Der Spatzenkaiser - Thomas Podhostnik - E-Book

Der Spatzenkaiser E-Book

Thomas Podhostnik

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Beschreibung

Leon und Kaj könnten nicht unterschiedlicher sein: Leon ist mit allen Privilegien ausgestattet, alles scheint ihm zuzufliegen; Kaj, der wie sein Freund die Freiheit sucht, muss sich alles selbst erarbeiten. Kennengelernt haben sie sich in einer Fabrik, gemeinsam brechen sie auf eine Reise auf, um dem Alltag zu entfliehen. In einer Wüstenstadt, einer Art pervertiertem Las Vegas, angekommen, verschwindet Leon und Kaj taucht tief in eine absurde und grausame Welt ein, in der die Beziehungen der Menschen untereinander ausschließlich von Abhängigkeiten geprägt sind. Schließlich wird Kaj zu Spiderman, aber nicht als gebrochener Held, sondern als eine kostümierte Figur am Straßenrand, die Flugblätter verteilt, um ganz banal am Leben zu bleiben. Im Mittelpunkt des Romans steht die Legende des Spatzenkaisers, der sich am chinesischen Volk für die Vernichtung aller Spatzen unter der Herrschaft Maos rächen will. Thomas Podhostnik nutzt in seinem vierten Buch moderne Mythen, von Comic-Verfilmungen bis zu Netflix-Serien, gleichsam als Folie für die Bühne, auf der sich ein scheinbar unwichtiges Drama abspielt: Der Untergang eines Individuums, das mit seinen Wünschen, Träumen und Ängsten wie ein entbehrliches Insekt erscheint. Podhostniks Sprache ist rau und seinen Figuren körperlich nahe, er schildert eindrücklich, wie das Prinzip toxischer Männlichkeit funktioniert und wie die Starken die Schwachen in dieser Welt behandeln.

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Inhalt

Teil I.

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Teil II.

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Teil III.

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Das Abrollen der Reifen wurde laut, Sand wirbelte durchs Fenster.

Kaj stieg aus, lief ein paar Schritte und setzte sich auf einen Stein.

Die Straße zu beiden Seiten war leer, der Motor knackte, der Geruch der Reifen, Kondensstreifen am Himmel und in der Ferne Stromleitungen.

Winzige Skorpione umlagerten den Kadaver einer plattgefahrenen Schlange. Nie hätte Kaj geglaubt, jemals Skorpione eine Schlange fressen zu sehen.

Am Horizont nahm ein Wagen Gestalt an und schob sich durch die Ebene.

Die Frau am Steuer wandte ihm ihre Fliegenaugen zu. Ein Luftzug schlug Kaj ins Gesicht und der Wagen bremste. Das Getriebe krachte, und mit mehr Gas als nötig setzte der Wagen zurück. Die Scheibe wurde hinuntergefahren. Die Frau mit der Sonnenbrille und den geschminkten Lippen schob den Ellbogen aus dem Fenster.

Panne?

Kaj schüttelte den Kopf.

Stimmt etwas nicht mit deinem Freund? Er sieht so tot aus.

Ihm geht’s gut.

Ihr Gesicht verschwand im Wagen.

Eine Hand erschien, schmal, mit langen Fingern und Altersflecken, und zwischen den Fingerspitzen steckte eine Zigarette mit grünem Filter.

Kaj nahm die Zigarette, die sie ihm anbot, und sagte: Für Feuer wecke ich ihn für Sie.

Die Fensterscheibe fuhr hoch. Die Räder drehten durch und die Hupe ertönte: tuutuuutuu!

Der Wagen fuhr auf die Pyramide zu, in deren Spitze sich angeblich die stärkste Lichtquelle der Welt befand. Kaj klemmte sich die Zigarette hinters Ohr. Léons Gesicht glänzte in der Morgensonne und sein nackter Fuß lag still an der Windschutzscheibe über dem Comicheft.

Sicher träumte Léon. Seit ein Mann ihm auf der Straße seine Karte zugesteckt hatte, um ihn zu Probeaufnahmen einzuladen, sprach Léon davon, Schauspieler zu werden. Nicht, dass er sich je für Film oder Theater interessiert hätte. Dabei war das sicher eine Abzocke gewesen. Irgendjemand versuchte ständig, ihnen irgendwas unterzuschieben.

