Ruhe, Kraft. Die 74-jährige hat zahlreiche Abenteuer zu bestehen und ist dabei trotz des hohen Alters kerngesund und gelassen. So ist Riesalia in einer Geschichte Clownin im Zirkus, ein anderes Mal Fremdenführerin in den Katakomben von Rom, Schaffnerin in der Bahn und in der Geschichte „Die Steppenwölfin“ ist die 74-jährige Sheriff im wilden Westen… Jede Geschichte ist dabei wie ein anderes Leben zu verstehen.
Neben der realen Erlebnisebene bieten die Geschichten viele Reflektionen über Lebensfragen, viel Tiefsinn und Weisheit. Gleichzeitig ist immer Riesalias augenzwinkernder Humor dabei. Die Schranken des Alters, die Riesalia in allen Geschichten überwindet, stehen dabei für sämtliche Schranken, die uns in unserem Leben zu behindern scheinen. Diese Schranken können aus gesundheitlichen Problemen, Mutlosigkeit, Angst und Einsamkeit bestehen. Das Buch will Mut machen, dem eigenen Leben noch viele Möglichkeiten offen zu halten. Wo beginnen diese Träume, woraus können wir die Kraft für diesen Mut beziehen?
Die Quelle für all das ist unsere Phantasie!
Auch dazu will dieses Buch anregen!
Zentrales Thema in mehreren Geschichten ist zudem die Kraft der Freundschaft. Kein Wunder: denn dieses Buch ist nicht nur bildhafte Präsentation der vielen Facetten einer Person, sondern auch der Dank für eine tiefe Freundschaft, die beinahe 30 Jahre Bestand hatte und die allen Höhen und Tiefen standhielt.
Jene 74-jährige Person existierte tatsächlich und ebenso die Freundschaft, mit über 40 Jahren Altersunterschied. So möchte dieses Buch neben all den anderen wichtigen Themen auch zu der Überwindung der Scheu zwischen Alt und Jung ermutigen.
Wahres Verständnis kommt von innen und kennt die Schranken des Alters nicht. Dasselbe gilt für alle Lebendigkeit - doch lest selbst!
Friederike Twardella
1
„Komm, Ferdinand, hilf mir das Segel zu straffen!“
Braungebrannt stand Riesalia am Wasser und blickte ungeduldig der nahenden Flut entgegen.
„Ich will noch vor dem Abend auf hoher See sein“, unterrichtete sie ihren Sohn, der in seinem zerfetzten T-Shirt wie ein armer Fischer aussah.
„Ach, Ferdinand, wie oft hab ich dir gesagt, du sollst dir was Anständiges anziehen!“ mokierte sie sich auch jetzt wieder. Müde und entnervt sah Ferdinand ihr ins Gesicht. „Mutter, ich bin 38. Ich werde ja wohl noch selbst darüber entscheiden können, was ich anziehe. Mein Kleiderschrank ist rappelvoll mit den knallgelben und roten Neonklamotten, die du mir geschenkt hast, mit zartrosa Blazern und weißen Anzügen, doch ich lebe nun mal gerne auf einfacherem Fuße. Wann wirst du endlich lernen, das zu akzeptieren?"
Doch Riesalia war mit ihren Gedanken bereits ganz woanders. Hinten am Horizont hatte sie ein jähes Blitzen von solcher Intensität gesehen, dass ihr der kalte Schauer über den Rücken gelaufen war. Und da - lief dort nicht eine Gestalt über dem Wasser spazieren?
Es fröstelte Riesalia vor so viel Magie und sie zog die weiße Seidenbluse enger um ihren zarten, sportlichen Körper. Mit ihren 74 Jahren war sie zwar nicht die Jüngste der Surferinnen, die sich diesen Sommer auf Sylt tummelten, doch sie war mit Sicherheit nach 20 Jahren Surferfahrung immer noch die Beste von allen. Befriedigt lachte sie in sich hinein, als sie daran dachte, wie oft sie bereits in der Zeitung gestanden hatte.
„Fitness im Alter - eine sportliche Seniorin bricht alle Schranken der Vernunft und zeigt uns neue Möglichkeiten!
Weshalb sollte im Alter ruhiger gelebt werden?
Was sollen all die Vorsichtsmaßnahmen und Bedenken?
Riesalia von Bernsheim, gut betuchte Sozialprophetin und Hobbysurferin, belebt auch diesen Sommer wieder den Strand von Sylt..."
So hatte man in der gestrigen Tageszeitung über sie geschrieben und Riesalia fühlte sich pudelwohl bei dem Gedanken, dass vermutlich ihre gesamte Dienstagsgruppe (eine fröhliche Runde älterer Damen, die sich allwöchentlich zum Stricken traf) den Artikel gelesen und den ganzen Abend über sie gesprochen hatte. Sie liebte es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
„Schneller, Ferdinand!“ gab die braungebrannte Surferin jetzt ihrem Sohn die Sporen. Ferdinand präparierte das Surfbrett für seine Mutter und klemmte auch eine Kugel Bienenwachs unter das Trittbrett. Das war das Geheimnis von Riesalias Perfektion, die sie auf dem Wasser zeigte. Mit Hilfe dieser Bienenwachskugel...- aber, halt, was rede ich? Am Ende kriege ich von Frau von Bernsheim eine Anzeige auf den Hals gehetzt. Ein Geheimnis ist nun mal ein Geheimnis.
