Der Sohn des Apothekers - Ulrich Hefner - E-Book

Der Sohn des Apothekers E-Book

Ulrich Hefner

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Beschreibung

»Wenn ein schlimmes Verbrechen geschieht und du wirst gerufen, dann ist der Fall noch heiß. Du stolperst mitten hinein in den Schmerz, in die Grausamkeit und in die Trauer. Du nimmst alles mit deinen Sinnen auf. Nicht nur die Worte und das, was du siehst, auch die Regungen, die Stimmungen der Menschen, denen du begegnest, mit denen du sprichst. Das Verbrechen ist präsent, es umgibt dich, den Tatort, es ist wie eine Aura. Und der erfahrene Ermittler, der saugt alles in sich auf und das ergibt ein Gesamtbild, eine Komposition des Schreckens, verstehst du?« Martin Trevisan übernimmt nach seinem Zusammenbruch einen Bürojob im LKA. Doch sein erster Fall ist kein ruhiger Einstieg. Ein Mädchen, das drei Jahre zuvor mit ihrer Freundin bei einer Radtour am Steinhuder Meer verschwand, wird schwer verletzt gefunden - offenbar aus einem fahrenden Auto gestoßen. Lebt auch die andere junge Frau noch und schwebt in höchster Gefahr?

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Ulrich Hefner

Der Sohn des Apothekers

Kriminalroman

Zum Autor

Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er wohnt in Lauda-Königshofen, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor und Journalist. Er ist Mitglied in der IGdA (Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren), im DPV (Deutschen Presseverband) und im Syndikat. Weiterhin ist er Gründungsmitglied der Polizei-Poeten. Die Polizei-Poeten veröffentlichten inzwischen vier Bücher, die nicht nur in Polizistenkreisen auf großes Interesse stießen. Neben der Krimiserie um den Ermittler Martin Trevisan, die inzwischen aus sechs Bänden besteht, sind inzwischen auch drei Thriller erschienen, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden. www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen im Leda-Verlag 2012)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Nordreisender / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6526-0

 

 

Prolog

September 1999, nahe des Steinhuder Meeres

Sie rannte immer tiefer hinein in den Wald, sie rannte und ihre Lungen schmerzten. Sie rannte um ihr Leben. Sie spürte, dass ihr der Verfolger dicht auf den Fersen war. Ihre Beine trugen sie voran, über das feuchte Moos, über herumliegende Äste, durch das niedere Gebüsch, und doch: Ihre Kraft ließ nach.

Immer noch hatte sie dieses Bild vor Augen … Melis Gesicht voller Blut. Blutig, weil sie nicht bereit war, sich diesem Ungeheuer zu fügen, weil sie sich gewehrt hatte, geschrien, gebissen und gekratzt. Dann war dieses Monster aufgesprungen und hatte wie wild auf sie eingeschlagen. Er hatte sie zu Boden geschlagen und schließlich zu einem Stein gegriffen. Es war wie ein böser Traum. Sie war zu keiner Bewegung fähig, nicht fähig, Meli zu helfen. Wie auch, was hätte sie denn tun sollen.

Dieses Ungeheuer war viel zu stark.

Und dann, dann hatte sich die Paralyse gelöst. Wie eine Katze war sie aufgesprungen, nur einen Gedanken im Sinn: Weg hier!

Das nahe Gehölz, dorthin wollte sie fliehen, doch ehe sie den Waldsaum erreichte, sah sie, dass er ihr folgte. Diese grausig entstellte Fratze, dieses vom Wahnsinn gezeichnete Gesicht. Ein einziger Alptraum, nur dass dieser Traum einfach nicht enden wollte.

Sie lief, sie hetzte, sie strauchelte, stolperte und stürzte, raffte sich wieder auf und hastete weiter. Doch als sie an einen Abhang kam, hielt sie inne. Ihr Herz raste wild und sie rang nach Atem. Ihr Blick blieb an einem alten Baumstumpf haften. Ein umgestürzter Baumstumpf, darunter eine Erdkuhle. Sie schwankte auf den Baumrest zu und kroch in die kleine Vertiefung unter dem Gehölz. Ein gutes Versteck, schoss es ihr durch den Kopf und sie war überrascht, dass sie überhaupt noch in der Lage war, einen Gedanken zu fassen. Langsam gewann sie auch die Kontrolle über ihre Lungen zurück. Leise, du musst leise sein, entspannt atmen, rief sie sich zur Ruhe.

Die Sekunden zogen sich endlos dahin. Angestrengt lauschte sie in das Halbdunkel der Dämmerung. Noch immer war es hell genug, um die Konturen der Büsche und Bäume zu erkennen. Er war irgendwo dort draußen und suchte nach ihr. Die Geräusche seiner Schritte drangen aus weiter Ferne zu ihr herüber. Hatte sie es geschafft, war sie entkommen, diesem puren Wahnsinn entkommen?

Wenn es nur endlich richtig dunkel würde, dachte sie, und wiederum wunderte sie sich über den Gedanken. War es früher nicht genau diese Dunkelheit gewesen, vor der sie immer Angst gehabt hatte? Nun wartete sie darauf, als brächte Dunkelheit die Erlösung.

Als es laut hinter ihr raschelte, fuhr sie erschrocken zusammen. Am liebsten hätte sie geschrien, doch sie verbiss sich den verräterischen Laut, erstickte das Bedürfnis, die Angst laut hinauszubrüllen.

»Ich fang dich, ich krieg dich!«, drang der Ruf dieses Ungeheuers durch den Wald, als sei dies alles ein Spiel. Sie schloss ihre Augen.

Es raschelte erneut. Diesmal viel näher als zuvor. Sie duckte sich tiefer und ihre Stirn berührte die kalte Erde. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz.

»Ich hab dich … hab dich … hab dich«, erklang plötzlich diese unheimliche und irrsinnige Stimme direkt in ihrem Rücken. Ein irres Kichern folgte. Der Schmerz wurde stärker. An den Haaren zog er sie hervor. »Komm schon«, flüsterte der Irre in ihr Ohr. Schon warf er sie zu Boden und riss ihr die Hose herunter. Sie war nicht mehr fähig, sich zu wehren. Erst als sie den Schmerz in ihrem Unterleib spürte, schlug sie ihre Augen wieder auf und blickte in diese verzerrte Fratze. Rhythmisch wippte sein Schädel auf und ab, und immer wenn er sich nach unten neigte, wurde der Schmerz im Unterleib stärker. Sie schloss ihre Augen und fügte sich in ihr Schicksal. Sein Mund roch modrig und faulig, und als sie seine schmierigen und schleimigen Lippen auf ihren spürte, schmeckte sie die Ausdünstungen des Alkohols.

Irgendwann schwanden ihr die Sinne, doch zuvor merkte sie noch, dass dieses Fratzengesicht nicht der Einzige war, der sich auf sie legte und in sie eindrang.

*

Drei Jahre später in Tennweide am Steinhuder Meer

Als Justin Belfort seinen Wagen auf dem weitläufigen Dorfplatz mitten unter einer riesigen, jahrhundertealten Linde parkte und ausstieg, spürte er instinktiv, dass hier alles anders war als zu Hause. Er hob den Kopf in den Wind und witterte. Sogar die Rosensträucher, die den Platz säumten, verströmten einen anderen Duft, als er es von den drei kleinen Büschen im Vorgarten seines Reihenhauses in Hannover nahe der Universität gewohnt war. Ihn fröstelte, denn es war keine friedvolle Stille, es war das Schweigen eines Friedhofs.

Er wusste, dass eine schwere Aufgabe vor ihm lag, aber er hatte nicht vor, einfach aufzugeben, so wie es damals die Polizei getan hatte. Er hatte sich in das Foto verliebt, das in der alten Akte auf der ersten Seite eingeheftet worden war. Das blonde Mädchen auf diesem Bild hatte ihm den Kopf verdreht. Immer wenn er nicht darauf achtete, stahl es sich in sein Gehirn und flüsterte ihm zu. Flehentlich und leise.

»Hilf mir!«

Justin Belfort schloss die Wagentür und drehte sich langsam um. Der Ort war wie ausgestorben. Noch nicht einmal in dem Biergarten des großen Gasthauses vis-à-vis des Dorfplatzes, das sich an das Nachbargebäude schmiegte, sah man eine Menschenseele. Zum Klosterkrug stand auf einem schmiedeeisernen Schild über dem Eingang. Hier in diesem Ort hatte sich die Spur der Mädchen verloren. Niemand hatte je wieder etwas von ihnen gehört.

Die Polizei hatte Ermittlungen eingeleitet und sogar einen Verdächtigen festgenommen. Doch der vermeintliche Täter, ein debiler Junge aus dem Dorf, war kurz danach mangels Beweisen aus der Haft entlassen worden. Das einzige Indiz, das damals für eine Täterschaft sprach, war ein Kettchen, das zweifelsfrei einem der Mädchen gehörte und das der junge Mann – es sollte sich um den Sohn eines Apothekers gehandelt haben – in seinem Zimmer versteckt hatte und wie ein Schatz behütete.

