Der Sommer mit Ellen - Agnete Friis - E-Book

Der Sommer mit Ellen E-Book

Agnete Friis

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Beschreibung

Ein verschwundenes Mädchen und schweigsame Dorfbewohner - dunkle Abgründe in der dänischen Provinz

Als Jakob einen überraschenden Anruf erhält, weiß er, dass er sich seiner Vergangenheit stellen muss: Denn er soll nach Ostjütland kommen, auf die Farm seiner beiden betagten Onkel, um ihnen bei der Suche nach einer gewissen Ellen zu helfen. Jakob war nicht mehr auf dieser Farm, seitdem er als Teenager einen ganzen Sommer dort verbrachte. Seinen Sommer mit Ellen. Den er immer vergessen wollte. Und dessen tragische Geschehnisse ihn jetzt, vierzig Jahre später, wieder einholen.

Nominiert für den DR Romanprisen als bester dänischer Roman 2018

"Wundervoll geschrieben - man atmet förmlich die frische Luft und streicht mit den Fingerspitzen über die Gräser" National Public Radio, USA

"Agnete Friis ist eine brillante Erzählerin, deren Roman von Anfang bis Ende eine vibrierende Atmosphäre versprüht" Jury-Urteil des DR Romanprisen

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Seitenzahl: 403

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Anmerkung

Über das Buch

Mitten in einer Lebenskrise erhält der Kopenhagener Architekt Jakob einen überraschenden Anruf: Sein Onkel bittet ihn um Hilfe bei der Suche nach einer gewissen Ellen. Widerwillig reist Jakob nach Jütland zur Farm seiner beiden Onkel; es wird zu einer Reise in seine eigene Vergangenheit. Als 14-jähriger verbrachte Jakob dort einen ganzen Sommer, es war sein Sommer mit Ellen. Ein Sommer, den er immer vergessen wollte – und dessen tragische Geschehnisse ihn jetzt, 40 Jahre später, wieder einholen.

Nominiert für den DR Romanprisen als bester dänischer Roman 2018

„Wundervoll geschrieben – man atmet förmlich die frische Luft und streicht mit den Fingerspitzen über die Gräser“ National Public Radio, USA

Über die Autorin

Agnete Friis, Jahrgang 1974, wurde durch ihre Krimireihe rund um Nina Borg bekannt, die sie gemeinsam mit Lene Kaaberbøl schrieb und die in vielen Ländern veröffentlicht wurde. Die ausgebildete Journalistin arbeitete von 2002 bis 2009 als Redakteurin und Informationsbeauftragte der Organic Land Association mit dem Schwerpunkt Ökologie. Im Jahr 2015 erschien ihr erster eigener Roman Blitz, der auch in den USA veröffentlicht wurde. Ihr neuer Roman Der Sommer mit Ellen war 2018 für den DR Romanpreis für den besten dänischen Roman nominiert. Agnete Friis wuchs in Ost-Jütland auf, lebt heute in Kopenhagen und ist Mutter von vier Kindern.

AGNETE FRIIS

DER SOMMER MIT ELLEN

Roman

Übersetzung aus dem Dänischen von Thorsten Alms

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG

Titel der dänischen Originalausgabe:»Sommeren med Ellen«

Für die Originalausgabe:Copyright © 2017 by Agnete Friis/People’sPress, KopenhagenPublished by arrangement with Danish Arts Foundation

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, KölnUmschlaggestaltung: Massimo Peter-BilleEinband-/Umschlagmotiv: © shutterstock: arigato | detchana wangkheeree | anymagesE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-8793-3

www.luebbe.dewww.lesejury.de

ES BRANNTE KEIN LICHT.

Allein das blinkende rote Signal an der Spitze des Krans auf der anderen Seite des Kanals spiegelte sich in den Fenstern im fünften Stock des seelenlosen Neubaus wider. Stil: dystopischer Modernismus. Die Umgebung: windgepeitschte, grüne Mülleimer, ein Klingelschild mit Gegensprechanlage und einem gelben Text, der über ein Display lief wie die Nachrichtenticker am Rathausplatz. An den frisch verputzten Wänden war schon der Rost von den Eisenskeletten der Balkone heruntergelaufen. Betonplateaus und Gesimse wie bei den rotärschigen Pavianen im Zoo. Ich kannte jedes einzelne fantasiebefreite Detail der Effektpalette dieses Architekten. Ein ehemaliger Kommilitone, der damals schwarze Jeans getragen und im Jugendzentrum mit den Hausbesetzern Gras geraucht hatte – ein totalitäres Arschloch, das Häuser baute wie in der alten Sowjetunion. Ich hasste dieses Haus und dass ich schon wieder hier stand. Die Hände tief in den Taschen vergraben und den Blick auf ihr Schlafzimmerfenster gerichtet, in dem zu anderen Tageszeiten die Jalousie oder ein peinlich ordinärer Ficus auf dem Fensterbrett zu sehen waren.

Sie war bestimmt schon ins Bett gegangen, lag dort friedlich atmend und hatte die Decke wegen der Wärme zur Seite geworfen.

Ich holte mein Telefon heraus und hörte die Nachrichten ab. Ein paar Anrufe von der Bank. Ein aufdringlicher und anscheinend hyperaktiver junger Mann, den Kirsten gebeten hatte, sich unsere Finanzen anzuschauen, und der uns unbedingt treffen wollte. Bei der nächsten Nachricht war ein gedämpftes Rauschen zu hören, dann räusperte sich ein Mann und murmelte etwas Unverständliches, bevor er wieder auflegte.

Ich könnte sie natürlich anrufen. Oder ihr schreiben. Aber es gab nicht mehr viel zu sagen. Also begnügte ich mich damit, zur Haustür zu gehen und die Namen auf der digitalen Gegensprechanlage zu studieren. Stig und Janne Nielsen. Ihr Nachname war im Gegensatz zu ihrer Person so gewöhnlich – aber auch das hatte seinen eigenen Charme. Das Außergewöhnliche blieb allen außer mir verborgen. Ich hätte nicht hierherkommen sollen. Aber diese Art von vernünftigen Schlussfolgerungen ignorierte mein Gehirn in verschwörerischer Zusammenarbeit mit meinem Unterleib.

Ich hatte eine Flasche Wein getrunken, bevor ich aufgebrochen war. Direkt aus der Flasche, während ich darauf wartete, dass es dunkel wurde und der Lärm unten von der Straße zu johlendem Geschrei und zersplitterndem Glas wurde. Danach noch zwei Bier und ein vorsichtiger Abstieg hinunter auf die Straße, zur Nørrebro-Station und mit S- und U-Bahn durch die flimmernden Lichter der Stadt. Die jungen Leute zogen durch die Stadt, in einer Wolke aus Eau de Cologne und Alkohol, und niemand achtete auf mich, wie ich da am Fenster lehnte und die Welt ganz behaglich unter der Schädeldecke vorbeiflimmern ließ. Wie gewöhnlich stieg ich am Bella Center aus und ging das letzte Stück am Wasser entlang.

Ich schwankte ein wenig, als ich mich über das gelbe Display beugte. Klingelte und bereute es im selben Moment. Ich hörte den unregelmäßigen Piepton und stand da wie ein Idiot, als wäre ich festgefroren, und wartete auf das Unvermeidliche.

»Ja?«

Ihre Stimme klang dunkel und gedämpft im Lautsprecher, und ich wusste, dass sie dort oben im Halbdunkel stand, nackt oder im T-Shirt, das kurze Haar zerzaust von Sex oder Schlaf oder von irgendetwas dazwischen.

