Der Sommerdrache - Todd Lockwood - E-Book
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Der Sommerdrache E-Book

Todd Lockwood

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Beschreibung

»Der Sommmerdrache« ist der erste Band einer neuen epischen Fantasytrilogie voller Magie, politischer Intrigen und Drachen – von einem der berühmtesten Illustratoren (»Dungeons & Dragons« und »Magic: The Gathering«) des Genres. Maia wächst als Tochter des Brutmeisters in einem Aery auf, dem Ort, an dem Drachen ausgebrütet und großgezogen werden. Genau wie ihr Bruder Darian wartet sie gespannt auf den Tag, an dem sie ihr eigenes Drachenjunges bekommen wird. Doch sie hat Pech: Als sich der Nesttag nähert, zeichnet sich ab, dass die Delegation des Kaisers sämtliche Jungtiere für das Militär requirieren wird. Enttäuscht und verärgert macht sie sich mit ihrem Bruder auf in die Wildnis – wo sie nicht nur auf die Leiche eines weiblichen Drachen stößt, der von Wilderern erlegt wurde, sondern auch dem mythischen Sommerdrachen begegnet. Zurück im Aery versetzt ihre Geschichte alle in helle Aufregung. Die religiösen und militärischen Autoritäten streiten darüber, wie Der Sommerdrache gedeutet werden soll. Maia hat an all dem wenig Interesse. Sie fragt sich vor allem eines: Wenn es eine tote Drachenmutter gibt, wo ist dann ihr Junges? Kurzerhand macht sie sich auf eine gefährliche Reise in die Wildnis, um das Drachenjungtier zu finden. Ein neues Drachenepos für alle LeserInnen von Naomi Novik, Christopher Paolini, Boris Koch, Anthony Ryan und Marie Brennan.

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Seitenzahl: 851

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Todd Lockwood

Der Sommerdrache

Die ewigen GezeitenRoman

Aus dem Amerikanischen von Franca Fritz und Helmut Koop

FISCHER E-Books

Inhalt

Karte 1: Der Berg ZurvaanKarte 2: Der AeryTeil I: Der SommerdracheProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9 . Kapitel10 . Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23 . Kapitel24 . KapitelTeil II: Der WildlingProlog25 . Kapitel26 . Kapitel27 . Kapitel28 . Kapitel29 . Kapitel30 . Kapitel31 . Kapitel32 . Kapitel33 . Kapitel34 . Kapitel35 . Kapitel36 . Kapitel37 . Kapitel38 . Kapitel39 . Kapitel40 . Kapitel41 . Kapitel42 . Kapitel43 . Kapitel44 . Kapitel45 . Kapitel46 . Kapitel47 . Kapitel48 . Kapitel49 . Kapitel50 . Kapitel51 . KapitelDanksagung

Teil IDer Sommerdrache

Prolog

Sie fütterten gerade die Jungtiere, als das Gemetzel begann.

Graeden entdeckte die Angreifer als Erster: Schartige Schatten, dunkel und missgebildet, sanken vom Abendhimmel herab. Er stieß die Schaufel in die Karre mit Dörrfisch und starrte wie gebannt in die Höhe. Die Drachenküken in den Nestern beschwerten sich, weil der Futternachschub ausblieb. Die erwachsenen Drachen gurrten, um ihre Nestlinge zu beruhigen, aber auch sie sahen durch die großen Schiebetüren hinauf zum Himmel. Das langgestreckte Bruthaus – eines von mehreren, die über den Berghang verteilt waren – öffnete sich auf einer Seite zum Sattelplatz, während die andere über eine steil abfallende Felswand hinausragte. Tief unten in der Schlucht drängten sich die Dächer der Stadt Cuuloda, umgeben von steilen Felsen und dichten Wäldern, die sich bis zu einer weit entfernten Ebene erstreckten.

Der Feind hatte die Abwehr des Aery hoch oben in den Bergen bisher erfolglos auf die Probe gestellt; das Gebirge hatte immer genügend Sicherheit geboten. Aber diese Kreaturen hatten eine Lücke in Cuulodas Verteidigungslinien aus zerklüfteten Gipfeln und berittenen Patrouillen gefunden.

Graeden kniff die Augen zusammen. Die Wesen sahen zwar wie Drachen aus, aber irgendetwas an ihnen stimmte nicht. Grüne Lichtstrahlen brachen aus den zerfledderten Silhouetten hervor. Plötzlich erfasste ihn ein eisiger Schauder, und er zog die Jacke fester um die Schultern. »Vater – was sind das für Wesen?«

Sein Vater Ardran blickte auf und ließ seine Schaufel ebenfalls fallen. Die Brise, die durch die geöffnete Felswandseite des Bruthauses hereindrang und über den Sattelplatz wehte, roch nach Asche und Verfall. »Bei den Göttern, Grae.« Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren. »Dann sind die Gerüchte also wahr: Die Harodhi haben einen Weg gefunden, Drachen zu entarten. Das da sind Skrakk. Fliegende Skrakk.«

Ardran wandte sich seinem ältesten Sohn zu, der gerade auf dem Sattelplatz stand und Wasser pumpte. »Bahnam – läute die Alarmglocke. Warne deine Brüder. Und schließ die Türen an den oberen Nistplätzen. Beeil dich!«

Bahnam blickte zum Himmel über dem Bruthaus, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er ließ den Eimer fallen, sprintete über den Platz zum Lagerhaus und brüllte: »Lem! Harien!« Kurz darauf ertönte die Glocke über den Hof. Laute Rufe beantworteten das Läuten.

»Grae, hilf mir, den Aery zu schließen. Mach schon!« Gemeinsam stürmten Ardran und Grae zu den schweren Schiebetüren auf der Sattelplatzseite und schoben sie in ihren Schienen vorwärts, um die Nester zu sichern.

Die Küken begannen verunsichert zu piepsen, da sie die ungewohnte Hektik spürten. Ihre Eltern wandten sich dem Felshang zu, die Schwingen drohend gespreizt, um ihren Nachwuchs vor dem herannahenden Albtraum zu schützen.

Die Glocke läutete aus, und Grae warf einen letzten Blick auf den Sattelplatz. Er sah Bahnam und zwei weitere seiner Brüder, die die lange Steinstiege zum nächsten Bruthaus weiter oben im Hang hinaufstürmten. Schatten jagten ihnen nach.

Irgendetwas erschütterte das Dach. Putz rieselte herab. Mit einem frustrierten Schrei schloss Grae die letzte Tür, warf den Riegel vor und blickte über die Nestplattform zum sich verdunkelnden Himmel. Die gekrümmten Gestalten stießen so zahlreich herab, dass er sie gar nicht zählen konnte. Und sie würden den Aery erreichen, bevor sein Vater und er die Außentüren schließen konnten.

Draußen ertönten Schreie. Ein zweiter, dröhnender Aufprall auf dem Dach sorgte für weiteres verängstigtes Piepsen im Aery.

»Grae, jemand muss die Drachenstaffel in Haalden verständigen«, forderte sein Vater.

»Was?«, fragte Graeden verständnislos.

»Nimm Kiven und flieg los.«

»Aber wir haben doch die Türen zum Hof geschlossen … Wie soll ich denn zum Sattelhaus kommen …?«

Das Sirren von Pfeilschüssen drang durch die Tür. Dann ein Schrei. Grae erkannte die Stimme seines Bruders Harien, unterbrochen von einem Chor rauer Knurrlaute. Ihm gefror das Blut in den Adern.

»Dafür ist jetzt keine Zeit«, drängte sein Vater. »Du musst ohne Sattel fliegen. Vertrau mir, mein Junge – du musst von hier fort. Sofort.«

Grae rannte zu seinem Lieblingsdrachen – sein Zuchtbulle Kiven – und sprang auf seinen Nacken. Im selben Moment landete zwei Boxen weiter der erste Skrakk auf dem Rand der Plattform. Ein widernatürlicher geflügelter Schatten mit einer dunklen Gestalt auf dem Rücken musterte die Nester mit Augen, die an grün glühende Kohlen erinnerten. Ein weiterer Schatten ging neben ihm nieder. Dann noch einer.

Die Zuchteltern stürzten sich zischend auf die kohlschwarzen Monster. Zähne trafen auf Zähne. Krallen schlugen durch die Luft. Jungtiere strömten aus den Nestern und drängten sich gegen die Hoftüren. Die Monster pflückten ihre Eltern von den Plattformen und zogen eine triefende Blutspur hinter sich her, über den Abgrund hinaus. Weitere dieser Kreaturen flogen heran, um sie zu ersetzen.

Als einer der dunklen Reiter abstieg und sich mit einem großen Sack in der Hand den piepsenden Drachenküken näherte, zögerte Grae entsetzt.

»Sie wollen unsere Brut stehlen!«, rief er bestürzt.

Sein Vater riss eine Machete von der Wand und postierte sich unsicher vor den kreischenden Küken. Als er seinen Sohn ansah, stand Angst in seinen Augen. »Schnell! Bring dich in Sicherheit!«

Graeden dirigierte Kiven zur Felswand. »Hai!«, rief er und klammerte sich an die großen Knochenplatten im Nacken des Drachen. Mit einem Satz hoben sie ab. Einer der Skrakk schnappte im Vorbeifliegen nach ihm, verpasste sein Ziel aber und flog weiter zum Boden des Bruthauses.

Gehetzt sah sich Grae um, noch während er Kiven anspornte. Die Drachen des Aery verschwanden unter einer Flut zerfledderter Schatten. Donnerndes Grollen verwandelte sich in schrille Schmerzensschreie, als das wütende Gemetzel begann. Weitere Monster drängten sich auf dem Dach, dem dahinterliegenden Sattelplatz, den oberen Nestplattformen. Gequält schrie Grae auf. Sein Zuhause. Seine Brüder. Seine Eltern. Einfach alles, was er je gekannt hatte.

