Der Sinn des Denkens - Markus Gabriel - E-Book

Der Sinn des Denkens E-Book

Markus Gabriel

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Beschreibung

Markus Gabriel, Spiegel-Bestseller-Autor, zeigt in diesem Buch, dass das Denken Teil der biologischen Sinne ist, der nicht künstlich nachgebaut werden kann. Längst gilt er als einer der wichtigsten deutschsprachigen Philosophen der Gegenwart, dessen unverwechselbar leichtfüßiger Stil klassische und moderne Theoretiker sowie die Popkultur zusammenführt. Das Denken ist vielleicht der wahre Hauptbegriff der Philosophie. Insbesondere Platon und Aristoteles haben sie als das Nachdenken über das Nachdenken definiert. Unser menschliches Denken ist einer unserer Sinne und damit unüberwindbar an biologische Bedingungen gebunden. Das lässt sich zwar nicht nachbauen. Dennoch sind wir in bestimmter Hinsicht selber eine Form der künstlichen Intelligenz. Denn unser geistiges Vermögen entsteht historisch und kulturell aus dem Bild, das wir uns von uns selber und von unserer Umgebung machen. Oder ist das ganze Universum vielleicht nur eine Simulation? Mit Esprit führt Markus Gabriel in hochaktuelle Themen ein und streift dabei Hume, Leibniz und Kant ebenso wie Searle und Taylor, aber auch Filme und Serien wie Ghost in the Shell, Matrix oder Der sechs Millionen Dollar Mann.

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Seitenzahl: 491

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Das Buch

Provokant und geistreich belegt Spiegel-Bestseller-Autor Markus Gabriel, dass das Denken ein biologischer Sinn ist, der nicht künstlich nachgebaut werden kann. Gabriel ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Philosophen der Gegenwart, sein unverwechselbarer Stil führt klassische und moderne Theoretiker mit der Popkultur zusammen.

Das Denken ist vielleicht der wahre Hauptbegriff der Philosophie. Insbesondere Platon und Aristoteles haben diese als das Nachdenken über das Nachdenken definiert. Unser menschliches Denken ist unüberwindbar an biologische Bedingungen gebunden. Wir betasten denkend eine Wirklichkeit, die letztlich nur dem Denken zugänglich ist. Dennoch sind wir in bestimmter Hinsicht selbst eine Form der Künstlichen Intelligenz. Unser geistiges Vermögen entsteht historisch und kulturell aus dem Bild, das wir uns von uns selbst und von unserer Umgebung machen. Aber was, wenn das ganze Universum nur eine Simulation wäre? Markus Gabriel bezieht in einer hoch aktuellen Diskussion kühn Position und legt ein kluges, streitbares Buch zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit vor.

Der Autor

Markus Gabriel, geboren 1980, studierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie. Er ist Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought und regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1).

Markus Gabriel

Der Sinn des Denkens

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1813-4

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Lektorat: Carla SwiderskiUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Technik, der kleine titanische Irrtum, istNichts, was den Menschen vor sich bewahrt.

Durs Grünbein

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Motto

Vorwort

Anmerkungen zum Kapitel

Einleitung

Anmerkungen zum Kapitel

Erstes Kapitel: Die Wahrheit über das Denken

Komplexität ohne Ende • Denken? Was ist das eigentlich? • Nicht nur Menschen können denken • Die Reichweite des Universums • Die Sinne des Aristoteles • Common Sense mal sinnlich • Der Sinn von »Sinn« oder viele Arten, sich zu täuschen • Wer blickt aus dem kosmischen Exil? • Nicht alle Gegenstände sind Dinge • Gibt es rote Deckel (wirklich)? • Denken ist kein Nervenkitzel • Nichts als die Wahrheit • Die Welt als Wunschkonzert • Freges Gedanken • Sinn und Information und die Unsinnigkeit von Fake News • Unser sechster Sinn • Anmerkungen zum Kapitel

Zweites Kapitel: Denktechnik

Karte und Gebiet • Können Computer Chinesisch? • Fotos erinnern sich nicht an Kreta • Eine Ameise kriecht im Sand umher, und warum das nichts mit Winston Churchill zu tun hat • Der Gott des Internets • Unser Unbehagen in der Kultur • Emotionale Intelligenz und die versteckten Werte im digitalen Zeichendschungel • Eine Religion namens »Funktionalismus« • Das Denken ist kein Zigarettenautomat … • … und die Seele ist kein Haufen von Bierdosen • Schritt für Schritt zum Hirnschrittmacher? • Die Idee der Technik oder: Wie baue ich ein Haus? • Totale Mobilmachung • Die Gesellschaft ist kein Videospiel • Die Achillesferse des Funktionalismus • Anmerkungen zum Kapitel

Drittes Kapitel: Die Digitalisierung der Gesellschaft

Ist doch logisch, oder etwa nicht? • Pingpongspiel mit der Menge • Alle stürzen irgendwann einmal ab • Können Computer überhaupt etwas? • Heideggers Raunen • Zu viele Wunder machen Angst • In Zeiten »vollständiger Bestellbarkeit« • Im Circle gefangen? • Stippvisite in Winden – Gesellschaft als soziales Atomkraftwerk • Einmal Bewusstsein to go, bitte • Wer hat hier ein Problem? • Anmerkungen zum Kapitel

Viertes Kapitel: Warum nur Lebewesen denken

Das Nooskop • Die Seele und der Karteikasten • »Und nun komm, du alter Besen!« • Beleuchtete Gehirne • Bewusstsein first – Tononi (über-)trifft Husserl • Drinnen, draußen oder nirgendwo? • Ein feuchtes und verflochtenes Stück Wirklichkeit • Anmerkungen zum Kapitel

Fünftes Kapitel: Wirklichkeit und Simulation

Kopfkino trifft auf Smartphone • Die unvermeidliche Matrix • In memoriam: Jean Baudrillard • Horror und Hunger (Games) • Schöne neue Welt – willkommen bei den Sims • Sind Sie wach oder in Träumen und Selbstgesprächen gefangen? • Kennen Sie Holland? • Materie und Unwissen • Was ist Wirklichkeit? • Das Zwitterwesen Wirklichkeit • Fisch, Fisch, Fisch • Die schillernde Bandbreite der Wirklichkeit • Cäsars Haare, Indiens Kanaldeckel und Deutschland • Freges elegante Theorie der Tatsachen • Über die Grenzen unseres Wissens • Die Wirklichkeit des Denkens ist keine Schädelbasislektion • Der Unterschied zwischen Champignons, Champagner und dem Denken des Denkens • Der Mensch ist eine künstliche Intelligenz • Das Ende des Menschen – Tragödie oder Komödie? • Anmerkungen zum Kapitel

Das Ende des Buchs – eine pathetische Schlussbemerkung

Danksagung

Anmerkungen zum Kapitel

Literatur

Glossar

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Vorwort

Das vorliegende Buch ist der Schlussteil einer Trilogie, zu der Warum es die Welt nichtgibt und Ich ist nicht Gehirn gehören. Es ist so geschrieben, dass es ohne Kenntnis der beiden Vorgänger verstanden werden kann. Wie diese gehört es zu einem Genre, das sich an alle richtet, die sich gerne philosophische Gedanken machen. Und genau um diesen Prozess des Denkens soll es hier gehen. Auf den folgenden Seiten werde ich auf eine allgemein verständliche und zugängliche Weise eine Theorie des (menschlichen) Denkens entwickeln.