»Jakob? Bist du das?«

Ich antwortete nicht. Versuchte, mich loszureißen, und setzte endlich meine nicht ganz stabilen Beine in Bewegung. Ich war erschreckend sichtbar im gelben Licht der Straßenlaternen, und jetzt wurde dort oben ein Fenster geöffnet, und ein Mann beugte sich aus dem Fenster.

»Hau ab! Ich meine es ernst. Nächstes Mal hole ich die Polizei!«

Hinter mir schlug etwas mit einem dumpfen Knall auf dem Asphalt auf und zersplitterte in tausend Teile, und ich ging schneller, lief und stolperte und landete mit den Händen in etwas Feuchtem, das nach Scheiße roch. Ich wischte die Hände an meinen neuen, viel zu engen Jeans ab. Eitelkeit ist wahrhaftig eine Sünde, die ihre Strafe in sich selbst trägt.

Ich wachte verschwitzt und verkatert auf, klebte an der in Plastik eingeschweißten Boxspringmatratze von IKEA, die ich in meinem neuen Schlafzimmer auf den Boden geworfen hatte. Ich war offensichtlich klug genug gewesen, meine Kleidung in eine andere Ecke der Wohnung zu werfen, und die Sonne knallte durch das gekippte Fenster.

Ich ging in die Küche und öffnete den leeren Kühlschrank, wobei ich überlegte, ob mir etwas fehlte. Essen, Schlaf, Sex. Es war beunruhigend still im Triebzentrum. Keine besonderen Vorschläge, die über das Konterbier hinausgingen, das ich mit leicht zitternden Händen aus dem Sixpack nahm. Im Wohnzimmer blätterte ich ein bisschen in den LPs im Umzugskarton. Ich hätte mir einen neuen Plattenspieler kaufen und ein Paar ordentliche Lautsprecher, Bier trinken und Police hören können. Allerdings war ich kein Student mehr, sondern ein älterer Mann mit Geld und gesicherter Altersversorgung.

Ich trank von meinem Bier und glotzte einen verstaubten Spinnenfaden an, der von der Decke hing. Aus Staub bist du entstanden, und im Staub sollst du deine Zeit in einer Dreizimmerwohnung in Nørrebro verbringen.

Ich hatte schon früher hier gewohnt. In Nørrebro. Erst alleine und dann zusammen mit Kirsten. Nicht in dieser, sondern in einer anderen Wohnung, die dieser in ihrer urbanen Schäbigkeit in nichts nachstand. Eine Studenten-WG war vor ein paar Tagen ausgezogen und hatte große Löcher in dem hellen Parkett hinterlassen. Brandflecken von fallen gelassenen Zigaretten übersäten den Fußboden, wo das Sofa gestanden hatte, und in einer Ecke befand sich eine viereckige klebrige Verfärbung, vermutlich der Abdruck eines ungelesenen Lehrbuchs, das in Rum mariniert worden war. In der Wohnung war es glühend heiß, sie war vor der Ölkrise und ohne Isolierung gebaut worden und hatte eine riesige, nach Süden gerichtete Fensterfront. Durch das geöffnete Fenster konnte ich Kinder hören, die im Innenhof schrien. Arabisch, Kurdisch und Ghettodänisch. »Fick dich, Kanacke« und »Bück dich«.

Unten bei den Mülltonnen hatten dieselben Kinder die Eingeweide einer Ratte platt getreten und in der Sonne liegen lassen. Das Fleisch war an den Rändern schon getrocknet und wölbte sich. Ein Wurf gräulicher Föten in der Größe meines kleinen Fingernagels war aus der Gebärmutter herausgezogen worden, und wie sie da auf dem Asphalt lagen, erinnerten sie an glänzende Perlen an einer Kette.

Der materielle Umzug meines Daseins, die beiden Kisten mit LPs aus den Achtzigern, Bowie, Depeche Mode, Police und U2, die vier Küchenstühle, die Kartons mit Kleidung und Schuhen und Toilettenartikeln und das Regal aus dem Wohnzimmer, war überschaubar gewesen. Ich hatte mich entschieden, das meiste bei Kirsten zu lassen. Nicht weil ich der Meinung war, ich würde ihr etwas schulden, sondern weil ich es schön fand, das Zuhause so zu lassen, wie es war. Und sei es nur in der Erinnerung. Das Elternhaus der Kinder, so in der Art. Kirsten hatte laut gelacht, als ich das sagte.

»Ich möchte nicht die Wärterin deines Beziehungsmausoleums sein«, sagte sie. »Und ich werde weder das Esszimmer noch das Ehebett einbalsamieren.«

»Nicht einmal die Katze?«, fragte ich, und sie schüttelte den Kopf. Wurde plötzlich ernst.

»Ich bin nicht deine Scheiß-Madame-Butterfly, Jakob. Hier bleibt nichts, wie es war. Weder das Haus noch ich. Jetzt weißt du es.«

Ihr Lächeln war verblasst. Dumm von mir, klar. Unsensibel, das wusste ich selbst, aber über die Regeln, die bei einer Trennung galten, wusste ich so gut wie nichts. Wie man es richtig machte. War bei uns nicht immer schon irgendwie der Wurm drin gewesen? Das komische Gefühl, wir hätten Sand im Getriebe. Zum ersten Mal begegnete ich ihr an einem frostkalten Morgen an den Seen, wo sie auf einer Bank saß und sich in die Hände blies, ihr Atem bildete weiße Dampfwölkchen. Ich setzte mich neben sie und sagte so etwas wie: »Was für ein schöner Morgen«, worauf sie mir direkt in die Augen sah und ein Lächeln andeutete.

»Und was ist mit mir?«

Ich konnte sehen, dass sie geweint hatte, und nahm an, dass sie Liebeskummer hatte. Wenn man Anfang zwanzig ist, kennt man kaum anderen Kummer.

»Sehr hübsch«, sagte ich und merkte, wie leicht es war, ihr etwas vorzulügen. Vielleicht war es sogar das, was sie wollte. Damals hatte mich so vieles überrascht.

»Also keine unglücklichen Arien in meiner Abwesenheit?«

»Ich werde versuchen, es aus Rücksicht auf die Katze und die Nachbarn zu minimieren«, sagte sie. Obwohl sie wieder lächelte, lag ein Hauch von knochenbrechender Kälte in ihrer Stimme. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich komme schon zurecht.«

Das Handy klingelte, ich ließ es klingeln. Dann ging es wieder von vorne los. Ich drehte mich auf den Rücken und hielt es mit ausgestrecktem Arm vor mir in die Luft. Ich war weitsichtig geworden. Zusätzlich zu meiner Kurzsichtigkeit. Alles war entweder zu nah dran oder zu weit weg. Eine ewige Unschärfe und ein Problem, das laut meinem Optiker nicht gelöst werden konnte. Ich kniff die Augen zusammen und schaute auf das Display. Ich kannte die Nummer nicht, obwohl ich es nicht hundertprozentig beschwören konnte. Das Telefon klingelte, verstummte, um kurz darauf mit neuer Kraft wieder loszulegen, und plötzlich wusste ich, woher ich die Nummer kannte. Eine Festnetznummer aus Djursland, die vier Ziffern in der Mitte waren identisch mit denen unserer eigenen Nummer, damals vor langer Zeit.

Ich ging dran und hörte ein kurzatmiges Keuchen.

»Hallo?« Ich sprach lauter, als ich es beabsichtigt hatte. Dachte ganz unbewusst an das Altern oder einen anderen todbringenden Zustand.

Und plötzlich stellte sich am anderen Ende der Leitung eine Art Ruhe ein. Kein Rasseln mehr. Immer noch schweres, aber regelmäßigeres Atmen.

