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Bevor das Sternbild des Skorpions die Gemüter des weiten Gebiets von London derart beschäftigte, daß die Straßenjugend der äußersten Vororte diese Figur der fernen südlichen Himmelshälfte an alle Mauern und Bretterwände kritzelte, ernste Männer sie mit wuchtiger Hand auf die geschwärzten Tische der Hafenkneipen und Schenken des Ostens malten, und die geschwätzigen Frauen von Convent Garden ihre Blumenstände damit schmückten, geschahen zunächst einige Dinge, die – zusammenhangslos, wie sie sich abspielten – im folgenden gleichfalls vorangeschickt seien. An einem nebelverhangenen Februartage waren in verschiedenen Stadtteilen Londons drei Briefe zugestellt worden, die ihren Empfängern ziemlich zu denken gaben. Die billigen farbigen Umschläge deuteten auf irgendeine belanglose geschäftliche Anzeige hin, aber der Eindruck täuschte, denn der Inhalt war ungewöhnlich und für jene, die er anging, wirklich bedeutsam. Die eine dieser Mitteilungen lautete: "Ich brauche Sie. Warten Sie nächsten Donnerstag Schlag elf Uhr abends an der Ecke Cattle Market – Market Road, und steigen Sie in den Wagen, der bei Ihnen halten wird; er wird Sie an einen Ort bringen, wo wir uns ungestört aussprechen können. Es liegt in Ihrem Interesse, dieser Einladung nachzukommen, denn sollten Sie dies nicht tun oder gar auf irgendeine Hinterhältigkeit verfallen, so würden Sie sich dadurch sehr ernste Unannehmlichkeiten bereiten. Ich erinnere Sie bloß an die gewissen drei Schließfächer. Es wäre aber eine völlig unnütze Bemühung, wenn Sie diese nun etwa rasch räumen wollten, denn erstens würde ich von allen Ihren Schritten erfahren, und zweitens habe ich vorläufig keine Veranlassung, Sie in Schwierigkeiten zu bringen. Falls Sie aber unsere Zusammenkunft vereiteln, werde ich allerdings dafür sorgen, daß Sie noch in derselben Nacht eine für Sie weit bedenklichere Unterredung zu bestehen haben werden …" Der Mann, an den diese Worte gerichtet waren, las sie mit einem Gemisch von schreckhafter …
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Bevor das Sternbild des Skorpions die Gemüter des weiten Gebiets von London derart beschäftigte, daß die Straßenjugend der äußersten Vororte diese Figur der fernen südlichen Himmelshälfte an alle Mauern und Bretterwände kritzelte, ernste Männer sie mit wuchtiger Hand auf die geschwärzten Tische der Hafenkneipen und Schenken des Ostens malten, und die geschwätzigen Frauen von Convent Garden ihre Blumenstände damit schmückten, geschahen zunächst einige Dinge, die – zusammenhangslos, wie sie sich abspielten – im folgenden gleichfalls vorangeschickt seien.
An einem nebelverhangenen Februartage waren in verschiedenen Stadtteilen Londons drei Briefe zugestellt worden, die ihren Empfängern ziemlich zu denken gaben. Die billigen farbigen Umschläge deuteten auf irgendeine belanglose geschäftliche Anzeige hin, aber der Eindruck täuschte, denn der Inhalt war ungewöhnlich und für jene, die er anging, wirklich bedeutsam.
Die eine dieser Mitteilungen lautete:
»Ich brauche Sie. Warten Sie nächsten Donnerstag Schlag elf Uhr abends an der Ecke Cattle Market – Market Road, und steigen Sie in den Wagen, der bei Ihnen halten wird; er wird Sie an einen Ort bringen, wo wir uns ungestört aussprechen können. Es liegt in Ihrem Interesse, dieser Einladung nachzukommen, denn sollten Sie dies nicht tun oder gar auf irgendeine Hinterhältigkeit verfallen, so würden Sie sich dadurch sehr ernste Unannehmlichkeiten bereiten. Ich erinnere Sie bloß an die gewissen drei Schließfächer. Es wäre aber eine völlig unnütze Bemühung, wenn Sie diese nun etwa rasch räumen wollten, denn erstens würde ich von allen Ihren Schritten erfahren, und zweitens habe ich vorläufig keine Veranlassung, Sie in Schwierigkeiten zu bringen. Falls Sie aber unsere Zusammenkunft vereiteln, werde ich allerdings dafür sorgen, daß Sie noch in derselben Nacht eine für Sie weit bedenklichere Unterredung zu bestehen haben werden …«
Der Mann, an den diese Worte gerichtet waren, las sie mit einem Gemisch von schreckhafter Bestürzung und ohnmächtiger Wut. Schreiben solcher Art waren ihm zwar nicht fremd, aber bisher waren sie immer von ihm selbst ausgegangen. Er hätte die Sache auch unbedingt als albernen Scherz aufgefaßt, wenn die fatale Andeutung von den drei Safes nicht gewesen wäre.
Wer davon Kenntnis hatte, dem war sicher noch mehr bekannt, und die Drohung mit der »weit bedenklicheren Unterredung« war daher verdammt ernst zu nehmen. Der Aufforderung einfach nachzukommen, wie der Brief es verlangte, war also vielleicht gefährlich, etwas dagegen zu unternehmen aber unter diesen Umständen ein noch größeres Wagnis. Schließlich hatte es ja schon viele Leute gegeben, die seine Dienste in Anspruch genommen hatten, nur der Ton paßte dem Manne nicht. Er war nicht gewohnt, daß man ihm so kam. Der andere mußte sich sehr stark fühlen, daß er dies wagte, obwohl er doch sicher genau wußte, mit wem er es zu tun hatte. Aber das Blatt würde sich vielleicht rasch wenden, wenn man erst eine Ahnung hatte, wer mit so gefährlichen Kenntnissen herumlief …
Diese Erwägungen ließen es dem besorgten Manne geraten scheinen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber er wollte doch einiges vorkehren, um nicht etwa in eine Falle zu tappen …
Bei dem Empfänger des zweiten, ähnlichen Briefes ließ der Schreck irgendwelche Bedenken überhaupt nicht erst aufkommen. Für ihn gab es kein langes Überlegen und keine Vorkehrungen, sondern er mußte einfach gehorchen, denn auch in seinen Zeilen fehlte es nicht an einer sehr ernsten Wendung.
»Ich weiß, daß Sie sich in großen Schwierigkeiten befinden«, hieß es darin, »weil Ihr bescheidenes Einkommen für Ihre Passionen nicht ausreicht. Frauenbekanntschaften sind sehr kostspielig. Ich finde es daher begreiflich, daß Sie gelegentlich verschiedenen Spielklubs kleine Gefälligkeiten erweisen, aber andere Leute dürften darüber viel engherziger denken, falls sie davon erführen. Wenn Sie das vermeiden wollen, warten Sie nächsten Donnerstag pünktlich um Mitternacht gegenüber der Maiden Lane Station, und steigen Sie in den Wagen, der vor Ihnen halten wird. Er wird Sie an einen Ort bringen, wo wir uns ungestört aussprechen können, was Ihnen nur Vorteile bringen wird …«
Am ruhigsten blieb der Empfänger des dritten Briefes. Er hatte auch keinen Grund, sich zu erregen, denn die kurze Mitteilung enthielt diesmal keine Drohung, sondern eher eine Verheißung. Sie besagte nämlich:
»Es ist möglich, daß ich Ihnen gelegentlich in dieser oder jener wichtigen Sache dienlich sein kann. Halten Sie dieses Blatt gegen das Licht, und merken Sie sich das Zeichen, das in der linken oberen Ecke eingestochen ist. Sollten Sie ihm einmal begegnen, so können Sie manches erfahren, was zu wissen für Sie von Wichtigkeit sein wird. Einen andern Weg kann ich aus gewissen Gründen nicht wählen, und es ist auch keiner so zuverlässig.«
Nachdem der dritte Mann das Blatt wirklich gegen das Licht gehalten und sekundenlang auf die unregelmäßig angeordneten sechs hellen Pünktchen gestarrt hatte, schob er es bedächtig wieder in den Umschlag und barg diesen in seinem abgegriffenen Taschenbuche. Auch ihm waren derartige Briefe nicht fremd, aber er pflegte sie weder zu überschätzen, noch kurzweg abzutun. Manchmal war es ein bloßer Bluff, aber zuweilen steckte wirklich etwas dahinter.