Sein Blick fiel auf Ardran. Sein Vater war in eine Ecke gedrängt worden, mit seiner Brut direkt hinter ihm. Kohlschwarze Kreaturen, deren Gestalt an Menschen erinnerte, näherten sich ihm mit Waffen und großen Leinensäcken. Ardran wirbelte zu seinen Küken herum und hob die Machete, um möglichst viele der eigenen Jungtiere zu töten, bevor der Feind sie in die Hände bekam. Doch die Klinge fuhr nur zweimal herab.

Ein wütender, verzweifelter Schrei war das Letzte, was Grae von seinem Vater hörte. Dann hatten die Höllenwesen ihn umzingelt.

1. Kapitel

Eine Drachenführerin mit dem Kopf in den Wolken ist verflucht. Das waren Mutters letzte Worte an mich gewesen. Im Zorn ausgestoßen, hatten sie mich seit jenem Tag verfolgt.

Ich blieb auf der Steinbrücke stehen, die den Gutshof auf der Felsklippe mit dem Aery verband. Steckte ich wirklich mit dem Kopf in den Wolken, nur weil ich zu hoffen wagte? Ich warf einen Blick auf die Drachensilhouetten am grauen Himmel und zitterte in der kühlen Luft der anbrechenden Morgendämmerung.

Morgen war Nesttag. Die Beamten des Ministeriums würden sich unsere Drachenküken ansehen und die besten erwerben. Die Brutsaison würde mit einem großen Fest enden, das vermutlich in diesem Jahr noch größer ausfiel als je zuvor. Wir hatten ein besonders großes Gelege – das größte in der Geschichte unserer Familie –, und Vater hatte sich schon seit einer halben Ewigkeit ein neues Brutpaar gewünscht. Bestimmt würde das Ministerium nicht all unsere Drachenküken benötigen. Vater war entschlossen, die Beamten davon zu überzeugen, uns zwei Küken zu überlassen.

Eines für Darian. Und eines für mich.

Meine Vorfahren hatten seit Urzeiten Drachen gezüchtet, zuerst für Kriegsherren, dann für Könige. Und nachdem das gurvaanische Kaiserreich unsere westliche Provinz Gadia unterworfen hatte, züchteten wir auch Drachen für die kaiserliche Drachenstaffel. Unser Aery mochte zwar nicht der größte sein – diese Ehre gebührte Cuuloda hoch oben im Norden, unter der Leitung von Ardran und seinen Söhnen, die uns gelegentlich besuchten, um Eier oder Nachrichten auszutauschen. Aber unsere Küken waren sehr begehrt. Vater prahlte gern damit, dass auf unseren Drachen Generäle flogen – was auch tatsächlich stimmte.

Da konnte ein weiteres Brutpaar doch nicht schlecht sein, oder?

»Maia!« Darian kam mit einer Laterne über die Brücke getrabt und zog mich am Ärmel. »Jetzt ist nicht der richtige Moment für Tagträume, Schwesterherz. Was ist mit dir los?«

»Nichts.« Ich drehte mich um und sah zu ihm hoch. Wann war er eigentlich so groß geworden? Gemeinsam gingen wir zum Sattelplatz. »Wir haben schwer gearbeitet, Dare. Wir verdienen unsere Küken.«

Darian schwieg. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der mich an Vaters Miene erinnerte, wenn er kurz vor einem Wutausbruch stand – schwarze Haare, so dunkel wie eine Gewitterwolke, die gerade Nase leicht gerümpft, funkelnde dunkle Augen. Er vermied jeden Blickkontakt. Mir drehte sich der Magen um.

»Es ist das perfekte Jahr dafür. Wir sind beide volljährig, und wir haben mehr Küken als je zuvor.«

»Ich weiß, aber …«

»Aber was? Was verschweigst du mir?«

Er hob das Kinn. »Nicht jetzt, Maia.«

»Ich weiß genau, auf welches Drachenküken du ein Auge geworfen hast, Dare.«

»Bei Korruzons mächtigen Fürzen, Maia! Wir müssen uns an die Arbeit machen. Komm schon.« Er lief los und ließ mich allein in der Dämmerung zurück.

Fast hätte ich laut gelacht – Darian hatte für jede Gelegenheit einen respektlosen Fluch auf Lager. Gerade eben hatte er sich über Korruzon höchstpersönlich lustig gemacht, den Drachen von Kaiser Ahriman. Korruzon war Hunderte Jahre alt und gehörte zu den Avar, den Drachenhoheiten. Die Avar galten als mystische spirituelle und magische Kreaturen – ganz anders als die von uns gezüchteten Bergdrachen, die im Vergleich dazu einfache Tiere waren. Die Drachenhoheiten existierten in einem Reich jenseits der bekannten natürlichen Welt; manche behaupteten sogar, dass sie Feuer speien könnten. Korruzon hatte jedem Kaiser seit Anbeginn des Staats Gurvaan gedient, als Berater und Oberhaupt des Drachentempels – genau genommen als eigentlicher Herrscher. Der Drachentempel behauptete, dass er sogar noch viel älter sei: Korruzon galt als Manifestation des ursprünglichen Schöpfers unseres Universums. Es fiel mir schwer, das zu verstehen, all diese Geschichten ließen ihn wie ein Wesen aus einer Sagenwelt erscheinen. Jenseits jeder Realität. Ein Gott.

Aber im Moment beschäftigte mich eine ganz andere Frage: Was wusste Darian, das er mir nicht verraten wollte? Ich sah ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand. Der Krieg verlief nicht gut – darauf ließen zumindest die Gerüchte schließen, die wir gehört hatten. Als ich mich nach Norden wandte, entdeckte ich das erste Licht der rosafarbenen Morgendämmerung, das auf den Roaring, unseren Wasserfall, fiel. Im Dorf am Fuß des Bergs gingen die ersten Lichter an. Rauchsäulen aus den Schornsteinen von Riats Häusern versprachen einen neuen Morgen, das Voranschreiten der Zeit. Morgen würde das Gold des Ministeriums auf dem Umweg über unseren Aery nach Riat fließen. Der Nesttag stellte auch für die Dorfbewohner einen Anlass zum Feiern dar. Genau wie für uns.

Das Klappern und Rattern von Hufen und Rädern ließ meinen Kopf herumwirbeln. Ein Fuhrwerk, von einem braunen Pferd gezogen, überquerte den Hof vor der Brücke. Eine Laterne, die an einem Haken schaukelte, tauchte das Gesicht des Fuhrmanns in helles Licht.

»Fren!« Ich lief zum Karren und kletterte hinauf. Fren kannte ich seit meiner Kindheit. Er hatte mich schon auf seinem Pferd reiten lassen, als ich gerade erst laufen konnte. In der Regel bekamen wir ihn nur zweimal im Jahr zu Gesicht: im Winter, wenn er uns Eis von den Gletscherseen brachte, um die Vorräte in unseren Gewölbekellern aufzufüllen, und am Nesttag, wenn er uns frische Holzspäne für die Nester lieferte. Nur selten schaute er zwischendurch vorbei, mit Schnittholz oder Rotwild für unsere Drachen oder mit Nachrichten aus den Wäldern.

Der würzige Duft der Ladung Zedernspäne stieg mir in die Nase. Die Holzschnitzel würden die Nester sauber und sehr präsentabel wirken lassen.

»Wie geht’s deinem Schatten, junges Fräulein?« Sein breites Lächeln verstärkte die Lachfältchen an seinen Augen- und Mundwinkeln.

»Meinem Schatten geht es gut. Wie geht’s deinem?«

»Auch gut.« Fren lachte. Das war unser übliches Begrüßungsritual. Vor langer Zeit hatte er mir mal erklärt, dass es damit eine besondere Bewandtnis habe: Jeder Mensch besaß zwei Schatten – den von der Sonne verursachten und den Schatten, der jedem Menschen nach seinem Tod folgte, als Nachwirkung aller Handlungen zu Lebzeiten. »Gestatte dem Licht, die Dunkelheit auszugleichen«, hatte Fren damals gesagt. »Denn alle deine Taten hinterlassen einen Schatten – ein Kräuseln auf den Ewigen Gezeiten.«

Angeblich musste man also ein wachsames Auge auf seinen Schatten haben, vor allem auf die zweite Sorte. Allerdings verstand ich nicht wirklich, was damit gemeint war. Und Fren war der Einzige, der so etwas erzählte.

»Diese Stute habe ich neu«, sagte er jetzt und zeigte auf sein Pferd. »Deswegen werde ich heute etwas Abstand zu euch halten müssen. Sie ist nicht an Drachen gewöhnt.«

»Ach, ich bin mir sicher, das klappt schon. Wir werden gut auf euch aufpassen.« Ich sprang vom Wagen und steuerte auf den Sattelplatz zu.

»Fröhlichen Nesttag, Miss Maia!«, rief er mir nach. »Ich weiß, dass du dieses Jahr besonders hohe Erwartungen hast. Aber vergiss nicht, dass du am Tag einer Morgenwoge zur Welt gekommen bist. Du stehst unter einem glücklichen Stern!«

Ich lachte, fühlte mich aber nicht gerade glücklich. Nicht, nachdem sich mein Bruder so merkwürdig verhielt und Mutters Worte mir wieder und wieder durch den Kopf gingen. Also machte ich auf dem Absatz kehrt und lief Darian nach.

Das Tosen des Wasserfalls schluckte das Geräusch meiner Stiefel auf der Brücke.

