Kalteiche - Ulrich Hefner - E-Book

Kalteiche E-Book

Ulrich Hefner

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Beschreibung

Hauptkommissar Martin Trevisan ist zurück. Nach über zehn Jahren in Hannover, Göttingen und Oldenburg ist er wieder dort, wo er einst angefangen hat - bei der Mordkommission in Wilhelmshaven. An seinem ersten Arbeitstag wird auf einsam gelegenen Gehöft in der Tengshauser Leide, kurz vor dem Deich, eine ganze Familie brutal ausgelöscht. Der Mörder hinterlässt eine blutige Spur. Trevisan weiß, dass er schnell handeln muss, denn der Tod ist unerbittlich und er kommt unerwartet, heimtückisch und aus der Dunkelheit.

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Ulrich Hefner

Kalteiche

Kriminalroman

Zum Autor

Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er wohnt in Lauda-Königshofen, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor und Journalist. Er ist Mitglied in der IGdA (Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren), im DPV (Deutschen Presseverband) und im Syndikat. Weiterhin ist er Gründungsmitglied der Polizei-Poeten. Die Polizei-Poeten veröffentlichten inzwischen vier Bücher, die nicht nur in Polizistenkreisen auf großes Interesse stießen. Neben der Krimiserie um den Ermittler Martin Trevisan, die inzwischen aus sechs Bänden besteht, sind inzwischen auch drei Thriller erschienen, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden. www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2017 im Leda-Verlag)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Studio32/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6442-3

Widmung

für Robby, wir denken an dich

Gedicht

… es gibt einen Ort, an dem das Grauen lebt,

wo es dich umgibt und festhält,

jede Stunde, jeden Tag, Jahr um Jahr,

umklammert mit eisernen Krallen,

um dich nie wieder loszulassen,

wo es dich gefangen hält

und dich ganz langsam auffrisst,

und nur du weißt, wo dieser Ort ist …

Prolog Im November 1983

Der Waldboden war mit einer dünnen Schicht aus Reif überzogen und das welke Laub knirschte bei jedem Tritt unter ihren Füßen. Dabei wollten sie still sein, still und unsichtbar. Sie waren dem Ort des Grauens entkommen, aber in Sicherheit waren sie längst noch nicht.

Die Nacht war kalt gewesen und der Morgentau auf den dünnen Scheiben der Scheune gefroren. Nebelschwaden zogen über die Wiesen und umgarnten die dichten Tannen, bevor sie in der Finsternis des Gehölzes verschwanden. Er zog sie an der Hand hinter sich her. Es sollte keine Spuren geben, niemand durfte etwas bemerken, niemand sollte es wissen, bevor die Dämmerung im Licht des tristen Tages versank. Ihr Weg war weit und führte an den blattlosen Buchen vorbei, nach Süden, dort, wo die Grenze lag.

Noch bevor sie der Wald verschluckte, drang das laute und bedrohliche Gebell eines Hundes zu ihnen herüber. Sie begannen zu rennen, hetzten über den ausgetretenen Pfad, sprangen über vertrocknete Äste und hasteten die Böschung hinauf. Sie stürzte, doch er half ihr wieder auf, zog sie mit sich, mit aller Kraft und dem Mut der Verzweiflung. Ihre Füße schmerzten und ihre Herzen pochten ihnen bis zum Hals, doch sie gaben nicht auf, ein einziger Gedanke war in ihren Köpfen und er verlieh ihnen Kraft: Entkommen!

Der Wald wurde dichter und sie verließen den Pfad, hasteten über den gefrorenen Waldboden, schlugen sich in die Büsche und rissen sich blutige Wunden an den Dornen. Mit jedem Schritt entfernten sie sich weiter von diesem furchtbaren Ort, sie waren am Rande ihrer Kräfte, ihr Brustkorb bebte und das Blut rauschte in den Ohren.

Sie liefen eine Anhöhe hinauf und als sie erneut stürzte, beugte er sich zu ihr herab. Sie versuchte ein Lächeln, das ihr misslang. Er fasste sie an der Hand und half ihr auf, bevor sie ihre Flucht fortsetzten und den Hügel erklommen. Er wusste nicht mehr, ob die Richtung stimmte, er wusste nicht mehr, wohin er sich wenden musste. Sie waren umringt von riesigen Bäumen, einem Ring, aus dem es kein Entrinnen gab. Sein Atem ging stoßweise und ein kalter Schweißfilm lag auf seiner Haut, doch jetzt war nicht die Zeit zum Rasten, sie musste weiter, das Gebell des Hundes wurde lauter. Er zog sie mit sich und sie liefen auf der gegenüberliegenden Seite den Hügel hinab, wo sie auf einen Weg stießen. Kurz blieb er stehen, um sich zu orientieren, doch der wolkenverhangene Himmel versteckte die Sonne hinter einem düsteren Gebirge aus Aerosolen und Eiskristallen, fast so, als hätte sogar der Himmel sich gegen sie verschworen.

Er wandte sich nach links, denn dort hatte er das Gefühl, sich weiter zu entfernen, Abstand zu gewinnen. Sie folgten dem Weg, der sie zu einer Lichtung führte, wo sie kurz verharrten, bevor sie erneut im Dämmerlicht des jungen Tages in den finsteren und dichten Wald eintauchten, unsichtbar für ihre Häscher, die ihnen folgten und die längst schon die Spur aufgenommen hatten. Erneut bellte ein Hund, diesmal näher als zuvor. Aus ihren schnellen Schritten wurde eine Hatz, eine erbarmungslose Jagd, und ihre Angst trieb sie voran.

Der Weg schlängelte sich durch wildes Dickicht, führte sie an einer vertrockneten Wiese vorbei, bevor er erneut steil anstieg. Sie konnte nicht mehr, sie taumelte, doch er umklammerte ihr Handgelenk und zog sie mit sich. Als sie den Hügel erklommen hatten, lag ein tiefer Abgrund vor ihnen. Sie verharrten, suchend blickte er sich um, flehentlich suchte er nach einer Möglichkeit, diesen Abgrund zu überwinden, während sie entkräftet zu Boden sank. Ihr Brustkorb bebte.

Er wies auf den Abhang, der steil in die Tiefe führte. Noch bevor er ihr die Stelle zeigen konnte, wo der Abstieg möglich war, schoss wie aus dem Nichts ein großes, schwarzes Ungeheuer auf sie zu, drohend fletschte es die Zähne. Er wusste nicht, was er tun sollte.

»Geh!«, flüsterte sie atemlos. »Hau ab!«

»Aber …«

»Verschwinde, sie schlagen dich sonst tot, wenn sie dich erwischen!«

Er zögerte, doch als das laute Rufen ihrer Verfolger durch den Wald drang, machte er auf dem Absatz kehrt und lief auf den Abhang zu. Dorthin, wo es einen kleinen Felsvorsprung gab. Eilends kletterte er hinab. Der Hund verfolgte ihn und blieb bellend und knurrend am Abhang stehen. Er fasste nach einem Strauch, der ihm Halt bieten sollte, doch sein Griff ging ins Leere, vergeblich versuchte er sich festzuklammern, ehe ihn in die Tiefe verschlang.

*

Stille umgab ihn, als er erwachte, Stille und Finsternis. Sein Kopf, seine Glieder, seine Arme, seine Beine, alles war nur noch ein einziger bohrender und pochender Schmerz. Ein Kauz schrie durch die Nacht und als er sich aufzurichten versuchte, sank er kraftlos zurück. Er seufzte. Er hörte ein Rascheln in seiner Nähe, als ob ein kleines Tier unter welken Blättern verschwand. Es war kalt, doch er spürte nur die Hitze des Schmerzes. Er griff an seine Stirn und eine warme, klebrige Flüssigkeit blieb an seinen Fingern haften. Erneut versuchte er sich aufzurichten, ihm wurde schwindelig, erneut sank er zurück. Er versuchte zu verstehen, was geschehen war, doch seine Gedanken waren wie Wasserfarbe in einem gefüllten Becher, sie verschwammen, vermengten sich, ehe sie sich verdunkelten und zu einer trüben, undurchdringlichen Melange wurden.

Irgendwie schaffte er es dann doch, sich zu erheben. Mit zitternden Beinen stolperte er voran. In der Dunkelheit konnte er kaum die Hände vor den Augen sehen, immer wieder sank er auf die Knie, doch ein unbändiger Wille brachte ihn dazu, sich wieder aufzuraffen und weiterzugehen. Er nahm Gerüche wahr, die ihm ebenso vertraut wie fremd erschienen. Die Kälte der Nacht machte ihm nichts aus, er spürte sie nicht einmal. Etwas trieb ihn voran und er kramte in dieser dunklen Melange aus Erinnerung und Gedanken, doch alles blieb verschwommen, konturlos, nur ab und zu, wie durch eine Nebelwand, formte sich ein Gesicht, das ihn mit flehendem Blick anstarrte. Er versuchte es zu fassen, doch immer wieder löste es sich auf, waberte mit dem Nebel davon.