In der Nacht hatte Léon Monologe über das Leben und das Licht der Pyramide gehalten. Dass das Licht an der Spitze der Gipfel dessen sei, was erreicht werden könne. Von dort aus schieße der Mensch seine Strahlen ins Universum. Ein exklusiver Club in der Spitze aus Glas. Die meisten Menschen bildeten das Fundament, über das die Glühenden steigen mussten, um auf die nächste Ebene zu gelangen und so weiter und so fort.

Kaj hatte nicht gewusst, wie er dem Wortschwall begegnen sollte, er musste auf die Straße achten, um keine Tiere zu überfahren.

Jetzt kamen Kaj die Worte falsch vor. Niemand musste über jemanden steigen, um irgendwohin zu gelangen. Die Pyramide stand auf dem Kopf.

Die ganze Nacht waren sie diesem Lichtstrahl gefolgt. Im Morgengrauen war das Licht erloschen. An der Seite von Léon fühlte sich Kaj jedes Mal wie ein Taxifahrer.

Ein Fleck schimmerte unter der Vorderachse des Wagens. Kaj beugte sich unter das Gefährt. Egal, wie neu oder makellos die Karosse war, von unten sahen sie alle wie Kakerlaken aus. Kaj konnte sich nicht vorstellen, warum der Wagen jede Stunde stehen blieb. Wegen Überhitzung? Auf der Temperaturanzeige war nichts zu erkennen gewesen, und es passierte auch nachts und am frühen Morgen, zur kühlsten Zeit. Kaj streckte sich, um die Stelle zu erreichen. Er tupfte mit dem Finger darauf. Er roch an den Fingerspitzen, die nicht ölig waren, sondern weiß vom Kalk. Konnte an genau dieser Stelle schon einmal ein Wagen gestanden haben? Der Geruch von Öl war vielleicht Einbildung.

Das Dröhnen eines Lasters schreckte ihn auf. Sand wehte ihm von der Straße ins Gesicht. Der Laster wollte nicht aufhören vorbeizufahren. Kaj rieb sich den Sand aus den Augen, dann die Stelle am Hinterkopf, die er sich gestoßen hatte. Von der Rückwand des letzten Containers warf ihm ein roter Mund einen Kuss zu.

Léon würde die Pause einfach verschlafen. Er würde aufwachen, und es würde kein Problem geben, es würde sein, als wären sie durchgefahren. Kaj dachte an einen Film. Ein junger Mann hockt zusammen mit einem Ausbrecherkönig in einer Zelle auf einer Gefängnisinsel. Er weiß alles über seine letzte Flucht. Den ganzen ausgeklügelten Plan. Wie der Ausbrecherkönig es geschafft hat, die Wachen zu überlisten, das Alarmsystem zu umgehen, sich einen Weg durch die Geheimgänge zu bahnen, den Zaun zu überwinden und von der Insel zu schwimmen. Wie war der Ausbrecherkönig aus der Zelle entflohen?!

Etwas schlug auf dem Boden auf.

Da lag ein toter Vogel und glotzte mit einem Auge. Natürlich hatte niemand einen toten Vogel aus einem Flugzeug geworfen. Die Krallen waren zusammengeballt, der gebogene Schnabel stand offen. Ein Bussard, ein Habicht oder ein Adler. Kaj kannte sich nicht aus. Auch ein Vogel musste sterben, es war nur konsequent, wenn es in der Luft geschah.

Der Spatzenkaiser

I.

I

Der Ball klatschte aufs Wasser und schlug Kaj gegen die Schulter.

Die Handballer spielten im Pool Wasserball. Abwechselnd ruderten sie mit den Armen in der Luft. Kaj gab dem Ball einen Stoß, dieser rollte zum Rand und plumpste in den Pool. Sofort entbrannte ein Kampf. Mit kräftigen Zügen stürzten sich die Handballer auf den Ball. Es platschte und spritzte. Sie drückten sich unter Wasser und griffen einander um die Hälse. Der Sieger schleuderte den Ball zur anderen Seite des Pools.