Justin Belfort war Journalist. Das hannoversche Magazin Direkt hatte ihn wegen seiner im Volontariat überzeugenden Leistungen bei Ausbildungsabschluss fest angestellt, und inzwischen war er bekannt wegen seiner mehrseitigen, gut recherchierten Reportagen. Vor einigen Tagen hatte eine neue Entwicklung im Fall dieser beiden verschwundenen Mädchen ihn zu dem Entschluss gebracht, über ungeklärte Fälle vermisster Verbrechensopfer zu berichten, aber er hätte sich niemals träumen lassen, wie nahe ihm diese Reportage gehen würde. Die beiden Radfahrerinnen waren im Spätsommer des Jahres 1999 auf ihrem Trip von Hannover an die Nordseeküste spurlos verschwunden und nach bisherigen Erkenntnissen wohl einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Besonders tragisch fand er, dass die Reisekosten ein Geschenk der Eltern zum Abitur gewesen waren. Die Spur der beiden hatte sich damals in dem kleinen Ort am Steinhuder Meer, zwischen Neustadt und Mardorf, verloren. Die Fahrräder hatte man knapp einen Kilometer vom Ort entfernt gefunden

Damals war der Fall durch alle Gazetten gegangen, Tageszeitungen, Magazine, sogar das Fernsehen hatte in der Landesschau darüber berichtet. Nach der Verhaftung des debilen Tatverdächtigen, bei dem das Kettchen gefunden worden war, waren die Diskussionen über den Umgang mit geistig nicht zurechnungsfähigen Tätern aufgeflammt. Größen aus Politik und Justiz hatten Stellung bezogen. Doch manchen, die sich vehement für eine Verschärfung des Unterbringungsgesetzes eingesetzt hatten, war sehr schnell der Wind aus den Segeln genommen worden, als Tage später der Rucksack eines Opfers auf einem knapp vierzig Kilometer entfernten Autobahnrastplatz an der A 7 unweit der Abfahrt Schwarmstedt aufgefunden worden war. Ein Unbekannter hatte am Rucksack eine DNA-Spur hinterlassen. Damit stürzte das fragile Konstrukt aus Indizien und Mutmaßungen gegen den Sohn des Apothekers in sich zusammen und er wurde wieder auf freien Fuß gesetzt.

Vor wenigen Tagen war dann unweit von Flensburg eine abgemagerte und schwer verletzte junge Frau aufgefunden worden, die vermutlich aus einem fahrenden Auto gestoßen worden war. Sie lag im Koma und die Ärzte befürchteten angesichts ihrer Verletzungen das Schlimmste. Sie hatte keinerlei Papiere bei sich und weder die Überprüfung der Vermisstenfälle über das Bundeskriminalamt noch überregionale Presseartikel hatten zur Identifikation beitragen können. Erst eine DNA-Analyse hatte die überraschende Wende gebracht. Die junge Frau, die an der B 200 unweit von Wassersleben mehr tot als lebendig aufgegriffen worden war, war jene Tanja Schaffrath aus Minden, die zusammen mit ihrer Freundin vor drei Jahren am Steinhuder Meer auf einer Radtour spurlos verschwunden war.

Doch wo war Melanie, ihre damalige Begleiterin, geblieben? War sie vielleicht sogar noch am Leben? Was war bei diesem kleinen Ort namens Tennweide am Steinhuder Meer vor drei Jahren wirklich passiert?

Um das herauszufinden, war Justin Belfort ans Steinhuder Meer gefahren und er würde nicht wieder abreisen, bevor er die Antworten gefunden hatte.

Erinnerung1

Sande bei Wilhelmshaven

»Ich weiß nicht, ob ich es ohne diese kleine Erbschaft geschafft hätte«, sagte Martin Trevisan. »Ich verstehe auch gar nicht, wie Onkel Herbert darauf gekommen ist, mir das Geld zu vermachen. Ich hatte überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihm. Es war mir beinahe peinlich, als ich beim Notar in Cuxhaven saß und bei Gott, wenn ich das Geld für Paulas Behandlung nicht so dringend gebraucht hätte, dann weiß ich nicht, ob ich das Erbe überhaupt angetreten hätte.«

»Dann wäre es an den Staat gefallen und niemand hätte mehr etwas davon gehabt«, antwortete Peter Koch, Trevisans Freund aus alten Tagen, den er seit beinahe vier Monaten nicht mehr gesehen hatte.

»Der Staat … wenn ich sehe, wie er sich um seine Straftäter sorgt und wie er ihre Opfer behandelt, dann weiß ich nicht, wo hier die Gerechtigkeit bleibt«, sinnierte Trevisan bissig. »Ich bin froh, dass ich das Geld geerbt habe, sonst wüsste ich nicht, wie ich die Arztrechnungen bezahlen sollte. Außerdem hat er sich am Ende doch noch einen ganzen schönen Batzen geholt. Erbschaftssteuer nennt er diese halblegale Dieberei.«

Martin Trevisan hatte sich mit Peter Koch in der Scharfen Ecke in Sande getroffen, um über die alten Zeiten zu reden. Am heutigen Tage hatte er sein kleines Reihenhaus in Sande endgültig verkauft, denn dorthin würde er zusammen mit Paula ohnehin nie wieder zurückkehren. Nach seinem letzten Fall, bei dem seine Tochter in die Fänge eines Sektenführers geraten war, war nichts mehr so, wie es einmal war.

Die physischen Wunden, die er und seine Tochter erlitten hatten, waren schnell verheilt, doch die Leiden der Seele hatten sich erst Wochen später bemerkbar gemacht. Paula hatte sich mehr und mehr zurückgezogen und er hatte seine ganze Kraft und Überredungskunst aufbieten müssen, damit sie überhaupt noch zur Schule ging.

Angela hatte ihm damals geraten, mit Paula zu einem Psychologen zu gehen. Zuerst hatte er sich dagegen gesträubt, hatte gedacht, dass die Abkapselung seiner Tochter nur eine vorübergehende Episode bleiben würde. Doch als Paula immer öfter in der Nacht von Alpträumen geplagt um Hilfe schrie, ahnte er, dass er falsch lag. Er bat Angela, zu ihm zu ziehen, sich um ihn und Paula zu kümmern, doch sein Bitten war vergebens, Angela hatte nur ihre Karriere im Kopf. So zerbrach seine Beziehung und auch ihn überforderte die Situation immer mehr.

Als er schließlich mit Paula in der psychiatrischen Tagesklinik vorsprach, stellten die Ärzte bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung einhergehend mit Angstattacken und einer depressiven Grundstimmungen fest, die unbedingt eine umgehende Behandlung erforderlich machte. Trevisan war geschockt, wie sollte er sich als alleinerziehender Vater um seine kranke Tochter kümmern und auch noch seinen Beruf ausüben können? Als er mit Grit, seiner Ex-Frau, darüber sprach, musste er sich nur Vorhaltungen und Beschimpfungen anhören, die ihn zusätzlich belasteten. Er und seine Arbeit wären schuld daran, dass es Paula so schlecht ginge. Trevisan legte einfach auf und kämpfte.

Es war nicht einfach für ihn. Die Krankenversicherung stellte sich quer, zahlte lediglich eine ambulante Therapie, und Tante Klara, deren Ehemann einen Schlaganfall erlitten hatte und die ihn zu Hause pflegte, war nicht mehr in der Lage, ihnen zu helfen. Zu Anfang versuchte er es mit einer Pflegerin, doch Paula ließ keine Fremde an sich heran. Glücklicherweise fanden sie einen Heilpraktiker, der mit unkonventionellen Methoden große Erfolge aufzuweisen hatte und der Zugang zu Paula fand. Trevisan reduzierte seine Arbeitszeit, um möglichst viel Zeit mit ihr zu Hause verbringen zu können, doch auch das war keine dauerhafte Lösung. Die Zuzahlungen zu Paulas Behandlung, die nicht von der Krankenkasse gedeckt war, fraßen sehr schnell seine Rücklagen auf.

An einem Donnerstag, vor mehr als einem halben Jahr, war Trevisan im Büro zusammengebrochen. Erst im Krankenhaus kam er wieder zu Bewusstsein. Organisch war er für sein Alter bei bester Gesundheit, doch auch sein Seelenleben war aus allen Fugen geraten. Burnout nannte man die Krankheit auf neudeutsch und die Ärzte rieten ihm, sein Leben neu einzurichten. Dazu kam, dass Paulas behandelnder Heilpraktiker empfahl, aus Sande wegzuziehen. Er sprach von einer Spezialklinik in Hannover, einer Institution, die an die Psychiatrie in Langenhagen angegliedert war und in der Kinder und Jugendliche untergebracht waren, die an den gleichen Symptomen litten wie Paula. Es war aufgebaut wie ein Internat und es fand sogar regulärer Unterricht statt, so dass Paula weiter an ihrem Abitur arbeiten könne.

Anfänglich stand Trevisan diesem Gedanken skeptisch gegenüber, doch nach dem er sich eingehend damit befasst hatte – er war zu dieser Zeit krankgeschrieben – freundete er sich mit dem Gedanken an, zumal die Klinik bei ihren Patienten mit ausgezeichneten Heilerfolgen aufwarten konnte. Einziges Manko an dieser Geschichte war, dass die Krankenkasse nur einen Teil der Behandlungskosten übernahm und er monatlich beinahe zweitausend Euro beisteuern musste.

Genau zu diesem Zeitpunkt starb Onkel Herbert, Trevisans Patenonkel, der in Cuxhaven gelebt hatte, alleinstehend gewesen war und es als Geschäftsführer und Inhaber einer Import-Export-Kette zu einem sehr ansehnlichen Guthaben gebracht hatte. Für Trevisan war dies ein Wink des Schicksals. Er bewarb sich um einen Platz für Paula in der Langenhagener Klinik und erhielt bald eine Zusage.

Es war ein tränenreicher Tag, als er Paula im Klinikgebäude, einem ehemaligen Bauernhof, ablieferte. Hinzu kam, dass er sie in der achtwöchigen Eingewöhnungsphase nicht besuchen und auch sonst keinen Kontakt zu ihr haben durfte.