Man würde ja sehen, was es diesmal war …
Ungefähr acht Tage später gab Mr. William Ellis, ein Mann, der in verschiedenen Erdteilen ein sehr ansehnliches Vermögen gemacht zu haben schien, in seiner prunkvoll eingerichteten Mietvilla in Kensington einen großen Abend. Die Gäste, die – etwa vierzig an der Zahl – erschienen waren, führten zwar keine gewichtigen gesellschaftlichen Namen, und auch die obere Schicht der Citywelt war nicht vertreten, aber es waren durchwegs Leute mit viel Geld. Dafür sprachen auch die erlesenen Juwelen der Damen, die von ihren glücklichen Besitzerinnen in offenkundigem Wettbewerb zur Schau getragen wurden; aber selbst der kostbarste und reichste Schmuck mußte vor dem Schimmer der haselnußgroßen Perlen und dem Feuer der Diamanten, mit denen die Frau des Hauses, eine geborene Portugiesin, behangen und besteckt war, verblassen. Man tröstete sich jedoch damit, daß all dieser Glanz noch immer nicht genügte, um den ganz besonderen dunklen Punkt, den es bei Mrs. Elvira Ellis gab, zu übertünchen.
Etwa um Mitternacht fühlte sich die Frau des Hauses durch ihre Inanspruchnahme plötzlich sehr ermüdet und zog sich für eine Weile in ihre Räume zurück. Man vermißte sie nicht und bemühte sich auch nicht sonderlich, ihrer habhaft zu werden, als man aufbrach. Erst als die letzten Gäste und die Aushilfsdienerschaft das Haus bereits längst verlassen hatten, wurde Mrs. Elvira von ihrer Zofe in einem derart festen Schlafe angetroffen, daß dem Mädchen nichts anderes übrigblieb, als die Herrin selbst auszukleiden und zu Bett zu bringen.
Die erschöpfte Dame schlief bis tief in den nächsten Tag hinein, und erst nach ihrem Erwachen stellte sich heraus, daß man sie, offenbar noch während alle Räume voll Leute gewesen waren, wie einen Christbaum abgeklaubt hatte. Nur die Ringe hatte man ihr belassen, weil es wohl zu zeitraubend gewesen wäre, sie von den fleischigen Fingern zu streifen.
Und während man noch an einen Einzelfall dachte, der vielleicht auf besondere Umstände zurückzuführen war, ereigneten sich bereits in den allernächsten Tagen vier weitere derartige Diebstähle, und es waren auch dabei immer die Gastgeberinnen, die die Opfer wurden; unter ihnen Mrs. Reed, eine junge Witwe aus Australien, die in unmittelbarer Nähe von Mrs. Ellis wohnte und mit dieser auch ziemlich viel verkehrte.
Scotland Yard nahm die Untersuchung dieses förmlichen Raubzuges mit seiner bewährten systematischen Gründlichkeit auf, kam jedoch zu keinem raschen Erfolg, sondern zunächst bloß zu einigen bedeutsamen Feststellungen. Erstens ergab sich, daß bei allen diesen Gelegenheiten fast immer dieselben Gäste anwesend gewesen waren, und zweitens berichteten alle Betroffenen, sie wären blitzartig von einer derartigen Müdigkeit befallen worden, daß sie überhaupt keinen anderen Gedanken hatten, als den, schleunigst ein wenig zur Ruhe zu kommen. Nur so ließ es sich auch erklären, daß die letzten Opfer trotz der früheren Fälle, die ja mit allen ihren Einzelheiten allgemeinen Gesprächsstoff bildeten, sich der Gefahr gar nicht bewußt wurden und daher auch keinerlei Vorsichtsmaßnahmen trafen.
Über diese sonderbaren Schwächeanwandlungen war man sich bereits im klaren, denn bei einer der Frauen konnten noch die Spuren eines Narkotikums nachgewiesen werden, dessen Art die Ärzte und Chemiker allerdings nicht näher zu bestimmen vermochten. Jedenfalls handelte es sich aber offenbar um planmäßig vorbereitete und mit besonderem Raffinement ausgeführte Anschläge, für die das bekannte Verbrechertum kaum in Betracht kam. Auf alle Fälle behielt man jedoch auch dieses und die Hehlerwelt schärfstens im Auge, während man in aller Stille nach einer etwas konkreteren Spur forschte.
Es war dies eine sehr mühevolle und heikle Arbeit, die für die Ungeduld der erregten Öffentlichkeit viel zuviel Zeit in Anspruch nahm.
Knapp vor diesen bewegten Tagen hatte sich auf dem wichtigsten Posten des Yard ein Wechsel vollzogen. Der bisherige Leiter des Criminal Investigation Department hatte sich mit einem schweren Gallenleiden und einem hohen Orden in sein stilles Landhaus in Essex zurückgezogen, und an seine Stelle war Oberst Merewether, ein Außenseiter, berufen worden. Der neue Chefkonstabler kam aus dem Kolonialdienst, und man wußte in London von ihm nur, daß er während der letzten zwei Jahrzehnte in verschiedenen gefährlichen Winkeln des Empires mit eiserner Faust aufgeräumt hatte.
Und schon in den ersten Wochen seiner Amtsführung ergab sich, daß der gedrungene Mann mit dem eisgrauen Kopf und dem verwitterten und verkniffenen knochigen Gesicht auch kein sonderlich angenehmer Vorgesetzter war; nicht wegen seiner kurz angebundenen soldatischen Art, der man ja in diesem Dienste öfter begegnete, sondern wegen einer andern Eigenheit: Oberst Merewether hatte ein Schweigen, das die rapportierenden Beamten Blut schwitzen ließ, und ein Lächeln, dessen derjenige, dem es galt, nicht froh werden konnte.
Dieses Schweigen und dieses Lächeln lernten in Kürze alle seine Leute kennen, und nur einer der jüngsten, der Assistent Guy Denby, zeigte sich davon nicht im mindesten beeindruckt. Aber dieser sehr vorteilhaft aussehende Gentleman mit dem schrecklich gelangweilten Gesicht und der ebenso gelangweilten Sprechweise fiel überhaupt in allem aus dem Rahmen des ernsten Backsteinbaues auf dem Victoria Embankment. Er war immer mit einem dandyhaften Einschlag gekleidet, hatte das selbstbewußte Wesen eines großen Herrn, und aus seinem Privatleben wurden Dinge getuschelt, die zu einem Manne vom Yard nicht recht passen wollten. Er entstammte jedoch einer sehr angesehenen Familie und hatte einflußreiche Beziehungen, die es einigermaßen verwunderlich scheinen ließen, daß er gerade auf den Polizeidienst verfallen war. Aber hierfür hatte Denby einem besonders Interessierten einmal eine sehr offenherzige Erklärung gegeben: »Eh, mein Lieber«, hatte er mit einem Achselzucken geäußert: »wenn ich das verwünschte nötige Kleingeld hätte, wäre ich natürlich lieber Botschafter Seiner Großbritannischen Majestät an irgendeinem Hofe geworden, aber Chef Commissioner of the Metropolitan Police ist schließlich auch ein ganz hübscher Titel und ein recht angenehmer Posten.«
Nach dem fünften der rätselhaften Schmuckdiebstähle beorderte Oberst Merewether wieder einmal Inspektor Sharp zu sich, der die Nachforschungen leitete. Sharp galt als einer der tüchtigsten Leute des Yard, war jedoch wegen seiner Verschlossenheit und seines neidischen Wesens wenig beliebt.
»Nun???« fragte der Chefkonstabler, und das Schweigen, das diesem einen Worte folgte, wirkte wie eine Saugpumpe.
Aber der Inspektor, ein Mann in den Vierzigern, gelb, dürr und düster wie ein Fakir, konnte nur krampfhaft mit den Achseln zucken. »Es hat sich auch diesmal kein neuer Anhaltspunkt ergeben, Sir«, brachte er endlich hohl hervor. »Und die Gäste sind alle völlig einwandfrei …«
Das Lächeln brachte ihn zum Verstummen, aber der Oberst hatte schon wieder eine andere Frage.