Und dann flog sie über das Wasser, ein kleiner Neonball voller Lebensfreude. Riesalias Lachen klang weit über das Meer. Ferdinand blickte ihr kopfschüttelnd nach, grinste aber dabei liebevoll in sich hinein. Ja, sie war schon verdammt eigen, seine Mutter, da hatten die Zeitungen Recht. Doch er fand es stark, dass sie sich von allen Konventionen frei machte und sich so gab, wie sie eben war. Sie war wie die blühende Jugend und wenn er nicht seine Brille aufgehabt und gewusst hätte, dass dort draußen auf dem Wasser seine eigene Mutter tobte, so hätte er sich tatsächlich in dieses jugendliche herzerfrischende Lachen verlieben können, das weit über den Strand zu hören war.
Schon kamen die ersten Schaulustigen herbei. „Ist das nicht Riesalia von Bernsheim, über die so viel in den Zeitungen stand?“ fragten sie und zückten ihre Fotoapparate. Im Handumdrehen war Ferdinand von ca. 20 Leuten umringt und gab die ersten Interviews seines Lebens.
„Hat Ihre Mutter ein Geheimrezept für ihre unglaubliche Stärke?“ wurde er gefragt.
„Werden Sie in Mutters Fußstapfen treten?“
„Sind Sie der Trainer Ihrer Mutter?“
„Woher kommt diese sagenhaft jugendliche Gesinnung Ihrer Frau Mutter?“
„Ist es wahr, dass Ihre Familie von den Gorillas abstammt und daher diese riesigen Kräfte zu erklären sind?“
„Ist Ihre Frau Mutter wirklich Vegetarierin?“
Diese und unzählige weitere Fragen rieselten über Ferdinands schmalen Kopf, während er konzentriert seine surfende Mutter im Auge behielt. Immerhin war sie doch 74 Jahre alt und sollte es einmal vorkommen, dass sie die Kontrolle über das Surfbrett verlor und im Ozean baden ging, so wollte er (sofern er in der Nähe war) sofort zu Hilfe eilen.
So beantwortete Ferdinand die Fragen nur mit halbem Ohr. Schließlich winkte er entnervt ab und sagte: „ So, nun ist es aber genug. Ich bin schließlich nicht zum Arbeiten hier, sondern mache Urlaub. Wenn Sie mich nun bitte in Ruhe lassen würden..." Und dann stand er wieder allein am Wasser, vor ihm die Fluten und seine wildfröhliche Mutter, die voller Begeisterung in all dem badete, was für sie purstes Leben war.
Riesalia ließ sich treiben, und umarmte den Wind, der ihr frontal entgegenströmte. „Welch eine Lust, zu leben!“ schrie sie dem Brausen entgegen und lachte. Mit einem Mal war ihr, als ob das Surfbrett von einer geheimnisvollen Hand getragen würde und sie glitt direkt auf das offene Meer. Sie spürte eine starke, ruhige Kraft, die das Brett hielt und sie empfand tiefstes Vertrauen. Was immer geschehen mochte: sie wusste, es würde zu ihrem Besten sein.
Und dann sandte der Wind ihr Fragen, Fragen, die ihr mitten ins Herz gingen und die ihr ganzes Leben berührten. „Du kennst alle Leichtigkeit der Welt und du kannst lachen, dass Mauern zerbrechen - aber hast du je zutiefst gefühlt, was Trost bedeutet?" „Willst du in deinem Leben noch erfahren, was innere Verwandlung ist?“ „Wie viel Liebe hast du gegeben in deinem Übermut und wo war die Stille in dir?“
Es waren Fragen, die sie zu etwas riefen, das tiefer ging und ihr sehr lohnend erschien. Dann wurde sie von einer Windhose erfasst und in einen Strudel gezogen. Riesalia drehte sich minutenlang in dem wilden Wasser, bis sie auf einmal inmitten des Strudels ein helles Licht ausmachen konnte.
Und endlich war sie da, im Zentrum des Strudels, im Zentrum des Lichts. Inmitten des tosenden Wassers empfand sie eine überwältigende Stille und sie wusste, sie hatte sich entschieden. Sie hatte endlich alle Angst, die sie jemals empfunden hatte in ihrem Leben, hinter sich gelassen. Denn in ihrem Übermut und ihrer Fröhlichkeit war sie doch immer auch ein Stück vor sich selbst geflohen, vor jener Tiefe, die Fragen aufwerfen kann. Sie wusste auf einmal, sie würde immer genug Kraft haben, um hierhin zurückzukehren, an diesen Ort, wo sie die Angst überwinden konnte. Immer würde da eine Kraft sein, die sie trug und die sie hielt, die sie niemals alleine ließ.
Denn was die wenigsten Menschen wussten, war, dass sich hinter der wildlebendigen Frau von Bernsheim eine suchende Seele befand, die weitaus mehr vom Leben wollte, als nur Lachen und Fröhlichkeit. Eine Seele, deren Kern eine Finsternis in sich trug, die das allerhellste Licht gebären konnte. Riesalia wusste auf einmal, dass ihre Zeit auf dem Wasser zu Ende war. Vor ihrem inneren Auge tauchten Berge auf, die eine Urkraft aussandten, nach der sie sich so lange schon gesehnt zu haben schien. Sehnsuchtsvoll streckte sie ihre Arme aus und fiel ins Wasser...