Der Hostelbesitzer baute den Grill auf. Ein massiger Mann mit blasser Haut, roten Rastas, Boxershorts, Sandalen und einem Camouflage-T-Shirt. Einmal in der Woche gab es eine Grillparty.

Das Hostel war der günstigste Ort, den Kaj sich vorstellen konnte. Überhaupt war die Stadt trotz des Glitzers und Prunks günstig. Getränke, Essen, Sex wurden zu Preisen angeboten, als wären es Kleinigkeiten.

Der Hostelbesitzer bürstete das verbrannte Fett vom Grill. Kaj fragte ihn, ob er Hilfe brauche.

Ich zahle nichts!

Ich will auch nichts.

Mein Junge, du willst mir helfen, das ist mehr, als ich will!

Links und rechts stiegen die Handballer aus dem Pool. Sie schrien miteinander, schüttelten ihre Haare und hinterließen eine Spur auf den Fliesen.

Bierdosen schimmerten in der Tiefe. Kaj hatte sich an diesem Morgen im Supermarkt gegenüber ein Zwölferpack besorgt und die Dosen im Pool versenkt.

Er sprang in den Pool und tauchte bis zum Grund.

Früher hatte er Angst vor solchen Sprüngen gehabt.

Die Sonne ließ den Grund erstrahlen, die Bierdosen glitzerten. Er schwebte, hielt den Atem an und atmete doch. Sein Herz klopfte wild.

Alle rannten und schrien durcheinander. Einen nach dem anderen warfen die Handballer in den Pool. Es war schon spät, niemand lachte mehr. Michelle saß in ihrem Korbsessel und trank Bier. Sie hatte die Beine übergeschlagen. Sie wippte mit dem Fuß, ein Flip-Flop hing an ihren Zehen.

Kaj schwamm in die Mitte des Pools.

Aus dem Pool betrachtet wirkten die Handballer noch größer und bedrohlicher. Mit ausgebreiteten Armen standen sie vor und hinter den anderen Gästen. Rannten diese los, sprangen sie auf sie zu und griffen ihnen um den Hals und packten sie an den Armen und Beinen. Das sollte wohl lustig sein, was man an einem Pool eben tat, wenn es eine Party gab. Aber sie lachten nicht, sie grinsten nicht einmal.

Michelle hielt die Arme verschränkt und die Bierdose, die im Schein irgendeines Strahlers aufblitzte, gegen ihren Oberarm gepresst. Seit Michelle im Hostel wohnte, langweilte sich Kaj selten. Wenn sie vorbeiging, begleitete sein Blick die schmächtige Gestalt. Sie wurde nie von jemandem angesprochen, obwohl sie ihren Namen auf dem T-Shirt trug.

Im Licht des Pools konnte er ihr Gesicht sehen. Einer der Handballer stieß mit ihrem Korbsessel zusammen. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihr in die Stirn.

Der Handballer machte Jagd auf eine Rothaarige. Sie rannte zwischen den umgeworfenen Liegestühlen, den Handballern mit den ausgestreckten Armen und den anderen Gästen, denen es gelungen war, sich aus dem Pool zu ziehen, umher. Ein Handballer erwischte sie an den Shorts. Sie rutschte mit ihren Leinenschuhen auf den nassen Fliesen aus und streckte sich zwischen den Beinen des Handballers aus, der sie zu Boden drückte. Zwei andere Handballer waren sofort bei ihm, und gemeinsam schoben sie die Rothaarige über die Fliesen zum Beckenrand und ließen sie hineinplumpsen.

Noch immer hatte niemand Michelle berührt. Sie saß in ihrem Sessel, während alle anderen dieses Spiel spielten, von den Handballern in den Pool geworfen zu werden, immer und immer wieder. Wenn es jemand schaffte, aus dem Pool zu klettern, standen schon zwei Handballer da.

Sie waren schnell und wachsam und schlugen koordiniert zu.