»Wie ist das mit dem Manne in Soho?«
Inspektor Sharp atmete auf, denn diesmal konnte er eine weniger knappe Auskunft geben. »Natürlich haben wir diesen Roger Meraine ebenfalls unter Überwachung gestellt«, erklärte er eifrig. »Es ist immerhin möglich, daß er bei der Sache die Hände mit im Spiele hat. Er steckt ja mit dem vielen ausländischen Gesindel, das sich in Soho verkrochen hat, unter einer Decke und hat auch zu unseren übelsten Leuten in Whitechapel und Deptford Beziehungen. Und wenn Hogde und seine Kreise mit der Juwelengeschichte auch direkt nichts zu tun haben mögen, so ist ihnen wahrscheinlich wenigstens einiges darüber bekannt. Es dürfte in London in den letzten fünf Jahren überhaupt kaum ein größeres Verbrechen verübt worden sein, von dem dieser Mann nicht mehr oder weniger gewußt hätte. – Aber man kann leider nie an ihn heran …«
»Man kann nicht an ihn heran – so …« wiederholte Oberst Merewether und lächelte wiederum in seiner wenig angenehmen Art. »Womit haben Sie sich übrigens zuletzt beschäftigt, bevor der nette Rummel zur Feier meines Amtsantritts losgegangen ist?«
»Mit den laufenden Fällen, Sir«, stotterte Sharp und schwitzte vor Unbehagen. »Es war aber nichts Besonderes los. – Das heißt, ich habe mich auch für die Kapstädter Sache interessiert. Es werden dort seit längerer Zeit rohe Diamanten gestohlen und außer Land geschmuggelt, und die Kapstädter Polizei vermutet, daß die Steine über London oder Paris nach Antwerpen gehen …«
Diesmal lächelte der Chefkonstabler geradezu beängstigend. »Nun, und sind Sie auf etwas gekommen?«
»Bis jetzt nicht, Sir …«
»Schade. Eben heute ist wieder ein Kabel eingelangt, daß die Prämie auf zehntausend Pfund erhöht wird. – So etwas ist bei unseren Juwelendiebstählen allerdings nicht zu holen – höchstens eine vorzeitige Pensionierung …«
Zu dieser fatalen Bemerkung machte der liebenswürdige Oberst Merewether eine gnädig entlassende Handbewegung, und Inspektor Sharp stolperte auf etwas unsicheren Beinen zur Tür. An der Schwelle wurde er aber noch einmal zurückgehalten.
»Wie ich aus den Akten ersehen habe, haben wir noch einen andern offenen Fall«, sagte der Chefkonstabler. »Die Geschichte mit dem Bankier Hayward …«
Der Inspektor mußte nach dem Schreck, den ihm die Andeutung von vorhin eingejagt hatte, seine Stimme erst wieder in die Gewalt bekommen. »Diese Sache ist wohl als erledigt zu betrachten, Sir«, erklärte er noch um einen Ton hohler als sonst. »Es sind seither bereits vier Monate verstrichen, und der Mann ist offenbar schon irgendwo drüben in Sicherheit. Wahrscheinlich in Bolivien, das nicht ausliefert. Er hatte ja sehr umsichtige Vorbereitungen für seine Flucht getroffen. Schon daß er die sechzigtausend Pfund an einem Samstag behob, hat ihm einen Vorsprung von achtundvierzig Stunden verschafft. – Und er hat vermutlich auch seine Tochter mitgenommen, denn das Mädchen ist fast zur selben Zeit aus einem Schweizer Pensionat spurlos verschwunden. Wenigstens spricht für diese Annahme die Abschrift einer Depesche, die sich in der Akte befindet.«
»So«, sagte Oberst Merewether und lächelte zum größten Unbehagen des Inspektors noch einmal, »das ist was anderes …«
Mrs. Christina Toomer bewohnte ein kleines Haus bei Leadenhall Market in der City und vermietete je zwei freundliche Stuben im Erdgeschoß und im Oberstock an Leute, die dieser Ehre und dieses Vertrauens würdig waren. Bei Mrs. Toomer wohnen zu dürfen, bedeutete auch wirklich eine Auszeichnung, denn die stattliche Frau war die Witwe eines Sergeanten der erlesenen Whitehall Division des uniformierten Polizeikorps und genoß als solche weit über den Bezirk hinaus großes Ansehen. Dazu trugen allerdings auch ihre persönlichen Eigenschaften bei, denn Mrs. Toomer hätte nicht bloß durch ihre gebieterische Erscheinung, sondern auch durch ihre Tatkraft und ihre strengen Ansichten über Recht und Ordnung selbst einen vorbildlichen Sergeanten abgegeben.
In der letzten Zeit hatte sich in ihrem Hause ein gründlicher Parteienwechsel vollzogen, denn zunächst hatte Mrs. Toomer die Mieterin von oben unter dem Vorwande, daß sie längeren Besuch von Verwandten bekäme, von heute auf morgen vor die Türe gesetzt, und gleich darauf hatte die säuerliche Lehrerin vom Erdgeschoß eine Anstellung in einem anderen Bezirk erhalten. In den Oberstock waren dann tatsächlich zwei junge Mädchen eingezogen, die eben in Finch Lane eine Schreibstube eröffnet hatten. Sie waren beide auffallend hübsch, aber sonst der denkbar größte Gegensatz: Alice Parker schlank und graziös, tiefbrünett, mit sehr feinen, regelmäßigen Zügen und schwermütig blickenden dunklen Augen – Bessie Clayton, eine heranreifende Walküre mit der Frische und Sonne der elterlichen Farm im reizvollen Gesicht und in dem goldig schimmernden Haar. Und wie äußerlich, waren die beiden Mädchen auch in ihrem Wesen grundverschieden: Die eine von fast an Scheu grenzender Zurückhaltung, die andere von ziemlich lauter Lebhaftigkeit, immer guter Laune und nie um ein treffendes Wort verlegen.
Es war mittlerweile bereits März geworden, aber vorläufig kündigte sich der Frühling erst mit Stürmen und Regenschauern an. Dieser Abend war besonders unfreundlich, doch in Mrs. Toomers Eßzimmer herrschte behaglichste Stimmung. Die Hauswirtin studierte eben die Abendzeitungen, um über die Missetaten, die sich wiederum ereignet hatten, und die ihr nun der brave Sergeant Toomer nicht mehr brühwarm rapportieren konnte, auf dem laufenden zu bleiben; Alice Parker saß versonnen über einer Handarbeit, und Bessie Clayton untersuchte mit kritisch verkniffenen Augen eine Einpfundnote, an der ihr irgend etwas nicht zu gefallen schien.
»Das Gekritzel ist nicht zu lesen«, unterbrach sie endlich höchst mißmutig das Schweigen. »Die Banknote scheint längere Zeit im Wasser gelegen zu haben, und es wird uns schwerfallen, sie anzubringen. – Ich hätte dieser alten Teerjacke besser auf die Finger sehen sollen, als sie mir den Schein zusteckte. Aber ich mußte mir fortwährend nur die schreckliche Visage angucken. Der Kerl ist offenbar auf eine Erpressung aus. Er hat sich bei uns einen Brief an jemanden schreiben lassen, daß er ein Notizbuch gefunden hätte, das den andern sicher interessieren werde. Natürlich steckt da eine Lumperei dahinter. Deshalb durften wir wohl auch die Adresse nicht tippen, sondern er wollte bloß einen leeren Briefumschlag. Die Antwort will er ›an den Zimmermann Paddy‹ in eine Schenke im Pool haben …«
Obwohl Mrs. Toomer gerade die wichtige Frage erwog, zu welchem Polizeigericht sie ihre Schritte am nächsten Morgen lenken sollte, hatte sie doch auch für Bessies Bemerkung einiges Interesse übrig.
»Ja, man muß jetzt sehr vorsichtig sein«, äußerte sie mit ihrem tiefen Baß. »Als Sergeant Toomer noch Dienst tat, hat es solche Sachen wie heute nicht gegeben. Und wenn mal so was geschah, hat man die Banditen immer sofort gefaßt. Aber jetzt wird im Westen ein kostbarer Schmuck nach dem andern gestohlen, und vom Fassen ist keine Rede. – Offen gestanden habe ich von unserem neuen Chefkonstabler, von dem es hieß, daß er ein so scharfer Mann sein sollte, mehr erwartet …«
In den ernsten Tadel der enttäuschten Sergeantenwitwe klang der Türklopfer, und die Hauswirtin erhob sich. »Es wird vielleicht wegen der Zimmer unten sein«, sagte sie. »Ich habe beim Kolonialwarenhändler und im Milchgeschäft hinterlassen, wenn jemand, der in mein Haus paßt, Wohnung sucht, möge man ihn mir schicken …«
Damit machte sie sich mit wuchtigen Schritten auf den Weg, und die besorgte Bessie tuschelte ihr rasch noch ein kleines Anliegen nach.
»Bitte, liebe Mrs. Toomer, wenn es wieder eine ältere Dame sein sollte, fragen Sie sie nach ihren Leibspeisen. Bei Miß Druce hat es im ganzen Hause immer schrecklich nach altem Käse und Zwiebeln gerochen …«
Unten im Flur brannte bloß eine kleine Deckenlampe, und als die Frau die letzte Treppenstufe passierte, tat sie einen raschen Griff in eine Nische, wo der Gummiknüppel des verewigten Sergeanten seinen Ehrenplatz gefunden hatte.
»Wer ist draußen?« fragte sie dann, indem sie das fleischige Ohr lauschend an die Haustür legte, und ihr bedrohliches Organ machte eigentlich jede weitere Vorsichtsmaßnahme überflüssig.
Von draußen kam halblaut eine hastige Antwort, die Mrs. Toomer plötzlich höchst aufgeregt werden ließ.
