Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung - Markus Gabriel - E-Book

Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung E-Book

Markus Gabriel

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Beschreibung

Unseren Kindern gehört die Zukunft? Was für ein zweifelhaftes Erbe, gemessen an dem geringen gesellschaftlichen Mitgestaltungsraum, den wir Erwachsene ihnen lassen! Aber warum ist das eigentlich so? Und wie können wir das ändern? In seinem berührenden Essay erforscht Markus Gabriel das kindliche Bewusstsein wie auch ihr Erleben von Zeit, das sich stark von unserem, erwachsenen unterscheidet. Er plädiert für ein Kinderwahlrecht und gegen jeglichen Adultismus, damit wir endlich anfangen, unsere Gesellschaft gemeinsam mit unseren Kindern – auf Augenhöhe – zu gestalten.

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MARKUS GABRIEL
Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung
Briefe an die kommenden Generationen
BAND 2
Liebe Kinder,
dieser Brief richtet sich an Euch alle, und er richtet sich auch an Eure Eltern. Er handelt vom kindlichen Bewusstsein, der Zeit, der Notwendigkeit eines Kinderwahlrechts und vom Adultismus (einer gesellschaftlich ausgrenzenden Haltung gegenüber Kindern aufgrund ihres geringen Alters und ihrer vermeintlichen Unreife), unter dem womöglich viele von Euch irgendwann einmal werden leiden müssen. Wir Erwachsene haben ihn in der einen oder anderen Form alle selbst erlebt und werden ihn leider niemals ganz los, denn wir sind alle jemandes Kinder. Wir übersehen oft, dass auch Erwachsene Kinder bleiben, wenn wir Kinder und Erwachsene nur anhand ihres Alters unterscheiden.
Auf die eine oder andere Weise unterschätzt jede Gesellschaft ihre Kinder. Das liegt letztlich daran, dass Menschen anders als manch andere Lebewesen überhaupt nur dann überleben können, wenn sie von in der Regel bereits älteren Menschen über Jahre gepflegt, ernährt und vor Gefahren geschützt werden. Menschen gäbe es nicht ohne andere Menschen, die ihre positiven wie negativen Lebenserfahrungen weitergeben. Kinder im Sinne von Menschen eines jungen Alters sind besonders schutzbedürftig und erscheinen daher auf den ersten Blick als schwach.
Allerdings sind Kinder zu den allergrößten denkbaren kognitiven und sonstigen Leistungen imstande. Obgleich kein Kind bereits eine Sprache beherrscht, wenn es zur Welt kommt, lernen die meisten ihre erste Sprache akzentfrei. Kinder lernen sehen, hören, sprechen, gehen, riechen, schmecken und vieles mehr, was wir uns aus der Perspektive unseres erwachsenen Bewusstseins nicht wirklich vorstellen können.
Deswegen ranken sich viele Legenden um das kindliche Bewusstsein, das bis heute nicht vollständig erforscht ist, wenngleich wir im Zuge des allgemeinen wissenschaftlichen Fortschritts inzwischen natürlich auch viel mehr über die verschiedensten Facetten des kindlichen Erlebens wissen als jemals zuvor.
Die meisten Erwachsenen bewerten das kindliche Erleben in der Regel vom Standpunkt des Erwachsenen aus. Für sie ist ein Kind unfertig, erziehungsbedürftig und jedenfalls auf dem Weg zu einem Ziel befindlich. Dieses Ziel sei ein erwachsenes, rationales, vernünftiges Leben und Erleben, ein Bewusstsein um die eigene Verantwortung als Teil der Gesellschaft und die Verinnerlichung der vielfältigen Normsysteme, ohne die ebenjene moderne, komplexe Gesellschaft nicht existieren könnte. Auf diese Weise entstehen selbst in einer fortschrittlichen Gesellschaft wie der unseren Vorannahmen über Kinder, unter deren Konsequenzen sie leiden. Und das, obwohl wir im Rahmen des liberalen demokratischen Rechtsstaats stets aktiv darum bemüht sind, unsere Gesellschaft inklusiv und integrativ zu gestalten.