Erneut ging er zu Boden. Für einen Moment blieb er liegen, seine Hände krallten sich in den weichen Boden. Er schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, erfasste ihn gleißende Helligkeit. Er blinzelte, denn das Licht schmerzte in seinen Augen, als es ihn wie ein Kokon umschloss. Er nahm all seine Kraft zusammen und richtete sich auf. Auf unsicheren Beinen stolperte er voran, er wankte, doch das Licht verfolgte ihn auf Schritt und Tritt.

»Stj, policii!«

Die dunkle Stimme klang kalt und gefährlich. Er verharrte, ehe er auf seine Knie fiel und das Licht um ihn erlosch. Er fühlte nur noch Schmerz, bevor er die Besinnung verlor.

1

… dreiunddreißig Jahre später …

Sie wurde am frühen Morgen wach, als es im Haus laut polterte. Dann folgte ein Schrei, wie sie ihn noch nie gehört hatte, so grell und laut, so durchdringend und bedrohlich, so angsterfüllt und panisch, etwas Schreckliches musste geschehen sein. Es war der Schrei einer Frau, der im Schmerz verstummte.

»Mama?«, stammelte sie und sprang aus dem Bett. Barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet rannte sie durch das kleine Zimmer unter dem Dach, riss die Tür auf und hetzte zur Treppe. Abermals polterte es. Sie hatte kaum drei Stufen hinter sich gebracht, als sie wie vom Donner gerührt stehen blieb. Unterhalb der Treppe vor dem kleinen Verschlag, in dem Vorräte und Werkzeuge aufbewahrt wurden, lag jemand verkrümmt auf dem Rücken. Zuerst sah sie nur die Füße, die in gestrickten braunen Wollsocken steckten. Angsterfüllt ging sie Stufe für Stufe weiter, und aus den Füßen und Beinen wurde ein Körper. Die alte, zerschlissene und schmutzig braune Strickjacke, die schwieligen Hände, vom Schmerz verkrümmt, die ergrauten Haare und der tiefe rote Fleck, der sich am Kopf ausgebreitet hatte und mit dem Teppich verschwamm. Wie in Trance überwand sie die letzten Stufen, bis sie schreckensstarr stehen blieb, die Hände vor Entsetzen an die Wangen gepresst.

»Vater …«

Es war eine Feststellung, keine Frage, ihr Vater lag regungslos an der Treppe und eine Blutlache breitete sich neben seinem Kopf aus.

»Mama … Mama, wo bist du?«, rief sie durch den Flur. Erneut hörte sie ein Poltern, bevor ihr der Tod in der offenstehenden Tür zum Schlafzimmer erschien.

Schwarz gekleidet war er und schwarz war auch sein Gesicht, und es glänzte im Licht. In der Hand hielt er etwas, das bedrohlich blitzte. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und rannte durch den Flur zum Badezimmer. Kurz bevor sie es erreicht hatte, wandte sie sich noch einmal um und sah, dass der Tod ihr folgte. Sie schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel herum. Ein kleines Fenster über der Toilette führte nach draußen, doch noch bevor sie den Griff umfasst hatte, rüttelte es an der Tür. Tränen liefen ihr über die Wangen und trübten ihren Blick, doch sie wusste, dass dieses Fenster die einzige Chance zur Flucht war. Der Griff ging schwer, doch es gelang ihr, das Fenster zu öffnen. Aus dem Rütteln an der Tür wurde ein Poltern, dann folgte ein lauter Schlag. Das Holz splitterte. Sie sprang auf den Toilettensitz und schob ihren Oberkörper hinaus. Das Fenster war eng, maß kaum einen halben Meter, doch sie war schlank und auch auf die Gefahr hin, dass sie kopfüber auf die Pflastersteine im Hof stürzte, sie musste aus diesem Haus fliehen. Als es hinter ihr wieder krachte, stieß sie sich mit einem Schwung ab. Noch bevor ihre Hüften über die Zarge geglitten waren, flog die Tür auf und der schwarze Tod sprang in den Raum. Er ergriff ihre Beine und zog sie zurück. Sie zappelte und keilte aus wie ein Wildpferd, doch es nutzte nichts, der Tod war viel kräftiger als sie. Er zog sie zurück in den Raum und sie stürzte neben der Toilette zu Boden.

Sie drehte sich um und rutschte in die Ecke neben dem Waschbecken, wo die Wand ihre sinnlose Flucht beendete. Zitternd starrte sie auf die schwarze Gestalt, die vor ihr stand und sie beobachtete, wie sie über den Boden robbte.

»Nein … nein!«, schrie sie, als sie aufblickte. Regungslos stand er über ihr. Sie sah die weit geöffneten Augen, die durch zwei Schlitze der Maske auf sie herabblickten. Der leibhaftige Tod war über sie gekommen und reckte seine Arme in die Höhe. Ein Beil lag in seinen Händen.

»Nein, um Gottes willen, nicht …«

Das Beil sauste herab und ihr Kopf explodierte im grellen Schmerz. Ein erstickter Seufzer kam über ihre Lippen, als sie der zweite Hieb traf und ihr Blut gegen den Vorhang der Dusche spritzte.

*

Er saß auf einem Steinhaufen in der Nähe der Brücke und sog die Sonnenstrahlen des kalten Frühlingstages in sich auf. Die Luft war kalt, doch der heftige Wind, der in der Nacht von der See über die Küste gefegt hatte, war einer leichten Brise gewichen, die aus Westen über das Land wehte. Die salzige Luft tat gut, denn in seinem Kopf rauschte das Blut und ein heftiger Schmerz pochte in seinen Schläfen.

Er hatte es sich schwieriger vorgestellt, er hatte gedacht, dass er bis zum Äußersten seiner Kräfte gehen musste, doch nur in seinem Kopf breitete sich langsam das Gefühl der Erschöpfung aus. Auf der anderen Seite des Sees fuhr ein Traktor vorbei, doch es störte ihn nicht. Es war vollbracht. Eine lange Suche hatte endlich ihr Ende gefunden. Von seinem Ziel war er allerdings noch weit entfernt. Manchmal ist es, dachte er, als läge noch immer dieser Nebel über dem Land, als wäre noch immer die Wahrheit unter dieser wabernden und milchigen Schicht verborgen, und der Schmerz bohrte sich wie ein Stachel in seinen Kopf. Er hatte gehofft, dass sich der Schmerz legte, doch mit jedem Tag war er stärker geworden und auch jetzt, so kurz nach dieser Befreiung, verschwand er nicht einfach, sondern blieb noch immer dumpf zu spüren.

Zärtlich streichelte er über die goldene Kette mit dem Kreuz als Anhänger, dies war alles, was aus seinem früheren Leben übrig geblieben war. Seit über dreißig Jahren war diese Kette sein einziger Begleiter und er trug sie immer bei sich. Nicht um den Hals, nicht sichtbar, denn von Gott hielt er nicht viel. Gott war nie an seiner Seite gewesen, hatte sich nie um ihn gekümmert, ganz im Gegenteil, Gott hatte ihn einfach vergessen und in seinem Elend zurückgelassen.

Er fuhr sich über seine Handgelenke. Wenn er daran dachte, dann schmerzten noch immer die Fesseln, mit dem sie ihn an das Bett gekettet hatten, damals in diesem grauen, tristen und fensterlosen Zimmer in Zatec, dorthin würde er nie wieder zurückkehren.

Sie fehlte ihm, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und jede Sekunde. Er erinnerte sich an ihr Lachen, das er viel zu selten gehört hatte, an ihre Worte, die im Wind verklungen waren, manchmal sogar an ihren Geruch, der für ihn immer ein kleines Stück Geborgenheit in all dem Schrecken der vergangenen Zeit bedeutet hatte. An die Eltern erinnerte er sich nur dunkel. Zweimal war er inzwischen an ihrem Grab gewesen und hatte seinen Frieden mit ihnen gemacht. Er hatte nie verstanden, warum sie weggegangen waren und ihre Kinder einfach ihrem Schicksal überließen, dennoch hatte er Blumen an die Stelle gelegt, an der ein schmuckloser grauer Stein ihre Namen trug. Blumen, die kein Verzeihen bedeuteten, denn es gab nichts zu verzeihen.