»Jakob, bist du das?«

»Ja?«

»Hier ist … hier ist Anton Svenningsen. Ich war der, der … Erinnerst du dich an mich, Jakob?«

Ich nickte, räusperte mich, während ein Stück Vergangenheit mit ungewohnter Klarheit Gestalt annahm. Der Himmel, der zunächst orange und tiefrosa gewesen war, und danach eine vollkommen schwarze Augustnacht. Der gärend süße Geruch von Stroh, feuchtem Klee und Erde von frisch abgeernteten Feldern. Anton und ich schwitzend über die Kupplung zwischen Traktor und Anhänger gebeugt, während der Himmel über uns zu zerbrechen drohte. Und kurz darauf das Gefühl, in eine Dunkelheit hinunterzusinken, aus der ich mich nicht befreien konnte.

»Natürlich erinnere ich mich an dich, Anton.«

Eine lange Pause, müdes Atmen. Ein Staubsauger wurde irgendwo im Hintergrund eingeschaltet.

»Jakob … Ich möchte dich bitten … Ich brauche deine Hilfe.«

Ich zögerte. Es waren beinahe vierzig Jahre vergangen, seit ich Anton das letzte Mal gesehen hatte, er musste inzwischen ein sehr alter Mann sein. Alles, was er brauchte, sollte eigentlich ein Pflegedienst leisten können.

»Worum geht es denn?«

Er antwortete mit einem tiefen, zitternden Seufzen, gefolgt von einem heftigen und feuchten Keuchen.

»Anton …«, ich konnte den Gedanken fast nicht denken.

Er antwortete nicht. Der Staubsauger hinter ihm wurde ausgeschaltet, und das Einzige, was ich jetzt noch hören konnte, war ein kurzatmiges Schluchzen.

»Anton, ich … Ist jemand bei dir? Bist du krank?«

Ein tiefes Einatmen. Er nahm sich zusammen, so viel konnte ich hören, oder er versuchte es zumindest.

»Ich bin nicht krank, Jakob«, sagte er. »Es tut mir leid, dass ich dich anrufen muss … aber ich kann nicht anders.«

Ich wusste, was er meinte. Hatte es vielleicht schon von Anfang an gewusst.

»Worum geht es?«

»Ich muss sie finden. Anders fragt nach ihr.«

Dunkles Haar, das vom Sommerwind erfasst wird, und die irrsinnige Sehnsucht, es zu berühren.

Ellen.

1978

»Halt jetzt mal die Klappe!«

Sten schoss den Ball direkt in meine Kniekehlen, so fest, dass ich unwillkürlich die Hände an die brennende Haut drückte und die Luft durch die zusammengebissenen Zähne zog.

»Verdammt noch mal, Sten!«

Er schaute mich kurz mit fest zusammengekniffenen Lippen an, trat noch einmal gegen den Ball und schoss ihn weit auf den Bolzplatz hinaus.

»Den holst du selber!«

»Du kannst mich mal!«

Sten machte keine Anstalten, den Ball zu holen. Er rührte sich nicht. Der Mund stand halb offen, sodass man seine Hasenzähne sehen konnte, über die er sich so viel anhören musste. Sie ließen ihn dümmer aussehen, als er eigentlich war. Jetzt drehte er mir den Rücken zu und ging. Die schmalen Schultern hatte er nach hinten gezogen und das Kinn vorgeschoben, fast wie ein marschierender Soldat, wenn er nicht mit der einen Hand ruhelos an seinem kurzen durchgeschwitzten Pony herumgezupft hätte. Versunken in seinem Zorn.

Es lag an Tudse.

Das wusste ich natürlich genau. Flemming und Jørgen hatten sich die ganze Woche schon darüber lustig gemacht und ihn damit aufgezogen. Jørgens Mutter hatte mit Stens Mutter gesprochen und erfahren, was unten im Hühnerstall so vor sich ging. Dass Tudse, die eigentlich Lise hieß und Stens Schwester war, außer Rand und Band geraten war und mit dem Trinken angefangen hatte und von Zuhause weggelaufen war. Falls man das von jemandem sagen konnte, der so erwachsen war und sich so langsam bewegte wie Stens Schwester. Ich stellte mir eine Flucht in Zeitlupe vor, bei der ihre leberwurstfarbene Prinz-Eisenherz-Frisur um ihren Kopf schwebte und floss wie bei Fußballspielern, wenn sie gerade ein Tor geschossen hatten und alles in Zeitlupe wiederholt wurde. Tudse allerdings beugte sich vor und stapfte mit ihren kräftigen Beinen und einem hastig gepackten Koffer in der Hand den Schotterweg hinunter. Fi fa fum. Wie der Troll im Märchen.

Tudse war nicht besonders groß und ziemlich kräftig, und ihr Gesicht war stets zu einer missmutigen Miene verzogen. Aber sie hatte hübsche Augen, deren Farbe an Gold erinnerte. Auch deswegen nannte Sten sie Tudse, Kröte, was sie allerdings nie als Kompliment auffasste. Obwohl sie schon einundzwanzig war, wohnte sie immer noch zu Hause. Deshalb hatten Sten und ich das Vergnügen, jeden Nachmittag ihr unfreundliches Gesicht zu sehen, nachdem sie alle Kugelschreiber sortiert und alle Papiere ordentlich gestapelt hatte, oder was auch immer sie bei ihrem Bürojob in Auning so machte. Dann stieg sie am Ende des schlammigen Wegs aus dem Bus, und wir sahen sie wütend schnurstracks auf den Hof zumarschieren, wo ihr Zimmer im ersten Stock lag. Wenn wir zufälligerweise in ihr Blickfeld gerieten oder gar im Weg standen, bedachte sie uns sofort mit einem hasserfüllten Blick.

Der Krieg zwischen Sten und Tudse war legendär.

Solange sie noch stark genug gewesen war, um ihn zu verhauen, hatte er von ihren harten Fäusten ständig grüne und blaue Flecken auf den Armen und den Schlüsselbeinen gehabt. Später verschob sich das Kräfteverhältnis ein wenig, und es gab von da an Auseinandersetzungen mit raffinierteren Boshaftigkeiten. Tudse schnitt Stens neuen Lederball mit der Rosenschere auf. Er verbarrikadierte sich in ihrem Zimmer, zerschnitt ihr Cliff-Richard-Poster und schob die Schnipsel unter der Tür durch, während sie heulte und ihn ein perverses kleines Schwein nannte. Ab und zu rief Stens Mutter von unten aus der Küche hoch, und dann verwandelte sich der Kampf für kurze Zeit in stumme Verbissenheit. Keinem von beiden war daran gelegen, dass sich jemand einmischte, weil sich jeder seines eigenen Triumphs sicher war.

Jetzt aber war dieser Kampf vielleicht endgültig entschieden.

Tudse war für ein paar Tage ungewöhnlich still gewesen, hatte einen wütenden Streit mit ihrer Mutter ausgefochten und war ohne irgendeine Erklärung verschwunden. Das hatte jedenfalls Jørgen aus seiner Mutter herausquetschen können. Und danach ging die Hölle los.

»Sie vögelt mit einem dieser Hippies. Hundertprozentig. Und wenn er mit ihr fertig ist, kommt der nächste. Oh, oh, oooh … Lise.«

Flemming spielte mit der Zunge und zuckte mit dem Unterleib. Die Beleidigung war besonders hinterhältig, weil Lise im Grunde kein Mädchen war, das irgendjemand vögeln wollte. Niemand wollte ihn in Tudse reinstecken. Darüber herrschte bei den Jungen in der Klasse große Einigkeit. Und wenn man es trotzdem tat, dann jedenfalls nicht, weil man sie mochte, sondern aus Trotz und weil man einen Triumph erringen wollte. Als würde man einen Drachen oder ein wildes Tier besiegen.