Trevisan hatte diese Zeit gut genutzt. Er trat seine dreiwöchige Kur in Bad Bergzabern an und ersuchte seine Dienststelle um Abordnung nach Hannover. Kriminaloberrat Beck und die Kriminaldirektorin Schulte-Westerbeck setzten sich sehr für ihn ein, so dass er zunächst für ein Jahr zum Landeskriminalamt abgeordnet wurde. Sein neues Tätigkeitsfeld im Dezernat 32 umfasste die Ermittlungen nach Vermissten, die Identifizierung unbekannter Toter und die Überprüfung von ungelösten Fällen aus dem ganzen Land auf neue Anhaltspunkte und Ermittlungsansätze und war ein typischer Bürojob. Mittlerweile war er in eine Vierzimmerwohnung in Davenstedt gezogen, einem ruhigen Stadtteil von Hannover, wo er Paula nahe sein konnte. Schon die ersten Monate ihres Aufenthalts hatten eine Besserung ihres Zustandes zur Folge, so dass sie mittlerweile zweimal im Monat das Wochenende bei Trevisan verbringen durfte.

Heute war er nach Sande zurückgekehrt, um dieses Kapitel endgültig abzuschließen und das kleine Reihenhaus an eine junge Familie zu verkaufen, die sich für den fairen Preis und Trevisans Entgegenkommen nach dem Notartermin mit einem Essen revanchiert hatte. Aber der Abend sollte seinem langjährigen Freund Peter Koch vorbehalten bleiben, denn schon morgen würde er wieder nach Hannover zurückkehren, um seiner neuen Tätigkeit nachzugehen.

Peter hatte zwei weitere Biere bestellt und klopfte Trevisan aufmunternd auf die Schulter. »Du schaffst das schon«, sagte er. »Du hast schon ganz andere Dinge geschultert.«

Trevisan griff nach dem Bier und prostete Peter zu. »Dein Wort in Gottes Ohr.«

»Und wie läuft es bei der Arbeit?«

Trevisan lächelte. »Ich kann noch nicht viel dazu sagen. Ich bin vorerst nur vier Stunden im Büro und wurde durchs Haus geschickt, um die Abteilungen kennenzulernen. Berufliches Eingliederungs-Management nennt sich das. Soviel ich bislang mitbekommen habe, geht es in meiner neuen Abteilung hauptsächlich darum, Bilder von Vermissten auf Milchtüten zu kleben und auf die drei Birken im Hof zu achten, damit sie nicht weglaufen. Ich muss erst einmal die Leute dort richtig kennenlernen. Bislang bin ich in meiner neuen Abteilung nur auf eine junge, flippige Kollegin gestoßen, die sich den ganzen Tag ihre Fingernägel manikürt. Ich glaube, mir wird schon ein klein wenig die Arbeit auf der Straße fehlen.«

»Vielleicht ist das trotzdem ganz genau das Richtige für dich. Du hattest schließlich ein Burnout-Syndrom.«

»Ich komm schon wieder auf die Beine. War einfach alles zu viel. Paula, die Arbeit und die Sache mit Angela. Na ja, zumindest Paula kommt wieder langsam in Schwung. Sie hat in der letzten Mathearbeit eine glatte Eins geschrieben. Wenn sie so weitermacht, dann wird sie mir langsam unheimlich.«

»Hast du wieder mal was von Angela gehört?«

Trevisan nickte. »Sie hat vor drei Wochen angerufen.«

»Sie hat deine neue Nummer?«

»Auf dem Handy, sie ist in Kanada und jagt Grizzlybären mit der Kamera.«

»Wird das wieder mit euch beiden?«

Trevisan schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube nicht, aber wir bleiben Freunde. Weißt du, wenn man in einer Partnerschaft lebt, auch wenn es eine lockere Beziehung ist, dann muss man zusammenstehen. Ich hätte damals eigentlich erwartet, dass Angela ihre Karriere ruhen lässt und zu uns zieht, um uns über diesen … dieses Chaos hinwegzuhelfen, aber ihr war ihre Arbeit und ihre Freiheit wichtiger. Mit solch einem Menschen möchte ich nicht meine letzten Tage auf dieser Welt verbringen, auch wenn man ihr Verhalten vielleicht rational verstehen kann, weil Angela nie der Typ war, der sich in einer festen Bindung vereinnahmen lässt. Für mich sieht eine echte Partnerschaft anders aus.«

Peter prostete Trevisan zu. »Andere Mütter haben auch schöne Töchter.«

»Und ich habe die schönste Tochter der Welt«, entgegnete Trevisan.

*

Justin Belfort hatte sein Gepäck aus dem roten Audi geholt, das Fahrzeug verschlossen und in der kleinen Pension eingecheckt, in der ihn eine alte Dame mit grauem, zu einem Zopf gebundenen Haar hinter dem Tresen wortkarg empfangen hatte. Der Klosterkrug war Pension, Restaurant und Dorfkneipe zugleich. Über die Redaktion hatte er das Zimmer angemietet und sich angesichts des kalten Empfangs auf sein Zimmer zurückgezogen.

Die beiden Fahrräder der Mädchen waren unweit des Bannsees, einem Biotop im Wald, nördlich von Tennweide von einem Landwirt gefunden worden. Der Polizist, bei dem er es gemeldet hatte, wohnte hier in Tennweide. Er arbeitete in dem kleinen Polizeistützpunkt in Mardorf, der auch für Tennweide und die Umgebung zuständig war. Außerhalb der Saison verrichteten die Beamten des Polizeistützpunktes Mardorf auf der Polizeistation in Steinhude ihren Dienst. Genau dort würde Justin Belfort mit seinen Recherchen beginnen, doch heute wollte er noch das Tageslicht nutzen und dem Bannsee einen Besuch abstatten.

Er verstaute das Gepäck in seinem Zimmer, griff er nach seiner Kamera, schloss die Tür ab und ging hinunter zur Rezeption.

»Zwischen sechs und sieben Uhr gibt es Abendessen«, knurrte die Frau hinter dem Empfangspult.

»Können Sie mir sagen, wie ich hier am schnellsten an den Bannsee komme?«, fragte Justin.

Die Frau legte ihre Stirn in Falten. »Was wollen Sie denn dort?«

Justin hatte nicht vor, zu früh zu offenbaren, welche Gründe ihn nach Tennweide geführt hatten. »Ich will mich nur in der Gegend umsehen und ich hörte, dass es im Wald einen idyllischen Flecken geben soll, der Bannsee genannt wird.«

»Fahren Sie doch ans Steinhuder Meer«, antwortete die Wirtin. »Alle tun das.«

Justin Belfort grinste und bedankte sich. Er verließ den Klosterkrug und setzte sich in seinen Wagen. Das Navigationsgerät würde ihm schon den Weg weisen.

*

Magda Töngen, die alte Wirtin und Inhaberin des Klosterkruges, schaute dem jungen Mann nach, bis er mit seinem roten Audi in die Mardorfer Straße eingebogen war, und schüttelte den Kopf. Sie verließ die schummrige kleine Rezeption und betrat den Gastraum im linken Teil des Gebäudes. Drei Männer saßen in dem ansonsten leeren Raum an einem runden Tisch, tranken Bier und spielten Skat.

Sie trat an den Stammtisch und griff nach einem leeren Bierglas. »Noch eins?«

Der Mann mit den grauen Haaren, etwa Mitte fünfzig, schaute von seinen Karten auf und nickte.

Zögernd sagte die Wirtin: »Da ist wohl wieder so ein Spinner hier, der sich für den See und die verschwundenen Mädchen interessiert.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte der Grauhaarige.

»Sein Zimmer hat irgendeine Zeitungsredaktion gebucht. Und jetzt hat er mich nach dem Weg zum Bannsee gefragt. Hört das denn nie auf …«

»Wie heißt der Kerl?«

»Er hat sich als Justin Belfort aus Hannover eingetragen«, antwortete die Wirtin. »Diese Kerle tauchen hier auf, stellen dumme Fragen und schnüffeln überall herum. Das macht uns allen das Geschäft kaputt.«

»Ich werde mich darum kümmern. Schreib mir mal auf, welche Adresse er angegeben hat«, antwortete der Gast, der Thomas Klein hieß und Leiter des kleinen Polizeistützpunktes in Mardorf war, in dessen Zuständigkeitsbereich Tennweide lag.

2

Donnerstag

Trevisan hatte das mehrstöckige Dienstgebäude in der Schützenstraße in Hannover gegen acht Uhr betreten. Mit dem Fahrstuhl fuhr er in den dritten Stock, in dem das Dezernat 32 untergebracht war. Sein Büro, das er mit Kollegin Kowalski teilen musste, war wie in den letzten Tagen verwaist. Hanna Kowalski war noch bis zum Ende der Woche in Urlaub. Lediglich die nach Trevisans Einschätzung etwas eigentümliche Oberkommissarin Lisa Winter saß gegenüber im Zimmer und winkte ihm zu. Ihre Haare, vor zwei Tagen noch tiefschwarz, waren heute grellrot gefärbt. Trevisan ahnte, warum man dieser jungen Frau einen Innendienstjob gegeben hatte. Er erwiderte ihren Gruß und öffnete die Tür zu seinem Büro.

»Hey, Kollege!«, tönte es in seinem Rücken schrill. »Sie sollen zum Teufel gehen.«

Trevisan warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Was ist?«

»Der Teufel will Sie sehen. – Unser Boss, Sie verstehen?«, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.