Er steckte das Kettchen in die Hosentasche und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es war Zeit, niemand durfte ihn hier sehen. Er erhob sich und klopfte seine Hose ab, dann ging er zurück zur Straße, schwang sich auf das Fahrrad und fuhr über die menschenleeren Wege davon. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und der Fahrtwind kühlte seine Wangen.

*

»Guten Morgen, ich bin Martin Trevisan, ich bin wieder hier.«

Die junge Frau mit den langen blonden, zum Zopf gebundenen Haaren und dem blassen Gesicht, die hinter dem Schreibtisch saß, hieß Thorke Oselich und war seine neue Chefin. Natürlich hatte sich Trevisan vor seiner Bewerbung über die Dienststellenleiterin in Wilhelmshaven informiert. Sie war Ende dreißig und direkt nach ihrem Abitur zur Polizei gegangen. Die Polizeischule hatte sie als Klassenbeste absolviert und nach einem Jahr im Streifendienst war sie zur Ausbildungsabteilung nach Nienburg gewechselt, bevor sie drei Jahre später ihre Ausbildung für den höheren Polizeidienst begann. Anschließend hatte sie im Führungsstab der Polizeidirektion Lüneburg gearbeitet, in Osnabrück und bei der Polizeiakademie, bevor sie vor zwei Jahren die Dienststelle in Wilhelmshaven übernommen hatte. Ihre Karriere war makellos und sie war beinahe alle drei Jahre befördert worden. Doch von echter Polizeiarbeit auf der Straße stand nicht besonders viel in ihrer Vita.

Thorke Oselich war jung, viel zu jung eigentlich, um bereits Chefin dieser Inspektion zu sein, aber diese Reform hatte viel durcheinandergewirbelt. Beck war längst in Pension und auch die ehemalige Direktorin Schulte-Westerbeck gab es nicht mehr. Es gab ein neues Dienstgebäude, in dem es immer noch nach frischer Farbe roch, neue Kolleginnen und Kollegen, die er erst einmal kennenlernen musste, und neue Zuständigkeiten, denn von dem ehemaligen Fachkommissariat war nur noch eine Außenstelle geblieben. Kleinschmidt, mit dem er sich vorgestern ein paar Minuten unterhalten hatte und der seit einem halben Jahr in Pension war, hatte ihn gewarnt. Alles war schlechter geworden. Zu wenig Personal, ein Riesenbezirk, den man zu betreuen hatte, und Vorgesetzte, die Polizeiarbeit auf der Straße nur noch vom Hörensagen kannten und sich ihre goldenen Sterne auf der Schulbank in Nienburg und Hiltrup verdient hatten, ohne jemals auch nur einen Falschparker aufgeschrieben, geschweige denn eine Leiche von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben.

Kleinschmidt war froh darüber gewesen, dass er endlich in Pension gehen konnte, denn auch die Spurensicherung war inzwischen zentralisiert und zur Direktion nach Oldenburg verlegt worden. Nur aufgrund seines Alters hatte er in Wilhelmshaven bleiben können. Wie eine ungeliebte Altlast war er sich vorgekommen. Zwar hatte man ihm staatlicherseits das Gnadenbrot in Wilhelmshaven gegönnt, dennoch hatte ihn stets das Gefühl verfolgt, dass niemand etwas dagegen gehabt hätte, wenn er vorzeitig in Pension gegangen wäre, um einem jungen, dynamischen Kollegen Platz zu machen.

Trevisan hatte nur mit der Schulter gezuckt. In den letzten fünf Jahren, die er bei der Präventionsabteilung in Oldenburg zugebracht und besorgten Bürgern die Vorzüge von Doppelverglasungen und dreifach gesicherten Türen nahegebracht hatte, war die Entwicklung innerhalb der Polizei irgendwie an ihm vorübergegangen. Er war nun selbst über fünfzig und hatte lange überlegt, ob er sich tatsächlich auf die ausgeschriebene Stelle beim Kriminalkommissariat in Wilhelmshaven bewerben sollte. Den Ausschlag hatte die Entfernung nach Oldenburg gegeben, denn seit einem halben Jahr wohnte er wieder an der Küste. Lea, seine Lebensgefährtin, hatte den Peerenhof unweit von Horumersiel gekauft, in den sie sich auf den ersten Blick sofort verliebt hatte. Auf der Suche nach einem neuen Atelier war sie dem Charme und der kreativen Ausstrahlung des alten Gemäuers erlegen. Sechshunderttausend Euro waren kein Pappenstiel, aber schließlich war Lea vermögend. Sie malte nicht nur Bilder und formte Skulpturen, sondern war inzwischen eine anerkannte und hoch gelobte Restauratorin sakraler Kunst, so dass es an Aufträgen nicht mangelte.

»So früh habe ich Sie eigentlich noch gar nicht erwartet«, entgegnete Thorke Oselich und erhob sich. »Nehmen Sie Platz, Herr Trevisan! Schön, dass ich Sie endlich persönlich kennenlerne. Sie waren schon einmal hier auf dieser Dienststelle, hörte ich.«

Trevisan nickte und nahm Platz. »In der Peterstraße, das ist lange her.«

»Ja, sehr lange«, bestätigte die Inspektionsleiterin. »Wie ich erfuhr, sind Sie damals wegen Ihrer Tochter nach Hannover zum Landeskriminalamt gewechselt. Sie musste dort in ärztliche Behandlung.«

Trevisan nickte.

»Wie geht es ihrer Tochter heute?«

Trevisan winkte ab. »Es geht ihr gut, sie arbeitet inzwischen auch hier in Wilhelmshaven.«

»Sie ist auch bei der Polizei?«

»Nein, beim Ozeanographischen Institut am Arsenalhafen. Sie hat Meeresbiologie studiert.«

»Ah, ich verstehe. Sind Sie deswegen wieder zurückgekommen?«

Trevisan lächelte und schüttelte den Kopf. »Paula ist inzwischen erwachsen, wobei Kinder für Eltern natürlich immer Kinder bleiben. Ich glaube kaum, dass sie begeistert wäre, wenn ich mich in ihr Leben mische. Nein, ich wohne inzwischen auf dem Peerenhof bei Horumersiel und nach Oldenburg sind es siebzig Kilometer. Außerdem fehlte mir die Küste. Ich glaube, wenn man an der Wiege des Windes aufgewachsen ist, dann zieht es einen immer wieder hierher zurück. Manchmal fühlte ich mich in den Städten wie ein Fisch auf dem Trockenen.«

»Das kann ich verstehen«, entgegnete Thorke Oselich. »Ich bin aus Schortens.« Die Kriminaldirektorin kramte aus ihrem Postkorb Trevisans Akte hervor und blätterte darin. »Sie waren damals Leiter des 1. Fachkommissariats.«

»Ja, anschließend war ich fünf Jahre beim LKA, dann wurde ich auf eigenen Wunsch nach Oldenburg versetzt.«

»Wie ich sehe, arbeiteten Sie zuerst bei der Koordinierungsstelle für Verbrechensbekämpfung und anschließend bei der Kriminalprävention. Sie sind sich aber im Klaren darüber, dass die ausgeschriebene Stelle des Kommissariatsleiters eine Sachbearbeiterstelle ist?«

»Ich bin mir im Klaren darüber, dass dies auch Außendienst bedeutet, und das kommt mir auch gelegen. Ich habe den Bürodienst satt.«

Thorke Oselich klappte die Akte zu. »Dann ist es ja gut, Herr Trevisan. Ich denke, ich stelle Ihnen nun die Abteilung vor. Allzu viele sind wir ja nicht mehr. Bei größeren Ereignissen unterstützen uns die Kollegen aus Oldenburg. Die Ermittlungen werden nach wie vor durch das Kommissariat geführt, leider sind wir nur dünn besetzt. Auch da unterstützt uns Oldenburg mit den Fachdiensten, wenn es notwendig ist.«

Die Inspektionsleiterin erhob sich, Trevisan folgte ihr. Sie führte ihn den Flur entlang in den Südflügel des Gebäudes, wo im zweiten Stock das Kriminalkommissariat untergebracht war. »Wir haben insgesamt acht Mitarbeiter im Kommissariat. Mit Ihnen sind es neun. Ihr Vorgänger wollte es etwas ruhiger und ist in den Stab nach Oldenburg gewechselt, die Stelle war seither unbesetzt. Frau Sander leitete die Abteilung.«

»Monika Sander?«

Thorke Oselich nickte. »Sie kennen sich?«

»Sie war früher im Fachkommissariat meine Stellvertreterin.«

»Gut, dann müssen Sie sich ja nicht großartig umstellen.«

Vor einer Glastür mit der Aufschrift Kriminalkommissariat blieben sie stehen. Thorke Oselich tippte den Code in den kleinen grauen Kasten neben der Tür und der Summer war deutlich zu vernehmen. Sie schob die Tür auf. »Den Code kennen Sie?«

Trevisan nickte. Es war derselbe, der ihm auch in Oldenburg sämtliche Pforten geöffnet hatte. Offenbar hatte die Polizei überall Schlüssel und Schlösser inzwischen abgeschafft.