„Mutter, endlich!“
Als Riesalia 3 Stunden später die Augen wieder aufschlug, sah sie geradewegs in die besorgten Augen ihres Sohnes Ferdinand. Beruhigend lächelte sie ihm zu. „Alles klar, mein Sohn, ich lebe noch.“ „Na, deinen Humor hast du jedenfalls nicht verloren“, seufzte Ferdinand erleichtert auf.
„Nein, mein Junge, das werde ich nie, komme, was wolle. Aber ich habe sogar etwas dazu gewonnen und eine Entscheidung getroffen: ich gehe in die Berge.“
2
3 Monate später war es dann soweit.
Begeistert sahen Riesalia und Ferdinand den Männern zu, die ihr Haus ausräumten und alles in den großen LKW verluden, der vor dem Bernsheim‘schen Hause stand.
„Ach, es war eine schöne Zeit mit dir“, winkte Riesalia dem Haus zu, das sie inzwischen an zwei liebe alte Freundinnen zu einem Geschenkpreis untervermietet hatte. Von ihrem ausladenden Sparbuch hatte sie sich lockeren Gemüts das wirklich uriggemütliche Haus im Schwarzwald leisten können. Ferdinand, der Gute, hatte - teils aus Bequemlichkeit, teils aus Abhängigkeit, teils aus Anhänglichkeit - beschlossen, seiner Mutter die Stange zu halten und mit in den Schwarzwald zu ziehen. Er arbeitete gern für seine Mutter, war seit Jahren ihr Gärtner, Frisör, Fahrer, Koch, Organisator, Bodyguard... So waren sie sich schnell einig gewesen, wie die Zukunft zu gestalten war.
Endlich standen sie dann vor dem neuen Haus und Riesalia lief eine fette Gänsehaut über den sportlichen Rücken. „Dieses Haus und die kommende Zeit werden mein Leben gründlich verändern“, sagte sie zu ihrem Sohn, den gleichermaßen ein tiefes Schweigen erfasst hatte. Auf einmal wussten beide: hatten sie auch noch so oft an der Vergangenheit festgehalten und mittels dieses Festhaltens versucht, die Zukunft im Griff zu haben, so war doch das, was sie jetzt erwartete, ein einziges bewegliches Mysterium, eine Sonne, deren Lauf sie beide niemals bestimmen konnten und die sie beide mit ihrem warmen Licht sehr reich beschenken und wärmen würde.
Wenige Tage darauf zog Riesalia bereits los auf ihre erste Bergtour. „Soll ich dich nicht begleiten?“ fragte Ferdinand besorgt. „Mutter, du bist nicht mehr die Jüngste und die Berge hier sind gefährlich!“ „Gefährlich! Ha! Sohnemann, ich werde dir gleich mal zeigen, wer hier gefährlich werden kann, wenn du von Alter sprichst! Ich gehe allein. Alles klar, Kollege?“
„Sicher, Mutter“, gab Ferdinand eingeschüchtert klein bei. „Ich wünsche dir einen prima Tag. Pass trotzdem ein bisschen auf dich auf, ja?“ bat er verlegen, da funkelten ihn schon wieder ihre wilden Augen an, die ihm zu sagen schienen: „Pass lieber auf dich selber auf, Junge, bevor ich dich gleich zu Hackfleisch mache!“
Oh, ja, Ferdinand wusste, seine Mutter konnte wütend werden wie ein wilder Orkan. Wenn ihr großes Brausen begann, zog er blitzschnell alle Ohren ein, doch meist nützte ihm das wenig, da sie schneller explodieren konnte, als er „piep" sagen konnte. Ihr empfindlichstes Thema war und blieb das Alter. Sie wollte nichts darüber hören, dass sie 74 Jahre alt war, sich schonen und vorsichtig sein sollte, die Beine hochlegen und sich hängen lassen wie eine alte Primel. „Alt werde ich noch früh genug, mein Junge“, pflegte Riesalia zu Ferdinand zu sagen. „Aber jetzt, jetzt bin ich auf dem Zenit meiner Jugend angelangt und es macht so viel Spaß, in der Sonne meines Lebens zu tanzen! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mir das von ein paar billigen Zahlen auf dem Papier nehmen lasse! Oh, Ferdinand, wer mich vom Leben abhalten will, muss verdammt früh aufstehen! Und eins sage ich dir: ich werde längst über alle Berge sein, wenn diese Person kommt und versucht, mich zu halten. Hier bin ich, eine freie Frau voller Lebensfreude und das werde ich immer sein, das kann mir nichts und niemand nehmen.“
So wusste Ferdinand nur zu gut, dass jeder Widerspruch vergebens war, dass jeder Versuch, sie dennoch in die Berge zu begleiten, seine Mutter nur fuchsteufelswild gemacht hätte. „Lass die Berge stehen, Mutter!“ schien ihm daher der passendste Wunsch, den er ihr noch mitgab, bevor sie dann hinter der Kurve verschwand. Ferdinand atmete seine Anspannung aus. Seine Mutter zu hüten, das schien ihm oft schwerer als eine wilde Horde Bienen zu bezwingen. Aber wollte sie denn überhaupt behütet werden?