Der Leiter des Dezernates 32 war Kriminaloberrat Engel. Hier war Trevisan wohl in einer sehr einfallreichsreichen Abteilung gelandet. Er dachte daran, wie heimisch er sich in Wilhelmshaven gefühlt hatte und wie familiär es im FK 1 zugegangen war.

»Er ist im Büro und wartet«, sagte Lisa Winter.

»Okay.« Trevisan machte sich auf den Weg. Er klopfte an die Tür der Vorzimmerdame und eine Frauenstimme meldete sich. Trevisan öffnete und schaute in das lächelnde Gesicht der Angestellten.

»Ah, jetzt lerne ich auch endlich unseren neuen Mitarbeiter kennen. Ich bin Karin Fittkau«, empfing ihn die blonde Frau und reichte ihm die Hand. Trevisan schätzte sie auf Mitte vierzig.

»Martin Trevisan. Ich hörte, der Chef will mich sehen.«

»Sie sind aus Wilhelmshaven zu uns gestoßen, nicht wahr?«

Trevisan nickte.

»Ich habe eine Schwester, die ist in Horumersiel verheiratet, eine schöne Gegend dort.«

Trevisan lächelte freundlich, aber er hatte auf eine Unterhaltung mit der zweifellos netten Dame keine Lust.

Frau Fittkau schien dies zu bemerken und umrundete ihren Schreibtisch. »Dann bringe ich Sie mal zum Chef.« Sie klopfte an der Zwischentür.

Dezernatsleiter Kurt Engel hatte die Ausstrahlung eines Buchhalters und empfing Trevisan mit Handschlag und leichter Verbeugung. »Ich begrüße Sie in meiner Abteilung«, sagte er steif und wies auf einen Stuhl.

Trevisan nahm Platz.

»Leider komme ich erst heute dazu, Sie willkommen zu heißen, am Montag war ich verhindert«, fuhr der Kriminaloberrat fort. »Sie befinden sich noch im Eingliederungsmanagement und sind bis zum Ende der Woche sechs Stunden bei uns?«

»Richtig«, bestätigte Trevisan verhalten.

»Sie hatten zwei Tage frei, wie ich hörte. Ich hoffe, Sie konnten die Zeit nutzen, um ihre privaten Dinge zu ordnen.«

Trevisan lächelte. »Ich hatte einen Notartermin in Wilhelmshaven.«

»Gut, in der letzten Woche haben Sie sich ja schon mit unserem Amt vertraut gemacht. Bei uns geht es ein klein wenig anders zu, als Sie es wahrscheinlich aus den Fachkommissariaten gewohnt sind. Wie ich hörte, haben Sie Frau Winter aus dem Dezernat bereits kennengelernt.«

»Ja, richtig.«

»Ich habe Ihrer Personalakte entnommen, dass Sie die Mordkommission der Wilhelmshavener Kriminalpolizei hervorragend geleitet haben und auch die leider tragischen Entwicklungen mit Ihrer Tochter und Ihnen selbst sind mir zugetragen worden. Wie geht es Ihrer Tochter heute?«

»Es geht, Sie wird hervorragend betreut. Zurzeit macht sie mit ihrer Gruppe einen längeren Ausflug nach Irland. Ich hoffe, dass alles gut wird, aber es wird noch einige Zeit vergehen, bis sie gesund ist.«

»Ich verstehe«, entgegnete der Kriminaloberrat. »Und wie sieht es mit Ihrer Gesundheit aus? Nächste Woche läuft Ihre Eingliederung aus und Sie sind dann Vollzeit bei uns. Denken Sie, dass Sie schon wieder so weit sind?«

Trevisan nickte.

»Das ist sehr gut.« Engel wies auf einen Wäschekorb voller grauer, abgenutzter Aktenordner. »Es kommt nämlich viel Arbeit auf unsere Abteilung zu und wie Sie ja am Montag bereits bemerkten, sind wir derzeit knapp an Personal. Kollege Amann ist noch mindestens zwei Wochen krankgeschrieben und Kommissar Berger kommt erst Mitte des Monats von seinem Lehrgang zurück. Also werden Sie sich zusammen mit Frau Winter und Frau Kowalski, deren Urlaub am Montag endet, an die Arbeit machen. Ich bin froh, dass wir den Abgang des Kollegen Smisek durch Ihre Abordnung kompensieren konnten. Gerade im anstehenden Fall sind uns Ihre Fähigkeiten als Ermittler sehr willkommen.«

»Um was geht es?«, fragte Trevisan.

Der Kriminaloberrat erhob sich und entnahm dem Wäschekorb scheinbar wahllos einen grauen Ordner. »Dieses Kapitaldelikt ist ein Revisionsfall, den wir unter die Lupe nehmen müssen.«

Trevisan betrachtete den Korb. »Das muss ein aufwändiges Verfahren gewesen sein.«

»In der Tat«, bestätigte Engel. »Es geht um das zunächst spurlose Verschwinden zweier junger Frauen, beide achtzehn Jahre alt. Eine tragische Sache. Sie befanden sich auf einer Radtour von Minden an die Nordseeküste. Die Reise samt allen Kosten und einem ordentlichen Taschengeld war ihnen von ihren Eltern aufgrund ihres bestandenen Abiturs geschenkt worden. Ihre Spur verliert sich in der Nähe des Steinhuder Meeres.«

»Ich glaube, ich habe von der Sache gehört«, antwortete Trevisan. »Das ist zwei oder drei Jahre her.«

»Es war am 29. September 1999, einem Mittwoch. Die Mädchen starteten am frühen Morgen von Neustadt. Ihr Etappenziel war Nienburg, doch dort kamen sie nie an. Ihre Fahrräder wurden einen Tag später nahe der kleinen Gemeinde Tennweide bei Mardorf in einem Wald gefunden. Die Kripo der Inspektion Garbsen hat damals eine Soko gebildet. Sie hatten einen jungen geistig Behinderten in Verdacht, der sich nach Zeugenangaben am mutmaßlichen Tattag in den Wäldern bei Mardorf herumgetrieben hatte. Bei einer Hausdurchsuchung fanden sie in seinem Zimmer die Halskette eines der Mädchen und nahmen ihn fest. Doch eine Woche später mussten sie ihn wieder auf freien Fuß setzen. Der Rucksack eines Mädchens war knapp vierzig Kilometer entfernt an der A7 in Höhe des Walsroder Dreiecks in Fahrtrichtung Norden aufgefunden worden. Es gab ein DNA-Muster an dem Gepäckstück, das vermutlich vom Täter stammt, doch bislang waren alle Abgleiche mit den DNA-Dateien ergebnislos. Der Täter ist weder vor noch nach der Tat in Erscheinung getreten. Kurzum, die Soko wurde im Sommer 2000 aufgelöst und der Fall zu den Akten gelegt. Erst vor zwei Monaten fand eine erneute Überprüfung durch unsere Abteilung statt, aber es gab keine neuen Ansatzpunkte, wir haben die Revision erfolglos beendet. Turnusgemäß überprüfen wir Altfälle alle sechs Monate.«

»Und warum kommt dieser jetzt wieder auf den Tisch?«

»Weil eins der Mädchen offenbar wieder aufgetaucht ist«, erläuterte Engel. »Die damals achtzehnjährige Tanja Sommerlath.«

Trevisan runzelte die Stirn. »Aufgetaucht? Was heißt das?«

»Vor knapp zwei Wochen wurde eine junge abgemagerte und verwahrloste Frau auf der B 200 in der Nähe von Flensburg von Verkehrsteilnehmern schwer verletzt aufgefunden. Den ersten Ermittlungen nach wurde sie wohl aus einem sehr schnell fahrenden Wagen geworfen. Es war reines Glück, dass sie überlebte. Da niemand die Frau kannte und auch in den Vermisstendateien keine ähnliche Person gespeichert ist, veranlassten die Kollegen aus Flensburg eine DNA-Analyse. Vorgestern kam das Ergebnis. Das genetische Muster stimmt mit unserer vermissten Tanja Sommerlath überein. Wir müssen davon ausgehen, dass die jungen Frauen vom Steinhuder Meer damals nicht getötet, sondern entführt wurden. Und wir müssen davon ausgehen, dass das zweite Mädchen, Melanie Reubold ist ihr Name, möglicherweise noch lebt.«

Trevisan kratzte sich am Kinn. »Ich verstehe, aber warum fragen wir diese Tanja nicht einfach?«

Engel fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Das ist nicht so einfach, sie liegt im Koma.«

»Gibt es sonst noch irgendwelche Erkenntnisse über die junge Frau?«

Der Kriminaloberrat nahm gezielt einen Aktenordner aus dem Wäschekorb und schlug ihn auf. »Offenbar ist das Mädchen schwer drogenabhängig, das geht aus dem medizinischen Gutachten hervor. Weiterhin wurden ältere Verletzungen im Genitalbereich diagnostiziert. Sie scheint vergewaltigt worden zu sein.«

Trevisan fuhr sich über das Kinn. »Haben die Kollegen aus Flensburg eine Spur oder zumindest einen Ansatzpunkt?«

»Es konnten Fasern an der Kleidung des Opfers festgestellt werden, die derzeit analysiert werden. Man erhofft sich davon Rückschlüsse auf das Fahrzeug, in dem das Mädchen saß, bevor es auf die Straße gestoßen wurde. Außerdem mutmaßen die zuständigen Kollegen, dass das Mädchen sich im benachbarten Dänemark aufgehalten hat. Es gibt da eine dänische Rockergruppe in Padborg, die sich Black Lions nennt. Padborg ist nicht weit von der Grenze entfernt. Die Gruppe wurde vor ein paar Tagen ausgehoben, weil sie in Drogenhandel und Prostitution verstrickt ist. Sie hielten zwei Frauen aus Litauen gefangen, die sie zur Prostitution zwangen. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang. Aber das ist nur eine vage Spur.«