Die Chefin führte Trevisan in einen großen Raum, in dem ein langer Tisch und etliche Stühle standen. Auf dem Tisch lagen eine Banane und eine Tupperbox. »Warten Sie hier. Ich rufe alle zusammen, das ist am einfachsten. Schließlich sollten alle wissen, wer ab heute das Zepter in diesen Räumen schwingt.«

Mit einem Lächeln ließ sie Trevisan an der Stirnseite des Tisches zurück, der sich angesichts der Situation ein klein wenig unwohl fühlte.

Tröpfchenweise füllte sich der Raum. Als Monika Sander das Büro im Schlepptau von Thorke Oselich betrat, winkte sie ihm freudig zu. Die Kolleginnen und Kollegen nahmen am Tisch Platz und warfen Trevisan den einen oder anderen abschätzenden Blick zu.

Thorke Oselich trat an seine Seite und brachte das Auditorium mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Erster Polizeihauptkommissar Martin Trevisan, er wird diese Abteilung übernehmen, nachdem Kollege Bloom endgültig nach Oldenburg umgesetzt wurde. Er war schon einmal hier und leitete das 1. Fachkommissariat.«

Trevisan nickte den Anwesenden zu.

»Martin, schön, dass du wieder hier bist«, begrüßte ihn Monika, die sich in die vordere Reihe gesetzt hatte.

»Jetzt lasse ich Sie am besten alleine, damit Sie Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen kennenlernen. Wir haben hier eine Ermittlungsabteilung und die Fahndung, ich denke, Sie werden schnell den Überblick haben. Wenn Sie noch Fragen haben, Sie wissen, wo Sie mich finden. Wir pflegen hier eine offene Kultur des Umganges, mein Büro steht Ihnen jederzeit offen.« Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich die Inspektionsleiterin.

»Soso, Erster Polizeihauptkommissar«, murmelte Monika. »Hier habe ich es leider nicht so weit gebracht, aber wie heißt es immer: Die guten Stellen sind eben bei der Direktion und nicht auf der Straße.«

Trevisan zwinkerte ihr zu. »Genau da komme ich her.«

»Wie geht es Paula?«

»Es geht ihr gut, sie hat mir deine Grüße bestellt.«

»Ja, ich war überrascht, als sie mir erzählte, dass du jetzt auf dem Peerenhof wohnst und noch überraschter war ich, als ich von deiner Bewerbung hörte. Es gibt selten Leute in unseren Reihen, die im Alter wieder zurück auf die Straße wollen.«

»Tja, dann bin ich wohl die Ausnahme. Außerdem fühle ich mich immer noch jung …«

Bevor er weitersprechen konnte, betrat ein uniformierter Kollege den Raum. »Entschuldigen Sie, leider gibt es unangenehme Nachrichten. Auf dem Jakobshof bei Friederikensiel hat der Postbote eine Leiche gefunden, die Kollegen von der Streife sind schon auf Anfahrt. Es sieht nach einem Verbrechen aus.«

Monika Sander erhob sich. »Tja, geht schon gut los, dein erster Arbeitstag. Eigentlich hatten wir es in den letzten Wochen und Monaten sehr ruhig hier. Offenbar ziehst du Mord und Totschlag irgendwie an. Trotzdem, herzlich willkommen in Wilhelmshaven.«

2

Donnerstag

Er war wieder an der Küste und er spürte es deutlich, das Wetter schlug um. Es war kurz nach Mittag und vor die Sonne schoben sich dichte graue Wolken. Der Wind hatte gedreht und blies die Wolkenschirme von Nordost auf das Festland zu. Der sonnige Vormittag sollte wohl nur ein kurzer Ausblick auf den bevorstehenden Frühling gewesen sein. Trevisan zog seinen Jackenkragen höher, als er über den Parkplatz lief und zu Monika Sander in den Wagen stieg. Sie fuhren über die Bismarckstraße aus der Stadt hinaus und schlugen den Weg nach Schortens ein.

»Na, wie ist es dir so ergangen in der großen weiten Welt?«, fragte Monika, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten.

»Große weite Welt ist ganz schön übertrieben«, entgegnete Trevisan. »Wie geht es Peter und den Kindern?«

»Geht so.«

Er zögerte einen Augenblick. »Ich weiß, dass du dich auch auf die Stelle beworben hast, ich hoffe, du hast kein Problem damit, dass ich …«

»Nein, ich bin sogar froh darüber, dass du wieder zurückgekommen bist. Bloom war nicht so ganz mein Fall, er wusste alles besser. Ich hoffe, es wird so wie früher, ich finde, es war eine schöne Zeit.«

»Das hoffe ich auch, wenngleich diese Schreibtischjobs einen anderen Menschen aus dir machen … Da wird man irgendwann zum reinen Bürokraten, der schön brav in der Stube sitzt und den Blick über den Tellerrand meidet, damit er sich nicht immer dafür entschuldigen muss, wie gut es ihm geht.«

»Weshalb bist du zurückgekommen?«, fragte Monika.

»Ehrlich gesagt wegen der Entfernung. Ich wohne inzwischen in Horumersiel …«

»Ich weiß, du hast zusammen mit deiner Lebensgefährtin den Peerenhof gekauft.«

»Ich wollte eigentlich immer wieder zurück, weder in Hannover noch in Oldenburg habe ich mich richtig zu Hause gefühlt. Eigentlich hätte ich schon viel früher zurückkommen sollen, aber es gab keine Stelle.«

»Ist es auch wegen Paula?«

Trevisan hob den Finger vor den Mund. »Wenn du mich nicht verrätst …: Paula ist zwar erwachsen, aber das Loslassen, nach allem, was war, ist nicht so einfach. Ich brauche die Nähe zu ihr. Sicher hat Dänemark etwas damit zu tun … Ich weiß es nicht … Aber ich fühle mich einfach sicherer, wenn ich in ihrer Nähe bin.«

»Das verstehe ich. Mein Junge studiert in Marburg. Ich sehe ihn nur noch selten und Peter ist inzwischen bei einer Firma eingestiegen, die Industrieprojekte plant. Nichts mehr mit dem kleinen Büro im Haus, er ist gerade in Kanada und kommt, wenn es gut geht, Ende des Monats zurück. Tja, so ändern sich die Zeiten.«

»Wo sind eigentlich Tina und Alex abgeblieben?«, fragte Trevisan.

»Tina ist in Emden und Alex ist dir zum LKA gefolgt. Organisierte Kriminalität, da ist er inzwischen eine ganz große Nummer. Dietmar hat es an die Polizeischule gezogen, er unterrichtet Eingriffsrecht in Nienburg.«

»Ich weiß, ich bin ihm dort begegnet, als ich den Präventionslehrgang gemacht habe.«

»Prävention, das klingt … spannend«, entgegnete Monika mit einem Lächeln.

»Tja, unsere Königsdisziplin. Tu was, bevor es passiert, damit es nicht passiert.«

»Ja, ich weiß, ich kenne das Geschwafel, ich habe nebenbei ein Jahr lang die Außenstelle hier betreut.«

Trevisan nickte. »Dann bist du ja bestens im Bilde.«

»Fensterläden, Türschlösser, junge Krakeeler und Altennachmittage, du brauchst mir nichts zu erzählen.«

Bei Hohenkirchen fuhren sie am Wangermeer vorbei, einem künstlichen See, der durch Kleiabbau entstanden und inzwischen zu einer kleinen touristischen Attraktion ausgebaut worden war. Kurz vor Friederikensiel bog Monika links ab und folgte der Straße in Richtung Minsen, bis sie an einen Feldweg kamen, der durch einen Streifenwagen abgesperrt war. Ein Gehöft lag am Ende des Weges, die nächste Siedlung war hunderte von Metern entfernt.

»Der Hof liegt sehr abgeschieden«, murmelte Trevisan.

Monika wandte sich ihm zu. »Ja, recht einsam hier.«

Der Deich war gerade mal einen halben Kilometer entfernt. Monika stoppte den Wagen, als die uniformierte Polizistin mit erhobener Haltekelle hinter dem blau-weißen Passat hervortrat.

»Hallo, Sander, KK Wilhelmshaven«, begrüßte sie die Kollegin, die daraufhin den Weg freigab.