Sicher, er war ihr Begleiter, ihr Bodyguard, ihre Stütze in allen Situationen, doch den Abenteuern des Lebens wollte sie geradewegs ins Gesicht sehen, ohne dass er ihr im Wege stand, das war ihm schon klar. Ach, manchmal fiel es ihm gar nicht leicht, diese Einsicht stehen zu lassen und er fühlte sich oft besorgt und verantwortlich. Und wenn sie dann so unabhängig und kreuzfidel vor ihm stand, kam er sich auf einmal vor wie ein kleiner Junge, seines Spielzeugs beraubt. Nutzlos fühlte er sich dann und klitzeklein. Vielleicht war es diese Verantwortung, die er für seine Mutter empfand, die ihn so klein machte. Erwachsen werden hieß wohl, die eigenen Flügel auszustrecken, die eigenen Wege zu gehen, selbst wenn das eines Tages heißen sollte, seine Mutter sich selbst zu überlassen. Davor fürchtete er sich oftmals, auch wenn er wusste, eines Tages würde es soweit sein.
„Ach, das Leben ist wunderbar!“ Riesalia hüpfte munter den Hügel hinauf, während der schwere Rucksack auf ihrem Rücken auf und nieder schwang. Die Sonne knallte ihr mitten ins Gesicht und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. „Danke, Sonne, dass es dich gibt und danke, dass du mich immer wieder herausforderst mit deiner Kraft!“ In Gedanken sprach Riesalia mit sich selbst, dem Leben und ihrer geliebten Natur. „Danke, Leben, dass du mich nicht stillstehen lässt, dass du mich weiterziehst in ungewisses Neuland, auch wenn ich noch so sehr an alten Gewohnheiten festhalten wollte. Danke, Welt, dass du da bist, mit all deinen Wundern und Geschenken, mit deinen Gefahren und Aufgaben, mit all dem Unbekannten, dass ich kennenlernen darf, wenn ich nur mutig genug bin. Wenn mir einmal der Mut ausgeht, dich, Welt, zu erkunden, dann will ich sterben. Denn Leben, das ist doch das Wandern und wenn ich noch so vieles aufgeben muss, um den nächsten Punkt meiner Wegstrecke zu erreichen. Lass mich niemals müde werden, all diese Wunder zu entdecken.
Und wenn ich meinte, die Welt, wie ich sie bisher kannte, sei das allergrößte Geschenk gewesen, das das Leben mir reichen könne, so lass mich niemals zu träge sein, zu wagen, hinter die nächste Wegbiegung zu schauen, wo neuer Glanz und neues Glück schon auf mich warten. Denn jede Station meines Lebens hat ihre Zeit. Und wenn ich über die Zeit an einem Platz bleibe und alle seine Früchte längst geerntet sind und ich mich wundere, warum ich mit offenem Mund verhungere, so habe ich zu lange festgehalten. Das Leben aber ist nicht das Festhalten, das Leben ist ein Strom, der mich trägt und der mir mehr als genug Kraft geben kann, etwas hinter mir zu lassen, was mir sehr viel bedeutet hat. Ich will mich voll Vertrauen tragen lassen, auch wenn der Abschied von dem Alten noch so schwer ist. Denn das Neue, das auf mich wartet, ist für mich, die ich jetzt, zu diesem Zeitpunkt bin, das Allerbeste.
Für mich, Riesalia von Bernsheim, war es lange Zeit das Meer, das mich fest an sich band. Ich hätte nie gedacht, es jemals zu verlassen. Doch nun habe ich mich für die Berge entschieden und ich bin froh darüber. Meine Zeit am Meer wird immer wie ein funkelnder Regenbogen in mir wohnen. Doch jetzt kann ich frohen Mutes aus einer neuen Welt schöpfen, die mir so viel geben kann: die Berge. Danke, Leben, dass du mich führst und trägst.“ Während Riesalia so mit ihrer allerbesten Freundin, der Natur, sprach, folgte sie furchtlos dem steilen Weg, der sie an die Spitze des Berges bringen sollte.
Zunächst traf Riesalias Weg auf einen wunderschönen See. Die muntere Wandersfrau nahm sich Zeit für eine kleine Picknickpause, während derer sie ihre Augen weit in das blaue, funkelnde Wasser tauchen ließ.
Sie ließ ihre Sehnsucht tief in das verheißungsvolle Blau hinabgleiten, gab alle ihre Träume und Wünsche an das Wasser ab und sah zu, wie der kostbare Schatz aus ihrem Innersten leise schaukelnd auf den Boden des Sees sank.
Wie oft hatte sie in ihrem Leben um Ziele gekämpft, hatte ihr Herzblut gegeben für Dinge, die sie ersehnte, sich dabei die Ellbogen blutig gerissen und ihrem Herzen viele Schrammen zugefügt und ihrer Stirn, die sie in jedem Kampf weit oben gehalten hatte, für alle Welt zu sehen: „Hier komme ich, Riesalia von Bernsheim.“ Was war es wert gewesen, all das Kämpfen, all das Mühen? Und war der Schmerz, es niemals zu erreichen, nicht schärfer gewesen als ihre gewitzte Zunge, mit der sie die Welt zu täuschen und hinter der sie ihre Angst zu verstecken versuchte. Im Wirbelsturm auf dem Meer, da hatte sie sich zum ersten Mal ihre Angst eingestanden und sie hatte einen Ort in sich selbst gefunden, wo sie zur Ruhe kommen konnte. Sie hatte beschlossen, in die Berge zu gehen und ihre Angst bei der Hand zu nehmen. Sie wollte nicht mehr nur die berühmte, starke, wohlhabende Sportlerin sein, sie wollte endlich Mensch werden und sich selbst mit all ihren Schwächen annehmen.