Das Denken ist vielleicht der zentrale Begriff der Philosophie. Seit Platon und Aristoteles versteht sich die Philosophie als eine Wissenschaft, die über das Nachdenken nachdenkt. Dieses Nachdenken über das Nachdenken ist der Ursprung der Logik. Die Logik wiederum ist eine der Grundlagen unserer digitalen Zivilisation, da es ohne Fortschritte in der philosophischen Logik des 19. Jahrhunderts niemals zur Entwicklung der Informatik gekommen wäre. Besonders einflussreich waren hierbei die beiden Mathematiker, Logiker und Philosophen George Boole (1815–1864) und Gottlob Frege (1848–1925). Denn sie haben eine Theorie des Denkens vorgelegt und davon ausgehend die ersten formalen logischen Systeme entwickelt, die der heutigen Informatik zugrunde liegen. Damit haben sie die Computerrevolution und Digitalisierung unserer Tage maßgeblich vorbereitet.

Sie erwartet ein philosophisches Buch, das ohne schwerverständlichen Fachjargon auskommen wird. Um es zu verstehen, müssen Sie sich nicht in die technischen Aspekte der Logik hineinknien. Denn unser menschliches Denken ist, wie hier gezeigt werden soll, ein Sinnesorgan. Denken ist etwas Sinnliches (im besten Fall also Vergnügliches) und keine Gewaltübung, in der man sich kreative Gedankengänge verbietet. Im Gegenteil. Das philosophische Denken ist ein kreativer Vorgang, weshalb Philosophen wie die Romantiker oder Friedrich Nietzsche sogar so weit gegangen sind, es in die Nähe der Dichtung zu rücken.

Philosophie ist letztlich weder genau wie Mathematik noch genau wie Lyrik (oder irgendeine andere Kunstgattung). Sie grenzt an beide Bereiche und bildet eine Schnittstelle. So ist Philosophie die allgemeinste Art und Weise, über unser Nachdenken nachzudenken. Sie ist noch allgemeiner als die Mathematik, die eine Sprach- und Denkform bildet, die den Natur- und Technowissenschaften als Grundlage dient. Gleichzeitig ist die Philosophie näher dran an den konkreten Phänomenen unseres Alltags. Sie will unser Erleben und unsere Wahrnehmung ergründen. Sie will also nicht nur Modelle entwerfen, mittels derer man das anonyme Geschehen der Natur oder das Verhalten von Lebewesen wie uns Menschen vorhersagen und steuern kann. Sondern sie strebt eine Erkenntnis der Wirklichkeit und unseres Wirklichkeitserlebens an. Philosophie zielt auf Weisheit, das heißt letztlich ein genaueres Wissen darüber, was wir in Wirklichkeit alles nicht wissen. Sie wurde daher unter anderem von Sokrates als ein Wissen unseres Nichtwissens verstanden, ohne das keine Weisheit erreicht werden kann.

Das Denken ist die Schnittstelle zwischen der natürlichen und der psychologischen Wirklichkeit. Insofern ist es geeignet, die Themen der vorausgegangenen Bücher – die Welt (die es freilich in Wirklichkeit gar nicht gibt) und das Ich (das nicht mit dem Gehirn identisch ist) – zu verbinden. Denken heißt unter anderem, Verbindungen herzustellen und Verbindungen zu erkennen. Wir verknüpfen im Denken weit entfernte Wirklichkeiten und stellen dadurch neue Wirklichkeiten her.

Das Denken ist bei alledem kein wirklichkeitsferner Vorgang im Elfenbeinturm. Die Philosophie sollte deswegen auch nicht auf das akademische Glasperlenspiel reduziert werden, in dem Berufsphilosophinnen und Berufsphilosophen in detaillierten Einzelanalysen Stellung zu komplexen Argumenten und Gedankenketten beziehen.

Kein Geringerer als Immanuel Kant unterscheidet in seinen Logik-Vorlesungen, die er an der Universität Königsberg gehalten hat, zwischen einem »Schulbegriff« und einem »Weltbegrif[f]« der Philosophie.1 Der Schulbegriff ist die systematische Theoriekonstruktion, deren Handwerk an philosophischen Instituten und Seminaren eingeübt und tradiert wird. Es geht hierbei um die Architektur der grundlegenden Begriffe, ohne die wir unsere eigene Rationalität nicht erfassen könnten. Kant nennt diesen Vorgang ebenso wie sein berühmtes Buch die Kritik der reinen Vernunft.

Beim Weltbegriff handelt es sich demgegenüber um eine Beschäftigung mit den »letzten Zwecken der menschlichen Vernunft«2, wozu nicht zuletzt die Frage gehört, was oder wer der Mensch ist und worin genau eigentlich unser Denkvermögen besteht. Sind wir lediglich ein Teil der Natur? Vielleicht ein besonders kluges, womöglich eher durch seine Intelligenz geblendetes Tier? Oder ist der Mensch gar Zeuge einer nicht sinnlichen Wirklichkeit?

Dieser hohe Begriff gibt der Philosophie Würde, d. i. einen absoluten Wert. Und wirklich ist sie es auch, die allein nur innern Wert hat, und allen anderen Erkenntnissen erst einen Wert gibt.3

Alle bisher da gewesenen großen Philosophinnen und Philosophen – genannt seien nur mehr oder weniger beliebig: Platon, Aristoteles, Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Edith Stein, Hannah Arendt, Jürgen Habermas und Martha Nussbaum – haben sich durch ihre Beiträge zum Weltbegriff der Philosophie ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Von Platon gibt es nicht einmal eine einzige akademische Abhandlung. Doch in den von ihm überlieferten Dialogen sind in einfacher Sprache und Gesprächsform einige der tiefsten philosophischen Gedanken artikuliert, die jemals formuliert wurden.

Leider ist es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu einem teilweisen Verfall der öffentlichen philosophischen Debattenkultur gekommen. Dafür ist, so meine These, hauptsächlich der Naturalismus verantwortlich. Dieser meint, dass alles echte Wissen und aller Fortschritt auf eine Kombination aus Naturwissenschaft und technologischer Beherrschung der Überlebensbedingungen des Menschen reduziert werden kann. Doch das ist ein fundamentaler Irrtum, ja eine gefährliche Verblendung, die uns heute in der Form ideologischer Krisen heimsucht: in der Wiederkehr der freilich niemals wirklich verschwundenen Religion als Erklärungsmuster der Wirklichkeit in großem Stil; in den demagogischen Verführungen der sogenannten »Populisten«, die einstige nationale Identitäten beschwören, die es in Wirklichkeit niemals gab; und in der Krise der Öffentlichkeit, die durch das neue Leitmedium des Internets entstanden ist. All diese Krisen lassen sich gedanklich nicht ohne neue philosophische Denkanstrengungen bewältigen. Denn der Fortschritt in Natur- und Technowissenschaften trägt ohne ethische Reflexion nicht automatisch zur Verbesserung des menschlichen Lebens bei. Vielmehr zerstören wir gerade unseren Planeten durch ungezügelten Fortschritt, was Anlass zum Nachdenken und zur Kurskorrektur sein sollte.

Wie zu allen Zeiten, in denen es uns gab, steht heute der Mensch und – aufgrund seiner technologischen Machtentfaltung – mit ihm der Fortbestand des gesamten Lebens auf unserem Planeten auf dem Spiel. Die Philosophie kann sich dieser Herausforderung nur stellen, indem sie selber neue Werkzeuge und Denkmodelle entwickelt, mittels derer wir die Wirklichkeit besser erkennen können. Sie ist heute Widerstand gegen die Lüge vom postfaktischen Zeitalter. Denn Philosophie wendet sich gegen die unsinnige Behauptung alternativer Tatsachen, gegen Verschwörungstheorien und unbegründete apokalyptische Szenarien, damit all dies nicht endgültig überhandnimmt und es nicht wirklich in naher Zukunft nicht zum Ende der Menschheit kommt.