»Na, dann schauen wir mal«, seufzte Trevisan. Zwei Streifen­wagen und zwei Zivilfahrzeuge standen bereits auf dem Areal. Ein gelber Wagen der Post parkte an der Zufahrt zur Scheune. »Wo ist die Spurensicherung?«

»Tja, es hat sich so manches geändert«, entgegnete Monika Sander. »Früher musste sie auf uns warten, jetzt ist es umgekehrt. Die kommen aus Oldenburg und das dauert, das brauche ich dir ja nicht zu erzählen.«

Trevisan stieg aus. Ein großer und kräftiger Kollege in Uniform kam auf ihn zu. Monika umrundete den Wagen, und er begrüßte sie. »Schöner Mist, nicht wahr?«

»Das ist Martin Trevisan, mein alter und neuer Chef«, stellte sie ihren Begleiter vor. »Vielleicht kennst du ihn noch.«

»Klar kenne ich ihn noch, Trevisan vom K1. Wir hatten ein paarmal miteinander zu tun.«

Trevisan musterte den uniformierten Beamten mit der Figur eines Ringers, der Mitte vierzig war. So sehr er sich auch anstrengte, kam ihm keine Idee, woher er den Mann kennen sollte.

»Dieter Kronbaum, Polizeistation Fedderwardengroden. Es ist lange her, damals jagten wir einen Brandstifter, der hier an der Küste sein Unwesen trieb.«

»Ja, ich erinnere mich«, entgegnete Trevisan wahrheits­widrig. »Was gibt es hier?«

»Vier Tote«, entgegnete Kronbaum kalt. »Sieht aus wie in einem Schlachthaus.«

*

Inzwischen waren auch die Spezialisten der Spurensicherung aus Oldenburg eingetroffen. Trevisan ließ bei der Verteilung der Arbeit Monika den Vortritt und hielt sich erst einmal zurück, obwohl ihn längst das alte Fieber wieder ergriffen hatte. Kronbaum war noch immer in seiner Nähe, er kannte die Familie, die hier gelebt hatte und auf bestialische Weise ermordet worden war.

»Habichs bewirtschaften den Hof seit etwa fünf Jahren«, erklärte Kronbaum. »Frauke, das ist die Tote im Schlafzimmer, stammt von hier. Sie ist Ende letzten Jahres fünfzig geworden. Nachdem ihr Mann vor acht Jahren auf See geblieben ist, hat sie Rolf kennengelernt. Das war übers Internet, wie man behauptet. Der stammt ursprünglich aus dem Osten und ist mit seinem Vater hier eingezogen, nachdem sie geheiratet hatten. Die Tochter im Badezimmer heißt Dörte, ist Anfang zwanzig und stammt aus erster Ehe. Sie lebt normalerweise auf Norderney. Sie arbeitet dort in einem Hotel und kommt manchmal zu Besuch auf den Hof.«

»Und der alte Mann in der Scheune?«, fragte Trevisan.

»Das ist Rolfs Vater, er ist um die achtzig und machte sich auf dem Hof nützlich. War ja auch noch recht rüstig, der alte Mann. Die hatten früher auch Landwirtschaft im Osten. Viele hier im Umkreis behaupten, dass es nicht die Liebe war, die Frauke dazu veranlasste, Rolf zu heiraten. Alleine hätte sie den Hof niemals halten können.«

»Gab es Probleme?«

»Probleme?«

»Mit Nachbarn oder im Ort?«

Kronbaum schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht, absolut ruhige und freundliche Menschen, nur das Sächseln konnten sie nicht lassen.«

Ein kalter Windstoß fegte über den Hof und Trevisan fröstelte. Vier Leichen lagen in diesem Gehöft, ein alter Mann, der Sohn, dessen Ehefrau und ein junges Mädchen. So wie es schien, mit einer Axt erschlagen. Weitere Hinweise gab es bislang nicht. Trevisan würde einiges dafür geben, wenn Kleinschmidt mit von der Partie wäre, auf den hatte er sich damals hundertprozentig verlassen können. Der junge Schnösel, der die Spurensicherungsgruppe aus Oldenburg leitete, war zuerst grußlos an ihm vorübergegangen, was Trevisans Vertrauen in die Fähigkeiten des Mannes nicht sonderlich stärkte. Gerade in so einem Fall, in dem es keine offensichtlichen Spuren und Motive gab, kam es auf eine gründliche Spurensicherung an.

Monika Sander kam auf Trevisan zu, in ihrer Begleitung ein älterer Mann mit Brille und Glatze, der einen dunklen Pilotenkoffer trug. »Das ist Doktor Rüttensberg von der Rechtsmedizin. Martin Trevisan, der neue Leiter unseres KK.«

»Ah, Herr Trevisan.« Rüttensberg reichte ihm die Hand. »Da werden wir wohl in Zukunft öfter miteinander zu tun haben.«

»Können Sie schon etwas sagen?«

»Erst mal die Kurzform … Der alte Mann in der Scheune wurde erschlagen. Im Haus liegen ein Mann mittleren Alters, seine Ehefrau und deren Tochter, ebenfalls erschlagen, teilweise weisen die Leichen zusätzliche Stichverletzungen auf. Als Tatmittel kommen eine Axt sowie ein handelsübliches Küchenmesser mit langer Klinge in Frage. Offenbar wurden die Opfer vom Blutrausch des Täters überrascht. Nur die Tochter versuchte aus dem Badezimmerfenster zu entkommen.«

»Todeszeitpunkt?«

»Tja, Witterung, Temperaturen … Ich würde sagen, heute Morgen zwischen fünf und sieben Uhr. Näheres erfahren Sie nach der Obduktion.«

»Fünf und sieben Uhr«, wiederholte Trevisan. »Das heißt, zwischen Dämmerung und Sonnenaufgang.«

Der Arzt blickte sich um. »Ja, da waren wohl nur wenige Leute unterwegs. Die Frau und die Tochter waren noch im Nachthemd, während die Männer bereits ihre Arbeitskluft trugen. Aber das ist wohl normal, hier gibt es einen Stall voller Milchkühe.«

»Danke, Doktor.« Trevisan schaute ihm nach, bis er in seinen Wagen gestiegen war und über den Feldweg davonfuhr. Er wandte sich Monika zu. »Dann kümmern wir uns jetzt um den Postboten.«

*

Der junge Mann saß auf der Rückbank des VW-Busses der Streifenpolizei, der kurzfristig zum mobilen Vernehmungsraum umfunktioniert worden war, und zitterte am ganzen Körper. Ein Klapptisch in der Mitte ermöglichte, die Schreibkladde für Notizen aufzulegen. Das obligatorische Diktiergerät stand auch dort und zeichnete die Vernehmung auf.

Enno Behrend arbeitete seit fünf Jahren bei der Post in Jever. Sein Bezirk reichte hinüber bis nach Schillig. »Dann erzählen Sie mal!«, forderte Trevisan den Zeugen auf.

»Ich hatte zwei Briefe und ein Paket für die Habichs«, berichtete der Postbote. »Briefe stecke ich üblicherweise in den Briefkasten, aber das Paket musste quittiert werden. Ich bin gar nicht bis zur Haustür gefahren, ich hab vor dem Stall gehalten. Da ist meist offen und der alte Habich ist um diese Zeit im Stall.«

»Wann war das?«, fragte Trevisan.

»So halb zwölf etwa. Ich wusste, dass die Habichs auf das Paket warten. Da ist irgendein Bauteil für den Sicherungskasten drin, deshalb bin ich in den Stall gegangen und da lag er, überall war Blut.«

»Wen haben Sie liegen sehen?«

»Den alten Habich. Da war Blut überall um seinen Kopf. Ich dachte zuerst, er ist auf den Kopf gefallen oder so. Ich hab die Tür zum Haus geöffnet, da lag der Bauer. Auch da war überall Blut.«

»Sie waren auch im Haus?«

Der Postbote schüttelte den Kopf. »Nein, nicht direkt. In der Scheune gibt es eine Tür, die ins Haus führt. Ich hab die Tür aufgestoßen und da lag der Bauer vor mir.«

»Was haben Sie dann getan?«

Er zögerte. »Ich … ich hatte Angst … Die waren alle tot … Ich bin aus dem Stall gelaufen und nichts wie weg. Ich bin zu Dickens gefahren, das ist der nächste Hof.«

»Haben Sie von dort aus angerufen?«

Behrend schüttelte den Kopf. »Nein, mit meinem Handy. Ich bin auf den Dickenshof gefahren und habe gehupt, aber da war niemand. Dann habe ich den Notruf angerufen und man hat mir gesagt, dass ich dort warten soll. Mir war ganz schön mulmig zumute, das können Sie mir glauben.«

»Wegen der Toten?«

»Klar, weswegen denn sonst«, entgegnete der Postbote atemlos. »Als der Bauer da im Treppenhaus lag, wusste ich, dass da was Schlimmes passiert ist, deswegen bin ich auch sofort abgehauen.«

»Die beiden Frauen im Haus haben Sie nicht gesehen?«

Der Zeuge schüttelte den Kopf. »Ich habe gewartet, bis die Polizei gekommen ist, und dann bin ich wieder mit hierher gefahren.«

»Wie lange haben Sie gewartet?«

»Zehn Minuten vielleicht«, erklärte der Postbote.