»Wer???« flüsterte sie offenbar ungläubig zurück, aber dann flog auch schon der Gummiknüppel in die nächste Ecke, und die Frau hantierte blitzschnell an Riegel und Vorlegkette.
Über die Schwelle trat ein Mann in einem triefenden Regenmantel, und mit ihm schob sich ein patschnasser großer Hund herein.
Die Sergeantenwitwe hatte kugelrunde Augen, und um ihren herben Mund zuckte es. »Wahrhaftig …« schnappte sie freudig, kaum daß sie einen raschen Blick auf das schmale, dunkle Gesicht unter der schlappen Hutkrempe geworfen hatte. »Nein – so was … – Das hätte ich mir nie träumen lassen, Sir. – Fanny hat mir doch erst unlängst geschrieben, daß Sie …«
Der Besucher legte rasch einen Finger an den Mund, und Mrs. Toomer hätte nicht Sergeantenwitwe sein dürfen, um dieses Zeichen nicht sofort zu kapieren. Sie nickte lebhaft und riß auch schon die Tür zu den unteren Stuben einladend auf, obwohl sie sonst keinen Kaiser und keinen König in diesem Zustande in ihre peinlich sauberen Zimmer gelassen hätte.
Noch dazu mit einem pudelnassen Hund …
Die Verhandlungen unten dauerten so lange, daß die lebhafte Bessie Clayton, die immer wieder nach dem nicht sonderlich schalldichten Fußboden lauschte, bereits ungeduldig wurde.
»Nach der Stimme ist es ein Mann«, flüsterte sie der völlig teilnahmslosen Alice zu. »Vielleicht bekommen wir also diesmal einen Hausgenossen. – Wenn er nett ist, hätte ich gar nichts dagegen. Eine Bude mit Witwen, alten Jungfern und solchen, die es wahrscheinlich einmal werden, ist schrecklich langweilig.« Sie neigte wiederum für eine Weile das Ohr, dann nickte sie plötzlich befriedigt. »Ich glaube, sie sind schon einig. Mrs. Toomer schneuzt sehr heftig. Wahrscheinlich erzählt sie ihm bereits von dem verewigten Sergeanten …«
Die Hauswirtin handhabte unten ihr Taschentuch tatsächlich sehr geräuschvoll, aber es ging nicht um den verewigten Sergeanten Toomer.
»Vielleicht ist das eine Fügung Gottes«, schluckte sie. »Ich weiß ja nicht, was ich tun soll. – Und es drückt mir das Herz ab, den Jammer mit ansehen zu müssen und nicht helfen zu können.«
»Das gewisse Wort ist also noch nicht erschienen?« fragte der Besucher, der ihrem bewegten Redestrom mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt war.
»Nein – das ist es ja eben. Er hat sich bis heute nicht gerührt, und sie wird mir sicher noch krank von diesem ewigen aufgeregten Warten. – Ich kann das alles nicht verstehen …«
Es währte noch eine weitere gute halbe Stunde, bis unten endlich die Tür ins Schloß fiel und die Hauswirtin mit roter Nase und zwinkernden Augen wie der im Eßzimmer auftauchte.
»Ich habe einen neuen Mieter aufgenommen«, sagte sie so beiläufig, nachdem sie sich gründlich geräuspert hatte.
»Wie sieht er aus?« erkundigte sich Bessie mit reger Wißbegierde, aber Mrs. Toomer schien die dringliche Frage überhört zu haben, weil sie eben wieder heftig in ihr Taschentuch trompetete. Aber dann gab sie plötzlich doch so etwas wie eine Antwort.
»Man darf bei diesem schrecklichen Wetter nicht die Nase vor die Tür stecken, ohne gleich etwas abzubekommen«, stellte sie zunächst mürrisch fest und fügte dann völlig geistesabwesend hinzu: »Ja – also – er ist groß – ich glaube grau und sieht aus wie ein richtiger Wolf. Und am liebsten hat er getrocknete Fische …«
»Getrocknete Fische – du guter Gott …« murmelte Bessie mit starren Augen. »Da war vielleicht die Lehrerin mit ihrem Käse und ihren Zwiebeln doch noch angenehmer …«
Es war wieder einige Tage später. Das House of Commons hatte eben eine sehr eingehende Aussprache über die Aufrüstung der See-, Land- und Luftstreitkräfte abgeschlossen, als sich noch ein Mitglied erhob.
»The gallant member – der sehr tapfere Abgeordnete für Souths Down wünscht noch etwas vorzubringen«, verkündete der Sprecher.
Das Parlamentsmitglied, dem diese ehrende Anrede zukam, war ein verdienter alter Commodore, und man wußte, daß er stets dann ins Treffen geschickt wurde, wenn es um eine Sache ging, bei der es mehr auf die betreibende Persönlichkeit, als auf rednerische Wirkung ankam. Er entledigte sich seiner Aufgabe auch diesmal sehr kurz und bündig.
»Ist der Regierung bekannt«, stieß er mit seiner rauhen Seemannsstimme hervor, »daß vor einiger Zeit einem britischen Staatsangehörigen auf einem fremden Staatsgebiete eine Ausbeutungskonzession verliehen wurde, der in Anbetracht der Besonderheit und der Verwendungszwecke des betreffenden Vorkommens außerordentliche Wichtigkeit beizumessen ist? – Und gedenkt die Regierung – falls dies nicht schon geschehen sein sollte – raschestens Schritte zu unternehmen, um die wichtigen Interessen des Empires in dieser Angelegenheit zu wahren?«
Auf der Regierungsbank erhob sich sofort einer der jungen zukunftsreichen Unterstaatssekretäre und erwiderte darauf ebenso allgemein und vorsichtig:
»Die Regierung kann nur nochmals die Versicherung abgeben, daß sie auf alles Bedacht nehmen wird, was für das vorgesehene Aufrüstungsprogramm irgendwie von Bedeutung sein könnte. Sie hat auch der erwähnten Angelegenheit bereits ihr Augenmerk zugewendet, und nur besonderen Umständen, die nicht an ihr liegen, ist es zuzuschreiben, daß sie heute dem Hause noch keine bestimmtere Erklärung abgeben kann.«
Schon die ersten Morgenausgaben der großen Blätter wurden in dieser Sache etwas deutlicher. Es handelte sich um ein äußerst reiches Molybdänvorkommen in Asien, das für die englische Stahlindustrie tatsächlich von größter Wichtigkeit war. Die Konzession hatte ein gewisser Thomas Wesley erworben, ein unternehmender Glücksritter großen Stils, der bereits wiederholt von sich reden gemacht hatte. Er war einmal hoch oben, einmal tief unten und nie ganz nüchtern. Während besonders arger Trunkenheitsperioden pflegte er oft monatelang zu verschwinden und sich in einem höchst fragwürdigen Zustande in den übelsten Spelunken irgendeines Anschwemmplatzes der Welt herumzutreiben.
Eine solche Periode schien Thomas Wesley auch gegenwärtig wieder durchzumachen, denn er war nicht aufzufinden, obwohl die englische Regierung seit Wochen ihren den ganzen Erdball umspannenden Apparat in Bewegung hielt, um des Mannes mit den wichtigen Schurfrechten habhaft zu werden. Man hatte bisher lediglich ermitteln können, daß er vor ungefähr vier Monaten einige Tage in London geweilt hatte und dann mit einem eigenen Flugzeug allein nach einem unbekannten Ziel gestartet war.
Seither fehlte jede Spur von ihm.
Mr. Roger Meraine, kurz Hodge genannt, war in Soho ein Mann von großem Einfluß, aber auch östlich und westlich von diesem Londoner Fremdenviertel hatte sein Name etwas zu sagen. Er betrieb, wie eine gediegene Firmentafel verkündete, ein sehr vielseitiges Maklergeschäft, dessen Erträgnisse es ihm gestatteten, auf großem Fuße zu leben und seine arbeitsreichen Tage allnächtlich im Kreise seiner zahlreichen Freunde und Freundinnen in gehobener Stimmung zu beschließen.
An diesem Abend hatte die Gesellschaft eine kleine Bar gewählt, wo sie immer so ziemlich unter sich blieb, denn man wollte versuchen, Hodge endlich wieder ein bißchen aufzuheitern. Der breitschultrige Vierziger mit dem starken südländischen Einschlag zeigte sich nämlich seit kurzem auffallend übelgelaunt und von gefährlicher Reizbarkeit. Sogar Jozy Healy, eine heißblütige junge Irin mit wundervollem rotem Haar, hatte darunter zu leiden, obwohl sie sich bisher der besonderen Gunst des in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Mannes hatte erfreuen dürfen.