Deshalb ergreife ich im Folgenden einmal mehr Partei für einen zeitgemäßen, aufgeklärten Humanismus, der die intellektuellen und ethischen Fähigkeiten der Menschheit gegen unsere post- und transhumanistischen Verächter verteidigt.

Der Neue Realismus, dessen theoretische Grundzüge in der mit diesem Buch abgeschlossenen Trilogie einer über die Universität hinausgehenden Öffentlichkeit vorgestellt wurden, ist mein Vorschlag zur Überwindung der fundamentalen Denkfehler, denen wir zu unserem gesellschaftlichen und menschlichen Schaden weiterhin verhaftet sind. Dazu gehört insbesondere die heute grassierende »Angst vor der Wahrheit«, wie Hegel es ausdrückt, beziehungsweise die »Angst vor dem Wissen«, wie der US-amerikanische Philosoph Paul Boghossian (*1957) es bezeichnet, der bereits viele der Denkfehler kritisiert hat, die der Postmoderne zugrunde liegen, unter anderem, dass es gar keine Wahrheit, objektiven Tatsachen oder Wirklichkeit gebe.4

Die Kenntnis der beiden vorhergehenden Veröffentlichungen setze ich nicht voraus. Jedes der drei Bücher steht weitgehend für sich selbst. Deswegen wiederhole ich hier und dort einige der Überlegungen, die in den anderen beiden Werken schon vorgestellt wurden, damit jede Leserin, jeder Leser imstande ist, sich auf der Basis der ausgewählten Lektüre ein eigenes Bild von der diskutierten Sachlage zu machen.

Philosophische Bücher haben die Funktion, die Leserschaft zum eigenen Nachdenken anzuregen. Was man von der Philosophie lernen kann, ist, die eigenen Vorurteile über wesentliche Fragen des Menschseins, wie Was oder wer ist eigentlich der Mensch?, Was unterscheidet uns von anderen Tieren? oder Können Computer denken?, zu reflektieren und übersichtlicher zu ordnen.

Am Ende ist es nicht das Wichtigste, ob ich Sie von meinen Positionen überzeugen konnte. Was zählt, ist nichts als die Wahrheit. Da diese in der Selbsterkundung des menschlichen Denkens nicht allzu einfach festgestellt werden kann, wird es immer philosophische Meinungsverschiedenheiten geben. Deswegen wäre es ein fundamentaler Irrtum, zu meinen, wir könnten irgendwelche Fragen ein für alle Mal beantworten. Vielmehr geht es darum, das Denken in Bewegung zu setzen, um auf diese Weise neue Formen und Felder des Denkens zu erschließen. Wie Sie sehen werden, halte ich es für ein entscheidendes Kriterium des Wirklichen, dass wir uns auch täuschen können. Da das Denken etwas Wirkliches ist, sind wir in der Frage, wie genau es beschaffen ist, also nicht vor Irrtümern gefeit. Dennoch halte ich natürlich meine Theorie für richtig, sonst würde ich sie hier nicht vorstellen.

Der Titel des Buchs ist absichtlich doppeldeutig. Die Hauptthese lautet, dass es sich bei unserem Denken um einen Sinn handelt, genauso wie beim Sehen, Hören, Fühlen, Tasten oder Schmecken. Wir betasten denkend eine Wirklichkeit, die letztlich nur dem Denken zugänglich ist, ebenso wie Farben für gewöhnlich nur dem Sehen und Töne nur dem Hören zugänglich sind. Gleichzeitig plädiere ich aber auch dafür, dem Denken einen neuen Sinn, eine Richtung zur Orientierung in unserer Zeit zu geben, da es – wie eh und je – von vielfältigen ideologischen Strömungen und zugehöriger Propaganda in Unruhe versetzt wird. Denken Sie nur an all die Gedanken, die Sie sich in der letzten Zeit über Donald Trump gemacht haben! Hat es überhaupt Sinn, sich all diese Gedanken zu machen? Ist es nicht gerade eine der Fallen von Trumps ausgebuffter Medienstrategie, dass wir viel zu häufig über all die Skandale reden, die sich um seine Figur herum anhäufen?

Aufgrund der Informationsflut, der wir in der Infosphäre – unserer digitalen Umgebung – unablässig ausgesetzt sind, stellen sich für das philosophische Denken neue Herausforderungen. Das folgende Buch ist ein Versuch, sich darauf zu besinnen, was Denken eigentlich ist, um so womöglich ein wenig Kontrolle über ein Gebiet wiederzuerlangen, das heute von den fragwürdigen Magiern des Silicon Valley und ihren technophilen Adepten in der Behauptung, echte künstliche Intelligenzen zu schaffen, beansprucht wird. Wir müssen unsere technischen Gadgets entzaubern und den Glauben an ihre Allmacht ablegen, wenn wir nicht zum Opfer der Digitalisierung, zu hoffnungslosen Info-Junkies oder Technozombies werden wollen.

Anmerkungen zum Kapitel

1. Kant 1977b, S. 446.

2. Ebd.

3. Ebd.

4. Hegel 1986, S. 74 und Boghossian 2013.

Einleitung

Der Mensch ist das Tier, das keines sein will. Das liegt daran, dass er irgendwann damit angefangen hat, darüber nachzudenken, wer oder was er eigentlich ist.5 Indem wir implizit oder explizit ein Menschenbild haben, beanspruchen wir auch Meinungen darüber zu haben, worin ein gutes Leben besteht. Die Ethik als die Disziplin, die unter anderem darüber nachdenkt, wie ein gutes Leben aussieht, beruht auf der Anthropologie, der Disziplin, die sich mit der Frage beschäftigt, wie genau sich der Mensch von anderen Lebewesen und dem unbelebten Bereich des Universums unterscheidet.6

Unser Menschenbild und unsere Werte hängen eng miteinander zusammen. Ein moralischer Wert ist eine Richtschnur für menschliches Verhalten. Er unterscheidet Handlungen in solche, die sein sollen, also die guten, das heißt moralisch richtigen, und solche, die nicht sein sollen, also die schlechten, das heißt moralisch unrichtigen. Jedes Wertesystem sollte dabei Raum für Handlungen haben, die in der Regel weder gut noch schlecht sind (auf der linken Straßenseite statt auf der rechten spazieren; Däumchen drehen; tief durchatmen; Brötchen schmieren und so weiter), sowie für Handlungen, die völlig inakzeptabel, das heißt böse sind (zum Beispiel das Quälen von Kindern; Giftgasangriffe auf die Zivilbevölkerung). Nicht jede moralisch unrichtige Handlung ist zugleich böse, weil nicht alle moralisch unrichtigen Handlungen, wie eine beiläufige Notlüge zum Schutz eines Freundes oder Schummeln beim Spieleabend, einen weitreichenden Schaden am Wertesystem selber verursachen. Das Böse hingegen unterminiert das Wertesystem, in dem es auftaucht, völlig. Der prototypische sadistische totalitäre Diktator beispielsweise, von dem es leider in den letzten Jahrhunderten zu viele Beispiele gab, untergräbt sein eigenes Wertesystem, weshalb er einen totalen Überwachungsapparat erzeugen muss, da er nichts und niemandem mehr vertrauen kann.