»Beobachtet haben Sie niemanden, keine Fremden oder Fahrzeuge, die hier nicht her gehören?«

Behrend schüttelte den Kopf.

Trevisan wandte sich Monika zu. »Wer war die erste Streife hier vor Ort?«

»Die war vom PK in Jever. Sie sind von Carolinensiel herübergefahren.«

»Gut, Herr Behrend, das war es vorerst. Wenn es noch Fragen gibt, dann melden wir uns noch einmal bei Ihnen.«

»Dann kann ich jetzt gehen?«

»Ja, und vielen Dank, dass Sie geblieben sind und auf uns gewartet haben.« Trevisan wartete, bis der Postbote den Bus verlassen hatte. »Sind die Kollegen aus Jever noch hier?«

Monika deutete aus dem Fenster auf einen Streifenwagen. »Ocke Braren und seine junge Kollegin Stine Lübbers waren zuerst im Haus. Sie haben die beiden Frauen gefunden.«

»Einbruchspuren?«

»Nein, der Stall ist unverschlossen. Die Tür lässt sich aufschieben. Da gibt es einen Zugang zum Haus, der meist auch unverschlossen ist. Der Täter hatte kein Problem, ins Haus zu kommen. Er hat Fußspuren hinterlassen, deswegen können wir davon ausgehen, dass er den alten Habich im Stall zuerst ermordet hat, bevor er dann das Haus betrat. Die Tochter wollte offenbar noch durch das Badezimmerfenster entkommen, aber der Mörder war schneller.«

Trevisan seufzte. »Vier Menschen, einfach so erschlagen. Der Mörder muss sich in einen Blutrausch gesteigert haben.«

»Und er muss blutbesudelt gewesen sein«, sagte Monika. »Eike und die anderen klappern die Umgebung ab, vielleicht hat ja doch jemand was gesehen.«

»Es dämmerte bereits, das wäre möglich.«

»Ein toller Einstieg auf der neuen Dienststelle, oder?«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Dafür hatte ich es in den letzten Jahren sehr ruhig. Zu ruhig manchmal. Kennst du diesen Krog von der Spurensicherung?«

»Flüchtig«, entgegnete Monika. »War noch nicht oft hier.«

Trevisan räusperte sich. »Dann will ich mal sehen, ob er schon ein paar Neuigkeiten für uns hat.«

3

Paul Krog trug einen weißen Papieranzug über seiner Kleidung. Er stand unweit des weißen Sprinters der Spurensicherung und macht sich Notizen auf einem Schreibbrett. Trevisan trat an seine Seite und schaute ihm über die Schulter. Krog nahm das Schreibbrett zur Seite und blickte ihn fragend an.

»Martin Trevisan, Kripo Wilhelmshaven. Können Sie schon was sagen?«

Der Kollege aus Oldenburg, Trevisan schätzte ihn auf Mitte dreißig, schüttelte den Kopf.

»War es ein Einzeltäter?«

»Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen.«

»Unsere Leute von der Fahndung sollten ungefähr wissen, nach was sie suchen«, sagte Trevisan. »Ich denke, wir müssen miteinander sprechen. Oder sollen wir uns einen Logenplatz im Zuschauerraum suchen?«

»Ich habe meine Methoden, Sie haben Ihre.«

Trevisan lächelte. »Na ja, vielleicht können Sie mich ja an Ihren Methoden teilhaben lassen, ich lerne gerne noch dazu.«

Krog wandte sich ihm zu. »Wir sind die Spurensicherung und jeder von uns hat seine Aufgabe. Meine Methode ist es, erst alles zusammenzutragen, bevor wir die Pferde scheu machen, und diese Methode hat sich in den letzten Jahren immer bewährt. Und jetzt entschuldigen Sie mich, wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns.«

Trevisan trat dem jungen Kollegen in den Weg. »Wer ist Ihr Vorgesetzter, Maierling oder Uthof?«

»Wieso interessiert Sie das?«

»Weil ich verdammt noch einmal diese Ermittlungen leite und weil ich es gewohnt bin, über den Sachstand informiert zu werden und vielleicht auch, weil wir keine Sitzplätze für dieses Theater hier bekommen haben«, entgegnete Trevisan trocken. »Auch wenn Sie aus Oldenburg kommen und zu einer anderen Abteilung gehören, dieser Fall wird vom Kriminalkommissariat Wilhelmshaven bearbeitet, also von mir und meiner Dienststelle. Deshalb arbeiten wir nach meinen Methoden. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden, oder soll ich zuerst in Oldenburg anrufen?«

Krog blickte Trevisan abschätzend an. Er schluckte ein paarmal, schließlich räusperte er sich. »Vier Leichen, mit einer Axt erschlagen und mit einem Messer attackiert, dazu noch ein erschlagener Hofhund an der Rückseite der Scheune. Tatwaffe könnten eine Axt und ein Messer gewesen sein.«

Trevisan grinste. »Das weiß ich bereits, haben Sie auch etwas Neues für mich?«

»Wir arbeiten daran, aber bislang gibt es nur ein paar grobstollige Stiefelabdrücke, die vermutlich vom Täter stammen. Gummistiefel, würde ich sagen. So wie es aussieht, ein Einzeltäter.«

»Besonderheiten zu den Tatwaffen?«

Krog zuckte mit der Schulter.

»Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte? Wie ging der Täter vor, wie kam er ins Haus, haben sich die Opfer gewehrt oder wurden sie überrascht?«

»Das steht später alles im Bericht«, entgegnete Krog.

»Hören Sie, Herr Kollege, ich habe schon Mörder festgenommen, da lümmelten Sie noch auf der Schulbank in Nienburg herum, also kommen Sie mir nicht mit einem Bericht. Erzählen Sie mir einfach, was Sie bislang herausgefunden haben, diese Methode hat sich über Jahre hin bewährt und es gibt sie schon, seit Menschen gelernt haben, aufrecht zu gehen.«

Krog runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

»Menschen kommunizieren, tauschen sich aus, diskutieren und geben Informationen weiter, das meine ich damit. Was der eine nicht weiß, hat der andere entdeckt. Genau deshalb ist Kommunikation wichtig. Also, reden wir offen miteinander!«

Krog wurde unsicher. »Ich … Wir … Es ist ein großer Tatort, das ganze Haus sieht aus wie ein Schlachtfeld. Wir werden noch eine ganze Weile brauchen, bis wir alles durch haben.«

»Und diese Zeit haben Sie auch, aber es wäre sinnvoll, bevor wir alle hier stundenlang dumm rumstehen, dass Sie Ihr bislang erworbenes Wissen mit mir teilen. Vielleicht ließe sich dann zumindest gezielt nach dem Täter fahnden.«

»Ich habe die Hundestaffel angefordert, wir müssen auch das Umfeld absuchen.«

»Klar«, bestätigte Trevisan. »Und jetzt zu den Details. Auch Vermutungen interessieren mich.«

Krog zeigte ihm das Schreibbrett, auf dem er eine grobe Tatortskizze auf Millimeterpapier erstellt hatte. »Das Wohnhaus und die Scheune sind hälftig zusammengebaut und haben einen gemeinsamen Zugang. Wir gehen davon aus, dass der Täter durch die Scheune in das Haus gelangte. Dort traf er auf den Großvater und erschlug ihn. Einbruchspuren haben wir nicht gefunden, deshalb nehmen wir an, dass die Tür zur Scheune und die Zwischentür zum Wohnhaus unverschlossen waren.«

»Abwehrverletzungen?«

Krog schüttelte den Kopf. »Den Großvater hat es wohl aus heiterem Himmel erwischt. Anschließend öffnete der Täter die Tür zum Haus, dort traf er auf den Bauern, der sich dort seine Stiefel auszog. Auch hier hat er unvermittelt zugeschlagen, außerdem hat er ein Messer benutzt und mindestens drei- bis viermal zugestochen. Da lag das Opfer bereits auf dem Boden. Von dort aus führen blutige Stiefelspuren ins Schlafzimmer, wo er die Ehefrau des Landwirtes mit dem Messer und dem Beil ermordete. So wie es sich darstellt, hat die Tochter des Hauses etwas mitbekommen und kam die Treppe herunter. Als sie merkte, was los war, ist sie in das Badezimmer geflüchtet. Sie wollte dort aus dem Fenster steigen, aber der Täter war schneller. Er hat sie erwischt und erschlagen.«