Michelle stellte die Dose vor sich auf den Boden. Ein Handballer rannte die Dose um. Das Bier spritzte gegen ihre Beine. Jetzt stand sie auf und schimpfte. Ein anderer Handballer stolperte und riss dabei den Korbsessel mit. Sie hob ihre Hände, nur ein wenig, auf Höhe ihrer Schultern. Dann ging alles ganz schnell. Ein Handballer ergriff sie am Oberarm, ein anderer umschlang ihre Oberschenkel und hob sie in die Höhe, und ein weiterer Handballer packte sie von hinten an den Haaren. Einen Moment lang standen sie einfach nur da.

Dann warfen die Handballer Michelle in den Pool.

Unter der Wasseroberfläche breitete sich das Haar wie Tinte um ihren Kopf aus. Sie tauchte direkt vor Kaj wieder auf, die Augen rot vom Chlor.

Putain, fluchte sie.

Dann gab sie Kaj einen Kuss und ihm war, als würde die Freiheit selbst ihn küssen.

Der Hostelbesitzer spritzte Benzin aus einer roten Plastikflasche in die Glut und eine Stichflamme fuhr auf. Schwaden von verbranntem Benzin und Fett zogen über das Wasser.

Kaj lief durch Berge von Flyern, trat auf Frauenkörper und Gesichter, geöffnete Münder und Augen mit künstlichen Wimpern.

Vor den Eingängen zu den Restaurants, den kleineren Spielhallen, den Bars, Cafés und Läden mit den Wasserflaschen in den Auslagen versuchten Ameisenbär und Berglöwe, Batman und Robin ihm etwas zuzustecken. Manche legten ihm die Hand oder Pfote auf die Schulter, um ihn irgendwohin zu führen. Andere waren mit den Flyern in der bloßen Hand und Löchern in den Turnschuhen gleichsam nackt, und das Lächeln in ihrem Gesicht war ihre einzige Verkleidung.

Ein heißer Wind trieb Flyer in den Ecken zusammen und auf die Straße und unter die Reifen. Hier und da stiegen sie in einer Windhose auf. Das Karussell verwehte, als der nächste Wagen vorbeifuhr.

Schuhe waren die Eintrittskarte zum Hotelkomplex, nackte Füße waren nicht erlaubt.

Die Luft war halb so warm wie draußen und es roch nach Popcorn. Eine Sirene ertönte: tatatataatataa! Gleichzeitig ein Geräusch, als hätte jemand Münzen in einen Blecheimer geschissen.

Kaj steckte seine Kreditkarte in den Schlitz des Automaten. Er tippte den Betrag ein. Der Automat gab einen Zettel mit der Aufforderung aus, zur Kasse zu gehen. Kaj wiederholte den Vorgang, nur dass er einen viel höheren Betrag, weit über seinem Limit, eintippte.

Die Kassiererin mit Schlips und pomadigem Seitenscheitel holte den Anforderungsschein über einen Drehmechanismus zu sich in die Kabine. Über das Mikro fragte sie Kaj, wie er das Geld haben wolle.

Er legte seine Lippen an die Öffnungen im Panzerglas.

Kleine Scheine, sagte er und fand es lustig. Den zweiten Anforderungsschein behielt er in der Hand.

Auf dem Gehsteig vor dem Hostel wartete Michelle. Wie versprochen, würde er sie in die Table-Dance-Bar begleiten. Er zeigte ihr den Betrag auf dem Anforderungsschein und gab damit an, wie viel Geld er jederzeit besorgen konnte.

Warum hast du nicht?

Sie schien weder überrascht noch beeindruckt und hielt ihm ihre Bierdose hin. Durstig trank er den letzten, bereits warmen Schluck.

Als sie letzte Nacht zusammen gewesen waren, hatte Michelle ihm erzählt, wie ihr im Bus das gesamte Geld für die Reise gestohlen worden war. Seitdem empfand er in ihrer Nähe eine bedrückende Schwere.

Außerdem hatte Michelle ihm von dem Deal mit dem Hostelbesitzer erzählt: ein Blowjob für zwei Nächte. Der Deal galt für zehn.

Der Himmel ist heut so komisch.