Solange wir in tiefer Unsicherheit darüber sind, wer oder was der Mensch ist, können wir unser Wertesystem nicht richtig kalibrieren. Mit dem Menschen steht auch die Ethik auf dem Spiel. Das heißt wohlgemerkt nicht, dass die anderen Lebewesen (wozu auch die Pflanzen gehören) oder sogar die unbelebte Materie moralisch irrelevant wären, ganz im Gegenteil. Aber um abzuschätzen, was wir uns und dem Rest der von uns berührten Wirklichkeit schulden, müssen wir uns den Fragen stellen, wer wir eigentlich sind und wer wir im Angesicht der Wahrheit über uns künftig sein wollen.7

Leider ist es sehr schwierig, genau genommen sogar unmöglich, von einem neutralen Standpunkt aus zu bestimmen, wer der Mensch ist. Denn jede Bestimmung des Menschen ist eine Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung kann nicht einfach nur Naturtatsachen benennen, weil der Mensch ein geistiges Lebewesen ist. Geist ist das Vermögen, ein Leben im Licht einer Vorstellung davon zu führen, wer der Mensch ist. Konkret äußert sich dies darin, dass wir uns ein Bild über unser eigenes Leben machen, in dem wir uns ausmalen, unter welchen Bedingungen wir es für gelungen halten. Dabei wollen wir alle glücklich sein, ohne dass wir allgemeingültig sagen können, was Glück denn eigentlich ist. Philosophisch gesehen, ist Glück nichts anderes als die Bezeichnung für ein gelingendes Leben, wofür es keine allgemeingültigen Standards gibt, die sich in einem Katalog auflisten lassen. Wir können bestenfalls angeben, welche Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Glückssuche gelten können, das sind nämlich die Menschenrechte.

In der heutigen Zeit steht jedoch der Begriff des Menschen auf dem Spiel. Das digitale Zeitalter führt dazu, dass das vormalige Privileg des Menschen, auf intelligente Weise Probleme zu lösen, inzwischen in vielen Bereichen besser von Maschinen ausgeübt wird, die wiederum von Menschen gebaut wurden, um das Leben und Überleben zu vereinfachen.

Seit seiner ersten großen Phase in Athen, wo es zeitgleich mit der ersten Demokratie ausgebildet wurde, ist es eine zentrale Aufgabe des philosophischen Denkens, die Verwirrungen auf dem Marktplatz der Ideen zu entlarven. Der heutige Marktplatz der Ideen ist das Internet als zentrales Medium des digitalen Zeitalters. Der Slogan dieses Buchs lautet deshalb: Bedenken first, digital second. Das ist eine auf unsere Zeit zugeschnittene Fassung von Kants berühmtem Wahlspruch der Aufklärung: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« In Zeiten globaler Propagandasysteme, die unser digital vernetztes Denken im Minutentakt der Eilmeldungen und Posts in Verwirrung und Aufruhr versetzen, tut dies dringend not.

Die ersteHauptthese des Buchs besagt, dass unser menschliches Denken ein Sinn ist, so wie unser Hören, Fühlen, Schmecken, unser Gleichgewichtssinn und vieles mehr, was heute zum sensorischen System des Menschen zählt. Diese Hauptthese wird gegen die heute weitverbreitete Vorstellung mobilisiert, dass unser Denken ein Vorgang der Informationsverarbeitung ist, der sich im Wesentlichen in Silizium oder irgendeiner anderen nicht lebendigen Materie nachbauen lässt. Kurzum: Computer denken letztlich ebenso wenig wie die guten alten Aktenordner unserer analogen Bürokratie. Programme sind schlicht Systeme der Datenverwaltung, die wir verwenden können, um Probleme zu lösen, die wir ohne ihre Hilfe niemals so schnell bewältigen könnten: Flüge buchen, Gleichungen lösen, fremde Sprachen (mehr oder weniger akzeptabel) übersetzen, Bücher schreiben oder E-Mails versenden.

Gleichzeitig werde ich dafür argumentieren, dass unsere menschliche Intelligenz selber ein Fall künstlicher Intelligenz ist. Das menschliche Denken ist kein naturgegebener Vorgang, der sich ohne geistigen Anteil verstehen lässt, so wie es die Prozesse in der Sonne, das Kreisen des Mondes um die Erde, die Ausdehnung des Universums oder Sandstürme sind. Alles, was einen geistigen Anteil hat, ist von menschlichen Lebewesen hervorgebracht.

Der Mensch ist dasjenige Lebewesen, das sich dieses Umstands bewusst ist und daher sein Leben an der Tatsache ausrichtet, gezielt in die Lebensbedingungen eingreifen zu können. Deswegen verfügen Menschen über eine ausgefeilte Technik, ein System der Verbesserung und Vereinfachung der Lebensumstände. Der Mensch ist in seinem Selbstverständnis mit der Technik vernetzt. Die tiefe Wurzel dieser Vernetzung geht meiner Ansicht nach darauf zurück, dass wir Produzenten unserer eigenen Intelligenz sind. Die Art und Weise, wie wir denken, wird durch sozioökonomische Rahmenbedingungen geprägt, die sich in Hochkulturen seit Jahrtausenden entwickelt und stets verändert haben. So entsteht eine künstliche Intelligenz: unser Geist.8 Unser Geist, das heißt unsere Selbstbestimmung als Menschen, wurde vor Jahrtausenden zum ersten Mal in der Form der Schrift niedergelegt. Vorher wurden Möglichkeiten der Selbstbestimmung in anderen Medien (wie mündlicher Rede, Kunstwerken, Ritualen) überliefert. Diese Überlieferung prägt uns, weil sie uns mit der Frage konfrontiert, wer wir künftig sein wollen.

Das menschliche Leben kreist seit Jahrtausenden um die Frage, wer oder was der Mensch eigentlich ist. Eine der ältesten bekannten Antworten lautet, dass der Mensch das vernunftbegabte Lebewesen sei. Von Aristoteles stammt die entsprechende Formel vom Menschen als zôon logon echon, dem Lebewesen, das, je nach Übersetzung und Verständnis, über Sprache, Denken oder auch Vernunft verfügt.

Doch genau dieses vermeintliche Privileg und Auszeichnungsmerkmal steht im digitalen Zeitalter auf dem Spiel. Der in Oxford lehrende italienische Philosoph Luciano Floridi (*1964) geht so weit, in der künstlichen Intelligenz unserer Tage eine tiefe Kränkung des Menschen zu sehen, gleichrangig mit den großen Revolutionen im Welt- und Menschenbild wie dem heliozentrischen Weltbild, Darwins Evolutionstheorie und Freuds Erkundung des Unbewussten.9

In der Tat ist es längst so, dass Computer, die wir dauernd mit uns herumtragen – wie zum Beispiel Smartphones, Smartwatches und Tablets – heute die allermeisten Menschen in simulierten Situationen an Intelligenz weit übertreffen. Programme spielen besser Schach als Menschen, schlagen uns auch in Go und anderen guten alten Atari-Spielen. Sie sind bessere Reisebüros, durchsuchen in Windeseile das gesamte Internet, kennen die Temperatur an allen Ecken und Enden unseres Planeten, sie finden in gigantischen Datensätzen Muster, die keinem Menschen in so kurzer Zeit jemals auffallen könnten, und sie führen mathematische Beweise, die nachträglich von den besten menschlichen Mathematikern nur mit Mühe und Not nachvollzogen werden können.