Die Zeit des Kämpfens war vorbei. All der Kampf gegen Fäuste, die sie gegen sich gerichtet sah, die vielleicht niemals da waren. Manchmal hatte sie sich selbst gefragt, warum sie der Welt stets dieses Gesicht hingehalten hatte, das von Siegen nur so zu strahlen schien. Es war dieses Gesicht, das Unantastbarkeit verhieß und alle einzuschüchtern wusste, das Respekt erheischte und ihr Sicherheit gab, dass niemand sie verachtete. Aber hatte sie sich nicht im tiefsten Innern bei dem ganzen Spiel selbst verachtet, weil sie es niemals zu schaffen schien, einfach zu sich selbst zu stehen? Jetzt war das Image weg, hier konnte niemand sie sehen und bewundern. Hier waren nur sie selbst und die Berge und erleichtert atmete Riesalia auf.
Ruhig erhob sie sich und stieg den steilen Weg weiter hinauf. Bald kam Geröll und sie musste ihren Fuß bei jedem Tritt gut absichern. Doch obwohl sie solchen Herausforderungen noch nie begegnet war, hatte sie keine Angst. Nein, da kam einfach wieder Freude in ihr auf, dass sie wieder etwas Neues erleben durfte, dass das Leben ihr dieses Geschenk machte, wieder ihre Kraft und ihren Mut beweisen zu können und Spaß zu haben an der Vielfalt der Herausforderungen.
Endlich stand sie dann oben auf dem Gipfel. Die umliegenden Berge waren allesamt von Wald bedeckt, so dass sie ringsum keine Menschenseele sehen konnte. Sie sah nur Berge, Grün und wunderschönstes Sonnenlicht, das sich wie ein liebevoller Mantel auf all das, was sie sah, zu legen schien.
So war ihr, als begegne sie der Bergwelt ganz von du zu du, nur sie beide. Das war eine Begegnung, nach der sie sich lange schon gesehnt hatte. Sie sprach lange zu den Bergen und erzählte ihnen alle ihre Wünsche, die sie für die Zukunft hatte und auf welch verworrenen Wegen sie in ihrem Leben bereits gegangen war. Die Berge lauschten ihr still und ihr war, als lächelten sie ihr ein freundliches Willkommen zu.
Und mit einem Mal sah sie im Spiegel der Berge ihre eigene Kraft, weit größer als sie sie jemals gesehen hatte. Gewaltig schien zu sein, was ihr da innewohnte, ruhig und fest. Hatte sie es überhaupt nötig, sich wie ein Gockel aufzuspielen, um der Welt Größe zu vermitteln? War da nicht viel, viel mehr an wahrer Größe, wenn sie das ganze Brimborium wegließ, das ihr Leben bislang mit Glanz erfüllt hatte? Was war all das Lob, all die Bewunderung gegen die stille Achtung, die sie jetzt endlich vor sich selbst empfinden konnte? Ihr war, als sei eine lebenslange Fratze des überlegenen Lachens aus ihrem Gesicht gefallen und hätte ihr Herz von einer eisig kalten Hand befreit.
Diese kalte Hand, die immerzu die Furcht, nicht gut genug zu sein, verstecken wollte. Die kalte Hand, die ihre Ohnmacht überspielen wollte. Diese Hand, die sich so oft nach anderen Händen hatte ausstrecken wollen und die mutlos neben ihren Körper gefallen war, an ihrem Arm baumelnd, von keinem Mut aus ihrem Innersten der Welt entgegengehalten. Diese Hand war immer ihre Faust gewesen und das Misstrauen hatte sie gefangen gehalten, eisern und ohne Gnade.
Ja, der einzige Weg, aus diesem Gefängnis zu entkommen, schien ihr das Eingeständnis ihrer Schwäche und Angst zu sein. Wie aberwitzig, dass sie genau auf diesem Weg wiederum ihrer wahren Kraft begegnete, die sich auf einmal vor ihr eröffnete wie der allerschönste Traum. Aber es war Wirklichkeit. Sie spürte die Kraft in jeder einzelnen Pore ihres Daseins und ihr 74jähriger Rücken pulsierte von unglaublicher Energie. Dies war ein Neuanfang und sie spürte zutiefst, dass sie immer Recht gehabt hatte, wenn sie davon gesprochen hatte, dass zu jeder Zeit des Lebens, wie alt ein Mensch auch immer sei, tiefgreifende Veränderungen möglich sind, mehr als genug Kraft dafür da ist, jederzeit.
Hier stand sie, eine alte Frau und doch fühlte sie den Geist von Veränderung und Wachstum so kraftvoll durch ihre Adern strömen. Wie oft hatte sie von anderen gehört, dass es in deren Leben für Veränderungen zu spät sei, angeblich weil sie zu alt seien und die Kraft fehle - es waren Leute um die 30 gewesen, 40, 50... Sie konnte darüber nur müde lächeln. Alt - was war das schon? „Alt bist du dann, wenn du dich selbst für alt erklärst und nur dann“, das war stets ihr Lieblingsspruch gewesen, denn die Zahlen auf dem Papier hatten für sie wenig damit zu tun, ob ein Mensch die Möglichkeiten seines Lebens zu nutzen bereit war oder nicht. Meist war es Angst, nicht Alter, was Leute davon abhielt, Veränderung zu wagen. Und die Angst lähmte so sehr, dass diese Menschen ihre Kraft nicht mehr spürten und meinten, da sei nichts mehr in ihnen, was sie weitertragen könne.