Auf dem Sattelplatz, jenseits der hohen Steinmauern des Lagerhauses, wimmelte es vor Leuten: Bauern aus der Umgebung entluden Kisten mit Melonen und gackernden Hühnern für unsere Drachen. Andere schaufelten frisches Stroh und Holzspäne in die bereitstehenden Silos. Zusätzliche Arbeitskräfte von den umliegenden Höfen harkten und fegten jeden Quadratzentimeter der Anlage. Die Türen des Sattelhauses standen sperrangelweit offen, und mehrere herausgerollte Sättel warteten bereits auf den Ausflug der Zuchteltern. Das gefettete Leder mit den polierten Nieten glänzte im Schein der Laternen.

Ich bog um die Ecke, in Richtung des noch geschlossenen Bruthauses mit unseren zahlreichen Küken, und wäre fast mit Darian zusammengestoßen. Er stand schweigend da und beobachtete das Spektakel.

»Nein, nicht dorthin!« Vater winkte einem schwitzenden Bauernsohn ungeduldig zu, der mit seinem klapprigen Karren auf eines der Silos zusteuerte. »Was tust du denn da? Ich habe dir doch gesagt, du sollst mit dem Stroh warten. Das kommt woanders hin.« Der dürre Junge kämpfte mit den Zügeln seines unruhigen Pferds, behielt aber Vater nervös im Blick, während er den Wagen aus dem Weg zu fahren versuchte. Der arme Kerl sah aus, als würde er seinem Pferd gleich die Peitsche geben und in vollem Galopp davonrasen. Er tat mir wirklich leid. Am Tag vor dem Nesttag konnte Vater schon mal die Beherrschung verlieren. Er war ein großer, kräftiger Mann – selbst sein Name, Magha, bedeutete »mächtig«. Tätowierungen aus seiner Dienstzeit bei der Drachenstaffel bedeckten seine Arme. Natürlich trug er auch das Bund-Mal und seine Rangabzeichen, aber seine Narben waren von einem filigranen Netz aus Heilrunen umgeben. Bereits unter normalen Umständen wäre Vater eine eindrucksvolle Gestalt gewesen – doch das galt erst recht, wenn er Shuja an seiner Seite hatte.

Der riesige, pechschwarze Drache trat bereitwillig unter den Ausleger des Sattelkrans, die wuchtigen Schwingen dicht an den Körper gelegt. Er wölbte den langen Hals und spreizte den kräftigen Nackenkamm. »Jak…d!«, rief Shuja fröhlich. Er konnte gut sprechen, aber besser brachte er das Wort »Jagd« mit seinem Drachenmaul nicht hervor. Shuja liebte die Jagd. Seine Augen funkelten golden und glücklich. Vater dirigierte den Kranausleger über Shujas Sattel, kletterte hinauf, um die Sattelringe am Ausleger zu befestigen, und brüllte irgendwelche Befehle über die Schulter. Schließlich drehte er sich in unsere Richtung und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Dare, wo ist deine Schwester?«

»Bin schon da.« Ich trat neben Darian und bemerkte die Erleichterung im Gesicht des Bauernsohns, da Vaters Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihm lastete.

»Gut. Pumpt Wasser hoch und badet die Nestlinge. Dann kehrt das dreckige Stroh aus den Nestern, spritzt sie ordentlich aus und füllt sie mit frischen Holzspänen auf. Anschließend fegt ihr die Plattformen und räumt herumliegendes Werkzeug beiseite. Und dann überprüft ihr die Geschirre und reinigt und fettet sie. Ich will, dass alles makellos sauber ist. Ein guter Eindruck sorgt für ein gutes Geschäft!«

Die übliche Nesttags-Litanei. Ich warf Darian einen Blick zu. Im Schutz des grellen Laternenscheins formulierte er Vaters Worte stumm und nahezu wortgetreu mit und schob dabei theatralisch die Oberlippe vor. Ich boxte ihn gegen den Arm. »Lass das«, flüsterte ich.

»Genug herumgealbert, Maia.« Vaters Augen bekamen dieses charakteristische Glitzern, wie ein weit entferntes Gewitter. »Macht euch an die Arbeit. Sofort!«

Typisch – Darian machte irgendwelchen Blödsinn, und ich bekam den Ärger.

Mein ältester Bruder Tauman und seine Frau Jhem führten die anderen beiden Vatertiere aus dem Bruthaus. Am Tag vor dem Nesttag gingen wir mit den Zuchteltern immer auf eine ausgedehnte Jagd, was unsere Drachen kaum erwarten konnten. Die Vatertiere durften als Erste hinaus und würden mehrere Stunden beschäftigt sein. Dann durften die Muttertiere ihre Schwingen ausbreiten, obwohl sie die Jagd nach der monatelangen Brutzeit deutlich dringender benötigten als die Drachenväter. Am Abend war dann nicht nur mit reichlich Wild für das morgige Fest zu rechnen, der anstrengende Tag in den Lüften bot ihnen auch ein Gefühl von Freiheit, auf das sie viele Monate hatten verzichten müssen. Und er würde dazu beitragen, die Wut und den Kummer zu dämpfen, wenn die Ministeriumsbeamten ihren Nachwuchs mitnahmen.

»Komm.« Darian packte meinen Ellbogen. »Wir haben eine Menge zu tun.«

Gemeinsam überquerten wir den Sattelplatz und gingen auf das Bruthaus zu. »Sieh sie dir nur mal an, Dare.« Ich zeigte auf die drei Zuchtbullen, die fast über die Steinplatten tänzelten. Ein tiefes Grollen ertönte aus Shujas Brust, das die anderen Zuchteltern wiederholten. Ich konnte es fast in den Knochen spüren und versuchte, den Rhythmus und die Stimmlage zu imitieren. Aber meine Bemühungen erinnerten eher an ein Stakkato-Grunzen, das außerdem nicht annähernd so weit über das Gelände trug wie das Grollen der Drachen.

»Du klingst, als müsstest du dich gleich übergeben«, sagte Darian.

»Sehr witzig.« Ich erinnerte mich daran, dass Mutter immer gluckende und gurrende Laute von sich gegeben hatte, um mit den Küken zu kommunizieren. Mehr als einmal hatte sie mir erzählt, dass die Drachen über eine eigene Sprache verfügen würden, die sie zu lernen versuchte. Das hielt niemand für möglich, aber Mutter hatte mir jedes Mal zugezwinkert, wenn Vater über ihre Bemühungen gelacht hatte. Seitdem hatte ich den Drachen immer aufmerksam gelauscht.

Ich verstand ihre Gefühle, wenn auch nicht den genauen Wortlaut. »Sie wissen, dass man ihnen den Nachwuchs abnehmen wird«, erklärte ich Dare, »aber sie freuen sich auf die Jagd. Hör doch nur mal, wie sich der Rhythmus ändert und die Komplexität … Sie reden miteinander. Mutter hat immer gesagt …«

»Du bist verrückt«, warf Darian ein. »Du kannst keine Drachensprache. Niemand kann das.«

Auch wenn inzwischen viele Jahre vergangen waren, fehlte unsere Mutter Darian immer noch sehr – das wusste ich genau. Aber ich erinnerte mich immer gern an die Gespräche, die sie mit leuchtendem Gesicht mit den Drachenküken geführt hatte. Es war eine Art Ausgleich für die andere Erinnerung: Es fiel leichter, daran zu denken als an ihre letzten Worte. »Vielleicht ja, vielleicht nein«, erwiderte ich.

Während die anderen männlichen Drachen gesattelt wurden, tänzelte Shuja mit halb ausgebreiteten Schwingen seitwärts. Die Helfer der umliegenden Höfe machten einen weiten Bogen um ihn, obwohl ihnen mit Vater im Sattel keinerlei Gefahr drohte. Shuja war unser prächtigster Drache, der sich durch den hohen Kamm, seinen wuchtigen Kiefer und die dunkle, schwarzviolette Haut deutlich von den anderen unterschied. Unter all unseren Vatertieren war er der Einzige, der jenseits des westlichen Gebirgszugs das Licht der Welt erblickt hatte. Vater und er waren während ihrer Zeit in der Drachenstaffel miteinander verbunden worden und hatten gemeinsam viele Schlachten überstanden. Shujas Schuppen und rauchschwarzer Unterbauch waren von Narben übersät. Er war eindeutig das Alphamännchen unter unseren Zuchtbullen, und seine goldenen Augen konnten … furchteinflößend sein. Bei Shuja nahm man sich besser keine Freiheiten heraus.

Tauman ließ den Sattel auf seinen Drachen Rannu, unseren zweitältesten Zuchtbullen herab – ein typisches Exemplar der Bergdrachen, mit hellbraunen und steingrauen Flecken, stämmigen Beinen und breiten Schwingen. Er war der erste Drache, der mit meinem älteren Bruder verbunden worden war. Und da Tauman eines Tages der neue Zuchtmeister sein würde, stellte Rannu die Zukunft unserer Drachenlinie dar. Obwohl er nicht zu den schönsten Drachen zählte, zeugte er regelmäßig viele Drachenküken, die zu starken und fügsamen Jungdrachen heranwuchsen. Da er im Gegensatz zu Shuja das Wort »Jagd« nicht hervorbringen konnte, nickte er nur voller Vorfreude auf den Ausritt und hätte Tauman fast mit seinem Kinn auf den Kopf geschlagen. Als Tauman zurücksprang, kicherte ich. Mein ältester Bruder bildete sich ein bisschen zu viel darauf ein, dass er der zukünftige Erbe und Zuchtmeister war.