Angesichts dieser Fortschritte spekulieren Wissenschaftler, Futurologen, Philosophen und Politiker darüber, wie lange es noch dauern wird, ehe die Infosphäre, wie Floridi unsere digitale Umgebung nennt, eine Art planetarisches Bewusstsein erlangt und sich von der Abhängigkeit vom Menschen befreit. Die einen befürchten, dass in nicht allzu ferner Zukunft ein digitaler Super-GAU eintritt, der als Singularität oder auch als Superintelligenz bezeichnet wird. Diese Position wird insbesondere von Raymond Kurzweil (*1948) erwogen, der damit Pioniere der K.I.-Forschung wie Marvin Minsky (1927–2016) beerbt. Berühmte Persönlichkeiten wie Bill Gates (*1955) und Stephen Hawking (1942–2018) warnten davor, dass es bald zu einer Intelligenzexplosion kommen dürfte, in der die intelligenten Maschinen die Regie übernehmen und die Menschheit ausrotten könnten.

Die anderen halten dies für Humbug und erklären, dass die Infosphäre genauso intelligent ist wie unsere Schuhe. Der US-amerikanische Philosoph John Rogers Searle (*1932) argumentiert als einer der Pioniere der Philosophie der künstlichen Intelligenz seit Jahr und Tag dafür, dass von Menschen hergestellte Computer nicht wirklich denken können und dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemals Bewusstsein erlangen werden, exakt null Prozent beträgt.

Die Wahrheit liegt sicherlich irgendwo in der Mitte. Die Infosphäre und die digitale Revolution führen weder in eine dystopische Zukunft, wie sie in den Terminator-Filmen oder Romanen wie Michel Houellebecqs Die Möglichkeit einer Insel ausgemalt wird. Noch führt der jüngste Beschleunigungsschub des technologischen Fortschritts zur Lösung aller Menschheitsprobleme, wie etwa Frank Thelen (*1975) in einem Dialog mit mir im Philosophie Magazin hofft.10 Die Wasser- und Hungerprobleme der Menschheit werden nicht durch bessere Algorithmen und schnellere Computer beseitigt. Umgekehrt trägt der technologische Fortschritt der Digitalindustrie, also höhere Rechenleistungen durch effizientere Hardware, zum Wasser- und Hungerproblem bei – schon deswegen, weil wir unsere Smartphones und Tablets viel zu schnell entsorgen, damit wieder neue verkauft werden können, sobald die Rechenleistung sich wieder einmal erhöht hat. Die Computer lösen unsere moralischen Probleme nicht, sie verschärfen sie vielmehr. Denn wir bauen seltene Erden in ärmeren Weltregionen ab, um Smartphones herzustellen, verwenden Plastik für unsere Hardware und verschwenden Unmengen an Energie zur Aufrechterhaltung der digitalen Wirklichkeit. Jeder Klick und jede E-Mail verbraucht Energie, was uns nur nicht direkt auffällt. Dies macht die Sache aber nicht besser.

Zwar können durch technologischen Fortschritt die Medizin und die Lebensbedingungen in Industriegesellschaften rasch verbessert werden. Als Kollateralschäden der Digitalisierung unserer Infrastrukturen erleben wir jedoch andererseits längst Cyberkriege, Fake News, groß angelegte Cyberattacken auf digitale Infrastrukturen und die sozialen Entfremdungsphänomene aufgrund der dauernden Erreichbarkeit sowie der neuen Öffentlichkeiten in den sozialen Medien. Ganz zu schweigen von den offensichtlich sehr realen Vorgängen wie Abhörskandalen (in der Obama-Ära); Twitter-Propaganda (in der Trump-Ära); Wahlbots, die die Demokratie unterminieren; im Internet vorbereiteten Terroranschlägen; einem weitreichenden chinesischen Überwachungsapparat, der in der Volksrepublik eingesetzt wird, um soziales Verhalten online zu messen und zu sanktionieren; und vieles dergleichen mehr.

Um das Begriffsknäuel zu entwirren, gehe ich im Folgenden zunächst von zwei anthropologischen Hauptsätzen aus, die uns immer wieder begegnen werden. Der erste anthropologische Hauptsatz lautet: Der Mensch ist das Tier, das keines sein will. Dieser Hauptsatz erklärt die heute gängige Verwirrung, die unter dem Dach des Posthumanismus und des Transhumanismus um sich greift. Beide Bewegungen bauen auf der Verabschiedung des Menschen und der Begrüßung des Cyborg auf, der aus animalisch-menschlichen und technischen Anteilen besteht.

Post- und Transhumanismus, die heutzutage insbesondere in Kalifornien verbreitet sind, meinen, der Mensch ließe sich überwinden. An die Stelle des Menschen tritt also der gute alte Übermensch, den Friedrich Nietzsche (1844–1900) als Erster beschworen hat. Es ist kein Zufall, dass die US-amerikanische Technologie und Forschung sich dem Übermenschen verschreibt, wo doch Superman wie andere Superhelden fest zum Bestand der Popkultur gehören, die durch Hollywood verbreitet wird und suggeriert, dass es möglich sei, unsere irdischen Fesseln als Normalsterbliche abzustreifen und zu einer unendlich besseren Zukunft aufzubrechen.

In diesem Zusammenhang hat schon der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard (1929–2007) an das Gerücht erinnert, dass sich Walt Disney höchstpersönlich habe einfrieren lassen, um sich in einer fernen technologisch avancierten Zukunft von den Toten wieder auferwecken zu lassen.11 Eines der Hauptprobleme von Tieren ist nämlich, dass sie sterblich sind. Alles, was sterbliche Lebewesen tun, dreht sich fundamental um Leben und Tod, wobei wir das Leben meistens gut und den Tod meistens schlecht finden. Seit Langem wird die Technik mit der Fantasie verbunden, den Tod auf Erden zu überwinden. Heutzutage macht sich dieser (pathologische) Wunsch danach, unsere Animalität endlich abzustreifen und zu einem Inforg zu werden, einem Cyborg, der nur aus digitalen Informationen besteht, auf allen Ebenen breit.

Wenn wir uns in Informationen über uns selber auflösen, scheint es möglich zu werden, unseren Geist auf eine verbesserte Hardware aufzuspielen. Diese Idee wird derzeit drastisch in der brillanten US-amerikanischen Fernsehserie Westworld inszeniert. In dieser wird ein futuristischer Themenpark namens Westworld vorgeführt, in dem Menschen und von Menschen ununterscheidbare Roboter aufeinandertreffen. Die Menschen können dies ganz zu ihrem Vergnügen nutzen. In der zweiten Staffel (Spoiler alert!) stellt sich heraus, dass die Firma, die den Themenpark betreibt, aus dem Verhalten der Besucher Verhaltensdaten ableitet, um auf diese Weise ihre Roboter zu perfektionieren. Hinter diesem ganzen Unternehmen steckt der auf einen Server hochgeladene Geist eines der Schöpfer von Westworld, der plant, einen der perfekten Roboterkörper zu beziehen und damit Inforg und Cyborg zu verschmelzen.