Dabei kam die Kraft im Gehen. Die Erfahrung hatte Riesalia oft gemacht. Sobald sie sich in Bewegung gesetzt hatte und etwas angegangen war, da war es geflossen, da war dieser Strom in ihr, der sie spüren ließ, dass mehr als genug da war, immer. Es lag an ihr, es anzunehmen, es zu wagen, zu vertrauen - das wusste sie nur zu gut. Es war alles da, was sie für ihr Leben brauchte. „Ja“, dachte sie nur, während ihre Augen die Bergwelt tief in sich aufnahmen. „Ja, es ist alles da und ich brauche keine Angst zu haben, ins Leere zu fallen. Solange ich mich bewege und lebendig bin, ist keine Leere da.“
In Gedanken umarmte sie die Berge, umarmte ihre ganze Kraft und war von Herzen froh, endlich hier angekommen zu sein, hier, wo sie sich selber direkt in die Augen sehen konnte.
Am Abend feierten Riesalia und Ferdinand ein großes Fest, das sie das Bergfest nannten. „Ja, Ferdinand, denn ich war auf dem Berg - first time in my life - und außerdem sind wir doch auch über den Berg irgendwie, oder? Ich meine, es war ja auch eine anstrengende Zeit mit dem Umzug und all den Veränderungen. Wir hatten doch beide oft Angst, ob das alles so gut gehen würde. Und nun stehen wir vor dem Ergebnis unserer Mühen und ich muss sagen, ich bin äußerst zufrieden.“
Munter erzählte Riesalia Ferdinand von den Erlebnissen des Tages, von allem, was sie gesehen und empfunden hatte. „Und was hast du gemacht, Junge?“ wollte Riesalia schließlich wissen. Ferdinand führte sie durchs Haus, wo er gespült, gekocht, aufgeräumt und geputzt hatte. „Ich bin beeindruckt“, sagte Riesalia ernst. Aber sie sah auch in seinen Augen die traurige, unerfüllte Leere, die er nicht auszudrücken wusste. Sie ahnte, dass er tief im Innern unzufrieden war, doch sie wollte es ihm überlassen, zu entscheiden, wann er darüber sprach oder auch wenn er gehen wollte. Sie ahnte wohl, dass der Tag bald kommen würde, doch sie hatte keine Angst davor. Zu stark war ihr Vertrauen in das Leben und sie wusste, alles würde zu ihrem Besten geschehen.
3
Mit der Zeit lebten sie sich in ihrem neuen Häuschen in den Bergen ein. Und dann kam der Winter, der strengste Winter, den sie je erlebt hatten, und Riesalia stromerte durch den Schnee, so oft sie nur konnte. Winter war seit jeher ihre Lieblingsjahreszeit gewesen.
Sie liebte es, die klirrende Kälte in ihrem Gesicht zu spüren. Ihre Augen leuchteten, wenn sie mit Eiskristallen spielte, Schneemenschen baute, durch den Schnee kugelte und dabei vor Freude juchzte. Sie war eine Tochter des Winters. Die resolute Klarheit der Kälte entsprach ganz ihrem stets nach den wesentlichen Dingen strebenden tiefsten Innern. Wenn sie ihre Stirn in den eisigen Wind hielt und sang, schien sie aller Welt ihre Stärke zeigen zu wollen, die darin lag, selbst der größten Macht und Dunkelheit zu trotzen.
Den Sommer mit seiner angenehmen Wärme und seinen leichten Winden zu lieben, das war für niemanden schwer. Doch dieser harten Zeit der Kälte das Herz zu öffnen, war stets eine Herausforderung für Riesalia gewesen. Manch einer hatte ihr nahelegen wollen, dass so ein zartes Herz doch im Angesicht dieser massiven Kälte erstarre. „Nein“, hatte sie gelacht. „Die kalten Winde durchströmen mich wie einen Kanal und sie reinigen und stärken auf eine ganz wunderbare Weise. Zurück bleibt mein Herz, der Puls meines Lebens, nach jeder Winterzeit stärker und wärmer als je zuvor.“
Riesalia glaubte an die Macht der Liebe, die sich von nichts zerrütten ließ. Manchmal saß sie abends lange mit Leuten aus der Umgebung, die sie eingeladen hatte, vor dem Kamin. Dann erzählte sie mit ruhiger Stimme von all den Verlusten ihres Lebens, denen sie ihre Stirn entgegengehalten hatte. Und wenn es noch so hart gewesen war, zurückzubleiben, sie hatte den Schmerz jedes Mal überwunden. „Je härter es war, umso größer war die Kraft, mit der ich es überwand, und die in mein Leben hineinwuchs, fest wie ein Baum. Ja, je schwerer es war loszulassen, umso größer wurde der Felsen auf dem ich stand. Mit jedem Verlust wuchs meine Kraft. Es mag paradox klingen, aber ich danke dem Leben dafür, dass es mir zumutete und zutraute, das zu verlieren, ohne dass ich nicht leben zu können meinte. Indem ich erneut auf mich gestellt war, konnte ich meine Kraft erfahren und dass ich durchaus getragen war, mehr als je zuvor. Die Macht der Liebe geht ihren Weg. Zielstrebig und klar schreitet sie ihren Weg voran und macht vor nichts