Ich holte den Ball, klemmte ihn auf den Gepäckträger und radelte durch die in der prallen Sonne liegende Hauptstraße. Vorbei am Bäcker und am Café und dann die Skolevej hinauf. Ich kürzte über den Bürgersteig ab und fuhr wieder auf die Fahrbahn, mit ausgebreiteten Armen, als würde ich fliegen. Deswegen sah ich sie auch erst, als ich die Hände wieder an den Lenker nehmen musste, weil ich über den Schotterweg rumpelte.

Mama.

Sie stand leicht vornübergebeugt, als wäre sie in der Bewegung erstarrt, während sie die Tür gerade auf- oder abschloss. Die hellblaue Reisetasche stand neben ihr auf dem Boden, und als ich das Fahrrad abstellte und sie sich endlich wieder aufgerichtet hatte, fiel mir der schwere Duft nach Parfüm auf. Ihr ohnehin schon glattes Haar war fest nach hinten gebunden, was sie normalerweise nur machte, wenn sie zum Elternabend ging oder Gäste erwartet wurden.

»Ach …«, sagte sie und hob die Tasche hoch. »Ich dachte nicht, dass du noch rechtzeitig nach Hause kommst.«

»Du haust ab? Jetzt?«

»Hör auf, Jakob. Du weißt doch, wie es ist«, sagte sie und fummelte an den Taschengriffen herum. Ihr Mund war zusammengekniffen, als hätte ich etwas Schlimmes gesagt. »Ich bin in ein paar Tagen wieder zu Hause, und bis dahin kommt ihr gut alleine zurecht. Wo bist du denn gewesen? Warst du mit Sten unterwegs?«

Ich nickte, und sie lächelte sanft. Strich mir übers Haar, obwohl ich einen Kopf größer war als sie.

»Seine Mutter hat angerufen und nach ihm gefragt. Sie ist ganz außer sich.«

Ich dachte an Stens magere, kettenrauchende Mutter und wie sie letzte Woche, als ich kurz bei ihnen vorbeigeschaut hatte, mit ihrer dürren Hand den Telefonhörer umklammert hatte. Die Gardinen im Wohnzimmer waren zugezogen gewesen, und es war mir so vorgekommen, als würde sie uns gar nicht richtig wahrnehmen, als wir auf dem Weg in Stens Zimmer an ihr vorbeigingen. »Außer sich« war eine sehr präzise Beschreibung.

»Ja, ja … gut, wenn man keine Mädchen hat«, sagte meine Mutter. »Das ist immer schwieriger.«

»Warum?«

Sie warf mir einen kryptischen Blick zu, steckte die Hand in die Manteltasche und zog eine Kippe heraus, die sie mit einem einfachen, routinierten Klicken des Feuerzeugs anzündete.

»Das kannst du dir doch selber denken«, sagte sie.

Ich schüttelte den Kopf. Auf einmal lachte sie, wobei man ihre regelmäßigen, allerdings leicht gelblichen Zähne sah. Kaffee, Tee und Kippen. Sie war vierzig Jahre alt, aber hübsch, abgesehen von den Zähnen. Ein knielanger Rock und eine lockere, weiße Hemdbluse. Den Mantel über dem Arm, nachdem der Sommer so plötzlich Einzug gehalten hatte.

»Du erinnerst dich doch daran, was Irene Poulsen letzten Winter passiert ist?«

Die Geschichte über Irene P. war allgemein bekannt, hatte aber, soweit ich es beurteilen konnte, nichts mit Tudses Ausflug nach Randers zu tun, oder wo auch immer sie war. Sie hatten keine Ähnlichkeit miteinander. Irene P. war attraktiv. Im Sinne von grotesk, unerträglich attraktiv. Hot, hot, hot. Große Brüste, Schmollmund und dunkel geschminkte Augen. Glamrock und knallenge Hosen. Offiziell war sie auf das Internat in Grenå gewechselt, weil sie eine Luftveränderung brauchte, wie die Erwachsenen es nannten. Inoffiziell wussten alle, dass sie von irgendeinem Dreckskerl vergewaltigt worden war, der ihr letztes Jahr kurz nach Weihnachten angeboten hatte, sie von der Diskothek in Hornslet nach Hause zu bringen.

Irene war Irene, und Tudse war Tudse.

»Tudse ist nicht … Das ist nicht dasselbe.«

»Sag so was nicht«, erwiderte meine Mutter. »Allen Mädchen können solche Dinge zustoßen. Das ist für dich vielleicht schwer zu verstehen, weil du so ein guter Junge bist, aber da draußen gibt es Männer, die sind … Die wollen es mit allen tun. Nicht nur mit den hübschen Mädchen. Und sie können sich nicht beherrschen.«

Ich stapfte an ihr vorbei und steckte meinen Schlüssel ins Schloss, hoffte im Stillen, dass sie nichts mehr sagen würde. Meine Mutter konnte ziemlich direkt sein, wenn es sie überkam. Vulgär. Als damals das mit Irene passierte, hatte sie mir versucht zu erklären, wie ich feststellen konnte, ob ein Mädchen »Lust habe«, und es war haarsträubend unappetitlich, so etwas ausgerechnet von ihr zu hören.

Im Flur zog ich die Schuhe aus, sah sie immer noch nicht an. Ihr Parfüm war überall.

»Sagst du Papa, dass ich zur Tante gegangen bin?«

Ich konnte die Angespanntheit in ihrer Stimme hören. Den Versuch, fröhlich und unbekümmert zu klingen.

»Kannst du das nicht selbst machen?«

»Es wäre eigentlich besser, wenn du es machst«, sagte sie. »Dann muss ich nicht anrufen. Sei bitte so nett.«

»Okay.«

»Oh …« Sie warf mir einen Luftkuss zu. »Das ist lieb, mein Schatz. Vielen Dank.«

Ich vernahm ihre Schritte auf der Treppe und dann die Absätze auf dem Kies. Schnell und bestimmt in Richtung Bushaltestelle.

»Hat sie gesagt, wann sie wieder zurückkommt?«

Mein Vater ließ sich ins Sofa zurücksinken, sein Hemd glitt nach oben, und sein weißer, behaarter Bauch kam zum Vorschein.

»Nee, nicht genau.«

Er hatte sich sein erstes Bier eingeschenkt und nahm einen kräftigen Schluck.

»Und was ist mit dir, Jakob? Kommst du morgen mit in die Firma?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Du kannst fünfundzwanzig Kronen die Stunde bekommen, wenn du den Sommer dort arbeitest«, sagte er. Sein Atem roch nach Alkohol. »Mir fehlen gerade vier von den festen Mitarbeitern. Wir hängen mit allem hinterher.«

Er stand auf, ging in die Küche und kramte herum, bevor er mit zwei Tellern, Messern, Leberpastete und der Tüte mit Roggenbrot zurückkehrte und alles auf den Couchtisch stellte.