Sie saß nun arg gekränkt und höchlich gelangweilt an seiner Seite, denn Hodge war auch heute aus seiner düsteren Stimmung nicht aufzurütteln. Zwischen seinen buschigen schwarzen Brauen stand eine böse Falte, und wenn er zuweilen die schweren Lider hob, lag in seinen verschleierten Augen ein wenig freundlicher Ausdruck. Er sprach kein Wort, trank aber sehr viel und rauchte ununterbrochen mit tiefen, nervösen Zügen.
Nach etwa einer Stunde verirrte sich doch noch ein weiterer Gast in das Lokal. Er kam nichts weniger als gelegen und erregte daher besonderes Aufsehen. Der Fremde mochte etwa Dreißig sein, sah sehr gut aus und schien nach seinem von Luft und Sonne gedunkelten Gesicht und seiner sonstigen ganzen Art nicht zu der Gilde der Londoner Nachtbummler zu gehören. Er zeigte für die Runde um Roger Meraine nicht das geringste Interesse, sondern ließ sich an einem Tisch gegenüber nieder und gab gelassen seine Bestellung auf.
Das Gespräch an der großen Tafelrunde verstummte fast völlig, denn die Dinge, über die man sich bisher unterhalten hatte, waren nicht für fremde Ohren bestimmt, und die unvermittelte Ruhe wirkte geradezu bedrückend; nur nicht auf die wirklich hübsche, feurige Miß Jozy Healy, die vielmehr plötzlich außerordentlich lebendig wurde. Sie legte zunächst rasch eine sorgfältige frische Bemalung an und schenkte dann dem neuen Gaste eine sehr verheißungsvolle Aufmerksamkeit. Ihr kam dieser vornehme, sehnige Gentleman, mit dem sich der bereits etwas dicklich werdende, eingebildete Hodge in keiner Weise messen konnte, gerade recht. Nun wollte sie dem Ekel an ihrer Seite einmal zeigen, daß sie es nicht notwendig hatte, sich seine Launen gefallen zu lassen …
Die beredte Augensprache der roten Irin fand zwar keine Erwiderung, aber Miß Jozy ließ nicht locker, und ihre Blicke wurden immer ermunternder und glutvoller …
Plötzlich fuhr Roger Meraine wie der Blitz hoch, versetzte seiner unternehmenden Freundin einen heftigen Schlag ins Gesicht und stürzte auch schon auf den Tisch gegenüber zu.
Der Fremde verharrte völlig reglos, als ob ihn der Vorgang gar nicht berührte, und ließ den toll gewordenen Mann mit den tückisch funkelnden Augen ganz dicht herankommen. Selbst als Hodge in blinder Wut ausholte, rührte der andere sich noch immer nicht – aber dann glitt er plötzlich unter der zuschlagenden Faust hinweg, so daß der Angreifer sich um ein Haar über den Tisch gelegt hätte …
Dazu sollte es jedoch nicht kommen, weil in der gleichen Sekunde ein schneidendes »Oahooo – heiii!!!« durch das Lokal schallte und Roger Meraine gleichzeitig einen Hieb zwischen die Augen erhielt, der ihn nicht nur jäh wieder aufrichtete, sondern auch noch einige Schritte zurücktaumeln ließ.
Damit war der draufgängerische Hodge allerdings nicht erledigt, sondern er verfiel nun in förmliche Raserei. Er fuhr mit der Rechten in die Tasche seines Smokings, brachte sie mit einem Schlagring bewehrt wieder hervor und ging mit einem geradezu tierischen Wutschrei und geiferndem Munde neuerlich auf den andern los.
Noch dreimal klang das schrille »Oahooo – heiii!« wie ein Peitschenknall durch den Raum, dann lag der gefürchtete Mann von Soho auf dem Boden und rührte kein Glied mehr …
Die aufregende Szene hatte nur wenige Sekunden gedauert, und Hodges Freundeskreis war noch immer starr vor Bestürzung, als sie bereits längst zu Ende war. Aber selbst, als man endlich etwas zu sich kam, dachte man nicht daran, sich einzumengen. Das war eine Sache, die nach einer Berührung mit der Polizei aussah, und Hodge mußte rein den Verstand verloren haben, daß er sich auf so etwas eingelassen hatte.
Auch der Besitzer des Lokals wollte, so sehr er auch Mr. Meraine und dessen Gesellschaft schätzte, keine Scherereien mit der Polizei und rief diese daher lieber selbst herbei. Sie erschien leider rascher, als die große Tafelrunde sich verflüchtigen konnte, und es gab eine recht peinliche Befragung.
Nur Hodge nahm das bedenkliche Ende dieses Abends völlig teilnahmslos hin. Er war zwar nicht mehr ganz leblos, sah aber geradezu jammervoll aus, und der Schlagring, den er noch immer an der Rechten stecken hatte, machte sich neben den vielen funkelnden Brillantreifen gar nicht gut …
· · ·
Und damit war die Zeit gekommen, die allmählich einen Zusammenhang zwischen all diesen vorangeschickten Geschehnissen ergeben und die dunklen Vorgänge um das Sternbild des Skorpions ins Rollen bringen sollte.
Die Schreibstube in Finch Lane bestand erst knapp drei Monate, war aber bereits ebensolange eines der bekanntesten Büros der City.
Eines Morgens hatte ein etwas verfrühter Börsenbesucher bei einem Bummel durch die umliegenden Gassen an einem Laden, der noch vor kurzem den üblen Duft von vertrockneten Heringen und faulendem Gemüse ausgeströmt hatte, eine funkelnagelneue geschmackvolle Firmentafel entdeckt, auf der zu lesen war:
»Ghost Writers Bureau. We write it – You sign it. Bessie Clayton. Alice Parker.«
Da der Mann zufällig schon ein paar Tage einige unerledigte Briefe bei sich trug, trat er ein.
Und noch am selben Vormittage konnte das kleine Lokal kaum die vielen Leute fassen, die um ein Sixpencestück für die Seite irgendeine geschäftliche Mitteilung getippt haben wollten.
Darüber freute sich besonders Bessie außerordentlich, denn selbst in ihren kühnsten Träumen hatte sie nie zu hoffen gewagt, daß es mit dem Geldverdienen so unverhältnismäßig schnell und leicht gehen würde. Sie war vor einem halben Jahr nach London gekommen, um zu den Fertigkeiten und Kenntnissen, die sie in ihrem heimatlichen Landstädtchen erworben hatte, noch etwas zuzulernen und sich dann nach einer Stellung umzusehen, aber eines Tages hatte ein glücklicher Zufall dieser ihrer Vorbereitungszeit ein rasches und sehr befriedigendes Ende gemacht. In einer Zeitung hatte sie eine Anzeige gefunden, durch die eine tüchtige, intelligente Maschinenschreiberin gesucht wurde, und sie hatte sich auf gut Glück gemeldet. So war sie mit Alice Parker bekannt geworden, die eine Schreibstube im Geldviertel der City eröffnen wollte, und die beiden jungen Mädchen hatten sich sofort verstanden und Gefallen aneinander gefunden. Und wenn die Idee und das erste Geld von Alice waren, so war die Einrichtung des Unternehmens hauptsächlich das Verdienst Bessies. Sie hatte mit ihrem hartnäckigen Feilschen um jeden Penny sämtliche Schreibmaschinenhändler und Papierlieferanten Londons zur Verzweiflung gebracht, und dem Verwalter des Hauses in Finch Lane hatte sie über sein Lokal so viele unschöne Dinge gesagt, daß der Mann schließlich heilfroh war, als sie es zu einem Spottpreis zu mieten geruhte.
Dafür war Bessie Clayton sofort Teilhaberin mit vierzig Prozent vom Reingewinn geworden, und Alice hatte sie auch eingeladen, mit ihr zu wohnen. Bessie war mit großer Begeisterung darauf eingegangen und hätte es auch in dieser Hinsicht nicht besser treffen können. Mrs. Christina Toomer betreute ihre beiden Mieterinnen mit mütterlicher Besorgtheit und Alice sogar mit einer gewissen liebevollen Unterwürfigkeit. Bessie konnte das verstehen, denn auch sie tat für die Freundin, der sie soviel zu verdanken hatte, alles, was sie ihr an den Augen ablesen konnte, aber zuweilen schien es ihr, als ob für das Verhalten der Hauswirtin noch ganz besondere Gründe vorhanden wären. Es fiel jedoch darüber nie eine Andeutung, und Bessie war zu taktvoll, um danach zu forschen. Ebenso vermied sie es, Alice über deren persönliche Verhältnisse zu befragen, da sie auf ihren ersten derartigen Versuch bloß eine ganz allgemeine und sichtlich äußerst verlegene Antwort erhalten hatte. Anscheinend gab es da einen recht schmerzhaften Punkt, dem wohl auch das bedrückte Wesen der Freundin zuzuschreiben war.