Halt, das uns von unserem Weg abbringen könnte. Und gerade dann, wenn eine Zeit in unseren Augen sehr schwer aussehen mag, so kann gerade dies eine sehr wichtige Zeit sein, eine fruchtbare und vorantreibende Zeit, in der wir voller Liebe daran gehindert werden sollen, stillzustehen. Denn das Leben möchte uns tanzen sehen. Wenn wir aber am helllichten Tage zu schlafen scheinen in unserem Bedürfnis, alte Sicherheiten, die sich überlebt haben, festzuhalten, dann greift die Liebe auf eine Art um sich, die für uns zunächst zerstörend wirkt, die aber letztendlich befreiend ist. Wenn wir die Chance erkennen, die in dem Aufbruch liegt - auch wenn wir erst mal nur die Trümmer des Alten vor Augen haben - dann kann das Leben uns sehr reich beschenken.“
Und wenn die Menschen, die ihr lauschten, in ihre vom Leben verzauberten Augen sahen, dann wussten sie, dass alles, was sie sagte, wahr war. Riesalia war dem Leben wirklich für all das dankbar, was es ihr abgefordert hatte, denn ohne all das wäre sie nie zu der geworden, die sie heute war. Wenn sie zu Ende erzählt hatte, reichte Riesalia meist die große gelbe Tasse mit heißem Kakao herum, aus der sie alle einen Schluck nahmen. „Auf das Leben!“ sagte Riesalia und sah ihnen allen in die Augen. Und wenn sie dann in Riesalias Augen blickten, wussten sie, dass sie sich nichts sehnlicher wünschten, als immer wieder aus der randvollen gelben Tasse zu trinken, die das Leben war.
4
Dann kam der Tag, von dem sie lange schon gewusst hatte, dass er kommen musste: Ferdinand packte seine sieben Sachen und ging. Er hatte sich entschieden, bei einem sozialen Projekt in Sizilien mitzuarbeiten. Die Stelle war gut bezahlt, seinen Fähigkeiten entsprechend, und er würde in einem wunderschönen Haus am Meer wohnen. „Grüß mir das Meer“, bat Riesalia und sah mit sehnsuchtsvollen Augen in die Weite. „Ich werde euch beiden bald einmal besuchen kommen, dich und meine alte Liebe, die See.“
„Bist du auch wirklich sicher, dass du allein zurechtkommst?“ hatte Ferdinand sie in dem entscheidenden Gespräch über ihrer beider Lebenswege noch einmal gefragt. „Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, mein Sohn“, hatte Riesalia geantwortet und ihm mit der ihr eigenen felsengleichen Ruhe in die Augen geblickt. Da wusste er, er konnte gehen, er war endlich frei. Nicht dass sie, seine Mutter, ihm diese Freiheit jemals verwehrt hatte, nein, er selbst war es gewesen, der sich hoch verantwortlich für sie gefühlt hatte. Er hatte seinem Leben keinen rechten Sinn abgewinnen können und als ihr Gehilfe hatte er sich irgendwie wichtig und nützlich gefühlt. Gleichzeitig hatte er sich oft abhängig gefühlt wie ein kleines Kind und das hatte ihn gelähmt, sich für sein eigenes Leben zu entscheiden.
Immer hatte sie als seine Mutter so stark und leuchtend, von allen umjubelt vor ihm gestanden und er hatte stets das Gefühl gehabt, wie sinnlos es doch sei, zu versuchen, ihr jemals gleich zu kommen. Er war ihr Schatten gewesen, scheinbar außerstande, jemals selber Sonne zu sein. Doch nun, hier in den Bergen, waren sie beide zur Ruhe gekommen, fernab der Presse, die sie am Meer stets umgeben hatte. Er hatte in der letzten Zeit sehr klar gesehen, dass seine Mutter, so alt sie laut Papier auch sein mochte, immer noch irrsinnige Kräfte in sich trug und dass es schlicht Schwachsinn war, zu glauben, sie käme allein nicht klar. Hatte er sich mit diesem Gedanken vielleicht immer an ihr festgehalten?
Jetzt jedenfalls, in der Stille der Bergwelt, hatte ihn die Sehnsucht nach seiner eigenen Erfüllung überkommen. Er war sich auf einmal leer vorgekommen wie ein schäbiges Wasserloch, grau und verwittert und auf irgendeine Art um Jahre älter als seine lebensfrohe Mutter. Wie hatte er dem Leben jemals Liebe und Dankbarkeit entgegen gebracht? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er hatte stets müde und resigniert an der Seite gesessen und zugesehen, wie seine Mutter tanzte. Er hatte vorgegeben, da sein zu wollen, für den Fall, dass sie hinfiel und sich ein Bein brach. Selber so zu leben, dass er hinfallen könnte, nein, das hatte er nie gewagt. Seine Fürsorglichkeit war ein wunderbares Versteck gewesen, wo er sich niemals seine Angst hatte ansehen müssen, seine Angst vor dem Leben. Nun endlich hatte er den Mut gefasst, es zu wagen, auf seinen eigenen Beinen zu stehen und zu erfahren, dass sie ihn sehr wohl tragen konnten.