»Gut, im Grunde genommen stehen wir also am Anfang. Ich denke, ich werde mich erst einmal mit den Akten befassen.«

Der Kriminaloberrat druckste ein wenig herum. »Wissen Sie, normalerweise koordinieren wir Vermisstenfahndungen und unterstützen die Kollegen vor Ort bei ihrer Arbeit«, holte er aus. »Aber diesmal müssen wir unsere Arbeitsweise ein klein wenig ändern. Deswegen bin ich froh, dass Sie uns unterstützen, denn Sie sind ein Mann der Praxis und können unserer Abteilung mit neuen Impulsen helfen. Wir werden diesmal die Ermittlungen leiten.«

»Sie meinen, wir führen die Ermittlungen, wenn ich Sie richtig verstehe.«

Engel zog die Stirn kraus. »Auf uns lastet ein immenser Druck«, sagte er zögerlich. »Nicht nur die Presse sitzt uns im Nacken, auch die Mutter der noch immer verschwundenen Melanie Reubold hat sich an uns gewandt. Wir brauchen dringend Ergebnisse, und die polizeiliche Praxis, das gebe ich offen zu, ist nicht gerade unsere Paradedisziplin. Wir sind in erster Linie Service- und Koordinierungsstelle. Der Direktor erwartet, dass wir uns mit dem Fall intensiv auseinandersetzen. Er hat uns freie Hand gegeben. Ich könnte noch weitere Männer …«

Trevisan hob beschwichtigend die Hände. »Ich denke, ich lese mich erst einmal in die Akten ein.«

»Gut. Sobald Sie wissen, welchen Kräfteansatz wir benötigen, melden Sie sich bei mir«, entgegnete der Kriminaloberrat. »Trevisan, ich verlasse mich in dieser Sache voll auf Ihre Fachkenntnisse. Sie leiten diese Untersuchung und wenn Sie etwas brauchen, dann sagen Sie einfach Bescheid.«

*

Als Justin Belfort nach einer unruhigen Nacht und einem kargen Frühstück den Klosterkrug verließ, schien dieser Ort noch immer vom Leben ausgegrenzt zu sein. Auf dem weitläufigen Kirchplatz war trotz des blauen und strahlenden Himmels keine Menschenseele unterwegs. Noch nicht einmal die nahe Hauptstraße war befahren, und dabei war es die kürzeste Verbindung zwischen Neustadt und Mardorf.

Die Aufnahmen, die er gestern am Bannsee gemacht hatte, waren bereits an die Redaktion übermittelt. Aus den Polizeiakten wusste er, wo genau damals die Fahrräder der beiden Mädchen aufgefunden worden waren. Gute Kontakte zur Justiz und zur Polizei waren oftmals unbezahlbar. Ein Landwirt, der zu Waldarbeiten den engen Feldweg vom See in Richtung des Campingplatzes gefahren war, hatte die Räder entdeckt. Justin hatte sich die Adresse des Mannes notiert. Mit ihm wollte er heute als Erstes sprechen. Sein Gehöft lag am Ende des Wiesenweges, bevor aus dem schmalen, doch zumindest asphaltierten Weg eine mit Splitt aufgeschüttete Holperpiste wurde. Tjaden hieß der Mann und telefonisch hatte er sich mehrfach verleugnen lassen. Doch das war Justin Belfort gewohnt. Er wusste, wenn er etwas erreichen wollte, dann blieb ihm nicht viel anderes übrig, als bei den Leuten aufzutauchen und nicht mehr zu weichen, ehe er alles erfahren hatte, was er wissen musste.

Er holte seinen Schlüssel aus der Hosentasche, doch noch bevor er seinen Wagen aufgeschlossen hatte, heulte der Motor eines anderen Autos auf. Ein Streifenwagen bremste unmittelbar neben ihm. Ein uniformierter Beamter, Mitte fünfzig vielleicht und mit graumelierten Haaren, stieg aus. Der Polizist war alleine unterwegs.

»Guten Morgen, der Herr«, grüßte der Beamte. »Ich dürfte wohl einmal Ihre Papiere sehen.«

»Habe ich etwas angestellt?«, fragte Justin Belfort.

»Das weiß ich erst, wenn ich weiß, wer Sie sind.«

Justin Belfort holte seine Geldbörse aus der Hosentasche und entnahm seinen Personalausweis.

Der Beamte überflog den Ausweis und wies auf den Wagen. »Das ist Ihr Fahrzeug?«

Justin Belfort nickte.

»Dann haben Sie bestimmt auch einen Fahrzeugschein.«

»Sicher.« Justin öffnete die Wagentür und zog das Dokument hinter der Sonnenblende hervor.

Der Polizist musterte es und trat vor den Wagen, um das Kennzeichen im Schein mit dem des Fahrzeuges zu vergleichen.

»Hier steht Direkt Medien GmbH, Hannover«, sagte der Beamte spitz. »Ich dachte, das ist Ihr Wagen, aber Ihren Namen kann ich hier weit und breit nicht finden.«

»Das ist ein Dienstwagen, der mir zugeteilt ist. Ich arbeite für die Firma.«

»Und was tun Sie hier, Herr Belfort, wenn ich fragen darf?«

Justin Belfort steckte den Personalausweis wieder ein, den ihm der Polizist reichte. »Ich arbeite.«

»Gehört es zu Ihrer Arbeit, dass Sie hier herumstreunen und alles fotografieren, was Ihnen vor die Linse kommt? Eine sonderbare Arbeit, finden Sie nicht?«

»Hören Sie, Herr Kommissar…«

»Oberkommissar, bitte.«

»Okay, hören Sie, ich bin Journalist und recherchiere für ein Magazin. Ich mache nur meine Arbeit. Ich habe niemanden belästigt und auch niemanden fotografiert. Außerdem ist hier sowieso keine Menschenseele unterwegs. Also, das ist doch nicht verboten, oder?«

Unbeeindruckt umrundete der Polizist den Wagen, dessen Schmutzanhaftungen nicht zu übersehen waren. »Sie waren am See. Was wollen Sie hier?«

»Es geht um die verschwundenen Mädchen«, erklärte Justin Belfort. »Sie haben doch sicherlich gehört, dass eins von denen wieder aufgetaucht ist. Ich will eine Geschichte über ungelöste Kriminalfälle in Niedersachsen schreiben.«

»Da waren schon viele hier«, antwortete der Polizeibeamte. »Erst in den letzten Tagen trieben sich Ihre Kollegen im Ort herum, walzten alles nieder und hatten keinerlei Respekt vor fremdem Eigentum und vor der Natur.«

»Ich habe niemandem etwas getan.«

Der Polizist wies auf den schmutzigen Wagen. »Sie sind den Wiesenweg entlang bis zum See gefahren.«

»Und wenn schon«, antwortete Justin trotzig.

»Hinter dem Grubhof von Bauer Tjaden steht ein Sperrschild, aber das interessiert euch von der Presse ja nicht. Genauso wenig wie das Wohlergehen der Menschen hier in diesem Ort. Die Leute hier haben schon genug gelitten. Jeder x-beliebige Schreiberling meint, eine Story hier zu finden und den Ort durch den Dreck ziehen zu müssen. Hören Sie, hier wohnen anständige Bürger und Steuerzahler, die nichts anderes wollen als ihre Ruhe und Frieden. Sie wollen keine Artikel über ›den Ort des Grauens am Steinhuder Meer‹ lesen, wie es einer Ihrer Kollegen einmal in einem Artikel schrieb.«

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte Justin Belfort unwirsch.

Der Polizist trat auf ihn zu. Auge in Auge blieb er vor ihm stehen. »Ich will, dass Sie die Leute und das Dorf hier in Ruhe lassen. Alles, was es zu dem Fall zu sagen gibt, können Sie der Presseerklärung der Inspektion in Garbsen entnehmen. Und außerdem will ich, dass Sie von hier verschwinden. Ich werde ein Auge auf Sie haben und für jeden Fehler, den Sie machen, werde ich Sie zur Rechenschaft ziehen. Schon der geringste Parkverstoß reicht aus. Und jetzt fangen wir gleich einmal an.«

»Was denn?«

Der Polizist trat hinter den Wagen und wies auf das verschmutzte Kennzeichen. »Nur damit wir uns verstehen, das kostet zehn Euro. Zahlen Sie gleich oder soll ich eine Verwarnung ausschreiben?«

Zähneknirschend zog Justin Belfort erneut seine Geldbörse hervor und reichte dem Polizisten einen Zehn-Euro-Schein.

»Ich weiß nicht, wie viel Geld Ihnen Ihr Käseblatt an Spesen mitgegeben hat, aber falls ich mich für Sie nicht klar genug ausgedrückt habe, sollten Sie Ihren Verleger anrufen, damit der Ihnen genügend überweist. Haben Sie mich verstanden?«

»Jedes Wort«, antwortete Justin Belfort.

3

Lisa Winter hatte sich einen zweiten Stuhl herangezogen und die Beine hochgelegt. Sie blickte lustlos auf ihren Computerbildschirm, doch als Trevisan ächzend und stöhnend den Gang entlangkam, bepackt mit dem Wäschekorb voller Akten, schaute sie interessiert auf.