Jhem, deren feuerrote Haare im Schein der Laternen hell leuchteten, kämpfte mit ihrem jungen Zuchtbullen Audax. Audax war zwar wild, aber eigentlich hätte es ihr nicht so schwerfallen dürfen, ihn unter Kontrolle zu bringen. Er gehörte zu einem Paar Felsgrauer, die Vater Jhem vor sechs Jahren zur Hochzeit geschenkt hatte – grauweiß gesprenkelte Drachen, mit einem Hauch Silber auf den Schuppenplatten am Hals und an den Beinen. Trotz Jhems Ermahnung bedrängte Audax jetzt Rannu und stieß gegen eine der Schwingen des älteren Drachen. Rannu knurrte warnend – Geh weg –, woraufhin der jüngere Zuchtbulle mit einem tiefen, verärgerten Grollen reagierte. Jhem, pass auf! Unwillkürlich ging ich einen Schritt vorwärts, aber Jhem zog Audax bereits an einem seiner Fächerohren zu sich hinunter und redete leise und eindringlich auf ihn ein, wie eine Mutter, die ein ungezogenes Kind auf dem Markt ermahnte.

Erleichtert atmete ich auf. Wir hatten noch nie einen Streit unter unseren Zuchtbullen erlebt, jedenfalls nicht, solange ich mich erinnern konnte. Jhem musste ihn dringend unter Kontrolle bringen.

Bockig setzte sich Audax auf die Hinterbeine, was Rannu ein paar Zentimeter mehr Bewegungsfreiheit gab, ohne dass Audax tatsächlich zur Seite rücken musste. Er erinnerte an einen großen, geflügelten, extrem gefährlichen Welpen.

Vater, der sein Geschirr an Shujas Sattel festgeschnallt hatte, drehte sich in unsere Richtung. Blitzschnell verdrückte sich Darian ins Bruthaus und verschwand außer Sicht.

»Maia! Was habe ich dir gerade aufgetragen?« Vaters Miene verfinsterte sich.

Ich brauchte keine weitere Belehrung über meine Pflichten. Hastig stürmte ich durch die Tür des Bruthauses, stolperte dabei aber über Darians Laterne, die er direkt hinter dem Türpfosten abgestellt hatte. Mit metallischem Klirren prallte die Laterne gegen die Wand. Ich schrie auf und machte einen Satz, um sie aufzufangen, bevor sie zerbrechen und brennendes Öl verschütten konnte.

Auf dem Hof stieß Audax ein überraschtes Knurren aus. Die Laterne brannte so heiß in meinen Händen, dass ich sie fallen ließ. Ihr Glas zersplitterte, und Flammen loderten auf dem Pflaster auf, während Fren gerade sein neues Pferd mit der Ladung Holzspäne an unseren Zuchtbullen vorbeiführte. Audax knurrte erneut und torkelte rückwärts. Vor Angst wiehernd, ging das Pferd durch. Der Karren prallte gegen Audax’ Schwanz, stürzte um und katapultierte Fren durch die Luft, so dass er auf Audax’ Schwanzspitze landete. Mit einem schmerzerfüllten Brüllen wirbelte Audax herum und wischte Fren beiseite, so wie ein Mensch eine lästige Fliege von seinem Gesicht wegwedelt. Der Schlag beförderte Fren quer über den Sattelplatz, wo er hart am Boden auftraf und liegen blieb wie ein Sack Knochen.

Das von Panik erfasste Pferd preschte über den überfüllten Hof und zog den umgestürzten Karren hinter sich her. Ich hörte Vater brüllen und spürte die Wucht von Shujas Flügelschlägen, während ich zum Fahrer des Karrens rannte. Fren! Mit einem mulmigen Gefühl im Magen sank ich neben ihm auf die Knie.

Fren drückte sich auf einen Ellenbogen hoch, presste den anderen Arm gegen seine Brust und starrte mit glasigem Blick auf die Pflastersteine vor ihm. Überall war Blut. Shuja hatte den Karren mit einer Tatze festgehalten, und Tauman versuchte, das durchgegangene Pferd zu beruhigen. Jhem hielt Audax an den Nüstern gepackt. Darian warf Jutesäcke auf das Feuer, um die Flammen zu ersticken.

Fren sah zu mir hoch. »Bitte tut meinem Pferd nichts!«, keuchte er und sackte nach vorn.

Vorsichtig legte ich ihn auf den Rücken, zog seine Hände zur Seite und öffnete sein zerfleddertes Hemd, wobei ich einen Übelkeitsanfall unterdrücken musste. Audax’ Krallen hatten eine klaffende Wunde geschlagen; sie reichte von Frens Schulter bis zur Hüfte. Blut quoll aus der Wunde, dickflüssig und warm, strömte über meine Hände und bildete eine Lache auf den Pflastersteinen. Avar! Ich riss mir die Jacke von den Schultern, rollte sie zusammen und presste sie mit aller Kraft auf die Wunde. Der Stoff färbte sich dunkel, und dann sickerte weiteres, rotes Blut darunter hervor. Der Blutfluss wollte einfach nicht aufhören. Ich drückte noch fester, worauf Fren stöhnte. Plötzlich war Jhem neben mir und presste mit mir zusammen. Fren verdrehte die Augen, bis das Weiße hervortrat. Lag er etwa im Sterben? Ich musste ein Schluchzen unterdrücken.

»Darian – hol eine Harke und fang an, das Durcheinander zu beseitigen.« Vater kniete sich neben mir auf den Boden. »Lass mich mal sehen.« Er schob meine Hände weg, zog die blutgetränkte Jacke von der Wunde und pfiff durch die Zähne. »Das wird eine beeindruckende Narbe hinterlassen.«

»Wird sich Fren wieder erholen?«

Vater sagte nichts, sondern half Fren, sich vorsichtig aufzusetzen, damit Jhem ihm meine Jacke – mit zwei Stoffstreifen von Frens blutigem Hemd – um den Körper binden konnte. Dann hob Vater ihn hoch wie ein kleines Kind, trug ihn zum Ausleger des Sattelkrans und pfiff Shuja heran. Tauman nutzte den Kran, um Vater und Fren auf Shujas Rücken zu hieven.

»Shuja und ich werden Fren zum Tempel bringen.« Vater redete mit Tauman, würdigte mich aber keines Blickes. »Kümmere dich darum, dass die Zuchtbullen einen weiten Ausflug machen. Lass sie ruhig lange fliegen. Ich stoße zu euch, sobald ich kann.«

Endlich heftete er seinen eisigen Blick auf mich. »Verflucht nochmal, Maia, kannst du dich nicht einmal auf deine Arbeit konzentrieren?« Er beugte sich vor, und Shuja erhob sich in die Lüfte. Mit einem einzigen Flügelschlag überwand er die Hofmauer und schwebte über das Tal, eine dunkle Silhouette am frühmorgendlichen Himmel.

Wie erstarrt stand ich da. Benommen. »Ich hab die Laterne doch nicht mit Absicht umgestoßen.«

Jhem legte einen Arm um meine Schultern. Ihr Gesicht war bleich, und sie kämpfte mit den Tränen. »Mach dir keine Sorgen. Ich stecke in viel größeren Schwierigkeiten als du.«

Auf dem Sattelplatz herrschte völlige Stille – alle Augen waren auf mich gerichtet.

Verflucht nochmal, Maia, kannst du dich nicht einmal auf deine Arbeit konzentrieren?

Das Ganze wirkte wie ein Omen, als würde meine Mutter sich im Grabe umdrehen.

Eine Drachenführerin mit dem Kopf in den Wolken …

2. Kapitel

Ich kämpfte gegen die Tränen an, während Darian und ich die Reste des Karrens beseitigten und die Holzspäne zu einem Haufen zusammenharkten. Tauman und Jhem waren totenstill, als sie das arme Pferd in den Stall brachten. Ich konnte meinem ältesten Bruder ansehen, dass er nur darauf wartete loszubrüllen, sobald er und Jhem allein waren. Audax’ Verhalten konnte ihm nicht gefallen haben, und Jhem würde von ihm ordentlich was zu hören bekommen. Seine Frau entstammte zwar keiner Drachenzüchterfamilie wie er, hatte aber von Anfang an eine natürliche Begabung gezeigt – sonst hätte Tauman sie erst gar nicht geheiratet. Aber allem Anschein nach schaffte sie es nicht, seinen Ansprüchen zu genügen, und dieser Vorfall würde die Situation nicht verbessern. Mein Bruder konnte zwar manchmal ein echter Mistkerl sein, aber Audax hätte tatsächlich nicht nach Fren schlagen dürfen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob Jhem mir leidtun oder ob ich sauer auf sie sein sollte, weil sie Audax nicht besser unter Kontrolle hatte.

Als die beiden mit ihren Drachen endlich zu ihrem Jagdausflug aufbrachen, ließ ich mich seufzend auf den Rand des steinernen Wassertrogs sinken. Auf dem Hof herrschte eine fast greifbare, vorwurfsvolle Stille. Ich konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. »Der arme Fren!«

Darian legte einen Arm um meine Schulter und ließ mich ein paar Minuten weinen. Irgendein Teil meines Hirns bemerkte das Blut auf meiner Hose und die Spritzer auf den Pflastersteinen, trotz mehrerer Eimer Wasser, mit denen wir den Hof zu reinigen versucht hatten.

»Ich hab die Lampe doch nicht mit Absicht umgestoßen. Ich hab sie nicht da stehen gesehen«, murmelte ich, verkniff mir aber den Nachsatz: … dort, wo du sie abgestellt hast. »Irgendwie gerate ich dauernd in Schwierigkeiten.«

»Vater wird nicht ewig sauer sein …«

»Das Ganze ist genau wie am letzten Tag mit Mutter. Immer bekomme ich …«

»Nicht, Maia.«

»… die Schuld an allem, was passiert.«

»Das war nicht … Du hast nicht …«

»Damals haben wir uns beide um das kranke Küken gekümmert, statt unsere Arbeit zu erledigen. Aber du hast dich rechtzeitig verdrückt, bevor Mutter um die Ecke bog. Und dann war ich wieder diejenige, die eine Standpauke erhalten hat.«

»Du warst noch sehr klein.« Darian rutschte unruhig hin und her. »Vielleicht erinnerst du dich nicht richtig dran.«

Stumm saßen wir beide da. Am liebsten hätte ich geknurrt: Damals war es auch deine Schuld. Aber ein Streit würde das Problem nicht lösen. Ich hätte Mutters Tod nicht ansprechen sollen. Doch die Erinnerungen drängten aus der tiefen, inneren Stille hervor, wo sie normalerweise schliefen: ihre letzten Worte, während sie mit finsterer Miene auf Grus gesessen hatte, und andere Geister der Vergangenheit, die besser in der Dunkelheit blieben. Vater erzählte gern von Mutters Mut und ihren Flugkünsten, als er sie während ihrer gemeinsamen Zeit in der Drachenstaffel kennengelernt hatte. Als das gurvaanische Kaiserreich das kleine Land Ebrolin annektiert hatte. Ich konnte kaum darauf hoffen, jemals aus ihrem Schatten herauszutreten.