Beim Landhandel Foderstoffen gab es immer zusätzliche Arbeit, wenn das Lager aufgeräumt werden musste. Die großen Silos mussten geleert und die Wagen beladen werden. Inzwischen waren auch die ersten Bestellungen für Wintergetreide eingegangen. Ich hatte schon vorher dort mit angepackt, wenn es nötig gewesen war. Ich konnte Gabelstapler fahren und die schweren Papiersäcke transportieren, ohne sie kaputt zu machen. Kraftfutter, Milchpulver, Kalksalpeter und das hellrot gebeizte Saatgut. Es war eine gute Arbeit, und ich kam mit den Männern im Lager prima aus, sie waren langsam und bedächtig, hatten schwere Bäuche und breite, fleischige Schultern. Ihre T-Shirts und Hemden waren schweißgetränkt, und wenn sie einen Sack packten oder nach dem Schaltknüppel des Gabelstaplers griffen, traten ihre Muskeln und Sehnen an den breiten Handgelenken und Oberarmen deutlich hervor. Sie spendierten immer mal eine Limo, wenn wir auf der Laderampe saßen und durchatmeten.

Mein Vater war das Problem. Am Morgen setzte er sich in seinen Glaskäfig am Ende der Lagerhalle. Jovial und hinreichend voll, dass alle, die Augen im Kopf hatten, sehen konnten, dass er zu denjenigen Leuten gehörte, die zu viel tranken. Den Lastwagenfahrern, die wegen einer Rechnung oder Quittung hereinschauten, erzählte er schlechte Witze. Nett und schleimig beantwortete er die unzähligen Telefonanrufe, während sein Bier ganz offen zwischen zerknitterten Bestellzetteln, eingetrockneten Kugelschreibern und einem Tacker, in dem ständig die Heftklammern fehlten, auf dem Schreibtisch stand.

Wenn ich ihn zur Arbeit begleitete, weil meine Mutter nicht zu Hause war, schickte er mich bis zum Feierabend mindestens zweimal Bier holen, und obwohl ich sie abwechselnd im Brugsen und bei Købmand Hansen kaufen konnte, hatte ich keine Lust, mich mit einer Plastiktüte mit klirrendem Leergut in der Hand und einer neuen Bestellung von sechs kalten Carlsberg zum Gespött zu machen.

»Ich habe versprochen, Anton zu helfen«, sagte ich also.

Er schob seinen Teller weg und legte die Füße auf den Couchtisch. Wackelte mit den Zehen in den löcherigen Socken und starrte wütend auf die Fernsehzeitschrift. Soldaten, die durch irgendeine verstaubte Gegend dieser Welt marschierten.

»Anton? Wenn Mama weg ist …?«

»Ja, da gibt es einiges zu tun. Der Stall soll gekalkt werden.«

»Aha.« Er zog eine beleidigte Grimasse. »Dann komm aber später nicht zu mir und beschwer dich, wenn es dort irgendwann nichts mehr zu tun gibt.«

Ich ging die Treppe hinauf und ließ das Licht im Flur brennen, damit er ins Bett fand. Ich legte mich hin und starrte an die Dachschräge, während ich das Mädchen unten beim Bäcker vor meinem inneren Auge heraufbeschwor. Ihre Brüste waren groß, und man konnte ihre Brustwarzen unter dem T-Shirt erkennen, auf dem Vagns Bageri stand, aber dieses Mal kam ich nicht so richtig in Gang. Lag nur da und schwitzte in der Sommernacht, bis ich endlich hörte, wie mein Vater die Treppe ins Obergeschoss hinaufstolperte und laut in der kleinen Toilette pinkelte.

Ich stellte mir vor, mein Kissen wäre die kleine Bäckermamsell, legte die Arme um sie und schlief ein.

ICH WAR HUNGRIG und vielleicht immer noch ein bisschen betrunken, als ich meine Sandalen anzog und in die Nachmittagssonne hinaustrat.

Kinder schrien im öffentlichen Planschbecken weiter unten an der Straße. Die gelben Blätter an den dünnen, neu gepflanzten Straßenbäumen hingen müde herab und bewegten sich unwillig im Wind, ließen das Sonnenlicht auf dem Bürgersteig flimmern.

Ich hatte vergessen, wie warm es in der Stadt war, aber nach dem physischen Schock durch die Gerüche und den Lärm spürte ich eine alte Freude, als ich auf die brutale Hitze und all das unübersehbar Hässliche traf. Die flatternden Fetzen von Plastiktüten und Papier. Ein verlorener Schnuller, der schwarz und platt gedrückt war. Die Graffitis an der Betonwand. »Kampf dem Hunger – fresst die Reichen«, dazu ein grinsender Schädel, und »Lutsch meinen Schwanz« unter einer unbeholfenen Darstellung, spritzendes Sperma in allen Regenbogenfarben.

Kirsten hatte die Einzimmerwohnung im Jagtvej schrecklich gefunden. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten wir in einem Sommerhäuschen auf Amager gewohnt. Ich hatte auf Nørrebro bestanden und verbrachte meine Nachmittage damit, von einem verlassenen Fabrikgebäude in Nordvest zum nächsten zu ziehen, wo ich zerkratzte Oberflächen und zerbrochene Scheiben fotografierte, verrostetes Eisen und bröckelnden Beton. Wenn Kirsten Lippenstift auflegte, verrieb ich ihn auf ihrem Kinn und bis hinunter auf den Hals. Befeuchtete meine Finger und verschmierte die schwarze Mascara auf ihren Wangen oder färbte die Augenhöhlen totenkopftief.

Schwarz war das neue Schwarz.

Ich hörte die Sex Pistols und ließ mir die Haare ganz kurz schneiden, während Kirsten an den Leidenschaften ihrer frühen Jugend festhielt. Akustische Gitarre und Wachskerzen und darüber hinaus eine aktive Mitgliedschaft in irgendeiner Umweltbewegung. Sie hielten stundenlange Treffen auf unserem Sofa ab, wo sie die Weltuntergangsszenarien der Zukunft auflisteten und gemeinsam verzweifelten.

Kirsten war blond, denn ich zog Blondinen mit langen Haaren vor, und sie war gut für mich. Angenehm. Unproblematisch. Zurückhaltend. Es war eine Erleichterung für mich, als ich feststellte, dass ihr Körpergeruch nicht besonders erregend und weit von meinem natürlichen Geschmack entfernt war. Sie war auch die Erste, die sagte, dass sie mich liebe, und erstaunlicherweise akzeptierte sie, dass sie während der ersten drei Jahre unseres gemeinsamen Lebens nie meinen Eltern begegnete, und sie kam gut mit dem zurecht, was sie »meine Anfälle getarnter Todessehnsucht« nannte. All das Schwarze, meine apokalyptischen Zeichnungen von Türmen, die wie einsame Raumstationen aus einer Mondlandschaft herausragten.

Ich trat gegen eine Bierdose, die offensichtlich aus Deutschland eingeführt und unter der Hand in einem Kiosk verkauft worden war. Darauf gab es kein Pfand, also blieb sie lange genug liegen, um zu rosten. Sie klimperte auf die Fahrbahn, deren Asphalt in der Hitze blubberte, und es roch nach Teer und Benzin. Als ich um die Ecke auf die Nørrebrogade bog, vermischte sich der Lärm mit dem Geruch nach Kebab und Pizza aus den vielen kleinen Restaurants.

Ich holte das Handy heraus und rief an.

»Jakob? Wie geht es dir?«

Mein Vater klang wach. Fit. So weit, so gut.

»Gut, gut.«

»Und Kirsten?«

»Ausgezeichnet, glaube ich. Kirsten ist eben Kirsten.«

Er zögerte. Hatte sich still und neutral verhalten, als ich ihn anrief und erzählte, dass ich aus dem Haus auszog. Es war weit von Randers nach Kopenhagen und mittlerweile ein paar Jahre her, dass wir uns gesehen hatten. Ich zog das Telefon vor, weil ich dann weder riechen noch sehen konnte, ob er getrunken hatte.