»Da hat unser Teufelchen wohl etwas Ballast abgeladen und unseren Neuen mit reichlich Lesestoff eingedeckt«, bemerkte sie lakonisch. »Die Fälle der letzten hundert Jahre?«

»Irrtum, Kollegin, das sind die Akten zu unserem neuen Fall«, entgegnete Trevisan. »Prioritätsstufe eins.«

»Das ist ein Fall?« Sie erhob sich, umrundete ihren Schreibtisch und blieb vor dem Wäschekorb stehen.

»Was tun Sie eigentlich gerade?«

Lisa zuckte die Schultern. »Ich bin Lisa und ich werte Daten aus. So wie immer.«

»Und das heißt?«

»Ich gleiche Daten aus dem Pol-Info-System des BKA mit unserer landesweiten Vermisstendatei ab.«

Trevisan räusperte sich. »Gut, schon Erfolg gehabt?«

Lisa schüttelte den Kopf. »In diesem Jahr noch nicht, aber im letzten Jahr konnte ich eine unbekannte Tote aus der Leine identifizieren.«

»Enorm«, antwortete Trevisan spöttisch »Dann wird das BKA ja noch eine Weile warten können. Wir kümmern uns ab sofort ausschließlich um diesen einen Fall. Gibt es hier so etwas wie einen Konferenzraum?«

Lisa wies den Flur hinunter. »Wir haben einen Soko-Raum am Ende des Flures. Wir nutzen ihn als Abstellraum.«

Trevisan bückte sich und drückte ihr zwei Ordner in die Hand. »Soko-Raum hört sich gut an.« Er wies mit dem Kopf den Flur hinunter. Lisa stapfte voraus und öffnete die Tür. Trevisan folgte ihr mit dem Wäschekorb.

Der Raum erinnerte ihn an das Konferenzzimmer in Wilhelmshaven. Zwei große Pinnwände standen an der Stirnseite, daneben eine Tafel. In der Mitte befand sich ein langer Tisch mit heller Arbeitsfläche, umringt von Stühlen. Zehn zählte Trevisan. Mitten auf dem Tisch standen mehrere Telefone und an der Wand gegenüber der Fensterreihe hingen Karten von Deutschland, Niedersachsen und aus der Region. Es gab zwei voll ausgestattete Computertische und einen Regalschrank. Standardausstattung für Räume, in denen Sonderkommissionen arbeiteten.

»Genau das, was wir für unsere Ermittlungen brauchen«, sagte Trevisan und platzierte den Wäschekorb auf dem Tisch. Dann nahm er Aktenordner nach Aktenordner heraus und stellte sie in den Regalschrank.

»Um was dreht es sich eigentlich in dem Fall?«, fragte Lisa, nachdem sie Trevisan eine Weile beobachtet hatte.

Er öffnete das Fenster, dann wies er auf einen Stuhl. Zögernd nahm Lisa Platz. Trevisan setzte sich neben sie und erzählte ihr, was er von Oberrat Engel über die verschwundenen Radfahrerinnen erfahren hatte.

Am Ende schluckte Lisa und schaute Trevisan mit großen Augen skeptisch an. »Und wir sollen die Ermittlungen führen?«

»Ja, genau, das werden wir in den nächsten Tagen und Wochen tun«, antwortete Trevisan bestimmt. »Und wenn wir eine Chance haben, dann werden wir den Fall auch lösen.«

»So etwas haben wir in dieser Abteilung noch nie gemacht. Das …«

»Wie lange bist du schon bei der Polizei?«

Lisa lächelte verlegen. »Ich bin seit acht Jahren hier. Direkt nach der Ausbildung. Sechs Jahre Kriminaltechnische Auswertung, dann zwei Jahre beim Lagezentrum. Seit letztem Jahr hier im Dezernat.«

»Du hast doch bestimmt schon einmal an einem Fall mitgearbeitet?«, fragte Trevisan.

»Ich war bei der daktyloskopischen Auswertung und später dann bei der DNA. Im Lagezentrum haben wir Mails und Berichte durch das ganze Land gesteuert.«

Trevisan legte den Kopf schräg und blickte ihr gedankenvoll ins Gesicht. »Also gut, wenn das so ist. Dann ist das eben unser erster Fall.«

»Und wo fangen wir an?«

Er deutete auf die Aktenordner. »Wir werden uns jetzt erst einmal in die Ermittlungsergebnisse der damaligen Sonderkommission einarbeiten. Wir sondieren das Material, legen eine Spurendatei an, sichten die Fotos und die Berichte und übertragen alles in den PC, damit wir einen schnellen Zugriff haben. Dann erstellen wir ein Tatortprofil, markieren und überprüfen die Route der beiden Mädchen und verfassen ein Schlagwortverzeichnis, für gezielte Recherchen. Wenn wir das alles eingerichtet haben, machen wir uns an die eigentliche Arbeit.«

»Das klingt aufregend … Ich habe so etwas noch nie gemacht«, stotterte Lisa.

»Aber ich, außerdem gibt es dazu Vorlagen.« Er schaute auf die Uhr. »Hast du heute noch etwas vor?«

Lisa zuckte mit der Schulter.

Trevisan erhob sich. »Das ist gut, ich ebenfalls nicht. Und richte dich in den nächsten Tagen darauf ein, dass wir ein paar Überstunden machen werden. Denn ohne wird es wohl nicht gehen, schätze ich.«

*

Der Grubhof von Bauer Tjaden lag am nördlichen Ende des Dorfes am Wiesenweg, der durch den angrenzenden Wald vorbei an den Mooren zum Bannsee führte. Dort hatte der Bauer damals die Fahrräder der verschollenen Mädchen aufgefunden. Justin Belfort lenkte seinen Wagen von der Straße in das weitläufige Gehöft und hielt an. Ein schwarzer Mischlingshund an der Kette vollführte lauthals bellend wilde Kapriolen vor seiner Hütte. Justin schaute sich um. Niemand war zu sehen, doch aus einer offenen Scheunentür drang das ohrenbetäubende Kreischen einer Kreissäge.

Justin ging auf die Scheune zu, in der zwei Männer, ein junger und ein älterer, damit beschäftigt waren, Meterstücke Holz zu zersägen. Als der Jüngere, Justin schätzte ihn auf knapp zwanzig, ihn sah, gab er dem alten Mann in blauer Arbeitskluft ein Zeichen, doch der ließ sich nicht beirren. Erneut fegte das laute Jaulen der Säge über den Hof und erst, als das Holz zersägt war, schaltete der Alte sie aus und wandte sich zu Justin um.

»Ja?«

»Sind Sie der Besitzer dieses Hofes, Herr Tjaden?«, fragte Justin.

»Ganz recht.« Er wandte sich seinem jungen Gehilfen zu. »Bring die Stücke in das Lager, du kannst schon den Spalter richten.«

Der junge Mann nickte kurz und verschwand durch eine Seitentür.

»Was wollen Sie?«, fragte Tjaden mürrisch.

»Mein Name ist Justin Belfort, ich arbeite für das Direkt-Magazin und will mit Ihnen reden.«

Der Mann in blauer Arbeitskluft zeigte überrascht auf die eigene Brust. »Mit mir? Warum das?«

»Es geht um die Geschichte der verschwundenen Radfahrerinnen«, erklärte Justin. »Meinen Informationen nach haben Sie damals in der Nähe des Bannsees die Räder entdeckt.«

»Kann schon sein.«

»Haben Sie schon gehört, dass eines der Mädchen wieder aufgetaucht ist?« Justin holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche.

Tjaden zuckte mit der Schulter. »Meinetwegen.«

Justin stutzte. »Es muss Sie doch interessieren, schließlich waren Sie damals auch irgendwie an dem Fall beteiligt.«

Tjaden, Justin schätzte ihn auf etwa sechzig, machte einen Schritt auf ihn zu. »Hören Sie, damals tauchten reihenweise Reporter hier auf meinem Hof auf und brachten alles nur durcheinander. Jeder wollte wissen, was ich gesehen habe und ob ich etwas Verdächtiges bemerkt hätte. Sogar mitten in der Nacht klingelten sie an meiner Tür. Man kam gar nicht zur Ruhe. Und am Ende nannten die Zeitungen unseren Ort das Dorf des Grauens. Ich habe keine Lust mehr auf den Zinnober. Ich bin mit dem Trecker einfach nur einen Weg entlanggefahren, da lagen zwei Räder im Gebüsch. Ich habe den Polizisten in Mardorf Bescheid gegeben und mehr war da nicht. Ich wusste nicht einmal, dass da ein paar Mädchen verschwunden waren, ich dachte, da hat jemand seinen Müll in meinen Wald geworfen, und das kann man sich doch nicht bieten lassen.«

»Und Sie haben niemanden dort draußen bemerkt?«

»Ich bin noch nicht mal vom Trecker abgestiegen. Ich habe der Polizei den Weg beschrieben. Erst einen Tag später erfuhr ich davon, dass da jemand verschwunden sein soll. Das habe ich damals zu Protokoll gegeben und jetzt geht es wieder von vorne los. Sie sind schon der Vierte, der hier bei mir auftaucht und wieder die gleichen Fragen stellt wie damals. Ich will meine Ruhe haben, das ist doch nicht zu viel verlangt.«

Justin nickte. »Das kann ich verstehen. Aber Sie müssen doch zugeben, dass es ungewöhnlich ist, dass hier zwei Mädchen vor drei Jahren verschwanden und nun eines davon bei Flensburg wieder auftaucht.«

»Das geht mich nichts an, fragen Sie doch das Mädchen.«

Justin überging Tjadens Antwort. »Damals fand eine große Suchaktion statt. Haben Sie auch mitgeholfen?«

Tjaden schüttelte den Kopf. »Keine Zeit, war im Sommer zur Erntezeit.«

Justin Belfort zeigte auf den jungen Mann, der wieder aufgetaucht war und die gesägten Holzstücke zusammensammelte. »Und er, wohl ihr Sohn, hat er bei der Suche geholfen?«

»Ist mein Enkel. Der wohnt in Eckernförde. Hauke ist nur ab und zu hier, wenn Semesterferien sind. Studiert in Kiel und will Meeresbiologe werden.«

Justin schaute sich um. »Das ist ein großer Hof, Sie haben doch sicher jemanden, der hier Ihnen hilft?«

»Meine Frau und ich.«

»War Ihr Enkel damals auch hier auf dem Hof, als es passierte?«

»Nein, damals ist mir der Robert zur Hand gegangen. Ist aber gestorben. Letztes Frühjahr. Verdammter Krebs.«

Justin Belfort notierte Tjadens Angaben in seinem Notizbuch. »Robert?«, fragte er neugierig nach.