Ärgerlich schob ich Darians Arm beiseite und wischte mir mit dem Ärmel über die Augen, um meine Tränen zu trocknen. »Wir müssen uns an die Arbeit machen.« Dann ging ich entschlossen zum Bruthaus, dicht gefolgt von Darian.

Das Podest war so lang und breit, dass es vier gigantischen Nestern nebeneinander Platz bot – achteckige und gut fünfzig Zentimeter hohe Holzkästen. Drei der Nester waren mit Stroh ausgelegt, für die schlafende Brut und ihre wachsamen Mütter. Der vierte Holzkasten war leer. In früheren Jahren hatte der Aery von Riat bis zu vier Zuchtelternpaare besessen, doch das war lange vor meiner Geburt gewesen. Vater hoffte darauf, das vierte Nest eines Tages wieder besetzen zu können. Ich versuchte, nicht zu lange in Richtung der leeren Kiste zu blicken.

Acht gewaltige Schiebetüren auf beiden Seiten der Nester konnten bei Bedarf beiseitegerollt werden, um das Bruthaus zum Sattelplatz zu öffnen, auch zur Felswand über dem Dorf tief unter uns oder zu beiden Seiten. Die Türen zum Hof wurden nur selten geöffnet, solange sich Küken in den Nestern befanden. Aber Drachen lieben die Höhe; deshalb standen die Felswandtüren des Bruthauses fast jeden Tag weit offen, um bei den Küken diesen Instinkt von Anfang an zu fördern.

Jetzt entriegelte ich die erste der Felswandtüren, und Darian gesellte sich zu mir. Gemeinsam schoben wir sie auf, damit die Sonne die Drachenjungen wärmen konnte.

Eine blutrote Morgendämmerung breitete sich am Horizont aus. Lange Schatten streiften die Höfe auf der Ebene im Osten. Tief unter uns lag Riat in wabernden Nebelschwaden. Die Felswände auf beiden Seiten des Dorfs dampften im Schein der Morgensonne, während der Roaring von den Höhen im Norden herabstürzte und einen Dunstschleier über das Tal verteilte. Greifvögel kreisten im warmen Licht über uns und durchbrachen die Stille mit ihren Rufen: Keirr … Keirr. Eigentlich hätte es der Anbruch eines wunderschönen Tages sein sollen.

Wir wandten uns dem Aery zu, wo sich die Küken im ersten Licht der Sonne regten. Darian hockte sich vor eines der Nester. »Sieh ihn dir an, Maia. Er ist der Größte. Eines Tages wird er zu einem prächtigen Drachen heranwachsen.« Seit Wochen hatte Darian diese Worte mindestens einmal täglich geäußert, aber heute wirkte sein Gesicht ernster als je zuvor.

Der junge Drache überragte die anderen deutlich. Seine dunklen Schuppen glänzten in der Sonne, während er einem seiner Geschwister am Fächerohr zupfte. Sein Kamm – die Kombination aus Dornfortsätzen und Lederhaut direkt hinter seinem Kopf – versprach, eines Tages genauso eindrucksvoll zu werden wie der Hornkamm seines Vaters Shuja. Grus, die Drachenmutter, streckte ihre kupferroten, ledrigen Schwingen aus und genoss den seltenen Moment der Ruhe: Es kam nicht oft vor, dass sich im Aery einmal nicht sechs erwachsene Drachen drängten. Als Darian eine Hand ausstreckte, schnurrte sie warnend.

»Nicht, Darian. Wir wissen doch nicht, ob wir ein paar der Küken behalten dürfen.« Jungdrachen gingen sehr schnell Bindungen ein, die ein Leben lang hielten, deshalb musste jeder Kontakt mit ihnen kurz und unpersönlich bleiben. Dies war eine der Grundregeln der Drachenkunde und vermutlich der schwierigste Aspekt bei der Aufzucht von Drachenküken: Man durfte sie nicht öfter berühren als absolut notwendig.

Darian wusste das nur zu gut. »Ich will ihn ja gar nicht streicheln«, fauchte er. Dann schob er seine Hände unter die Achseln und reckte den Hals ein klein wenig weiter in Richtung des Drachenjungen. »Ich will ihn mir nur ansehen. Er ist einfach umwerfend.«

»Du versaust ihn für die Drachenstaffel, wenn du …«

»Ich weiß! Ich weiß. Hör auf, rumzunörgeln.«

Ich warf der Rückseite seines Kopfes einen finsteren Blick zu.

Dabei konnte ich Darians Wunsch vollkommen nachvollziehen. Im nächsten Nest – das zu Taumans Drachenpaar Rannu und Athys gehörte – befand sich ein braunes, weibliches Drachenküken mit ockerfarbenen Flecken, das jedes Mal den Kopf zu recken schien, wenn ich in die Nähe kam. Während sich ihre Geschwister im Nest balgten, saß sie aufrecht in einer Ecke und studierte mich aufmerksam mit ihren bernsteingelben Augen. Ich sehnte mich danach, ihre weiche, trockene Haut zu berühren. Auch ihre Mutter Athys beobachtete mich mit ihren unergründlichen, braunen Augen, die tief unter den felsgrauen Brauen lagen.

Ich durfte ihr Junges zwar nicht streicheln, starrte aber wie gebannt in diese intelligenten, kleinen Augen – ich konnte einfach nichts dagegen tun.

»›Die besten Drachenjungen im Nest steigern den Wert aller anderen‹«, zitierte Darian unseren Vater. Ich spürte, dass er den Blick auf mich gerichtet hatte, und drehte mich um. Sein Gesicht war zu einer finsteren Miene verzogen. Ich wusste, was er tatsächlich damit meinte: Wir dürfen uns keine allzu großen Hoffnungen machen. Die Drachenstaffel würde die besten Jungtiere für sich beanspruchen.

»Ich wünschte, ich hätte die Laterne gesehen …«

»Ich weiß. Es tut mir leid, Maia. Es tut mir leid, dass Vater dich angebrüllt hat. Ich werde nicht zulassen, dass du allein die Schuld trägst. Versprochen.«

Für Darian war es eine große Sache, dass er eine Mitschuld an irgendetwas einräumte. In dieser Hinsicht war er genau wie Vater. Meine Wut auf ihn verebbte. »Genau genommen hat Audax das Ganze angefangen. Er regt sich viel zu schnell auf.«

»Der jüngste Zuchtbulle in unserem Aery – er glaubt, er müsste sich gegenüber den anderen beweisen. Es wird höchste Zeit, dass ihn jemand in seine Schranken weist.«

»Jhem kriegt dazu bestimmt gerade ordentlich was zu hören, da wette ich drauf. Bei den Erhabenen! Aber ich hoffe, dass es Fren bald wieder bessergeht.«

»Na ja, das Ganze war eine ziemliche Katastrophe, selbst wenn Fren überlebt. Jhem hat die Standpauke vermutlich verdient.«

»Sie gibt sich wirklich Mühe. Aber Audax ist noch immer sehr jung.«

Danach wechselten wir beide eine ganze Weile kein Wort.

»Nörgeltante«, sagte Darian.

»Skrakk«, erwiderte ich.

Er grinste. »Komm schon, Maia. Zurück an die Arbeit.«

Wir erledigten unsere Aufgaben schnell und gründlich und achteten darauf, dass wir nichts übersahen. Nachdem die Drachenküken ihr Frühstück aus Melonenrinden, Maiskolben und Fisch verputzt hatten, krabbelten sie aus ihren Nestern, um auf dem Podest zu spielen. Die Drachenmütter Grus, Athys und Coluver überwachten die ausgelassenen Jungtiere, während Darian und ich das verdreckte Stroh aus den Nestern entfernten. Dann schleppten wir eimerweise Wasser heran, um das Podest und die Küken gleichzeitig zu waschen. Das war eine neue und aufregende Erfahrung für die Jungtiere: Sie planschten und tollten herum, begleitet von glücklichem Quietschen und schelmischem Grollen. Mit ihren Kapriolen reinigten sie sich praktisch gegenseitig. Darian und ich brauchten lediglich hier und dort etwas Dreck mit einem Besen zu beseitigen und dann das Wasser über die Kante zu fegen.

Ihr Spiel heiterte mich auf, ich konnte gar nichts dagegen tun. Allmählich fühlte ich mich wieder etwas besser, doch dann musste ich erneut an den verwundeten Fren denken, an sein verspritztes Blut, und mein Magen krampfte sich zusammen. Unter meinen Fingernägeln klebte noch immer sein Blut.