»Anton hat mich angerufen.«

»Anton?«

»Onkel Anton.«

Er schnaufte, kramte irgendwo herum und wurde für kurze Zeit zu einer toten Stille im Telefon. Dann war er zurück.

»Aha. Und wie geht es ihm so?«

Ich zog einen Fünfziger aus der Tasche, schob ihn über den Tresen von Halifs Pizzabude und zeigte auf ein Stück mit Schinken. Halif oder einer seiner Handlanger gab mir zwanzig Kronen zurück und ein dampfend heißes Stück Pizza mit jeder Menge geschmolzenem Käse. Ich balancierte den Pappteller zu einem fettverschmierten Ein-Personen-Tisch und setzte mich.

»Er wollte, dass ich jemanden für ihn finde. Eine Frau, die er früher gekannt hat.«

»Aha.« Er hustete trocken und hantierte ungeduldig mit irgendetwas herum. »Man sollte meinen, dass er für so etwas zu alt ist, aber die beiden sind wohl unverwüstlich. Fährst du hin?«

»Ich glaube nicht.«

Mein Vater brummelte.

»Du wohnst näher dran«, sagte ich. »Hast vielleicht auch mehr Zeit. Für mich ist es eine weite Reise … und ich habe gerade so viel um die Ohren.«

Das Schweigen am anderen Ende dauerte so lange, dass ich die Antwort schon kannte, als er zu sprechen begann. Mein Vater hatte schon immer ein bisschen Anlauf gebraucht, wenn er zu jemandem Nein sagen wollte. Er musste Anlauf nehmen oder sehr, sehr betrunken sein.

»Anton und ich … Wir haben ja immer ein etwas schwieriges Verhältnis gehabt. Das weißt du auch. Wenn er bei irgendetwas Hilfe braucht, dann musst du dich selbst darum kümmern. Es wäre bestimmt auch ganz gut für dich, wenn du den Sommer über eine Aufgabe hättest.«

»Es ist dein Onkel, nicht meiner.«

Ich biss ein Stück von meiner Pizza ab und verbrannte mir den Gaumen. Fluchte.

»Jakob … Ich werde mich ganz bestimmt nicht in diese Sache hineinziehen lassen. Nicht, wenn es mit Anton zu tun hat.«

Er klapperte mit etwas herum, und ich ertappte mich dabei, wie ich auf das Klirren von Flaschen oder das leise Zischen eines sich öffnenden Kronkorkens wartete. Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.

»Okay.«

»Aber wenn du Lust hast, bei mir vorbeizuschauen …«

»Danke.«

Mein Vater legte ohne weitere Formalitäten auf. Er war immer kurz angebunden, wenn er sich unter Druck gesetzt fühlte, und das war schon dann der Fall, wenn man ihn um etwas anderes bat als sporadische Gesellschaft und Smalltalk. Bevor die Verbindung unterbrochen wurde, konnte ich den Wind und das Rauschen des Laubs am anderen Ende hören. Vögel, die wie verrückt piepsten und zwitscherten. Spatzen oder vielleicht irgendeine invasive Art aus dem spanischen Bergland. Und ich sah ihn vor mir. Wahrscheinlich hatte er mit dem Telefon in der Hand im kleinen Garten seines Reihenhauses gestanden, dünn und sonnengebräunt und ganz, ganz alleine, so wie er es am liebsten hatte. Er trank nicht mehr, seit meine Mutter ihn verlassen hatte.

Ich aß den Rest meiner Pizza und ging wieder auf die Straße hinaus, mit Öl und Knoblauch an den Fingern. Ein Stück weiter gab es einen Hi-Fi-Laden mit neuen und gebrauchten Sachen. Der Plattenspieler, den sie dort zum Kauf anboten, war okay, und die Lautsprecher waren einfach nur großartig. Ich bezahlte, und einer der jungen Männer half mir dabei, den ganzen Kram nach Hause zu schleppen. Ein kräftiger schwarzhaariger Junge von höchstens achtzehn Jahren, aber schon mit einem auffälligen Backenbart und diesem reifen Selbstbewusstsein ausgestattet, weil er bereits seit dem zwölften Lebensjahr im Laden seines Vaters oder Onkels aushalf. Die Abiturientenmütze saß immer noch fest auf seinem Kopf, gezeichnet von der Sonne, den hellen Nächten und der zweifellos heftigen Feierei.

Er stellte die Kisten im Flur ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Sie wollen also laut Musik hören?«, bemerkte er mit einem Grinsen. »Dann machen Sie sich aber ziemlich unbeliebt im Ghetto.«

Ich seufzte und dachte daran, wie hellhörig das Haus war. Die greinenden Kinder in der Wohnung über mir waren deutlich zu hören. Meine Anlage würde Staub ansammeln, bis ich eine passendere Bleibe gefunden hatte.

»Noch ein Beweis dafür, dass der Mensch nicht frei ist«, sagte ich und öffnete eine weitere Dose Bier. »Nirgendwo hat man seine Ruhe.«

Der junge Mann schaute mich lange an. Zuckte mit den Schultern.

»Das wäre ja auch vollkommen für den Arsch, wenn das so wäre«, sagte er. »Kümmern Sie sich gut um Ihre Nachbarn und Freunde, alter Mann. Die bringen Ihnen die Suppe, wenn Sie krank werden.«

Ich schenkte ihm ein halbes Lächeln.

»Türkisches Sprichwort?«

»Nein.« Er grinste. »Universelle Wahrheit. What goes around, comes around.«

Ich warf mich auf die Matratze und öffnete das Ekstra Bladet auf meinem Handy. Versuchte, mich mit Dingen abzulenken, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Im ersten Clip demonstrierte eine hübsche Frau Mitte dreißig einen Deep Throat mit einem Gummidildo, der auf den Tisch geschraubt war. Sie stülpte ihren Mund über das gute Stück, bis sich der Hals ausbeulte, richtete sich wieder auf, erklärte Technik, Speichelfluss und Würgereflex, den sie mit eifrigem Training unter Kontrolle gebracht habe. Sie war eine natürliche Schönheit. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem lässigen Knoten zusammengesteckt, sie hieß Signe und war Sexologin. Den etwas langweiligen, aber durch und durch gesunden Frauen von Østerbro sah sie zum Verwechseln ähnlich. Akademikerinnen mit Mann und Kindern und kreativ chaotischen Wohnungen mit Stuck.

Ich klickte den Clip weg und landete auf der Startseite. Bilder von Flüchtlingen in einem Lager in Europa. Ein unbekannter Lottomillionär in Vojens, Bilder von Michael Jacksons Leiche und von Donald Trump, der rot angelaufen war und sich über irgendetwas aufregte.

Die Übungen der Østerbrofrau an dem wohlgeformten Gummidildo hatten eine Saite in meinem zentralen Nervensystem in leise Schwingungen versetzt, mehr aber auch nicht. Ich überlegte, ob ich einen Porno gucken sollte, ließ den Gedanken aber wieder fallen. Zu viel Anstrengung für ein erfahrungsgemäß fades und kurzes Vergnügen. Ich war nicht in Stimmung, und mein Lustzentrum tat weh.

Eine SMS von einer Nummer, die ich nicht kannte.

Halt dich von ihr fern. Ich meine das ernst. Nächstes Mal reiße ich dir deine runzligen Eier ab.

Ich wusste genau, wie er aussah. Und dass er stärker war als ich. Jünger und wütender, und außerdem war ich ein erwachsener, zivilisierter Mann. Nichts von alledem schickte sich. Ich sollte Janne anrufen und mich entschuldigen, aber sie ging schon lange nicht mehr ans Telefon.