Riesalia und Ferdinand umarmten sich noch einmal lange und fest. „Ich danke dir für alles, Sohn“, sagte sie leise, „und glaube nicht, ich hätte einen einzigen Tag deiner Gegenwart bei mir nicht zu schätzen gewusst. Für mich warst du nie eine Randfigur, du hast dich nur immer so gefühlt. Geh und zeig der Welt, was in dir steckt!“
Dann sah sie durch ihren Schleier von Tränen nur noch, wie der Wagen um die Kurve bog und aus ihrem Blickfeld verschwand. Doch während sie noch den Abschiedsschmerz fühlte, sah sie groß und mächtig die Berge, die ihr Haus umstanden und sie wusste, sie war nicht allein.
5
Die Zeit, die dann kam, würde immer als die schönste des gesamten Lebensabschnitts in den Bergen in Riesalias Erinnerung bleiben, das wusste sie.
Es war nicht nur der Sommer, der dann kam, mit dieser haltlos leuchtenden Sonne, die ihr schier endlose Kraft zu geben schien. Es waren nicht nur die Berge, die ihr zur Seite standen wie alte Freunde, still und doch so stark. Es war nicht nur die Luft, die glasklar und voller Licht war.
Es war die Erfahrung, nach Ferdinands Abschied diese unbändige Kraft in sich zu erleben. Jedes Mal, wenn sie zu fallen glaubte, wurde sie doch wieder auf ein Neues aufgefangen von jener Kraft in ihrem Innern. Die schien stärker zu sein als all die Berge zusammen. Sie wusste auf einmal, sie konnte sich auf sich selbst verlassen, sie wurde von innen getragen. Es war nur die Angst, die ihr manchmal einflüstern wollte, sie würde es ohne Ferdinand nicht schaffen.
Manchmal war ihr die Hausarbeit zu viel und sie fühlte sich einsam. Dann kam es vor, dass sie stundenlang durch die Bergwelt streifte und dort um Hilfe bat. Und immer fand sie etwas, das ihr half, und wenn es die Feder eines seltenen Vogels war. Wenn sie dann nach Hause kam, das Geschenk der Berge in der Hand, dann war auf einmal alles, was ihr so entsetzlich schwer erschienen war, ganz leicht. Manchmal lehnte sie sich dann an den alten Eichenschrank und weinte stundenlang. Dann konnte sie all die Enttäuschungen und allen Kummer ihres Lebens beweinen, und ihr war, als würden die Berge, die sie in sich trug, sie fest umarmen.
Hier in den Bergen war der Platz, wo sie sich fallen lassen und Rückschau halten konnte, wo sie den Nackenschlägen ihres Lebens ins Gesicht sehen konnte, ohne wie so oft alles mit einem kraftvollen Lächeln zu überstrahlen. Sie wusste, diesen Prozess, der so wichtig für ihr Leben war, hätte sie in Ferdinands Beisein nicht erleben können. Hatte sie ihm, ihrem Sohn, jemals ihre wahren Schwächen eingestanden?
War er so abhängig gewesen und hatte er sich so klein und nutzlos gefühlt, weil sie stets versucht hatte, die Wolken in ihrem Innern mit hellstem Sonnenlicht zu überstrahlen? Wie auch immer, es war Zeit, sich selbst gegenüber bedingungslos ehrlich zu sein und die Showbusinessdame von einst für immer abzulegen, um endlich zur Ruhe zu kommen.
Manchmal ging sie durch den Garten und legte sich auf die warme Sommererde. Wenn die Vögel dann sangen, ließ sie sich von der Erde und dem Gesang weit fort tragen und gab alle Schwere ab. Dass sie so zu sich finden konnte, ohne nach außen irgendetwas darstellen zu müssen, das war ein wunderbares Erleben für sie, das größte Geschenk überhaupt. Es war, als würde ihr ein altes Geheimnis endlich enthüllt, als würde sie endlich begreifen, wer da neben der strahlenden Sportlerin noch in ihr ruhte. Es war ein Wesen mit Augen tief wie ein Brunnen, mit einem Herzen weit wie das Meer, mit Händen so zart wie eine Pflanze im Frühling. „Vor dir bin ich mein Leben lang weggelaufen“, sagte sie, wusste, dass sie endlich stehenbleiben konnte und fühlte sich angenommen wie nie zuvor.
Manchmal tanzte sie durch das Haus und hielt sich selbst fest umschlungen. Für immer wollte sie diese neu gewonnene Kraft bei sich bewahren, sich selbst ehrlich begegnen und von nun an auch der Welt dies andere Gesicht zeigen. Und während sie sich tanzend im Kreise drehte, war Riesalia glücklich, glücklich über sich selbst wie nie zuvor.
6
Als der Herbst nahte, war es dann soweit: Riesalia packte ihre Koffer und machte sich auf den Weg zu Ferdinand, nach Sizilien. Sie genoss die Zugfahrt und winkte voller Freude allen Feldern, Wiesen und Bäumen zu, an denen sie vorbei jagte. Es war wunderbar, die wilde Bewegung des Lebens zu spüren, das Quietschen der Gleise war wie Musik in ihren Ohren und sie lachte den vorbeiziehenden Wolken zu. „Hallo, Erde, du mein schönstes Geschenk“, sagte sie leise. „Was bin ich froh, dass es dich gibt, du meine Schöne.“