Ein paar Stunden später fütterten wir die Jungtiere erneut – eine extragroße Portion Dörrfleisch und Räucherleber. Diese Mahlzeit würde ihre Bäuche füllen und sie schläfrig machen, dabei aber nur wenig Schmutz verursachen. Danach begann dann die richtige Arbeit. Mit großen Schubkarren schleppten wir ganze Wagenladungen Holzspäne heran, um die Nestkästen aufzufüllen. Dabei sprangen die neugierigen Küken ständig um unsere Karren herum, was uns aber nicht störte. In diesem Alter waren ihre trockenen, glänzenden Schuppen erstaunlich weich – wir waren oft versucht, sie hier und dort heimlich zu streicheln, während wir sie von unseren Karren fernhielten. Das kleine, braun-ocker gefleckte Drachenküken unterzog meinen Karren einer besonders gründlichen Prüfung, als würde sie mein Interesse spüren und gutheißen.

Endlich waren wir fertig, und die Muttertiere beförderten ihre Küken sanft in die Nester zurück. Während wir die Geschirre überprüften und fetteten, beobachteten wir die Drachenjungen, die mit ihren Geschwistern rangelten. Zum Schluss fegten wir das Bruthaus, und das beruhigende Geräusch unserer Besen auf den Steinplatten wiegte die Küken langsam in den Schlaf. Dabei verliehen wir unseren Bewegungen einen Rhythmus, denn Drachen lieben Musik. Und die Drachenmütter schnurrten dazu leise und besänftigend.

Schon bald rollten sich die Küken zusammen – kleine Bündel aus glänzender Lederhaut, mit winzigen Schnauzen, die unter die angelegten Schwingen geschoben waren. Nach dem Austausch des Nistmaterials erfüllte ihr natürlicher, sauberer, pudriger Duft die Luft. Ich hielt nach dem kleinen Drachenküken in Rannus und Athys’ Nest Ausschau. Ihr Rücken hob und senkte sich unter dem Flügel ihrer Mutter. Vorsichtig ging ich in die Hocke, um sie besser betrachten zu können.

Darian klopfte mir auf die Schulter. »Ich habe gerade gesehen, wie Vater auf Shuja nach Norden geflogen ist, um sich Tauman und Jhem anzuschließen. Das ist hoffentlich ein gutes Zeichen dafür, dass es Fren bessergeht. Die drei werden so schnell nicht zurückkehren, und die Nestlinge schlafen alle tief und fest. Unsere Arbeit hier ist erledigt. Auch die Aushilfen von den Höfen sind inzwischen alle gegangen …«

Als er verstummte, sah ich hoch. Seine Miene wirkte wieder verschlossen. Darian schien irgendetwas sagen zu wollen, doch dann verzogen sich seine Lippen zu einem matten Lächeln. »Komm, wir überprüfen die Fallen.«

Ich schwankte. Natürlich zählte das Überprüfen der Fallen zu unseren regelmäßigen Pflichten – wenn auch vielleicht nicht so kurz vor dem Nesttag –, und an diesem Nachmittag würde sich der Ausflug wahrscheinlich als Wohltat für unsere wunden Seelen erweisen. Aber irgendwie kam es mir nicht richtig vor. »Dare, ich glaube nicht, dass wir …«

»Doch, das sollten wir.« Darians Miene war todernst.

Bevor ich antworten konnte, marschierte er zum Sattelplatz, überquerte die Brücke zu unserem Gehöft oberhalb des Felsvorsprungs und lief dann an den Winterstallungen vorbei zu den Bäumen, um so schnell wie möglich die dunkle Stille des Waldes zu erreichen.

Resigniert folgte ich ihm.

3. Kapitel

Darian hatte einen ordentlichen Vorsprung, aber ich wusste, wohin er wollte. Außerdem konnte ich ihn durch das Unterholz brechen hören. Irgendwann gab ich den Versuch auf, ihn einholen zu wollen, und folgte ihm in meinem eigenen Tempo. Der Tag war hell und warm, aber die grünen Schatten und der intensive, feuchte Geruch von Erde und Blättern wirkten kühl und frisch. Dichtes Gestrüpp peitschte gegen meine Beine.

Normalerweise hätten wir uns beim Überprüfen der Fallen Zeit gelassen. Überall wuchsen reife Wildbeeren, in den Schatten lockten prächtige Pilze, und es gab noch andere Schätze zu bergen: Pfeil- und Speerspitzen oder verrostete Teile antiker Maschinen. Aber Darian steuerte direkt auf unsere ertragreichste Falle zu, die sich in der Nähe der Ruinen befand.

Ich musste ständig an Fren und an Vaters Wutausbruch denken. Der ganze Tag war irgendwie falsch – eine verwirrende Mischung aus Sonne und Wärme, Schrecken und Schuld, Freude und Kummer. Stirnrunzelnd schloss ich schließlich zu Darian auf.

Die zerfallenen Mauern und Säulen einer antiken Tempelanlage lockerten den Baumbestand auf. Dadurch fiel mehr Licht auf den Waldboden, wo üppige Pflanzen mit weichen Blättern gediehen und ein kleiner Bach Schmelzwasser von den höheren Gipfeln heranführte. Dieser lockte mit schöner Regelmäßigkeit grasfressende Tiere in unsere Falle: Ein kleiner Hirsch war von dem Speer aufgespießt und in die Höhe gehoben worden, außerhalb der Reichweite auf dem Boden jagender Raubtiere. Darian holte unseren Fang herunter, aktivierte die Falle erneut und machte sich daran, den kleinen Hirsch auszunehmen.

Ich pflückte ein paar Beeren von einem der umliegenden Sträucher; ich wollte heute nicht noch mehr Blut sehen. Anschließend setzte ich mich auf einen Marmorblock, mit einem Haufen Beeren im Schoß. Die Ruinen zogen mich oft in ihren Bann, wenn Darian mit anderen Aufgaben beschäftigt war oder meine Pflichten mir einmal eine Stunde Zeit ließen. Während meiner Kindheit hatte Mutter mich hin und wieder auf Grus gesetzt und war mit mir hierhergeflogen. Jetzt spürte ich einen eisigen Schauder, als wäre ihr Geist hier und hätte mich gestreift. Entschlossen unterdrückte ich meine Erinnerungen und ließ mich von den umgestürzten Blöcken und Säulen in den Bann ziehen.

Wir kannten die Geschichte dieser Ruinen nicht genau. Der Dhalla – Mabir, unser örtlicher Tempelpriester – redete oft von dieser Stätte, aber wir verstanden nicht mal die Hälfte von dem, was er sagte. In seinen Erzählungen tauchte immer wieder ein Name auf: Cinvat. Eine antike Stadt, tief vergraben im Wald jenseits der Gebirgskette, der dieser Tempel einst gedient hatte. Natürlich wussten wir, dass die Geschichten wichtig waren und dass sich jemand vor langer Zeit große Mühe mit der Errichtung dieses uralten Schreins gegeben hatte. Es machte mir Spaß, die bröckelnden Mauer- und Säulenreste zu studieren, mit den ausgewaschenen Gravuren und Bildern, die eine längst vergessene Geschichte erahnen ließen. Eine Statue aus zwei unterschiedlichen Gesteinsarten beherrschte die Mitte des Areals. Sie zeigte zwei Drachen, die in einen tödlichen Kampf verwickelt waren – ein aus schwarzem Gestein gemeißelter Drachen am Boden und darüber ein aus weißem Marmor gefertigter. Aber keines dieser beiden Abbilder besaß Ähnlichkeit mit unseren Drachen.

»Ich frage mich, wer sie angefertigt hat.« Ich wischte mir etwas Beerensaft vom Kinn.

»Na ja, du weißt schon … irgendwelche alten, toten Leute«, erwiderte Darian.

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu.

Wir wussten, dass es sich bei den Drachen um Avar handelte – zumindest hatte der Dhalla das gesagt. Drachenhoheiten, genau wie der sagenumwobene Korruzon unseres Kaisers. Der Weiße Drache war Menog, und der Schwarze Drache hieß Dahak – daran erinnerte ich mich. Und ihr Zweikampf bildete den grandiosen Höhepunkt einer uralten Legende. Hier hatte einst ein verheerender Krieg getobt, aber irgendwie konnte ich mir die Einzelheiten einfach nicht merken.

»Hat es sie wirklich gegeben?«

»Na klar.« Darian säbelte mit seinem Messer an dem Hirsch herum.

Nie zuvor hatte ich mir die Frage gestellt, ob der Kampf der beiden Drachen tatsächlich jemals stattgefunden hatte; die Ruinen hatten immer nur unsere Phantasie angestachelt. An vielen Sommernachmittagen hatten wir hier ganze Armeen von Monstern auflaufen lassen, die es zu besiegen galt, bevor wir die Klippen oberhalb des Kupfer-Meers erkletterten und die kreisenden Meeresvögel beobachteten, die sich vor unseren Augen in attackierende Drachenstaffeln verwandelten. Diese Geschichten kannten wir sehr viel besser, denn es waren unsere eigenen Geschichten – im Gegensatz zu den Geschichten des Dhalla. Wir waren die Helden, und der Sieg gehörte uns.

»Glaubst du, unsere Geschichten waren so was wie …«, stirnrunzelnd überlegte ich, wie ich die Frage formulieren sollte, »… die Geister dieser Leute? Vielleicht wollten sie uns ihre Geschichte erzählen?«

Darian sah hoch und musterte mich mit hochgezogener Augenbraue. »Das klingt … total wirr, Maia. Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«

Ich ging nicht darauf ein. Ehrlich gesagt wusste ich selbst nicht so genau, was ich damit gemeint hatte.

Mein Bruder beendete seine Aufgabe und warf die Eingeweide des Hirschs in die Sträucher, als Beute für kleinere Raubtiere. Dann trug er den Rumpf in den Schatten und wusch sich die Hände im Bach.

Der Nachmittag legte sich wie eine warme Decke um mich. Vielleicht hatte Darian ja recht gehabt, mich hierherzuschleppen. Wenn er wollte, konnte er ein guter Freund sein. Allmählich fühlte ich mich besser.