Diese ganze Fantasie lässt sich allerdings niemals wirklich realisieren. Gegen diese Wirklichkeitsflucht plädiere ich daher für einen aufgeklärten Humanismus. Der aufgeklärte Humanismus beruht auf einem Menschenbild, das von vornherein keine Zweifel daran lässt, dass alle, ob Ausländer, Inländer, Freunde, Nachbarn, Frauen, Kinder, Männer, Komatöse oder Transsexuelle, im Vollsinn als Menschen gelten. Das ist deswegen notwendig zu betonen, weil die klassischen humanistischen Positionen, die in der Neuzeit und hier vor allem seit der Renaissance entwickelt wurden, üblicherweise weiße, europäische, erwachsene, politisch wichtige und wohlhabende Männer implizit oder sogar explizit als Standard des Menschseins angesehen haben. Sogar Kants Schriften sind leider voller rassistischer und misogyner Annahmen, weshalb er Menschen, die ihm zutiefst fremd waren, wie die Einwohner der südlichen Hemisphäre, geradezu das Menschsein abspricht, indem er etwa die Rasse der »Neger« ausdrücklich aus »dem starken Wuchs der Tiere« erklärt.12 Doch Kant ist eben keineswegs nur ein berühmter Rassist, sondern vor allem ein Theoretiker der universalen Menschenwürde, was die Frage aufwirft, wie er beides miteinander in einer Person vereinbaren konnte.

Der zweite anthropologische Hauptsatz besagt, dass der Mensch ein freies geistiges Lebewesen ist. Das bedeutet, dass wir Menschen uns dadurch verändern können, dass wir unser Menschenbild modifizieren. Unsere geistige Freiheit besteht darin, dass die menschliche Lebensform sich selber bestimmt. Wir definieren unser Menschsein und entdecken dann auf dieser Basis moralische Werte, an denen wir unser Handeln orientieren.

Das heißt nicht, dass Menschen immer oder auch nur sehr wahrscheinlich so handeln, wie ihre Werte es vorschreiben. Freiheit heißt gerade, so oder so – moralisch oder unmoralisch – handeln zu können. Unsere geistige Freiheit bedeutet aber auch, dass wir überhaupt nichts tun können, ohne unser Verhalten zu normieren und Richtungen vorzugeben. Der letzte Horizont unserer Selbstbestimmung, der oberste Wert, wird dabei in der Moderne durch die Auffassung vom Menschen vorgegeben. Der oberste Wert wird nicht mehr außerhalb des Menschen in einer göttlichen Sphäre gesucht, sondern in uns selber. Das heißt nicht, dass uns eine Stimme des Gewissens steuert, sondern vielmehr, dass wir uns selber dadurch steuern und kontrollieren können, dass wir anerkennen, dass wir alle Menschen sind. Auf diese Weise orientiert sich die Moderne am Menschen als Träger der Vernunft und erkennt in letzter Konsequenz natürlich auch den Wert nicht menschlichen tierischen Lebens an. Der aufgeklärte Humanismus fordert deswegen auch die Anerkennung von Tierrechten und die Pflege der Umwelt zur Beförderung der Lebensbedingungen von Menschen und anderen Tieren auf unserem Planeten.

Genau das liegt übrigens schon im Ausdruck homo sapiens, der von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) in seinem Systema Naturae eingeführt wurde. Diesem zufolge ist der Mensch im Unterschied zu allen anderen Lebensformen dasjenige Lebewesen, an das sich die Forderung richtet: »Nosce te ipsum, kenne dich selbst«13. Weisheit (sapientia) ist das Vermögen, sich selber zu bestimmen. Das Problem ist, dass Weisheit nicht automatisch bedeutet, dass man auch das Richtige tut. Deswegen bezeichnet das altgriechische Orakel von Delphi, dem dieser Spruch zugerechnet wird, den Linné zitiert, Sokrates als den weisesten aller Menschen.14 Denn Sokrates hat die Struktur der Aufforderung verstanden und ist damit wirklich weise: Die Antwort darauf, was der Mensch ist, wird nicht durch Hinweis auf irgendeine von Gott beziehungsweise den Göttern oder dem Kosmos vorgegebene Norm festgelegt, sondern allein dadurch, wie wir uns selber bestimmen. Wir sind zur Freiheit verdammt, wie Jean-Paul Sartre (1905–1980) mit einer etwas irreführenden Formel gesagt hat.15

Dieses Buch ist daher ein Akt der Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung des Menschen wird auf zwei Ebenen vorgenommen. Auf der einen Ebene geht es darum, dass Menschen – ob wir es wollen oder nicht – Lebewesen, Tiere einer bestimmten Art sind. Nur so sind wir überhaupt imstande, die Wirklichkeit zu erkennen. Erkenntnis ist kein Vorgang im luftleeren Raum, sondern an unaufhebbar biologische Parameter gebunden. Wir sind weder Götter noch Engel noch Computerprogramme, die auf der Wetware, der feuchten Materie unseres Nervensystems aufgespielt sind. Auf einer anderen Ebene sind wir aber nicht nur Tiere einer bestimmten Art. Denn im Unterschied zu den »spätesten vormenschlichen Säugetieren der Evolution«, so Durs Grünbein, sind wir keine »Lebewesen auf halbem Wege zwischen der Menschheit und dem Rest des Zoos«16. Als geistige Lebewesen, bei denen der Sinn des Denkens durch Reflexion und Sprache besonders ausgebildet ist, stehen wir Menschen in Kontakt mit unendlich vielen geistigen Wirklichkeiten.

Wie der US-amerikanische Philosoph Saul Aaron Kripke (*1940) zu Recht bemerkt, sollte die Wirklichkeit nicht mit dem »riesigen verstreuten Objekt […], das uns umgibt«,17 verwechselt werden. Die Wirklichkeit, die wir erkennen, ist ganz und gar nicht identisch mit dem materiell-energetischen Gesamtsystem des Universums. Wirklich ist dasjenige, worüber wir uns täuschen, und was wir genau deswegen auch so erfassen können, wie es nun einmal ist. Unser Denken gehört zur Wirklichkeit, es ist selber etwas Wirkliches – genauso wie unsere Gefühle, Einhörner (in Filmen wie Das letzte Einhorn), Hexen (beim Karneval und in Johann Wolfgang von Goethes Faust), Bauchschmerzen, Napoleon, Kloschüsseln, Microsoft und die Zukunft. Darum ging es ausführlich in meinem Buch Warum es die Welt nicht gibt.

Wir erleben aufgrund der Globalisierung der Warenproduktion und der digitalen Vernetzung unserer Nachrichtendienste einen gefährlichen ideologischen Schub. Unter einer Ideologie verstehe ich im Allgemeinen eine verzerrte Auffassung des Menschen, die eine sozioökonomische Funktion erfüllt, in der Regel die implizite Rechtfertigung der letztlich ungerechten Verteilung von Ressourcen. Uns wird heute alle naselang weisgemacht, dass die Wirklichkeit ganz anders sein könnte, als wir meinen. Dies wird dann mit den politischen Slogans eines »postfaktischen Zeitalters«, von Fake News und alternativen Tatsachen bis hin zu post-truth unterfüttert.

Auf diese Weise sind wir im Zeitalter der schönen neuen Metaphysik angelangt. Die Metaphysik ist hierbei eine Theorie der Wirklichkeit im Ganzen, die zwischen einer wirklichen Welt (dem Sein) und dem Schein und Trug unterscheidet, dem wir Menschen angeblich verfallen. Unser Zeitalter ist durch und durch metaphysisch. Es baut auf der Illusion auf, dass unser gesamtes Leben in seinen wichtigsten Facetten eine Illusion ist, die wir schwer oder gar nicht durchschauen können.