»Ja, Krauthoff hieß er. Ist aus dem Dorf, war alleine und hat früher mal als Schreiner gearbeitet. Hat gut mit angepackt und war ein ganz feiner Kerl. Aber ist ja nun nicht mehr. War Mitte fünfzig, noch kein Alter zum Sterben.«

»Ja, Sie haben recht, ist noch kein Alter zum Sterben. Gibt es sonst noch jemanden, der mir etwas über das Verschwinden der Mädchen sagen kann?«

»Unseren Dorfpolizisten können Sie fragen, der wohnt hier in Tennweide. Da war ganz schön was los. Sogar der Hubschrauber ist stundenlang über den Feldern und dem Wald gekreist.«

Justin Belfort schmunzelte, als er an die unschöne Begegnung vorhin dachte. »Mitte fünfzig, graue Haare und etwa einen Kopf größer als ich?«

Tjaden kratzte sich am Kinn. »Muss er wohl sein, fährt oft hier im Dorf Streife und er verscheucht das Ungeziefer.« Der Bauer grinste provokant.

»Es ist nicht alles Ungeziefer, was sich für das damalige Geschehen interessiert«, widersprach Justin.

»Aber die meisten interessieren sich gar nicht für die Geschichte der Mädchen, die wollen doch nur Geld verdienen und die Auflagen steigern. Sie drehen dir das Wort im Mund herum. Da war so einer, Anfang der Woche, wenn der nicht gegangen wäre, hätte ich Hasso auf ihn gehetzt.«

Justin warf dem gefährlich dreinblickenden Mischlingshund einen Blick zu und zwinkerte mit dem Auge. »Da bin ich ja froh, dass Sie mich ein klein wenig besser leiden können.«

»Kann ich gar nicht, aber ihr seid wie die Kartoffelkäfer, kommt immer wieder, solange es noch was zu beißen gibt. Da sag ich lieber gleich, was ich weiß, dann seid ihr zufrieden und ich hab meine Ruhe.«

»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Justin. »Gab es damals, als die Mädchen verschwanden, viele Touristen in der Gegend?«

»Da war schon Spätsommer, ein paar Touristen waren wohl noch da, aber die sind meistens am See, der ist in der anderen Richtung.«

»Ich hörte, dass es damals eine Festnahme gab, ein Junge aus dem Dorf. Aber er wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen.«

Tjaden nickte eifrig. »Ja, der Sven. Aber der war es nicht, der hat nur was gefunden, das einem der Mädchen gehörte. Der ist ein bisschen bekloppt, aber der tut niemandem was. Ich hab gleich gesagt, so ein Blödsinn, zu glauben, der hätte was damit zu tun. Der ist lammfromm. Trieb sich damals oft im Wald herum und hat dort gespielt, aber ein Mörder ist das nicht, das ist klar.«

»Lebt Sven noch hier im Ort?«

Tjaden schüttelte den Kopf. »Ist jetzt im Heim. Sein Vater ist Apotheker in Mardorf, der wohnt noch hier.«

Justin Belfort bedankte sich. Seine Recherchen hatten ergeben, dass Sven Thiele seit dem Vorfall in der geschlossenen Pflegeanstalt der Psychiatrischen Klinik Langenhagen lebte und Rudolf Thiele nach wie vor in Tennweide wohnte. Justin schickte sich an, zu seinem Wagen zu gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Können Sie mir genau sagen, wo Sie die Fahrräder damals gefunden haben?«

Bauer Tjaden zeigte in Richtung des Waldes.

»Moment, ich habe eine Karte im Wagen.« Justin eilte zu seinem Audi. Der alte Mann folgte ihm. Als Justin die Radwanderkarte auf der Motorhaube auseinandergefaltet hatte, beugte sich Tjaden darüber. Nach kurzer Suche fand er Tennweide und den Wiesenweg, den er mit seinem Finger entlangfuhr, bis kurz vor dem Bannsee ein kleiner Weg nach rechts abzweigte. »Hier, etwa einhundert Meter nach der Abzweigung. Der Wald gehört mir. Da steht ein Gebüsch. Hagebutten sind das. Darin lagen die Räder, aber man konnte sie gut sehen.«

»Also wurden sie nicht versteckt«, murmelte Justin.

»Weiß ich nicht.«

»Sie sagen, man konnte sie sehen, also sind sie nicht versteckt worden, oder derjenige, der sie dort hingebracht hat, wurde gestört.«

»Gestört, wie meinen Sie das?«

»Spaziergänger, Waldarbeiter oder …«

Der alte Mann kratzte sich am Kopf. »Jetzt, wo Sie das sagen«, brummte er.

»Was?«

»Damals war ich jeden Tag da draußen, da hatte ich eine Aufforstung, die zu reinigen war. Die ganze Woche bin ich rausgefahren. In der Frühe raus und dann, wenn es dunkel wurde, wieder zurück.«

»Die Mädchen verschwanden am Mittwoch, das war der 29. September 1999.«

»Kann gut gewesen sein, genau weiß ich das nicht mehr. Aber Ende September wird es wohl so um die neun Uhr dunkel.«

Justin machte Notizen in seinem Notizbuch. »Sehen Sie, jetzt haben wir doch noch etwas herausgefunden, was für den Fall vielleicht wichtig ist.«

Tjaden wirkte ein wenig erschrocken. »Da bin ich vielleicht vorbeigefahren und hinter dem Gebüsch war der Mörder, was? Mein Gott, was da hätte alles passieren können.«

»Vielleicht«, bestätigte Justin Belfort, raffte seine Karte zusammen und verabschiedete sich.

Vom Grubhof fuhr er die gesperrte Straße zum Bannsee entlang bis zu der Feldwegabzweigung, die ihm Bauer Tjaden auf der Karte gezeigt hatte. Der Weg war derart zugewuchert, dass er seinen Wagen stehen lassen musste. Zu Fuß ging er weiter, bis er an das beschriebene Hagebuttengebüsch kam, das sich am Weg entlangrankte. Er suchte es ab, doch mehr als eine weggeworfene Bierflasche, eine alte Plastiktüte und einen leeren Tetrapack fand er nicht. Sicherlich hatte damals die Polizei das Gebüsch und den angrenzenden Wald ohnehin akribisch untersucht. Er machte ein paar Fotos und setzte seinen Weg fort, der ihn zum nahegelegenen Campingplatz führte.

Eine Frau mittleren Alters empfing ihn im Büro, doch als er nach den verschwundenen Mädchen fragte, brach sie das Gespräch unwirsch ab. »Nicht schon wieder …! – Ich habe den Platz vor zwei Jahren übernommen. Der Vorgänger ist verstorben, da werden Sie kein Glück haben.«

Als Justin nach Tennweide zurückkehrte und seinen Audi vor dem Klosterkrug parkte, fielen ihm zwei Wagen auf, die mitten auf dem Kirchplatz standen. Drei junge Männer lehnten an dem einen, einem schwarzen Golf. Jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Im anderen Wagen, einem blauen Honda, saßen zwei Mädchen. Justin schätzte alle fünf auf Anfang zwanzig. Wohl die Dorfjugend, die sich hier versammelte.

Im Klosterkrug lief ihm die Wirtin über den Weg. »Na, hatten Sie Erfolg?«, fragte sie spitz.

»Erfolg?«

Die Wirtin zeigte auf den Fotoapparat. »Haben Sie schöne Bilder gemacht?«

»Ach so«, antwortete Justin. »Ja, sicher.«

4

Trevisan war gegen vier Uhr eingeschlafen. Als ihn der Wecker um acht unsanft aus dem Tiefschlaf riss, brauchte er eine Weile, um sich zurechtzufinden. Gestern Abend hatte er beinahe eine Stunde lang mit Paula telefoniert, die in Irland mit ihrer Therapiegruppe auf dem Shannon eine Bootstour machte und gegen Abend Banagher, das erste Etappenziel, erreicht hatte. Sie fühlte sich wohl. Trevisan hatte aufgeatmet, denn zu Beginn der Woche hatte sie sich noch traurig angehört. Diesmal hingegen hatte sie beschwingt geklungen und sogar gescherzt.

Nach dem Telefonat hatte er sich ein einfaches Mahl zubereitet und sich dann die drei Ordner angesehen, die er aus dem Büro mitgenommen hatte. Kriminaloberrat Volkmar Dittel, der Leiter der Sonderkommission, war im Jahr 2001 pensioniert worden, doch er lebte noch immer in der Nähe von Hannover. Trevisan hatte sich die Adresse aus dem Telefonbuch notiert. Ein Gespräch mit dem Mann würde nicht schaden. Trevisan lümmelte sich auf die Couch, hatte eine CD mit klassischer Musik eingelegt und arbeitete sich Blatt für Blatt durch die Ordner mit den Ermittlungsergebnissen der Soko Radtour. Er hatte einen Notizblock bereitgelegt, um auftauchende Fragen oder Unklarheiten zu notieren. Als er sich todmüde in sein Bett schleppte, war dieser Block vollgeschrieben mit Unstimmigkeiten und Rätseln.