Aber ich wusste, dass wir schon zu viel Zeit hier im Wald verbracht hatten. »Wir sollten uns auf den Rückweg machen, Dare.«

»Es gibt da etwas, das ich dir erzählen muss, Maia.« Wieder sah ich diesen zwiespältigen Ausdruck in seinem Gesicht.

Mir stockte der Atem. »Was denn?«

Darian runzelte die Stirn und schaufelte mit den Schuhen etwas Erde über den blutigen Boden vor seinen Füßen. »Du wirst dieses Jahr kein Drachenküken bekommen.«

O nein … »Das war unser bisher größtes Gelege, mit besonders vielen …«

»Hör mir zu.«

Darian war offensichtlich unbehaglich zumute, schaffte es aber schließlich, mir doch wieder in die Augen zu sehen. »Ich habe letzte Woche ein Gespräch zwischen Vater und Tauman aufgeschnappt, nachdem der Kurier abgereist war. Irgendetwas geht in der Drachenstaffel vor … eine neue Expedition oder Verteidigungsstrategie. Das Ministerium kassiert jedes Drachenküken, das es bekommen kann. Ich weiß zwar nicht, was passiert ist, aber Vater meinte, dass das Ganze übel klingen würde, als ob der Kaiser sich Sorgen machte. Und dass wir dieses und nächstes Jahr möglicherweise keine Drachenjungen für uns behalten dürfen.«

»Und nächstes Jahr?« Mir sank der Mut.

»Was bedeutet, dass auch ich kein Küken bekommen werde, Maia. Wenn wir nicht zwei behalten dürfen, können wir überhaupt keins großziehen. Ein Brutpaar muss schon früh eine Bindung eingehen, stimmt’s? Das Ministerium hat sämtliche Drachenjungen eingefordert. Normalerweise hätten wir ein zweites Küken von einem der anderen Aerys kaufen können. Vielleicht von Cuuloda. Aber das Ministerium hat kein einziges zurückgelassen.«

»Bist du dir sicher?« Ich kämpfte gegen einen Wutanfall an.

»Tut mir leid, Zickelchen.« Das war der Spitzname, den Darian mir immer dann verpasste, wenn er sowohl den älteren Bruder spielen musste als auch ein guter Freund sein wollte. »Tauman hat versucht, Vater umzustimmen. Aber ihm bleibt eigentlich keine Wahl. Also mach dich darauf gefasst, dass wir keine Küken behalten dürfen.« Darian setzte sich neben mich und legte mir den Arm um die Schultern. Ich schüttelte ihn ab. Resigniert ließ er die Hände in den Schoß sinken. Die Stille schien mich zu verschlucken.

Vater war gewissen Zwängen ausgesetzt, aber das hier ergab für mich überhaupt keinen Sinn. Brauchte das Ministerium wirklich so viele Küken, dass wir nicht mal zwei behalten konnten? Würde ein weiteres Brutpaar nicht in der Zukunft noch mehr Drachenjungen für das Ministerium hervorbringen?

Kein Drachenjunges. Das kleine, braun-ocker gefleckte Drachenküken würde nicht mein Küken werden, obwohl wir beide wussten, dass das richtig gewesen wäre … dass wir füreinander bestimmt waren.

Kein Drachenjunges. Ich vergrub den Kopf in den Armen und blieb eine ganze Weile so hocken. Darian schwieg ebenfalls, wich aber nicht von meiner Seite. Schließlich legte er erneut einen Arm um meine Schultern. Dieses Mal schüttelte ich ihn nicht ab. Die Ereignisse des Morgens kamen einem jetzt wie ein Auftakt vor – wie ein sicheres Zeichen dafür, dass alles nur noch schlimmer kommen würde.

Wieder musste ich an meine Mutter denken. »Dare … Glaubst du an Flüche und Verwünschungen?«

»Nein. Warum fragst du?«

Ich hob den Kopf und schluckte. »Hältst du es für möglich, dass im Zorn gesprochene Worte und …« – meine Stimme stockte – »… böse Taten einen Fluch erzeugen können, wenn auch unbeabsichtigt?«

»Du bist nicht verflucht, Maia, falls du so was glaubst. Schlimme Dinge passieren manchmal einfach.« Er drückte mich etwas fester. »Du musst lernen, dir selbst zu vertrauen.«

Die Welt um uns herum schien meinen Kummer auf unheimliche Weise wahrzunehmen. Totenstille legte sich über den Wald. Die Luft war vollkommen reglos. Nicht ein Vogel oder Insekt rührte sich.

»Hör mal, wie still es geworden ist.« Die Stille erschien mir plötzlich völlig unnatürlich, und auch Darian erstarrte.

Ein sanfter Luftzug – Wuusch – raschelte durch die Blätter über uns, und ein Schatten verdunkelte die Sonne. Unsere Köpfe fuhren ruckartig hoch, und die Silhouette eines riesigen Drachen streifte die Baumkronen. Während wir mit offenen Mündern zusahen, kreiste das gewaltige Wesen ein-, zweimal, mit Schwingen so groß wie Schiffssegel. Dann ließ es sich auf den Ruinen auf der Hügelkuppe über uns nieder.

Es handelte sich um das größte Lebewesen, das ich je gesehen hatte. Seine Schuppen erinnerten an die Schattierungen eines Sonnenuntergangs vor einem bronzefarbenen Meereshorizont, mit einem Hauch Grün an den Rändern der Flügel und am Kamm. Dazu besaß er zwei Hörner, kräftig und gedreht wie Baumstämme, und Muskeln, die sich bei jeder Bewegung deutlich abzeichneten. Die Brise trug seinen Geruch zu uns heran: eine intensive Mischung aus Erde und Gestein, Pflanzensäften und Gewürzen, Regen und Gewitter. Im nächsten Moment reckte er sich und schüttelte seinen mächtigen Kopf, so dass sich sein Nackenkamm wie eine Flagge aufstellte. Dann sah er sich gemächlich um, scheinbar blind gegenüber unserer Anwesenheit wenige Meter unterhalb der Kuppe. Eine seltsame Spannung lag in der Luft, wie vor einem Gewitter.

Ich nahm Darians Hand auf meinem Arm erst wahr, als er mich zum zweiten Mal rüttelte. »Das ist eine Drachenhoheit!«, flüsterte er. »Vielleicht sogar Getig, der Sommerdrache!«

Ich war zu sprachlos für eine Antwort.

»Weißt du, was das bedeutet?«, fragte Darian, aber ich hörte gar nicht mehr zu. Ich stand auf und stapfte den Hügel hinauf, von der Pracht dieses Wesens unwiderstehlich angezogen. Als ich versehentlich einen Stein mit dem Fuß berührte und ins Rollen brachte, drehte sich der riesige Kopf in unsere Richtung. Der Blick des Drachen kreuzte sich kurz mit meinem, und ein Schauder jagte über meinen Rücken und ließ mich wie versteinert innehalten.

Seine Augen wirkten wie geschmolzene Kupferscheiben, die Pupillen waren gegen das starke Sonnenlicht nur noch Schlitze. Er taxierte mich, und ich nahm eine tiefe Bedeutung in seinem Blick wahr – ein Gefühl trauriger Dringlichkeit, das ich nicht erklären konnte. Die Zeit blieb stehen, während ich versuchte, diesen seltsam intimen Blick zu deuten. Mein Herz setzte aus, mir stockte der Atem. Schließlich senkte er den prächtigen Kopf leicht, wie zum Zeichen der Anerkennung, und dann erhob er sich mit laut krachenden Lederhäuten und einem gewaltigen Luftstoß in die Höhe. Sekunden später verschwand er hinter der Hügelkuppe.

Ich versuchte, ihm zu folgen, aber Darian zog mich am Hemd zurück. »Weißt du, was das bedeutet? Das ist ein Zeichen! Der Sommerdrache! Das ist ein Zeichen für große Veränderungen!« Darian nahm mein Gesicht in seine Hände und zwang mich, ihn direkt anzusehen. »Ich werde meinen Drachen bekommen!« Er lachte. »Komm schon!«

Dann stürmte er den Hügel hinunter, in Richtung Aery. Ich sah noch einmal zur Kuppe hinauf und versuchte, mir den Drachen ins Gedächtnis zu rufen. Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf die Statue von Menog und Dahak. In diesem Moment wurde mir klar, dass der Bildhauer den Avar gesehen hatte. Er hatte gewusst, wie die Drachenhoheiten aussahen. Früher hatte ich immer angenommen, dass die Skulptur übertrieben wäre, doch jetzt erkannte ich, dass es sich um ein treffendes Porträt handelte. Die Wölbung ihrer Hälse, die breiten Brustkörbe, die Muskulatur der Schwingen – alles war einfach perfekt wiedergegeben.

Schließlich erhob sich der Wind erneut und wirbelte ein paar Blätter um meine Knöchel. Die Insekten in den Bäumen regten sich wieder. In der Nähe trillerte leise ein Vogel. Darians Schuhe krachten durch den Wald weiter unten, und ein langgezogenes, glückliches Whoohoo! hallte durch das Tal.

Die jetzt leere Kuppe zog mich immer noch magisch an. Ehe ich mich’s versah, kletterte ich bereits die Anhöhe hinauf. Ich kraxelte über flechtenbedeckte Felsblöcke und Baumstämme, sprang über einen kleinen Bach, kämpfte mich durch Farne und Gestrüpp und fand schließlich den Pfad, der zur Kuppe hinaufführte. Schon bald tauchte ich aus dem Wald hervor, genau an der Stelle, wo der Drache gestanden hatte, als sich unsere Blicke gekreuzt hatten. Sein Geruch hing noch immer zwischen den Ruinen – ein sommerlicher Duft nach Obstgärten, Gras und Erde. Doch ansonsten deutete nichts darauf hin, dass er hier gewesen war. Ich sprang auf den höchsten Felsvorsprung, schlang die Arme um den Stumpf einer Säule und sondierte die umliegende Landschaft.