»Ziemlich sicher ein Einzeltäter?«

»Davon gehen wir nach derzeitiger Spurenlage aus.«

»Seine Kleider müssen voller Blut gewesen sein.«

»Nicht zwangsläufig«, erwiderte Krog. »Im Badezimmer kam es wohl zu einem Kampf. Die junge Frau hatte Abwehrverletzungen, außerdem hielt sie ein Stück Plastikfolie zwischen den Fingern, eine Klarsichtfolie, wie man sie bei einfachen Regencapes findet. Der Täter könnte so etwas getragen haben, um seine Kleider vor dem Blut zu schützen.«

»Hat man eine der Tatwaffen gefunden?«

Krog schüttelte den Kopf. »Deswegen habe ich die Hunde­staffel angefordert. An der Rückseite der Scheune gibt es eine Tür, dort haben wir Fußspuren und Blutanhaftungen festgestellt. Der Täter hat das Areal wohl über diesen Ausgang verlassen und dabei den Hund erschlagen, der dort an einer Hundehütte angeleint war.«

»Dort hinten liegt Friederikensiel«, murmelte Trevisan.

»Zunächst sind dort Felder und Wiesen, dann folgt ein Weg, der zum Wangermeer führt. Wir lassen alles absuchen, vielleicht finden die Hunde eine Spur.«

Trevisan kratzte sich am Kopf. »Vier Menschen und ein Hund, und niemand bekommt etwas davon mit.«

»Mit der Intensität und dem Vernichtungswillen, den der Täter bei der Tatausführung an den Tag legte, dauerte dieses Massaker kaum mehr als ein paar Minuten. Nur bei der Tochter, die ins Badezimmer flüchtete, brauchte er ein klein wenig länger. Die Badezimmertür war kein großes Hindernis, er hat sie einfach mit dem Beil eingeschlagen. Ich würde sagen, der Täter ging mit äußerster Brutalität vor.«

»Das heißt, Hass könnte als Motiv in Frage kommen?«

Krog nickte und wies in den dunklen Himmel. »Ich habe aufgrund der Größe des Tatortes eine zweite Spurensicherungseinheit angefordert, die sind bereits auf dem Weg. Ich hoffe, es bleibt trocken.«

Eine Windböe fegte um das Haus. Trevisan nickte. »Wenn der Wind pfeift, dann treibt er den Regen ins Festland. Wir haben gute Chancen, dass es trocken bleibt.«

Er kehrte zu Monika Sander zurück, die neben dem Dienstwagen stand und sich locker dagegen lehnte. »Abgrundtiefer Hass«, sagte er, als er an ihre Seite trat und ihr ein Lutschbonbon reichte.

»Hass auf die ganze Familie?«

»Möglich. Unbändiger Vernichtungswille, meint der junge Kollege von der Spusi.«

*

Johannes Leußner schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach vier. In wenigen Minuten hatte er Feierabend. Er rangierte den LKW in die Parklücke und schaltete den Motor ab. Morgen in aller Frühe würde er mit Maschinenteilen an Bord in den Süden nach Turin fahren. Eine Tour, die inzwischen zweimal im Monat anstand. Seit drei Jahren arbeitete er bereits für die Spedition Vader in der Stellmacherstraße, dem Industriegebiet von Norden, das vor der Stadt direkt an der B 72 lag. Eigentlich war LKW-Fahrer immer sein Traumjob gewesen. Schon als Kind hatte er davon geträumt, wenn die großen Laster wie der G5 oder Jahre später der W50 voll beladen mit Getreide über den Hof donnerten und er das Zittern der Erde spürte. Dann wollte er hinter dem Steuer eines dieser Riesen sitzen und damit in die weite Welt und über alle Grenzen hinweg fahren. Und nun fuhr er so ein Gefährt, viel größer noch als damals, einen Actros Mega­liner mit vierzig Tonnen. Manchmal hinauf bis in den hohen Norden, nach Stockholm oder Kristiansand oder hinunter in den Süden, nach Turin, Rom oder Rijeka. Sogar in Warschau und in Kauna war er schon gewesen.

Doch inzwischen war nicht mehr viel von der Fernfahrerromantik geblieben. Die Elektronik beherrschte das Fahrzeug und der Disponent beherrschte den Fahrer. Zeit war der Faktor, der am meisten störte und inzwischen zum Feind aller Fernfahrer geworden war. Die Räder mussten rollen. Stillstand bedeutete Schmälerung des Gewinns. Außerdem hatte der Verkehr auf den Straßen in einer Intensität zugenommen, dass kilometerlange Staus zur täglichen Realität geworden waren. Der Stress, dem die Fahrer Tag für Tag ausgesetzt waren, brachte viele dazu, vorzeitig den Job zu schmeißen und für weitaus weniger Einkommen als Lagerist, Mechaniker oder in einer Fabrik am Band die Brötchen zu verdienen.

Johannes Leußner war sechsundfünfzig Jahre alt, fühlte sich aber immer noch fit und der Aufgabe gewachsen. In der Firma hielt man große Stücke auf ihn, denn die Fahrer von heute waren oft unzuverlässig und warfen bei den geringsten Schwierigkeiten die Flinte ins Korn. So kam es auch, dass er trotz seiner relativ kurzen Zeit in der Firma bereits einen Schlüssel zum Lager besaß, so dass er selbstständig und nach seinem eigenen Zeitplan den Lastwagen für die Abfahrt vorbereiten konnte.

»Wann fährst du los?«, fragte der Disponent, als Johannes das kleine Büro betrat, um seinen Fahrzeugschlüssel in dem dafür vorgesehenen Fach zu deponieren.

»Ich starte um vier, alles beladen und vollgetankt.«

»Vergiss meine Zigaretten nicht.«

»Ich weiß, MS Rosso, wie immer.«

»Ja, und denk daran, nach der Tour muss der Service gemacht werden, du musst dann auf den MAN umsteigen.«

»Der MAN ist eine alte Klapperkiste.«

»Für Rotterdam wird er reichen.«

»Okay, dann bis nächste Woche.«

Der Disponent nickte. »Gute Fahrt und hetze ihn nicht wieder.«

Johannes Leußner verkniff sich eine Antwort. Der junge Mann hinter dem Schreibtisch, ein Neffe des Juniorchefs, hatte sowieso keine Ahnung. Schließlich gab es inzwischen Regler und Begrenzer in den Fahrzeugen, außerdem lauerte beinahe an jedem Autobahnkreuz der Straßenzoll oder die Polizei. Er verließ das Büro und stieg in seinen Opel. Er musste dringend Farbe kaufen, Jenny wartete auf ihn.

Jenny war keine Frau, keine Freundin oder Lebensgefährtin, sondern ein schlankes, gut motorisiertes Boot, das in einem Bootshaus an der Leybucht auf ihn wartete und das er vorgestern mühsam von der alten Farbe befreit hatte, um ihm für den Frühling einen neuen Anstrich zu gönnen. Johannes Leußner lebte alleine, eine Frau gab es in seinem Leben nicht. Zweimal hatte er kurz davor gestanden, doch beide Male hatte er einen Rückzieher gemacht und nun fühlte er sich zu alt für eine feste Beziehung. Er hatte sein Leben eingerichtet und so sollte es auch bleiben. Auch wenn ihm Helga aus dem Lager immer wieder schöne Augen machte.

Als er in die Wurzeldeicher Straße einbog, hätte er vor lauter Gedanken beinahe einen Radfahrer überfahren, doch er sah ihn noch rechtzeitig und bremste. »Blöder Hund!« Der Radfahrer überquerte unmittelbar vor ihm die Fahrbahn und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Aus dem Radio dudelte leise Shanty-Musik. Johannes Leußner schüttelte den Kopf und legte den ersten Gang ein. Er hatte heute noch viel zu tun.

4

»Ich denke, einen Raub können wir ausschließen«, konstatierte Krog.

Die Spurensicherung im Gebäude war weitgehend abgeschlossen. Krog begleitete Trevisan und Monika Sander bei der Tatortbegehung. Inzwischen war auch Thorke Oselich am Tatort eingetroffen. Die Leichen waren mit Tüchern abgedeckt und die Bestatter warteten geduldig auf dem Hof darauf, dass die Kriminalpolizei den Abtransport in die Gerichtsmedizin nach Oldenburg freigab.