Nach Schluß der Börse und der Bankschalter wurde es auch in der Schreibstube still, und sobald die restliche Post aufgearbeitet war, pflegte Bessie die drei netten und fleißigen Tippfräuleins, die nun erst an ihren eigentlichen Beruf, das Studium verschiedener Wissenschaften, gingen, mit einem freundlichen »Good bye, Kinder« an der Tür zu verabschieden.
Heute geschah das noch eine Viertelstunde früher als sonst, denn Alice Parker mußte wieder einmal den weiten Weg nach Kensington machen. Es war dies aus gewissen Gründen ein sehr unangenehmer Weg, und das junge Mädchen verriet an den Tagen, da er ihm bevorstand, immer eine auffallende Unruhe. Bessie kannte die Gründe hierfür, und während sie zu dem nahen Speisehause schritten, um rasch ein bescheidenes Lunch einzunehmen, kam sie diesmal mit besonderer Entschiedenheit darauf zu sprechen.
»Wir werden nun mit diesem Mr. Ellis aber wirklich Schluß machen«, sagte sie. »Wenn der grobschnauzige Goldgräber, oder was er sonst war, nicht weiß, wie er sich gegen eine Dame zu benehmen hat, soll er sich seine Briefe selber tippen. Ich werde nicht länger dulden, daß du dich wegen einer Guinee solchen Dingen aussetzt. Du kommst ja immer ganz verstört zurück. Erkläre ihm also heute kurz und bündig, daß er sich für das nächste Mal nach jemand anderem umsehen soll. Im übrigen kann ich verstehen, daß der alte Buschmann augenblicklich besonders übler Laune ist. Der Schmuck, den man seiner Frau abgenommen hat, soll ja einige tausend Pfund wert gewesen sein. Hast du diese Mrs. Ellis überhaupt schon einmal gesehen? – Du weißt ja, was man sich von ihr erzählt …«
Alice schüttelte bloß den Kopf, aber da sie mittlerweile das Speisehaus erreicht hatten, gab Bessie sich damit zufrieden und konzentrierte sich ausschließlich auf den Zweck, zu dem sie hergekommen waren. Erst nach dem Mahle wurde sie wieder gesprächig. Sie kam aber nicht auf das frühere Thema zurück, sondern schlug ein anderes an, das sie seit einer Woche ziemlich häufig, jedoch immer nur mit sachlicher Kühle berührte.
»Dieser Mr. Allan« – das war der neue Mieter, der vor kurzem bei Mrs. Toomer eingezogen war – »scheint ja ein recht lockerer Vogel zu sein«, begann sie auch diesmal wieder so ganz obenhin. »Er ist keinen Abend zu Hause, und dann schläft er immer bis in den hellen Tag hinein. Es sieht ganz so aus, als ob er trotz seines Telefons keine ordentliche Beschäftigung hätte. Ich habe Mrs. Toomer schon danach gefragt, aber sie hat mir recht kurz erklärt, sie habe sich noch nicht darum gekümmert, und es gehe sie auch nichts an. – Das wundert mich, denn Mrs. Toomer ist doch sonst ziemlich mißtrauisch und hält darauf, genau zu wissen, wen sie im Hause hat.«
Bessie trommelte mit den hübschen, kräftigen Fingern gereizt auf den Tisch, aber Alice zeigte für die Verhältnisse und das Treiben des neuen Hausgenossen nicht das geringste Interesse. Sie war dem jungen Manne zwar bereits einige Male begegnet, hatte jedoch seinen höflichen Gruß immer nur ganz flüchtig und mit der ihr eigenen scheuen Zurückhaltung erwidert. Die weit weniger scheue und zurückhaltende Bessie hingegen hatte schon wiederholt einen kleinen Plausch mit ihm gehalten, der allerdings stets nur dem seltsamen Hunde gegolten hatte, der mit besonderer Vorliebe getrocknete Fische fraß. Und um diesen Hund drehte sich offenbar auch jetzt ihre hauptsächlichste Sorge, denn nach einer kleinen Pause setzte sie mit verkniffenen Lippen fort:
»Heute nacht ist der Herumtreiber überhaupt nicht nach Hause gekommen. Als wir morgens weggingen, hat der arme Hund drinnen noch immer auf der Schwelle gelegen und auf seinen saubern Herrn gewartet. Mir tut das verlassene Tier schrecklich leid, und ich werde Mr. Allan bei der nächsten Gelegenheit gehörig die Meinung sagen …«
Eine Viertelstunde später verabschiedete sich Bessie von der Freundin mit einem Schwall von kräftigen Zusprüchen und fürsorglichen Ratschlägen und ging dann ihrem weiteren Tagewerk nach. Alice Parker beherrschte geläufig vier Weltsprachen, und so weit wollte Bessie es auch bringen. Außerdem besuchte sie noch einen Haushaltungskurs, einen Kurs für Säuglingspflege und eine Nähschule, denn man konnte ja nicht wissen, vor welche Aufgaben sie das Leben einmal noch stellen würde, und mit irgendeiner nützlichen Tätigkeit mußte man ja seine freie Zeit schließlich ausfüllen.
Mr. William Ellis machte sich nach dem zweiten Frühstück auf den Weg, um sich mit seinem Vertrauten und Teilhaber Iwan Karenowitsch in einer sehr dringlichen und heiklen Angelegenheit zu beraten. Er hatte heute einen Brief erhalten, dessen Inhalt höchst bedenklich lautete und einen raschen Entschluß forderte; und überhaupt sahen die Dinge so verdammt übel aus, daß man sich darüber wieder einmal gründlich aussprechen mußte.
Mr. Iwan Karenowitsch führte auf seinen gediegenen Besuchskarten vor seinem Namen ganz bescheiden den Titel »Konsul«, und der Aufschlag seines vollendet sitzenden Fracks war bei größeren gesellschaftlichen Anlässen immer mit einer ansehnlichen Ordenskette geziert. Das erhöhte den vornehmen Eindruck, den der schlanke, kaum vierzigjährige Mann mit dem exotischen Gesicht machte, und man munkelte, daß der elegante Konsul auf die Herzen und die Tugend der Frauen geradezu verheerend wirkte.
Diese Gefahr bestand bei seinem Freunde Ellis nicht, denn man konnte diesem weder äußere Vorzüge, noch ein gewinnendes Wesen nachsagen. Seine grobschlächtige Erscheinung erinnerte stark an einen Menschenaffen, und auch die plattgedrückte Nase, der breite wulstige Mund und die abstehenden fleischigen Ohren paßten ganz zu diesem Bild.
Er hatte nicht weit zu gehen, denn Karenowitsch bewohnte in unmittelbarer Nähe ein kleines Haus, das den Vorteil ziemlicher Abgeschiedenheit hatte. Da der lebenslustige Junggeselle nach seinen vergnügten Nächten immer erst sehr spät aufzustehen pflegte, traf ihn Ellis noch im Morgenanzug und beim ersten Frühstück an.
Der Konsul war über den Besuch weiter nicht überrascht, denn sein Teilhaber pflegte sich häufig bei ihm einzustellen, weil man hier völlig ungestört war. Auch als der Mann sofort ein Blatt Papier aus der Tasche zerrte und grimmig auf den Tisch klappte, machte dies auf den Konsul keinen sonderlichen Eindruck. Er strich sich in aller Ruhe noch ein geröstetes Brötchen, und erst, als er einen Bissen in den Mund geschoben und einige Schlucke Tee nachgespült hatte, nahm er das Briefblatt auf und faltete es ohne sonderliche Eile auseinander.
Er las die wenigen Zeilen, ohne eine Miene zu verziehen, aber als er damit fertig war, standen seine dichten, schwarzen Brauen plötzlich hoch in der Stirn.
»Wesley???« fragte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme, und aus seinem Blick sprach außerordentliche Spannung.
Ellis unterbrach seinen aufgeregten Marsch durch das Zimmer und ließ sich krachend in einen der Klubsessel fallen. »Was könnte es denn sonst sein?« krächzte er ebenso gedämpft zurück. »Der Bursche schreibt, daß er unterwegs zu dem Ding gekommen wäre – und er ist Seemann. Auch die Zeit könnte stimmen, denn wahrscheinlich ist er noch irgendwo herumgegondelt, bevor ihn der Teufel hierher gelotst hat.« Er hieb mit der Hand abermals so heftig auf den Tisch, daß das Frühstücksgeschirr ins Wanken geriet. »Eine verdammte Schweinerei«, stieß er zwischen den schütteren Zahnstummeln hervor. »Da sitzen wir nun seit Monaten und lauern von Tag zu Tag, daß einem schier schon die Nerven reißen, und können uns nicht rühren, weil wir nicht wissen, woran wir sind – und dabei ist vielleicht alles schon längst erledigt. Wenn diese schmierige Wasserratte das Buch bloß gefunden oder gestohlen hätte, würde sie sich nicht getrauen, daraus Geld machen zu wollen. Sie muß ganz sicher sein, daß der Mann, dem es gehörte, ihr nicht mehr in die Quere kommen kann. – Aber was, zum Teufel, steht drin? Geht es um die Geschichten von drüben, von denen der gerissene Wesley trotz seiner ewigen Besoffenheit sicher manches aufgeschnappt hat, oder geht es um die Sache, die wir mit ihm hatten?«
Diese Frage war so schwerwiegend, daß sie Ellis alle Farbe aus dem Gesicht trieb, und auch Karenowitsch nagte eine lange Weile sehr nachdenklich an der Unterlippe.