Mir war schlecht geworden, ich fand Ravels Bolero auf YouTube und schloss die Augen. Hörte zu. Auf dem Handy klangen Celli und Bässe hohl, und die fein vibrierenden Geigentöne waren unmöglich herauszuhören. Eine kleine, zusammengepresste, unentfaltete Version eines großen Klangs. Eine Erinnerung an das, was es eigentlich sein sollte, aber nicht war. Wie Kirsten und ich in den letzten Jahren.

Etwas Großes, das in zu kleine Kisten gesperrt war.

Ich hatte keine Lust, nach Jütland zu fahren. Ich konnte nicht. Aber vielleicht musste ich es tun.

1978

Ich fuhr im dritten Gang die Steigung hinauf. Stellte mich auf die Pedale. Ich hatte die Kette vor einer Woche geölt, und die Zahnräder griffen lautlos in die sauberen, glänzenden Kettenglieder.

Mein Raleigh Grand Prix war in Dunkelrot lackiert und mit Sternen übersät, hatte einen zerfledderten Rennlenker und so viele Gänge, dass mein Vater sich bekreuzigte, als ich mit dem Rad nach Hause kam. In Auning gebraucht gekauft, in einem guten Zustand, vier Jahre alt, von meinem Konfirmationsgeld und ein paar zusätzlichen Kronen. Die Sattelstange und die Schrauben waren verrostet, es hatte zwei lange tiefe Schrammen im Oberrohr, und an mehreren Stellen war der Lack so verkratzt, dass man das Metall darunter sah, aber das war mir egal. Ich war der Einzige in der Klasse, der ein Rennrad hatte. Das Nächste sollte ein Bianchi Strada sein, Fausto Coppi war mit solch einem Rad über die gewundenen italienischen Bergstraßen gefahren. Der Meister aller Meister. Ole Ritter war letztes Jahr mit einem Cinelli gefahren, aber so eines hatte ich hier noch nie gesehen. Nicht einmal in Århus bei dem großen Fahrradhändler.

Als ich oben auf dem Hügel angekommen war, beugte ich mich, bereit für die Abfahrt, über den Lenker. Mein T-Shirt und die neue Adidas-Trainingsjacke begannen heftig zu flattern, und der Gegenwind kühlte meine Haut. Das trockene, insektenartige Knacken des Freilaufs, rhythmisch und immer schneller, ging im Wind in ein lautes Schnurren über. Ich hatte meinen Rucksack mit T-Shirts und Unterhosen und den Büchern aus der Bibliothek dabei. Meine Zeichensachen. Einen Block mit richtigem, dickerem Papier von Kontorland an der Hauptstraße und Bleistifte mit so weichen Minen, dass die Linien wie Pinselstriche über das Papier flossen.

Zu der Zeit zeichnete ich nackte Frauen.

Pin-ups aus den abgegriffenen und vergilbten Männerzeitschriften meines Vaters, die draußen in der Garage lagen. Sie posierten im Bikini an Stränden oder auf den Kühlerhauben breiter Limousinen aus den Fünfzigerjahren, aber in meiner künstlerischen Interpretation waren sie alle nackt und gewährten einen direkten Blick auf den dunklen Spalt zwischen ihren Beinen. Ich hatte ein bisschen in den Kunstbüchern in der Bibliothek recherchiert und Hündinnen, Kühe und Säue angegafft, und die letzten Unsicherheiten überdeckte ich mit dunklen Schamhaaren. Obwohl ich ganz am Schluss noch mit ein bisschen Fantasie nachhelfen musste, waren meine Zeichnungen beliebte Sammlerobjekte bei den Jungen in meiner Klasse. Möglicherweise waren sie anatomisch nicht korrekt, aber da ohnehin bereits unzählige verwirrende und einander widersprechende Informationen über das Innere und Äußere einer Muschi kursierten, war mein Angebot genauso gut wie das aller anderen, und man konnte in der Physikstunde darauf starren und sie in den Freistunden den Mädchen zeigen, worauf sie sich entrüstet und errötend zusammenkrümmten und flohen.

Für die am besten Gelungenen nahm ich fünf Kronen und zehn Kronen für diejenigen, bei denen ich dasselbe vögelnde Paar auf zwei einzelne Blätter gezeichnet hatte. Wenn man sie mithilfe eines Bleistifts übereinanderlegte und hin- und herrollte, bewegte sich der Hintern auf und ab, oder man konnte den Schwanz rauf und runter wippen lassen.

Abgesehen davon zeichnete ich Bäume, Blätter und vor allem Häuser. Von allen Seiten und aus allen Perspektiven. Schraffuren und harte Umrisse. Die Kirche. Die Schule, das einzige dreistöckige Gebäude im Ort, hatte fein gearbeitete Gesimse, an denen eine Borte aus hübsch gemalten Weinranken verlief, und Trinkwasserbecken mit Trollköpfen und Adlern aus grauem Granit. Und ich zeichnete den Hinterhof des Schlachters und die Möbelfabrik mit dem beinahe dreißig Meter hohen gemauerten Schornstein.

Das Fahrrad geriet ins Schlingern, als ich durch einen Haufen Scherben fuhr, dort, wo sich die Straße bei einer Ansammlung kleiner Höfe teilte. Ich war zu schnell, und die Bremsen griffen nicht. Die Beläge waren so abgenutzt, dass das Metall auf die Felge drückte, und ich musste mit den Schuhspitzen abbremsen. Ich lenkte das Fahrrad über die Böschung, wo es über Steine und Wurzeln hüpfte, bis ich im kniehohen Gras endlich zum Stehen kam.

»Verdammt, was bist du denn für ein … kleines Arschloch?«

Anders stand in der breiten Einfahrt auf der anderen Seite der Straße, schaute auf einen Punkt etwas links von mir und grinste von einem Ohr zum anderen. Er schien hocherfreut und hatte die Schubkarre mit den Futtersäcken abgestellt und die großen unruhigen Hände in die Hosentaschen gesteckt. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, und wegen einer Hautkrankheit waren Stirn und Kinn unter den langen Bartstoppeln rot und schuppig. Wenn er sich kräftig unter der Mütze kratzte, rieselten weiße Flocken wie bei einem mikrokosmischen Schneefall um ihn herum zu Boden.

Ich stieg vom Fahrrad und jammerte ein bisschen. Ich hatte ein paar unerwünschte Stöße in die Eier bekommen und mir das Schienbein am Pedal aufgekratzt. Das hintere Schaltwerk schien auch etwas abgekriegt zu haben.

»Du bist also … da.«

Hinter ihm war auf steifen Beinen der Hund aufgetaucht. Soffi. Eine mittelgroße schwarzweiße Hündin mit kurzem, fettigem Fell, die jedermann unfreundlich anbellte, aber zu einer schnellen Versöhnung bereit war, wenn man sie hinter den Ohren kraulte. Die Zitzen waren geschwollen, also gab es irgendwo Welpen. Oder es hatte sie bis vor Kurzem gegeben. Anton brachte normalerweise den ganzen Wurf um, indem er den Welpen mit der Rückseite der Axt in den Nacken schlug. Es war schwierig, sie loszuwerden, und die Hündin war nach einer Weile mager und ausgezehrt.

»Ja, ich bin da.«

»Für viele Tage …«

Ich lächelte.

»Ja, Anders. Für viele Tage.«

Er steckte die Hand in die Tasche und zog eine Glasscherbe heraus, die er ins Licht hielt. Sie war rot.

»Hübsch. Hast du sie heute gefunden?«

Er nickte bedeutungsvoll und schloss die Hand um die Scherbe. Ließ sie wieder in die Hosentasche gleiten.