Blut auf dem Boden, Blut an den Wänden, auf den Möbeln, sogar bis an die Decke war das Blut der Opfer gespritzt. »Absoluter Zerstörungswille«, murmelte Trevisan. »Zielstrebig und brutal.«

»Ein gnadenloser Overkill, ein klassischer Fall der Über­tötung«, bestätigte Krog. »Er hat sich nicht lange aufgehalten. Vier Menschen und dennoch hatten sie keine Chance. So wie es aussieht, hat er einfach nur zugeschlagen, mehrfach, ohne sich mit langen Reden aufzuhalten. Dieses Gemetzel dauerte kaum mehr als ein paar Minuten.«

Thorke Oselich schluckte. »Herr Trevisan, jetzt sind Sie kaum hier angekommen und schon passiert so etwas. Sagen Sie mir nur, was Sie brauchen – Material, Leute, ganz egal, diese Sache hat absolute Priorität, wir müssen diesen Irren dingfest machen.«

»Sexuelle Motive vielleicht?«, fragte Monika Sander.

Krog schüttelte den Kopf. »Zwar saß die Kleidung der jungen Frau im Bad nicht mehr ordentlich, sie trug ein Nachthemd und einen Slip, aber das liegt wohl eher an der Auseinandersetzung. Die Frau versuchte, durch das Badezimmerfenster zu entkommen, und der Täter zog sie an ihren Beinen zurück, ehe er sie erschlug. Deswegen würde ich dies eher verneinen.«

»Hass, grenzenloser Hass«, antwortete Trevisan. »Hass führt oft zur Übertötung.«

»Wir richten eine Sonderkommission ein und …«

»Ich denke, zunächst ist es wichtig, möglichst viel über die Toten herauszufinden«, fiel Trevisan seiner Chefin ins Wort. »Wie sie lebten, was sie taten, wem sie dermaßen auf die Füße getreten sind, dass sich der aufgestaute Hass in dieser Grausamkeit entlud. Meist stammen die Täter aus dem Umfeld.«

»Gibt es irgendwelche verwertbaren Spuren?«, fragte Thorke Oselich.

Krog schüttelte den Kopf. »Abdrücke von grobstolligem Profil, ich gehe von Gummistiefeln aus. Größe 44, würde ich sagen. Außerdem haben wir einen Plastikfetzen gefunden, deswegen nehmen wir an, dass der Täter ein Regencape trug. Weitere Spuren haben wir nicht, auch die Tatwaffen, ein Beil und ein Messer, fehlen noch, aber wir suchen derzeit die Umgebung mit Hunden ab.«

»Eike und Lisa befragen die Nachbarschaft, vielleicht hat jemand Beobachtungen gemacht«, erklärte Monika Sander.

»Die Ringfahndung steht«, fügte Trevisan hinzu. »Nur ist es schwer, gezielt nach jemandem zu suchen, wenn man so gut wie nichts über die Opfer weiß.«

»Sollte ein Profiler …«

Trevisan winkte ab und blickte auf seine Armbanduhr. »Wir besprechen uns in einer Stunde auf der Dienststelle und legen unser Vorgehen fest.«

»Gut, Kollege Trevisan«, entgegnete Thorke Oselich. »Sie haben die Erfahrung. Dann sehen wir uns in einer Stunde.«

»Können wir die Leichen freigeben?«, rief einer von Krogs Kollegen der kleinen Gruppe zu, als sie aus dem Gebäude kamen.

Krog warf Trevisan einen fragenden Blick zu.

»Von mir aus schon.«

»Okay, die Leichen können abtransportiert werden«, bestätigte Krog.

Die Polizeidirektorin verabschiedete sich und auch Krog ging wieder seines Weges. Monika Sander und Trevisan blieben alleine im Hof zurück.

»Was hältst du davon, Martin?«

»Wie brauchen Informationen über die Opfer«, entgegnete Trevisan. »Für mich stellt sich die Frage, ob alle Familienangehörigen gemeint waren oder ob der Täter es auf einen gezielt abgesehen hatte und die anderen nur im Weg waren.«

»Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«

»Hass entsteht nicht von jetzt auf heute. Er wächst wie eine Pflanze, die austreibt und immer größer wird, deswegen müssen wir das Leben aller Opfer durchleuchten. Wir brauchen eine gründliche Umfeld-Recherche. Du weißt, was die Psychologen sagen, der Auslöser einer solchen Tat kann schon Jahre zurückliegen. Erinnerst du dich noch an Veronika Oberdorf und das Haus in den Dünen?«

Monika Sander überlegte.

»Manchmal dauert es aus irgendwelchen Gründen Jahre, bis sich der Hass entlädt.«

Sie nickte. »Du hast recht, das klingt nach sehr viel Arbeit. Dazu brauchen wir mehr Leute. Habich und sein Großvater stammten aus dem Osten, bevor sie hierher kamen.«

»Die Chefin sagte doch, wir bekommen, was wir brauchen«, entgegnete Trevisan. »Wie ist sie eigentlich so?«

»Oh, sie ist ganz okay, anders als Beck oder die Schulte-Westerbeck. Sie meint wirklich ernst, was sie sagt.«

Ein Wagen fuhr auf den Hof. Eike Brun und Lisa Bohm stiegen aus. Brun wies mit dem Zeigefinger nach Westen. »Die Rohloffs haben einen Hof einen Kilometer entfernt«, berichtete der junge Oberkommissar. »Der alte Rohloff meinte, dass er so gegen halb acht einen roten Kleinwagen auf der Straße gesehen hat, der mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Carolinensiel gebraust ist. Er war gerade draußen, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.«

»Halb acht«, murmelte Trevisan. »Das könnte hinkommen. Kann er etwas zu dem Wagen sagen?«

Brun zuckte mit der Schulter. »Es war noch dunkel. Er kann nichts über das Kennzeichen und zur Marke sagen und über die Insassen schon zweimal nichts.«

»Weiß die Fahndung Bescheid?«

Brun schüttelte den Kopf.

»Dann gebt es bitte durch, vielleicht ist der Wagen ja noch irgendwo aufgefallen. Sonst noch was?«

»Leider nicht, niemand hat etwas gesehen«, entgegnete Lisa Bohm. »Der Hof liegt ja auch ziemlich abgelegen hier vor dem Deich.«

Trevisan nickte. »Wir treffen uns in einer Stunde auf der Dienststelle, seid bitte pünktlich.«

*

Sie hatten Spuren gefunden. Hinter der Scheune, wo der erschlagene Hund lag, führte eine Stiefelspur über das Grundstück zu einer nahe gelegenen Wiese. Der Boden war feucht gewesen, denn in den Nächten waberte der Nebel über das Land. Die Spuren waren gut sichtbar und führten in Richtung Osten. Harro, der Polizeihund, hatte die Witterung aufgenommen und zerrte an der Leine, so dass sein Herrchen kaum noch folgen konnte. Harro war ein Mantrailer und gehörte der Hundestaffel der Direktion Oldenburg an. Er hatte bei Wettbewerben schon den einen oder anderen Preis eingeheimst und wenn er einmal die Witterung aufgenommen hatte, dann ließ er nicht so schnell wieder davon ab. So zog er seinen Hundführer förmlich über die Wiese und den angrenzenden brachliegenden Acker, bis er schließlich auf einen geschotterten Feldweg traf, wo Harro kurz verweilte.

»Such!«, forderte ihn der Hundeführer auf.

Aufgeregt, die Nase tief am Boden, lief Harro hin und her. Mehrmals wechselte er die Richtung, bis er sich schließlich nach Süden wandte und den Weg entlanglief. Drei Polizisten folgten dem Hund und seinem Herrchen.

»Wohin führt uns der Köter?«, fragte einer der Beamten völlig außer Atem und missgestimmt.

Der Kollege zuckte mit der Schulter. Spuren waren längst keine mehr zu sehen, der geschotterte Boden machte es unmöglich. Der Hund zog wie wild und die Beamten hasteten hinterher. Beinahe wäre der missgelaunte Kollege in eine Pfütze getreten, gerade rechtzeitig wich er noch aus, ehe er verharrte.

»Hey, schaut euch das mal an, was ist das?« Er wies auf eine knapp einen Meter lange, direkt durch die Pfütze führende Spur. Der Kollege, der bereits einige Schritte weitergegangen war, kehrte um und betrachtete den schmalen Streifen, der durch das Wasser führte.

»Das ist die Spur von einem Fahrrad.« Er tastete vorsichtig über den Boden. Hier lag nur wenig Schotter und die blanke und weiche Erde war zu sehen. »Verdammt, der ist mit dem Rad abgehauen!«

Der missgelaunte Kollege griff zum Funkgerät und meldete seine Entdeckung an die Einsatzleitung. Er wurde gebeten, an der Stelle zu warten und die Spurensicherer einzuweisen.