»Du mußt dir den Burschen natürlich noch heute beibiegen«, unterbrach er endlich das Schweigen. »Wir können ihn mit dem Buch und dem, was er vielleicht sonst weiß, nicht noch länger herumlaufen lassen, ob es sich nun um das eine oder das andere handelt. Geht es aber wirklich um Wesley, müssen wir natürlich alle Einzelheiten genauestens erfahren. Wo und wie es geschehen ist – und was das Ende war. Du verstehst mich? Quetsche also diesen Paddy zunächst gründlich aus, und dann muß ihm der Mund gestopft werden. Wende dich an die Stelle, die uns der Mann in Soho empfohlen hat. Diese Leute sind geschickt, und wegen eines Matrosen wird es nicht viel Lärm geben. Und falls unser Plan wirklich geklappt hat, rücken wir sofort mit den Papieren heraus. Meine Leute warten schon darauf, und diese gefräßigen Engländer, die einfach alles schlucken möchten, können sich den Mund wischen.«
»Ich wünschte, es wäre schon so weit«, knurrte Ellis, indem er in eine dicke schwarze Zigarre biß und die Spitze kurzerhand auf den Tisch spuckte. »Die Dinge wollen mir nämlich gar nicht gefallen. Wir haben zwar schon ein paarmal den Kopf riskiert, aber dabei ist es immer rasch und glatt gegangen. Nicht so wie diesmal, wo wir seit mehr als einem Vierteljahr den Hals in der Schlinge haben und bis heute nicht wissen, ob wir nicht vielleicht drin hängenbleiben …«
Der vierschrötige Mann ließ diesem bekümmerten Stoßseufzer noch einen saftigen Fluch folgen, der Konsul aber gähnte und schlug gelassen ein Bein über das andere.
»Du siehst aus, als ob du es mit der ganzen Hölle aufnehmen würdest«, sagte er mit einem wenig schmeichelhaften Blick, »hast aber das Herz immer gleich in den Hosen. – Damals mit dem Sternenschreck war es genau so.«
»Hör schon mit diesen alten Geschichten auf«, fauchte Ellis zurück. »Wir haben andere Sorgen. Wenn aus dem großen Geschäft nicht bald was wird, sitzen wir in ein paar Wochen auf dem Trockenen. Von den Blumen allein können wir nicht leben, und vielleicht wird das überhaupt bald aus sein. Die Leute drüben sind jetzt verdammt scharf dahinter her, und auch im Yard möchte man sich die feine Prämie gerne verdienen. Ich weiß das von dem Gentleman, den ich kennengelernt habe. Er schwatzt fortwährend davon und ist überhaupt« – trotz seiner düsteren Stimmung brachte Ellis ein belustigtes Grinsen zustande – »ein sehr netter und unterhaltsamer junge. Man braucht nur leicht anzutippen und kann aus ihm herausholen, was man will. Besonders wenn man ihn ein paar Pfund gewinnen läßt. Ich muß mich jetzt, wo die nächste Sendung bald fällig ist, wieder ein bißchen mehr um ihn kümmern.«
»Vor allem kümmere dich um den unbequemen Seemann«, sagte Karenowitsch bereits etwas ungeduldig, »und ich werde die Sache mit dem Mann im Pool nun in Schwung bringen. Wenn Wesley wirklich tot ist, können wir den andern endlich energischer anfassen. Weiß der Kuckuck, wie er das in der Eile angestellt hat. Er muß rein im letzten Augenblick irgendwie Lunte gerochen haben …«
»Das Gute für uns ist, daß die Polizei glaubt, er wäre durchgegangen und säße schon längst irgendwo drüben«, bemerkte Ellis und fand dies so belustigend, daß er wiederum über das ganze Gesicht feixte, was ihn nicht hübscher machte.
Der Konsul nickte. »Darauf war ja auch alles angelegt. Besonders die Depesche nach der Schweiz war eine gute Idee. Die betreffende Person ist wirklich verschwunden und wartet offenbar irgendwo geduldig auf das Wort. Und auch das ist gut, denn wir werden sie vielleicht brauchen, um den versteckten alten Geldsack zum Reden zu bringen. Ich habe bereits ein verläßliches Detektivbüro beauftragt, sie auszuforschen. Durch die ›Times‹ wäre das zwar einfacher und billiger gewesen, aber es kann sein, daß die Polizei von dem Telegramm Kenntnis hat und noch immer scharf aufpaßt.«
»Zum Teufel«, platzte Ellis gallig heraus, »die sollte sich jetzt wahrhaftig um andere Dinge sorgen. Da wird unseren aufgetakelten Frauenzimmern einem nach dem andern der sündhaft teure Tand direkt vom Leibe gezogen, und das tüchtige Yard, von dem so viel Wesens gemacht wird, ist auf einmal mit allen seinen Künsten zu Ende. Die Sache ist einfach ein Skandal, und das alberne Weib« – damit meinte der höfliche Mann Mrs. Elvira Ellis – »ist in einer Laune wie des Teufels Großmutter, wenn dieser etwas über die versengte Leber gelaufen ist …«
Er zerdrückte wütend den arg zerkauten Zigarrenstummel, aber dann schnitt er plötzlich wieder eine seiner scheußlichen Grimassen.
»Daran bist übrigens auch du mit schuld«, fuhr er fort. »Seitdem du dich bei uns so rar machst und dafür fortwährend um Mrs. Reed herumscharwenzelst, kocht es in ihr gewaltig.« Das Lächeln des robusten Gentleman wurde noch anzüglicher. »Ich weiß nicht, ob sie sich darüber mit dir schon ausgesprochen hat, aber auf jeden Fall würde ich mich an deiner Stelle vor ihr gehörig in acht nehmen. Ein wenig kennst du sie ja auch, wenn auch noch lange nicht so genau wie ich.«
Konsul Karenowitsch, der die letzten verfänglichen Anspielungen mit der kühlen, verschlossenen Miene eines Mannes von Welt hingenommen hatte, warf einen deutlichen Blick auf die Uhr.
»Mein Lieber, ich muß mich nun ankleiden«, sagte er. »Spätestens um eins bin ich im Klub und warte dort auf dich. Sieh zu, daß alles glatt abläuft.« Er erinnerte sich plötzlich an die neben ihm liegende noch uneröffnete Post und begann diese hastig durchzublättern, Ellis aber stellte sich schwerfällig auf die massigen Beine und strampelte die hochgerutschten Hosen herunter.
»Verdammte Scherereien«, machte er sich noch einmal Luft. »Für alle Fälle werde ich natürlich nun auch an Wesley schreiben, und dabei will jedes Wort gut überlegt sein …«
Er nickte kurz und verdrießlich und hielt Karenowitsch die knochige Hand hin, aber dieser war noch immer mit seinen Briefschaften beschäftigt.
»Warte noch einen Augenblick«, sagte er. »Vielleicht ist darunter bereits eine Nachricht wegen der gewissen Person …«
Aber erst ganz zu unterst stieß der Konsul auf einen Umschlag, der ihn interessierte, und riß ihn ohne viel Umstände auf. Die einfache weiße Karte, die zum Vorschein kam, sah wie eine Einladung oder Familienanzeige aus, aber Karenowitsch hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als er diesmal sichtlich außer Fassung geriet. Er starrte mit reglosem Gesicht lange Sekunden auf das Blatt, dann ließ er es endlich sinken und streifte den harrenden Besucher mit einem seltsamen Blick.
»Wer, zum Teufel, macht so alberne Späße?« stieß er zwischen den verbissenen Zähnen hervor, und in Ellis wurden sofort wieder alle Befürchtungen, mit denen er sich seit vielen Wochen herumschlug, wach.