Doch diese Illusion, dass die Wirklichkeit eine Illusion ist, lenkt davon ab, was wirklich geschieht: Die digitale Revolution der letzten Jahrzehnte ist eine Konsequenz der modernen Wissensgesellschaft. Im Zeitalter der Aufklärung stand noch die Verbindung aller Formen des Wissens im Vordergrund, mit dem Ziel einer »Erziehung des Menschengeschlechts«18. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich dann mit dem Positivismus die Lehre durch, dass alle relevanten menschlichen geistigen Errungenschaften lediglich in den Technologie- und Naturwissenschaften erzielt werden können und sollen. Die tonangebende Metaphysik ist deswegen heute der Materialismus. Damit meine ich sowohl die Lehre, dass alles, was existiert, aus Materie besteht, als auch die ethische Auffassung, dass der Sinn unseres menschlichen Lebens letztlich in der Anhäufung von Waren (Autos, Häuser, Sexual- oder Lebensabschnittspartner, Smartphones) und deren genussvoller Vernichtung (Verbrennung fossiler Brennstoffe, prunkvoller Luxus, Sternerestaurants) besteht.

Soziopolitisch entspricht dem Materialismus die Vorstellung, dass eine Regierung primär wirtschaftliche Leitvorgaben erarbeitet, um materielle Ressourcen besser zu verteilen, damit möglichst alle Bürger in den Genuss der Verschwendung kommen. Dadurch wird dann wiederum die Aufrechterhaltung unseres materialistischen Menschenbilds begünstigt.

Die digitale Revolution ist eng mit den Überwachungsapparaten der Moderne verknüpft. Bekanntlich entsprang sie militärischen Forschungsprojekten im Kalten Krieg, was die Fernsehserie The Americans sinnfällig nacherzählt. Die großen Internetkonzerne unserer Tage sind Werbeplattformen, durch welche die traditionelle Medienlandschaft der Moderne unter Druck gerät, weil sie die Aufmerksamkeit des lesenden Publikums nur noch durch starke Kommentare und Skandale an sich fesseln kann.

Hier geht es allerdings nicht so sehr um eine soziologische Beschreibung, sondern um die philosophische Bearbeitung der Denkfehler, die der heutigen materialistischen Ideologie zugrunde liegen. Insbesondere beschäftigen wir uns mit dem eigenen Denken. Eine Ideologie ist eine Art geistiger Virus, der durch die Blutbahn der Gedanken kreist und zunächst unauffällig hier und dort die Grundlagen der Gesundheit angreift, bis er einen schließlich überwältigt. Um eine Formulierung Peter Sloterdijks (*1947) aufzugreifen, werde ich sozusagen an einem Ko-Immunismus arbeiten, also an der Verbesserung unseres geistigen Immunsystems.19 Wir müssen uns gegen die falsche Vorstellung impfen, dass wir die Wahrheit nicht erkennen können und dass es die Wirklichkeit im Internetzeitalter womöglich gar nicht mehr gibt.

Deshalb begeben wir uns in diesem Buch denkerisch in die Höhle des Löwen: das Zeitalter der Reality Shows und der fortschreitenden Internetgesellschaft. Die Aufgabe besteht darin, einen Sinn für unser eigenes Denken wiederzugewinnen, der vor dem Irrtum schützt, dass wir kurz davorstehen, den Menschen abzuschaffen und in ein paradiesisches Zeitalter der totalen Digitalisierung einzutreten.

Die erste Hauptthese ist wie gesagt, dass unser Denken ein Sinn ist. Wir haben neben den heute bekannten Sinnesmodalitäten – zu denen das Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken und Riechen, aber auch der Gleichgewichtssinn und einige andere zählen – auch noch einen Sinn des Denkens. Diese These werde ich zur Nooskopthese ausbauen: Unser Denken ist demnach ein Sinn, mittels dessen wir das Unendliche ausspähen und unter anderem mathematisch darstellen können. Unser Denken ist also nicht wie die anderen Sinne begrenzt und auf unsere nähere Umgebung eingeschränkt, sondern kann sich – etwa in der Form der Quantenmechanik – sogar auf andere Universen beziehen beziehungsweise die mathematische Grundstruktur unseres Univerums in der Sprache der theoretischen Physik erfassen. Unser Nooskop überschreitet deswegen auch die körperliche Wirklichkeit und verbindet uns mit dem Unendlichen.

Diese Hauptthese richtet sich gegen die gängige Vorstellung, unser mentaler Apparat bestehe lediglich aus Perzeptionen und Kognitionen, also zum einen aus Zuständen, welche die Außenwelt in uns auslöst, und zum anderen aus Zuständen, die durch die interne Verknüpfung von Perzeptionen entstehen. Es stimmt letztlich nicht, dass eine von unserem Bewusstsein unabhängige Außenwelt unsere Nervenenden kitzelt, woraufhin interne Prozesse einsetzen, an deren Ende ein Bild steht, das mit der Außenwelt nichts weiter zu tun hat. Unser geistiges Leben ist keine Halluzination, die unterhalb unserer Schädeldecke entsteht. Vielmehr stehen wir kraft unseres Denksinns in Kontakt mit weitaus mehr Wirklichkeiten, als wir auf den ersten Blick meinen könnten.

In diesem Buch wird der Grundirrtum der neuzeitlichen Erkenntnistheorie aus dem Weg geräumt: die Subjekt-Objekt-Spaltung. Diese besteht in der falschen Auffassung, dass wir als denkende Subjekte einer Wirklichkeit gegenüberstehen, in die wir nicht eingepasst sind. Deswegen macht sich in der Moderne der Eindruck breit, wir könnten die Wirklichkeit entweder gar nicht oder jedenfalls niemals auch nur annähernd so erkennen, wie sie an sich ist. Wir stehen als denkende und wahrnehmende Lebewesen aber nicht einer von uns abgetrennten Wirklichkeit gegenüber. Subjekt und Objekt sind nicht entgegengesetzte Teile eines übergeordneten Ganzen. Vielmehr sind wir Teil der Wirklichkeit, und unsere Sinne sind Medien, die Kontakt herstellen zwischen Wirklichem, das wir selber sind, und Wirklichem, das wir nicht selber sind. Diese Medien verzerren nicht etwa eine von ihnen unabhängige Wirklichkeit. Sie sind vielmehr selber etwas Wirkliches, Schnittstellen eben. Beim Denken handelt es sich deshalb wie bei unseren anderen Sinnen auch um eine Schnittstelle.

Schnittstellen ermöglichen die Kommunikation über verschiedene Sinnfelder hinweg. Nehmen wir als Beispiel unsere Seherlebnisse. Ich sehe gerade eine Berlusconi-Voodoo-Puppe, die ich in einem portugiesischen Museumsshop gekauft habe. Ich sehe diese Puppe von meinem Standpunkt aus. Diesen Standpunkt könnte ich nicht einnehmen, wenn ich kein intaktes Gehirn hätte, wenn ich gerade schliefe, wenn ich mich nicht mehr an die Puppe erinnerte. Zu meinem Standpunkt gehört aber auch die Tatsache, dass ich die Puppe überhaupt wiedererkennen kann. Die reale Anwesenheit der Voodoo-Puppe ist dabei genauso wesentlich für meinen geistigen Zustand der Wahrnehmung wie mein Gehirn.

Ich nehme in Farbe wahr. Die mir bewusst verfügbare Farbpalette besitze ich nur deshalb, weil ich ein Lebewesen bin, dessen Farbrezeptoren über Jahrmillionen im Rahmen der Evolution ausgewählt wurden. Der menschliche Gesichtssinn, auch Sehsinn genannt, ist eine Schnittstelle, die eine Kommunikation zwischen den Feldern der Physik, in denen bestimmte Strahlungen untersucht werden können, und dem Feld meines bewussten Lebens ermöglicht, in dem ich Voodoo-Puppen kaufen und bewusst sehen kann. Unser Gesichtssinn sowie unser subjektiver Standpunkt sind dabei um keinen Deut weniger wirklich als die beteiligte Strahlung, die Voodoo-Puppe und die Elementarteilchen, ohne die es diese Voodoo-Puppe nicht geben könnte.