»Wo ist Anton?«

Anders grinste breit die Spitzen seiner Holzschuhe an, massierte sich den Nacken. Er sah einen nur selten an, aber dann strahlten seine wasserblauen Augen eine fröhliche Verwunderung aus, die mich an Jørgens vierjährige Schwester erinnerte, wenn wir ihr ein Weingummi oder ein halbes Stück Himbeerkuchen gaben.

»Er ist drinnen.« Er beugte sich über den Hund. Küsste die erdige Schnauze und pustete ihr in die Nasenlöcher, während sich das Tier vor lauter Verzückung das Hinterteil zu verrenken drohte.

Er hatte mich schon wieder vergessen. Aber so war es schon immer gewesen. Anders hatte die seltsame Fähigkeit, mitten in einem Gespräch zu verschwinden. Nicht körperlich. Er glitt eher in den Fokus hinein und wieder heraus, wie bei einem kaputten Fotoapparat. Während sich seine großen Hände rastlos mit allem beschäftigten, was in seiner Nähe war. Mit Tieren und Werkzeugen, Gürtelschnallen und Hosenbeinen. Jetzt ergriff er wieder die abgewetzten Handgriffe der Schubkarre und richtete sich auf. Schob sie über den Hof zum Schweinestall. Ich stellte mein Fahrrad an der Hauswand ab, hockte mich neben Soffi und kraulte leicht ihren fettigen Nacken.

»Und was hast du mit den Welpen gemacht?«, sagte ich. »Bist du ein guter Hund gewesen?«

An ihrem Bauch war das Fell steif und verfilzt von der eingetrockneten Milch, die Zitzen wund, also lagen die Welpen wohl mit zerschmetterten Schädeln auf dem Misthaufen. Ich unterdrückte die Enttäuschung und ging zur Hintertür.

»Anton!«

Ich blieb draußen auf der flachen Steinstufe stehen, wo sich die Brüder und alle anderen den Dreck von den Stiefeln und Holzschuhen trampelten, bevor sie fein säuberlich in einer Reihe im Flur abgestellt wurden. Es roch nach Kuh und Schwein und gebratenen Frikadellen und Salzkartoffeln. Die Arbeitsplatte in der Küche war mit einem nicht ganz sauberen Tuch abgewischt worden, das jetzt über der Spüle hing, und obwohl alles aufgeräumt war, ja beinahe kahl wirkte, schien der Dreck an den Fußleisten und Kacheln und hinter dem Herd festgewachsen zu sein. Wenn meine Mutter ein seltenes Mal bei den Brüdern vorbeischaute und die Küche inspizierte, strich sie über die Abzugshaube und den Lampenschirm und steckte den Zeigefinger in einen der Kochtöpfe und stellte trocken fest, dass in diesem Haus eine Frau fehle. Die letzte war meine Urgroßmutter gewesen, aber über sie wusste ich nichts. Als wir in den Ort zogen, war sie schon seit vielen Jahren tot. Jetzt lag auf dem Esstisch ein Wachstuch, das Kaffeeringe hatte, die Uhr über der Tür zum Wohnzimmer tickte. Die Zeit verging bei den Brüdern langsam und war zähflüssig wie Honig, Harz oder wie der Teer in den Kuhlen, wo sich damals Säbelzahntiger und Dinosaurier verfingen und ihre Knochen für alle Zeit konserviert wurden.

Sowohl Anton als auch Anders waren im Zimmer der Urgroßmutter geboren worden, und den Worten meines Vaters zufolge musste es ein wahres Wunder gewesen sein, dass sie sich überhaupt aus dem Schoß ihrer Mutter befreien konnten, denn sie war eine Frau gewesen, die ihre Jungen fest im Griff behalten hatte. Seitdem waren sie hilflos an ihr Geburtshaus gefesselt, in dem sie mit vier älteren Brüdern, einer lebendigen Mutter und einem toten Vater aufgewachsen waren.

»Na, da bist du ja, Jakob.«

Anton winkte mich mit einem Spachtelmesser in der Hand heran. Er war so groß, dass er sich bücken musste, um sich nicht den Kopf am Türrahmen zu stoßen. Das Haus war nicht für Männer wie ihn und Anders gebaut, aber anscheinend war ihnen nie die Idee gekommen, die Höhe anzupassen. Je weiter sie ihrer Mutter über den Kopf wuchsen, desto tiefer mussten sie sich bücken, wenn sie vom Wohnzimmer in die Küche gingen und wieder zurück ins Wohnzimmer. Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte Anton noch jede Menge Haare auf dem Kopf, die am Morgen mit Wasser sorgfältig nach hinten gekämmt und im Laufe des Tages mit dem Kamm in Form gehalten wurden, der in seiner Gesäßtasche steckte. Früher habe er Marlon Brando geähnelt, hatte meine Mutter einmal gesagt. Aber jetzt nicht mehr, jedenfalls nicht wirklich. Doch er sah immer noch gut aus und hatte eher etwas von John Wayne. Breite Schultern und einen mächtigen Oberkörper.

»Du kannst doch eine Weile bleiben? Du hast es nicht eilig, nur weil wir alte Knacker sind, oder?«

»Nein, nein.«

Er lächelte, griff fest in mein Haar und zerzauste es kräftig. Er fand es zu lang und ermahnte mich deswegen ständig. Als ich kleiner war, drückte er immer meine Hand zusammen, bis mir die Tränen in die Augen stiegen und ich mich aus seinem Griff wand.

»Möchtest du etwas essen, bevor wir loslegen? Ein Spiegelei ist noch übrig.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich habe zu Hause schon gegessen.«

»Na, dann …« Er nickte und ging in die Küche zurück. Ließ Eier und Bratkartoffeln und Zwiebeln aus der Pfanne auf seinen Teller gleiten, setzte sich und begann zu essen.

»Du kannst deine Sachen ins Zimmer bringen.«

Mein Vater ähnelte mehr seinem Onkel Anton als seinem eigenen Vater. Es war ein genetischer Seitensprung, der besonders deutlich wurde, wenn man beide von der Seite betrachtete. Dieselbe gerade und breite Nase, dieselben Pausbacken, braune Augen und dunkelbraunes Haar. Trotz der ungesund geschwollenen und chronisch geröteten Wangen meines Vaters war die Ähnlichkeit nur schwer zu leugnen, obwohl er alles daransetzte, um das zu ändern.

Er konnte Anton nicht leiden.

»Muttersöhnchen«, zischte er manchmal, wenn Anton beim Foderstoffen vorbeikam. »So ist das, wenn man unter den Rockschößen seiner Mutter erwachsen geworden ist.«

Ich ging hinein, stellte meinen Rucksack auf den Boden von Urgroßmutters Zimmer und schielte zu dem kurzen Bett aus dunkel poliertem Mahagoni hinüber. Sie hatte sechs Kinder darin zur Welt gebracht, und hier hatte sie auch ihren letzten Atemzug getan, aber die Matratze war seitdem ausgetauscht worden. Sie war jetzt hellblau und knisterte elektrisch unter der vergilbten Flanelldecke.

»Jakob.«

Anton stand in der Tür.

»Du kannst damit anfangen, Kartoffeln auszugraben. Und stell gleich ein paar Säcke zum Verkauf an den Straßenrand. Gestern hat Svendsens Frau zweimal vorbeigeschaut und danach gefragt, und sie ist …«

Anton hielt mitten im Satz inne und begnügte sich damit, irritiert mit der Hand zu wedeln. Frauen konnten diesen Effekt auf ihn haben, hatte ich festgestellt. Besonders diejenigen, die reden wollten.