Natürlich waren die Ermittler damals davon ausgegangen, dass die beiden Mädchen unweit des Bannsees ermordet und ihre Leichen irgendwo in der Umgebung versteckt worden waren. Es gab am Steinhuder Meer zahlreiche Moore, Wasserläufe und Tümpel. Doch der Fund des Rucksacks bei Walsrode hatte damals diese Theorie erschüttert. Das Auftauchen der jungen Frau in der Nähe von Flensburg hatte nun alles durcheinandergebracht und sämtliche Vermutungen der Ermittler von damals über den Haufen geworfen. Jetzt erschienen manche Dinge in einem ganz anderen Licht und warfen neue Fragen auf.

Ausgestattet mit den drei Ordnern betrat Trevisan gegen zehn Uhr die Dienststelle in der Schützenstraße und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Lisa saß bereits am Computer im Soko-Raum und übertrug Daten in die Datenbank.

»Guten Morgen, Chef.« Sie blickte nur kurz auf, bevor sie weiter auf die Tastatur tippte.

»Was machst du gerade?«, fragte Trevisan.

»Spur Nummer 64«, murmelte sie. »Antragungsspuren am Fahrrad des Opfers Sommerlath, bestehend aus Torf und feuchter Erde, Lage Pedal rechts, unten.«

»Ich sehe, du hast dich mit dem Programm schon angefreundet«, scherzte Trevisan.

»Es fehlen drei Ordner.«

Trevisan trat neben sie und stellte die Ordner auf dem langen Konferenztisch ab. »Ich frage mich, wieso die Täter die Räder neben einem Waldweg sichtbar liegen ließen. Sie hätten sie doch einfach nur in eine Torfgrube werfen müssen. Und wenn sie überhaupt keine Spuren hinterlassen wollten, dann wäre es doch auch möglich gewesen, sie einfach mitzunehmen.«

»Mitzunehmen?«, wiederholte Lisa ungläubig.

»Es ist eine Sache, jemanden umzubringen und die Leiche abzutransportieren – auch zwei Leichen lassen sich gut in einem Kofferraum unterbringen. Aber wenn ich zwei Menschen entführen will, die sich das bestimmt nicht gefallen lassen, dann muss ich ausreichend Manpower und Platz haben.«

Lisa dachte angestrengt nach. »Zwei Täter und ein Bus, ein Transporter oder so ähnlich«, folgerte sie nach einem Moment.

»Das wäre eine Möglichkeit und da könnte ich auch die Räder entsorgen und müsste sie nicht auf einem Waldweg in Tatortnähe liegen lassen.«

»Woher willst du wissen, dass die Räder in Tatortnähe lagen?«, fragte Lisa.

»Das Kettchen eines der Mädchen«, antwortete Trevisan. »Der debile Sohn des Apothekers hat die damaligen Ermittler an eine Stelle geführt, die an einer kleinen Lichtung liegt, Luftlinie etwa dreihundert Meter südlich des Bannsees. Und in der Nähe lagen auch die Räder in einem Gebüsch neben einem unwegsamen Waldweg, den man nur mit einem Schlepper befahren kann und wo sie ein Landwirt fand.«

»Das ist doch einfach. Es waren zwei Täter. Einer bleibt beim Wagen und bewacht die Opfer und der andere bringt die Räder weg.«

»Wie oft bist du schon Rad gefahren?«, fragte Trevisan.

»Als Kind sehr oft.«

»Es ist nicht leicht für eine einzelne Person, zwei Räder über unwegsames Gelände zu schieben«, antwortete Trevisan. »Es war noch nicht dunkel und ganz in der Nähe ist ein Campingplatz, der damals gut belegt war. Das ist ein hohes Risiko, wenn man jemanden entführen will.«

»Woher weißt du, dass es hell gewesen ist?«, fragte Lisa, während Trevisan die graue Stellwand zurechtrückte und darauf eine topographische Karte von der Gegend um den Bannsee hängte.

»Der Bauer sagte aus, dass er die Räder bei Anbruch der Dämmerung fand«, erklärte Trevisan. »Gestartet sind die Mädchen an diesem Tag gegen elf Uhr in Neustadt, das liegt hier.« Er zeigte auf die Karte. »Knapp acht Kilometer, das schafft man innerhalb einer halben Stunde. Also gehen wir davon aus, dass sie etwa um 11.30 Uhr in der Nähe von Tennweide waren. Nienburg war ihr nächstes Etappenziel, bis dahin braucht man mit einem Rad etwa drei Stunden. Sie hatten für alle ihre Unterkünfte Abendessen gegen sieben Uhr vereinbart, so war es in Hagenburg im Hotel Schneevoigt und auch in Neustadt im Maro. Auch für den Posthof galt diese Vereinbarung, aber dort sind sie nie angekommen.«

»Wahrscheinlich waren sie am Steinhuder Meer baden, schließlich war das eine Vergnügungstour«, warf Lisa ein.

»Das glaube ich auch. Sie hatten Badeanzüge dabei und eine Bedienstete vom Maro in Neustadt hat ausgesagt, dass sie nach einem Trockenraum gefragt haben. Ich glaube sogar, dass sie darüber die Zeit vergessen hatten und deshalb über die Waldwege in Richtung Nienburg fuhren.«

»Wie kommst du zu der Annahme?«

»Man hätte auch über Tennweide und Mardorf nach Nienburg fahren können. Die Strecke ist gut fünf Kilometer weiter. Aber sie fuhren durch den Wald, obwohl man sich dort auch gut verirren kann. Ich denke, sie hatten es eilig, nach Nienburg zu kommen, deswegen wählten sie die kürzere Route. Das könnte bedeuten, dass sie zwischen 16 und 18 Uhr auf ihre Entführer trafen.«

»Das mag schon sein, aber wie bringt uns das weiter?«, fragte Lisa mit verwirrtem Blick.

Trevisan lächelte. »Die Tatzeit einzugrenzen, ist sehr wichtig. Denn wenn wir einen Verdächtigen haben, dann ist so ein Zeitfenster für die weiteren Ermittlungen von Bedeutung.«

Lisa schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ja, sicher, das Alibi.«

»Das Alibi!«, bestätigte Trevisan und griff nach einem Edding-Stift. 16-18 Uhr schrieb er neben die Karte auf die Tafel.

Lisa wandte sich wieder dem Computer zu.

»Wie weit bist du?«

»Es fehlen noch 264 Spuren«, antwortete sie.

»Heute Mittag ist Zeit dazu. Wir treffen uns in einer halben Stunde mit einem Pensionär und ich hätte dich gerne dabei.«

Lisa sprang von ihrem Stuhl auf. »Gerne. Ich war noch nie im Außendienst.«

*

Justin Belfort hatte lange geschlafen und beinahe das Frühstück verpasst. Nach mehren Tassen Kaffee, Buttertoast und Marmelade verschwand er wieder auf sein Zimmer. Er überspielte die Fotos des gestrigen Tages auf seinen Laptop und fasste stichwortartig die Aussagen von Bauer Tjaden in einem Script zusammen. Anschließend suchte er in seinem Notizbuch nach der Adresse der Klosterapotheke in Mardorf, die Rudolf Thiele leitete. Er hatte sich vorgenommen, heute das Gespräch mit dem Mann zu suchen und wusste, dass es nicht leicht werden würde. Svens Vater hatte bislang alle Gespräche mit Journalisten abgeblockt. Justin hatte sich eine Strategie zurechtgelegt, in der er Sven die Opferrolle zudachte und das damalige Fehlverhalten der Polizei in den Vordergrund rückte. Es musste ihm einfach gelingen, den Apotheker zu überzeugen, denn ohne dessen Einverständnis würde er nicht einmal in Svens Nähe kommen. Also bereitete er sich akribisch auf das Gespräch mit Rudolf Thiele vor und ging noch einmal alle Fakten durch, die ihm hilfreich erschienen.

Kurz nach elf schnappte er sich seinen Fotoapparat und das kleine Aufnahmegerät und gab an der Rezeption seinen Schlüssel ab. Diesmal stand eine Angestellte hinter dem Empfangspult, der er bislang noch nicht begegnet war.

»Einen schönen Tag«, rief ihm die junge Frau hinterher, als er den Klosterkrug verließ und zu seinem Auto ging.

Bereits von Weitem bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Der Wagen neigte sich nach links. Als er näher kam, erkannte er den Grund dafür. Der vordere Reifen war luftleer. Er fluchte. Vielleicht war er gestern auf dem Waldweg in einen Nagel gefahren? Er umrundete das Auto und blieb verdutzt stehen. Auch im hinteren Reifen fehlte Luft.

»So eine verfluchte Scheiße!«, brüllte er. Deutlich waren die Einstiche in der Wandung des Reifens zu erkennen.

»Etwas nicht in Ordnung?«, ertönte eine Stimme hinter ihm.

Justin Belfort fuhr herum und schaute in das fragende Gesicht des Polizisten, der ihn am Vortag kontrolliert hatte. Er zeigte auf den Reifen. »Finden Sie das etwa in Ordnung?«

»Das kommt davon, wenn man gesperrte Wege fährt …«