»He – vielleicht noch eine Bescherung?« platzte er besorgt heraus, und da nicht sofort eine Antwort kam, riß er seinem Teilhaber die Karte ungestüm aus der Hand und trat damit zum Fenster. Und dann fuhr ihm auch bereits ein gewaltiger Schreck in die Glieder: Das sah ja ganz nach dem verdammten Humbug aus, der ihnen schon einmal gehörig zu schaffen gegeben hatte. Aber hatte man denn dieser niederträchtigen Geschichte nicht ein Ende gemacht? – Ein so gründliches Ende, daß man davor für immer Ruhe haben mußte? – Was sollte da auf einmal dieser Wisch bedeuten?
Ellis glotzte auf die sechs unregelmäßig angeordneten Sternchen in der linken oberen Ecke, und dann flogen seine flimmernden Augen über die wenigen Maschinenzeilen.
»Das Geschäft mit Th.W. und jenes im Hafen geht halbpart. Als Anzahlung haben Sie in der Nacht zum 21. d.M. pünktlich um elf Uhr den Betrag von zweitausend Pfund zu erlegen. Der Umschlag mit dem Gelde ist an einem genau drei Meter langen Bindfaden am dritten Geländerpfeiler des Regent’s Canals links von der Canalbridge Street zu befestigen und zum Wasser hinabzulassen. Die endgültige Abrechnung für den 11.V.1936, der sich diesmal nicht wiederholen wird, bleibt offen.«
»Natürlich ist das ein fauler Witz«, wiederholte der Konsul auf die stumme Frage, die in Ellis’ verstörtem Gesicht geschrieben stand, aber es klang nicht sehr sicher. »Diese Leute haben wir samt ihren Sternen ein- für allemal ausgeblasen. Du warst ja selbst mit dabei. Es kann nur sein, daß Elvira zu irgendwelchem hinterhältigen Zweck plötzlich auf diesen blöden Einfall gekommen ist.«
Ellis ließ ein gereiztes Lachen hören und fuhr sich grimmig durch die schütteren rötlichen Haarsträhnen. »Mein Lieber, ich fürchte, es steckt etwas weit Schlimmeres dahinter«, würgte er aus rauhem Halse hervor. »Das Weib ist ja ein tückischer Satan, aber woher sollte es von Wesley und dem andern wissen, he? Wir haben ja bei uns nie ein Wort darüber gesprochen.« Er befeuchtete mit der Zunge die trockenen Lippen, und seine kleinen geröteten Augen flackerten noch unruhiger als sonst. »Es könnte doch sein, daß wir damals nicht das ganze Nest erwischt haben, und daß der eigentliche Mann …«
Der Konsul war plötzlich so übler Laune, daß seine Selbstbeherrschung platzte und alle weltmännische Glasur von ihm absprang. »Scher dich endlich schon zum Teufel!« herrschte er seinen besorgten Freund an. »Ich bin mit dieser verdammten Bande bereits einmal fertig geworden, und wenn sie daran nicht genug hat, wird sie eben nochmals draufzahlen. Bis zu dem gewissen Tage haben wir ja fast noch eine ganze Woche Zeit …«
Er machte eine verabschiedende Handbewegung, und Ellis war zwar noch bedrückter und sorgenvoller, als er gekommen war, aber als er im Abgehen seinen Genossen mit einem mürrischen Blick streifte, wurde er etwas ruhiger und zuversichtlicher. So, wie Iwan Karenowitsch augenblicklich dreinsah, hatte er gar nichts von einem Gent, Herzensbezwinger und mit flimmernden Orden bespickten Konsul an sich, sondern glich einem verteufelt entschlossenen Mann, dem es auf ein Menschenleben und ähnliche Kleinigkeiten nicht ankam. Mit solch einem Verbündeten konnte man vielleicht schließlich doch aus allen Schwierigkeiten heil herauskommen.
Kaum fünf Minuten, nachdem Ellis den Gang zu Karenowitsch angetreten hatte, war in seinem Hause wieder einmal Inspektor Sharp vom Scotland Yard mit seinem kleinen Stabe, dem Assistenten Guy Denby und dem Sergeanten Huggins, erschienen.
Der Pförtner, der die Besucher bereits kannte, öffnete mit großer Beflissenheit die Gartentür.
»Mr. Ellis ist eben ausgegangen«, meldete er, »und Mrs. Ellis noch nicht aus der Stadt zurück. Sie dürfte aber nun jeden Augenblick kommen, da Mrs. Reed bei uns lunchen wird.«
»Mrs. Reed auch? – Gut, das erspart mir einen Weg. Wir werden also warten«, sagte der Inspektor mit seiner hohlen Stimme, die aus dem langen, dürren Halse wie aus einem Sprachrohr kam.
Der Türhüter schickte sich an, die Führung zum Hause zu übernehmen, aber Sharp lehnte ab.
»Danke. Wir bleiben im Garten«, erklärte er kurz, indem er auch schon den nächsten Kiesweg einschlug, und der mit Disziplin getränkte Sergeant Huggins folgte ihm in der durch den Respekt gebotenen Entfernung. Und wieder in einem entsprechend bemessenen Abstande schlenderte Assistent Guy Denby hinter den beiden drein. Keineswegs jedoch aus Respekt, für den er nicht viel übrig hatte, sondern weil er dies sich selbst schuldig zu sein glaubte. Mit dem dürren, quittengelben, unrasierten Inspektor Sharp ließ sich kein Staat machen, und Sergeant Huggins war zwar ein ganz stattlicher Mann, konnte aber bestenfalls für einen wohlsituierten Gemüsehändler gehalten werden, der zu irgendeinem feierlichen Anlasse unterwegs war.
Assistent Guy Denby hingegen hätte sich in der tadellosen Aufmachung, in der er augenblicklich in Kensington umherschlenderte, um gemeine Diebe zu fangen, auch auf dem Mittagskorso im Hydepark ohne weiteres sehen lassen können. Nur die Blume im Knopfloch des gediegenen Überrocks fehlte noch, aber daran war einzig und allein der verschrobene Geschmack seines unmittelbaren Vorgesetzten schuld. Inspektor Sharp hatte nämlich zwar weder an spiegelnden Harmonikahosen, noch an ausgefransten Hemdkragen und fettigen Krawatten, ja nicht einmal an einer penetrant riechenden Stummelpfeife etwas auszusetzen, Blumen im Knopfloch jedoch waren ihm schrecklich zuwider. Und er hatte in seiner galligen Art so lange herumgenörgelt, bis Assistent Denby als der Klügere und um des lieben Friedens willen auf diese letzte Krönung seiner Eleganz verzichtete. Aber nur darauf, obwohl es an ihm noch einige andere Dinge gab, über die der giftige Inspektor unausgesetzt seine bissigen Bemerkungen zu machen hatte, Sharp liebte ihn offenbar nicht, das beruhte jedoch auf Gegenseitigkeit. Und es berührte Denby auch nicht sonderlich, denn seit einiger Zeit lag ihm etwas viel Wichtigeres am Herzen als das Wohlwollen seines Vorgesetzten. Die Sache hatte gerade hier in diesem Hause ihren Anfang genommen, in das ihn vielleicht seine gute Fee geführt hatte. Vorläufig trug die Bekanntschaft mit dem netten Mr. William Ellis allerdings bloß hie und da ein paar Pfund ein, weil der gute Mann von Poker und Bakkarat nicht die blasseste Ahnung hatte, aber vielleicht schaute dabei eines Tages ein wirklich großer Schlag heraus. Und solch eine Chance brauchte Guy Denby, denn die kleinlichen Sorgen, mit denen er sich derzeit herumbalgen mußte, waren seiner angeborenen Großzügigkeit höchst zuwider. Nur hatte es mit dem besondern Glücksfall, von dem er träumte, noch einen kleinen Haken: Erstens hatte er für gewisse Vermutungen bisher bloß einen geradezu lächerlichen Anhaltspunkt, und zweitens bestand die Gefahr, daß sein mißgünstiger Vorgesetzter ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Denn man mochte über diesen Neid- und Geizhammel mit den Harmonikahosen denken wie man wollte – daß er eine verdammt feine Spürnase hatte, konnte man ihm nicht absprechen. Und wenn man sich dann vielleicht schon zu tief in die Geschichte eingelassen hatte, konnte dabei nicht nur die große Chance, sondern auch die Aussicht auf den Polizeipräsidenten zum Teufel gehen.
Deshalb hatte Guy Denby auch dem heutigen Besuche in Kensington mit einiger Besorgnis entgegengesehen. Inspektor Sharp, der sich nie in seine Karten blicken ließ, schwieg sich über den Zweck völlig aus und hatte seinen Begleitern bloß angedeutet, daß er sie vielleicht brauchen werde. Nun ging es ja wahrscheinlich auch diesmal wieder nur um den gestohlenen Schmuck, aber man konnte nicht wissen, was alles dabei zufällig noch herauskam. Besonders da der Inspektor ganz so aussah, als ob er etwas im Schilde führte. Da galt es, Augen und Ohren gehörig offen zu halten …