Ein jüngeres Beispiel dafür sind die kontrovers diskutierten Schulschließungen in der Corona-Pandemie, die womöglich mehr gesundheitlichen (nicht nur psychischen) Schaden bei Kindern angerichtet als verhindert haben – ganz zu schweigen von den aus meiner Sicht falschen Absperrungen von Spielplätzen zu verschiedenen Phasen der Lockdowns, während Spaziergänge in kleinen Gruppen für Erwachsene in Deutschland nicht verboten waren.
Aber das Phänomen, auf das ich aufmerksam machen möchte, geht viel weiter. Es zeigt sich darin, dass unsere alltägliche Infrastruktur weitgehend auf Erwachsene zugeschnitten ist. Natürlich tun wir viel für unsere Kinder. Aber wir übersehen gleichzeitig allzu leicht den Eigenwert ihres Erlebens, das nicht nur auf das Erwachsenwerden hin ausgerichtet ist, sondern von dem wir vieles darüber lernen können, wie wir unsere Zukunft besser gestalten können.
Das hat Fridays for Future als Kinder- und Jugendbewegung eindrücklich bewiesen. Durch die Proteste ist unser aller Bewusstsein für die allzu realen Gefahren des menschengemachten Klimawandels drastisch gestiegen.
Eltern und andere Erziehungsberechtigte wissen aus eigener Erfahrung, wie viel man tagtäglich von Kindern lernen kann – über sich selbst und über familiäre Beziehungen, über den eigenen Geduldsfaden und die vielen scheinbar alltäglichen Dinge, die man schon längst gar nicht mehr bemerkt.
Das Erleben unserer Kinder scheint voller Mythen, Märchen und wilder Vorstellungen zu sein. Was wir jedoch leicht übersehen, ist, dass dies für unser erwachsenes Erleben ebenfalls gilt. Jede:r von uns hat irgendwelche abwegigen, vielleicht sogar abergläubischen Vorstellungen, und jedenfalls weiß keine:r von uns, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält«1. Das heutige naturwissenschaftliche Wissen etwa ist keineswegs abgeschlossen und bildet deswegen in Wahrheit kein geschlossenes Weltbild. Vielmehr wissen wir heute dank beeindruckender Fortschritte in den Naturwissenschaften, wie viel wir über unser Universum noch nicht wissen.2 Es gibt kein abgeschlossenes, allumfassendes, wissenschaftlich-erwachsenes Weltbild, das wir irgendwie an unsere Kinder weitergeben könnten. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Perspektiven auf die Wirklichkeit, von denen einige mehr Wahrheiten als andere enthalten. Es ist nicht alles irgendwie relativ, es gibt Tatsachen, die wir erkennen und verfehlen können. Aber zu diesen Tatsachen gehört auch das kindliche Erleben und damit der Umstand, dass unsere Gesellschaft dank der Präsenz der Kinder keineswegs so erwachsen ist, wie sie sich aus den Perspektiven der zu Recht besorgten Erwachsenen in unserer Krisenzeit darstellt.
Das Erleben unserer Kinder ist nicht weniger wert, sie sind nicht kindisch, sondern die Quelle unserer Werte. Auf der Grundlage dieser Überzeugung wirbt der folgende Brief dafür, unsere Kinder viel ernster zu nehmen, als dies gesamtgesellschaftlich und vor allem politisch üblich ist. Berücksichtigen wir die Kinder (und damit auch das Kind in uns), fällt unser Blick auf die düster scheinende Gegenwart und die vernebelte, dystopisch wirkende Zukunft anders aus und wir gelangen hoffentlich zu einer positiveren Haltung, die es uns erlaubt, die Zukunft wieder als etwas zu betrachten, das wir gestalten können, weil es noch nicht feststeht.
Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, wenn wir auch in der Gegenwart durch Antizipation möglicher Verläufe darüber nachdenken und gesellschaftlich diskutieren können, welche Zukünfte wahrscheinlich und wünschenswert sind.