Bis auf ein paar Wolkenfetzen war der Himmel wie leergefegt. Felsen schimmerten auf der anderen Seite des Tals. Einen Moment lang rechnete ich damit, den Drachen dort zu sehen. Wir wussten, dass Wilddrachen manchmal zwischen diesen steilen Felsspitzen nisteten, da sie von dort aus alles beobachten konnten, was sich im Wald unter ihnen bewegte. Gelegentlich hatten Mutter, Darian und ich hier gepicknickt und sie dabei beobachtet, wie sie in den weit entfernten Luftströmungen ihre Kreise zogen.

Aber dieser Drache war kein Wildling gewesen, und ich konnte auch dort drüben keinen einzigen Wilddrachen erkennen.

»Wohin bist du verschwunden?« Ich konnte seinen Geruch noch immer wahrnehmen. Oder war ich mir der Düfte des Sommers einfach nur deutlicher bewusst? Der Gesang der Vögel drang klar durch die Luft, melodische Noten über dem Rauschen und Murmeln des Windes. Die Bäume tanzten in sanften Wogen. Ich konnte die gesamte Masse der Welt unter mir und um mich herum spüren, ihre Neigung in Richtung Nacht, den Sog des Universums an meinen Gliedern. Ich schloss die Augen; es fühlte sich an, als würde ich gleichzeitig fliegen und fallen.

Erzeugte er diese Gefühle in mir? War das Getigs Werk? Nur wenige Minuten zuvor wäre ich fast in Tränen ausgebrochen, doch jetzt musste ich einfach lächeln, während ich auf das Tal hinabblickte. Es erschien mir mehr als zuvor, verwandelt auf irgendeine undefinierbare Weise. Grüner. Lebendiger.

Plötzlich bemerkte ich etwas Weißes in den Bäumen unter mir, das die Sonnenstrahlen zurückwarf. Meine erhöhte Aufmerksamkeit lenkte meinen Blick magisch in diese Richtung. Das Ganze wirkte so deplatziert – ein leuchtender Punkt im tiefen Schatten. Neugierig geworden, schätzte ich die ungefähre Entfernung ab, kletterte vom Felsvorsprung und schlitterte den Geröllhang hinunter.

Die riesigen Bäume ließen die Exemplare auf unserer Seite des Hügels regelrecht klein erscheinen, und das Unterholz war hier wesentlich üppiger und dichter. Ich bahnte mir einen Weg durch das dornige Gestrüpp, bis ich in den offeneren, schattigen Bereich unter den Baumkronen kam. Hier war die Luft kühler und von intensivem Humusgeruch erfüllt. Die astlosen, kerzengeraden Stämme erinnerten an Säulen in einem Tempel. Sonnenstrahlen, zu schmalen Bändern aus hellgrünem Licht gefiltert, tanzten hin und her, und das Moos hatte die Felsbrocken und Holzstämme auf dem Waldboden in eine seltsam glatte Landschaft mit unwirklichen Formen und Konturen verwandelt. In der Nähe quakten ein paar Frösche, doch ihr Laut klang unheimlich, da das Moos jedes Geräusch dämpfte.

Ich orientierte mich kurz und lief dann in die grünen, stillen Tiefen des Waldes. Das Gelände stieg leicht an, und schon bald sah ich erneut, wie das Licht der Sonne von etwas Weißem vor mir reflektiert wurde. Eine zerborstene Gesteinsplatte, die wie ein Altar wirkte, lag auf einer kleinen Lichtung, auf der helle Sonnenstrahlen tanzten. Das Moos war hier lichthungrigen Jungbäumen, Farnen und der einen oder anderen Wildblume gewichen. Und in der Mitte des »Altars« lag der Kadaver eines Drachen.

Vermutlich war er noch nicht lange tot, aber Aasfresser hatten bereits große Teile des Muskelfleischs vertilgt. Das Weiße, das ich von der Kuppe aus gesehen hatte, war der Schädel, der mich nackt angrinste, mit nur noch wenigen Hautfetzen an den Wangen und der Stirn. Seine verbliebenen Schuppen schimmerten in einem staubigen Steingrau, mit bronzefarbenen Einsprengseln – eine relativ weit verbreitete Farbgebung bei den hiesigen Bergdrachen. Sein Nacken war nach hinten gebogen, verrenkt im Todeskampf, und er hatte die Schwingen angezogen wie zerknitterte Zeltbahnen. Vom ausgehöhlten Torso war nur noch das Gerippe übrig, das vor Ameisen und Fliegen wimmelte. Auf einmal schlug mir der Verwesungsgestank entgegen, und ich lief hastig auf die dem Wind zugewandte Seite – was allerdings auch nicht viel nutzte. Trotzdem hielt mich eine seltsame Mischung aus Faszination und Ekel in ihrem Bann.

Der Drache konnte nicht sehr alt gewesen sein – vielleicht zwei oder drei Jahre, der Größe des Nackenkamms und der anderen Überreste nach zu urteilen. Ich konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Männchen oder ein Weibchen gehandelt hatte, aber wenn der Drache uns gehört hätte, hätte er das Satteltraining längst hinter sich gehabt. Vielleicht war er ja sogar bereits geschlechtsreif gewesen und hatte Nachwuchs großgezogen, sofern er einen Paarungspartner gefunden hatte. Er oder sie war vermutlich nicht so gesund gewesen wie unsere gutgenährten Zuchtdrachen, aber nichtsdestoweniger zäh und clever. Auch wenn eine schwere Verletzung letztendlich zum Tod führen konnte, besaßen Drachen außer anderen Drachen und Menschen keine natürlichen Feinde. Alle zwei bis drei Jahre entwickelte sich ein Wildling zu einer Plage, so dass Vater und Tauman gezwungen waren, ihn zu erlegen. Aber die Tierhäute und das Fleisch sowie die Knochen und Sehnen wurden alle sorgfältig weiterverwertet. Ein solcher Wilddrache wurde niemals einfach im Wald zurückgelassen, um dort zu verrotten.

Eine brutale Drahtschlinge hatte sich tief in die Knochen seines linken Hinterbeins gefressen. Allem Anschein nach hatte jemand versucht, das Tier einzufangen, aber nicht zu töten. Doch vermutlich hatte es sich losgerissen, dann hierhergeschleppt und war verblutet.

Wilderer. Vater würde auf jeden Fall davon erfahren wollen.

Ich ging in die Hocke und starrte in die leeren Augenhöhlen. »Du Ärmster«, sagte ich. »Ich wünschte, ich hätte dich lebendig sehen können. Vielleicht habe ich das ja sogar … vielleicht haben Darian und ich dich ja mal vom Hügel aus beobachtet.«

Das Ganze war fast zu viel: Frens schwere Verletzung, Darians Neuigkeiten, der Sommerdrache. Und jetzt das hier. Würden die bösen Omen und Neuigkeiten heute denn nie enden? Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Aber dann drangen Darians Worte endlich zu mir durch: Ich werde meinen Drachen bekommen. Warum nahm er das an?

Der Sommerdrache war ein Zeichen für große Veränderungen, das hatte Darian zumindest gesagt. Aber da wir den Sommerdrachen gemeinsam gesehen hatten, würden diese großen Veränderungen vielleicht uns beide betreffen.

Ich werde meinen Drachen bekommen. Vielleicht würde ich ja ebenfalls einen Drachen bekommen.

Hastig sprang ich auf und rannte wieder in den Wald, bis ich das dichte Gestrüpp erreichte und die Anhöhe hinaufkraxelte. Als ich endlich die Kuppe erreichte, war ich völlig zerkratzt. Eilig kletterte ich auf die Ruinen, um noch einen letzten Blick über die Landschaft zu werfen. Und da war er!

Getig, der Sommerdrache, thronte auf der anderen Seite des Tals auf einer hohen Felsspitze, mit gespreizten Schwingen, um sie von der Sonne wärmen oder vielleicht von der Brise kühlen zu lassen. Dann drückte er sich ab, schlug die riesigen Schwingen kräftig nach unten, fing einen Aufwind ein, schlug ein weiteres Mal mit den Flügeln, drehte ab und verschwand hinter einer Reihe von Felsen. Ich hielt noch ein paar Minuten nach ihm Ausschau, aber er tauchte nicht wieder auf. Trotz der Hitze zitterte ich am ganzen Körper.

Und obwohl sich meine Beine anfühlten, als würden sie jeden Moment unter mir wegknicken, rannte ich so schnell ich konnte nach Hause.

4. Kapitel

Die Anlage lag verlassen da; die Hilfskräfte waren ins Dorf zurückgekehrt. Lange Schatten krochen über den Sattelplatz, während die Sonne langsam hinter den Berggipfeln im Westen verschwand. Es war spät geworden – und ich würde erneut Ärger bekommen. Wo steckten bloß alle? Eigentlich sollte auf dem Gelände noch geschäftiges Treiben herrschen, auch wenn die Jungtiere für ihre letzte Nacht im Aery in ihre Nester gekrochen waren. Irgendetwas an dieser Stille bereitete mir eine Gänsehaut.

Unter den gewaltigen Rolltoren des Bruthauses drang der Lichtschein einer Laterne hervor. Es war also doch jemand zu Hause. Ich ging zur kleinen Tür am Ende des Gebäudes und öffnete sie.

Die großen Felswandtore waren ebenfalls zugeschoben worden, und die Nester waren dichtbesetzt. Als ich eintrat, drehten alle drei Muttertiere und Audax die Köpfe. Shuja und Rannu fehlten jedoch, und das bedeutete, dass auch Vater und Tauman fort waren. Am hinteren Ende der Boxen fegte Jhem den Gang in einem sanften, beruhigenden Rhythmus, um die Küken in den Schlaf zu wiegen.