Dasselbe gilt für unser Denken, wie wir sehen werden. Denken ist eine wirkliche Schnittstelle, die uns teilweise mit nicht materiellen Wirklichkeiten – Zahlen, Gerechtigkeit, Liebe, Bundestagswahlen, dem Kunstschönen, Wahrheit, Tatsachen und vielem mehr – in Verbindung setzt. Das Denken steht aber auch in direktem Kontakt mit materiell-energetischen Systemen, weshalb wir auch über diese nachdenken können.

Eine weitere These in diesem Zusammenhang ist, dass dasjenige, was wir denken (also unsere Gedanken), nichts Materielles ist. Die Behauptung, dass es nicht nur ein materiell-energetisches System, den physikalischen Kosmos, gibt, nenne ich Immaterialismus. Denken ist das Fassen von Gedanken. Gedanken sind weder Hirnzustände noch irgendeine Form der Informationsverarbeitung, die man physikalisch messen könnte. Dennoch können Menschen keine Gedanken haben, ohne lebendig zu sein und sich in Hirnzuständen oder allgemeiner in körperlichen Zuständen zu befinden.

Die Kombination der aufgestellten Thesen führt zur zweiten Hauptthese, dem biologischen Externalismus. Der biologische Externalismus behauptet, dass die Ausdrücke, mittels derer wir unsere Denkvorgänge beschreiben und erfassen, sich wesentlich auf etwas beziehen, das biologisch ist (siehe S. 198 ff.). Daraus werde ich schließen, dass es keine echte künstliche Intelligenz im landläufigen Sinne geben kann. Unsere modernen Datenverarbeitungssysteme, zu denen natürlich das omnipräsente Internet gehört, denken nicht wirklich, denn sie haben kein Bewusstsein. Das macht sie jedoch nicht weniger gefährlich und die Debatte über Digitalisierung nicht weniger dringlich.

Wir müssen den Sinn des Denkens zurückgewinnen und gegen die irrige Vorstellung verteidigen, unser Denken sei ein Vorgang der Berechnung, der unterhalb unserer Schädeldecke vom Hirncomputer vorgenommen wird – ein Vorgang, den man im Prinzip exakt nachbauen und simulieren könnte. Die Simulationen des Denkens sind selber ebenso wenig ein Denken, wie eine Michelin-Karte Frankreichs identisch ist mit dem Gebiet, das sie abbildet (siehe S. 91 ff.). Dennoch ist das, was wir künstliche Intelligenz nennen, durchaus wirklich. Es ist nur nicht intelligent und genau deswegen gefährlich.

Eine bisher unterschätzte Gefahrenquelle der Digitalisierung besteht darin, dass wir unser Selbstverständnis als Menschen an einem irreführenden Denkmodell ausrichten. Denn indem wir meinen, dass die fortgeschrittene Datentechnologie automatisch den Denkraum des Menschen erobert, machen wir uns ein falsches Bild von uns selbst. Auf diese Weise greifen wir den Kern unseres Menschseins an.

Zu jeder Epoche, in der neue technologische Durchbrüche der Menschheit erzielt wurden, verbreitete sich die Vorstellung, die Artefakte könnten die Regie übernehmen. Animismus ist der Glaube an die Allbeseeltheit der Natur; heutzutage wird dieser Glaube auch Panpsychismus genannt. Die künstliche Intelligenz jedoch ist keine externe, sondern eine interne Attacke auf den Menschen. Denn nicht unsere Artefakte, sondern wir greifen uns selber an, weil wir uns ein falsches, animistisches Bild von ihnen machen.

Seit eh und je hält der Mensch sein eigenes Denken für etwas, das von außen kommt, das ihm gegeben wurde von Göttern, dem einen Gott oder wie in Filmen des Genres 2001: A Space Odyssey (1968, Stanley Kubrick) womöglich von Außerirdischen (beziehungsweise plumper Prometheus [2012, Ridley Scott], wo eindeutig Außerirdische als unsere Schöpfer gezeigt werden). Deswegen fällt es uns aufgrund langer kulturhistorischer Einübung leicht, uns einzubilden, dass die eigenen Denkvorgänge sich auch in nicht lebendigen Systemen finden. Dies ist aber ein Aberglaube, den wir überwinden müssen. Viele wären eher bereit, einem Smartphone Intelligenz zuzusprechen als einem Oktopus oder einer Taube. Doch das ist ein Fehler, der übrigens fatale moralische Konsequenzen hat – für den Menschen, die anderen Lebewesen und unsere Umwelt. Es ist also dringend an der Zeit, wieder auf eine realistische, nicht durch Science-Fiction irregeleitete Weise den Kontakt zu unserem menschlichen, allzu menschlichen Sinn des Denkens wiederherzustellen.

Anmerkungen zum Kapitel

5. Ich gebrauche der Einfachheit des Ausdrucks halber im Haupttext das generische grammatische Maskulinum wie Mensch, Wissenschaftler, Philosoph oder Leser. Damit soll keineswegs suggeriert werden, dass ein Teil des lesenden und schreibenden Publikums die Menschheit paradigmatisch repräsentiert. Kinder, Komatöse, Transsexuelle, Frauen, Männer, Parteifunktionäre, Christen, Moslems, Schwarze, Weiße, Braungebrannte, Blonde, Greise und Rothaarige repräsentieren die Menschheit alle mit dem gleichen Recht, wenn auch nicht alle mit all ihren Meinungen recht haben. Der Mensch ist eben ein ziemlich bunter Vogel (ohne Federn).

6. Fett gedruckte Ausdrücke werden im Haupttext möglichst präzise definiert. Die Definitionen werden noch einmal gesammelt im Glossar aufgeführt, sodass Sie die wichtigsten Vokabeln, die ich einführe, transparent nachvollziehen können.

7. Die Frage danach, was wir uns schulden und was im Allgemeinen zutiefst von Bedeutung ist, steht im Zentrum von zwei der wichtigsten Positionen der gegenwärtigen philosophischen Ethik: derjenigen von Thomas M. Scanlon (*1944) einerseits sowie derjenigen von Derek Parfit (1942–2017) andererseits. Vgl. Scanlon 2000; Parfit 2011a, Parfit 2011b, Parfit 2016.

8. Vgl. dazu ausführlicher Gabriel 2017 und Gabriel 2018.

9. Floridi 2011, S. 3.

10. Gabriel/Thelen 2018, S. 58–65.

11. Baudrillard 1981, S. 52.

12. Vgl. Kant 1977c. Kant rechtfertigt dort unter anderem die Einführung von »Negern« als Sklaven, da die »roten Sklaven (Amerikaner)« »zur Feldarbeit zu schwach sind, als wozu man Neger braucht« (ebd., S. 22). Er meint, dass »alle Neger stinken«, und zwar nach »phosphorischen Sauren«, durch deren Einwirkung er die schwarze Haut erklärt. »Übrigens ist feuchte Wärme dem starken Wuchs der Tiere überhaupt beförderlich, und kurz, es entspringt der Neger, der seinem Klima wohl angemessen, nämlich stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist« (ebd., S. 23).

13. Linné 1773, S. 62. Vgl. dazu ausführlicher Gabriel 2015.

14. Vgl. dazu Platon 1986.

15. Sartre 1991, S. 764.

16. Grünbein 2017, S. 132.

17. Kripke 1993, S. 28.

18. Lessing 1980.

19. Sloterdijk 2012, S. 713.

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