Dieser Brief ist bis zu einem gewissen Grad persönlich. Ich schreibe ihn, weil ich selbst von meinen eigenen Kindern gelernt habe, die moralische Wirklichkeit anders zu sehen. Menschenwürde erlebt man in Extremsituationen der Geburt und des Sterbens besonders eindrücklich. Dann erkennt man nämlich, dass Menschen immer schon, von Geburt (genaugenommen natürlich bereits im Mutterleib) bis zum Tode, Menschen sind und stets die Quelle der Erkenntnis, dass wir einander als Menschen etwas schulden. Ihr Kinder (nicht nur meine eigenen) habt mich in meinem Leben zu einem moralischen Realisten gemacht, Ihr habt mich endgültig davon überzeugt, dass es objektiv existierende Werte, moralische Tatsachen gibt, die vorschreiben, was wir tun und unterlassen sollen, lediglich insofern wir Menschen sind. Unser geteiltes Menschsein ist der Grund dafür, dass wir Ansprüche darauf haben, in Gesellschaften zu leben, die auf Kooperation, wechselseitiger Unterstützung und auf der Anerkennung von Rechten und Pflichten beruhen, die wir schon dadurch haben, dass wir überhaupt Menschen sind.
Die moralischen Tatsachen beschränken sich freilich nicht auf Menschen. Wir haben auch gegenüber anderen Lebewesen moralische Verpflichtungen, die darin gründen, dass wir uns fragen können, wie wir andere Lebewesen und somit auch unser geteiltes Habitat, die Oberflächensphären von Planet Erde, behandeln sollen. Umwelt- und Tierethik gründen in unserem Menschsein und werden nicht dadurch vernachlässigt, dass wir unser geteiltes Menschsein zum Ausgangspunkt aller Ethik machen. Humanismus und Tierethik sind schließlich schon deshalb vereinbar, weil Menschen Tiere sind, wenn auch ziemlich besondere Tiere, namentlich solche, die zur Ethik und damit zur Erkenntnis moralischer Tatsachen befähigt sind.3
Zum Menschsein gehört das Kindsein: Jede:r ist jemandes Kind. Dieser Status ist unverlierbar. Man hört nicht auf, Kind zu sein, auch wenn man erwachsen ist oder keine Eltern (mehr) hat. Der sprichwörtliche Kindergarten, der gerne zitiert wird, wenn im erwachsenen Leben etwas nicht funktioniert, ist tatsächlich niemals vorbei, was aber kein Mangel, sondern Ausdruck der Tatsache ist, dass unsere moralischen, politischen, ästhetischen, wirtschaftlichen und sonstigen Normen immer wieder auf dem Spiel stehen, wie ernst es auch zugehen mag. Erinnern wir uns hierbei an Schillers bemerkenswerte Aussage: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«4
Es soll nicht bestritten werden, dass es einen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen gibt, der sich teilweise in Altersjahren messen lässt. Es geht auch nicht darum, das erwachsene Erleben schlechtzureden. Mein Ziel ist es vielmehr, auf die Präsenz der Kinder in allen Situationen aufmerksam zu machen, in denen wir uns befinden, da sie nicht nur neben uns existieren, sondern wir sie immer auch in uns tragen – als unsere eigene Kindheit, die uns als Eltern, Erziehungsberechtigte oder auch als Personen prägt, die mit Kindern nichts anfangen können. Es geht mir um die Gleichwertigkeit von Kindern und Erwachsenen, nicht darum, eine der Gruppen gegenüber der anderen auszuzeichnen. Denn wir sitzen im selben Boot, rudern und steuern es in Wirklichkeit gemeinsam.
Im Folgenden werde ich zunächst versuchen, mich in das Bewusstsein der Kinder hineinzuversetzen. Dabei folge ich den Überlegungen der US-amerikanischen Psychologin Alison Gopnik, die ein wegweisendes Buch über die philosophische Dimension des kindlichen Bewusstseins vorgelegt hat.5 Das kindliche Bewusstsein wird als Beleg dafür angeführt, dass wir keineswegs in einer säkularen Gesellschaft leben, die insgesamt rationalisiert ist und ohne metaphysische Glaubensannahmen auskommt. Unsere Gesellschaft ist viel pluraler, als wir sie uns aus unserer jeweiligen, eigenen gesellschaftlichen Position heraus ausmalen, was unsere Kinder eindrücklich beweisen. Sie eröffnen uns damit Zugang zu alternativen Sichtweisen und können uns toleranter sowie einsichtiger machen. Denn sie helfen uns, gesellschaftliche Zusammenhänge besser zu verstehen.