Er hätte gern ihre Hand genommen, aber dafür war es zu warm, solange die Sonne schien.

Vor einem Laden, aus dem immer derselbe Song ertönte, stießen zwei Handballer einen Pinguin zwischen sich hin und her. Die Handballer glichen einander wie Zwillinge. Durch das Kostüm in seinen Bewegungen eingeschränkt, schlug der Pinguin nach ihren Gesichtern. Es gelang ihm sogar ein Glückstreffer, seine Hand landete flach auf einem Ohr. Der getroffene Handballer schlug sofort zurück und der Pinguin fiel um. Die Handballer schüttelten sich beim Weggehen vor Abscheu, oder vor Lachen. Blut lief aus der Nase des Jungen und befleckte die Brust des Pinguins. Der Song begann von Neuem, es war ein Song über die Sonne.

Er kann hier warten, sagte der Barbesitzer, aber nur, wenn er etwas trinkt! Sonst muss er raus! Die Klimaanlage, die Mädchen. Das kostet alles Geld! Jede Zehntelsekunde!

Er ist ein Freund von mir, sagte Michelle.

Für mich bitte ein Wasser, sagte Kaj. Mit Gas!

Braves Haustier, sagte der Barbesitzer, während er Michelle um die Taille fasste und sie fortführte.

Der Barkeeper stellte eine PET-Flasche vor Kaj hin.

Die ganze Reise über hatte Kaj sich gewünscht, ein Mädchen wie Michelle zu treffen. Jetzt war es passiert und er war nicht glücklich. Ihre Armut erinnerte ihn an seine eigene. Bis heute verstand er nicht, warum Léon ausgerechnet mit ihm auf diese Reise gegangen war. Vielleicht konnte ein reicher Mensch einen armen Menschen an seiner Seite besser ertragen. Michelle wollte an die Westküste, um Schauspielerin zu werden. Léon brauchte diesen Weg nicht zu gehen. Er würde zu Hause auf eine Schauspielschule gehen. Er würde ein junger Schauspieler werden und sich mit anderen jungen Schauspielern, Regisseuren und Autoren treffen. Vor allem mit jungen Schauspielerinnen, Regisseurinnen und Autorinnen. Gemeinsam würden sie einen Film drehen. Vielleicht würde Léon eine Produktionsfirma gründen, und in zehn Jahren würde es heißen, Léon habe es allein mit seinem Talent und seinem großen Willen aus dem Nichts zu einem der bedeutendsten Schauspieler und Filmproduzenten gebracht, und er würde Preise gewinnen und gefördert werden. Erst Nachwuchspreise, später Ehrenpreise und irgendwann folgerichtig den Preis für das Lebenswerk. So würde es sein, wenn Léon sich entschließen würde, wirklich Schauspieler zu werden. Kaj nahm einen Schluck Bier. In Wahrheit würde Léon nichts davon tun. Ihn überkam das Gefühl, dass er schon lange genug mit Léon unterwegs war. Léon trug eine goldene Rüstung.

Er würde Léon bitten, das Auto wieder zu verkaufen. Dann würden sie den nächsten Bus zur Ostküste nehmen und den ersten verfügbaren Flug.

Auf dem Tresen tanzte ein Mädchen, deren Haut glitzerte, als habe sie sich in Diamantenstaub gewälzt. Ihr einsamer Tanz an der Stange kam Kaj wie ein Selbstgespräch vor.

Die Bar war nicht groß, es gab kaum einen freien Platz, in allen Ecken standen Tische, rotglänzende Hocker entlang des Tresens, nur die Spiegel vergrößerten den Raum.

Kaj stellte sich die Bar als eine Fabrik vor, in der Geld aus Raum und Zeit gebacken wurde. Irgendwo am Ende eines Fließbandes hob ein Roboterarm ziegelsteingroße Pakete vom Band.

Etwas stupste Kaj an der Stirn. Er blickte auf eine rote Schuhspitze.

Hast du nicht ein kleines Geschenk für mich?, fragte die Tänzerin mit einer Mäusestimme, drehte sich auf den Kopf und hielt mit geschlossenen Augen inne, bis Kaj ihr den Geldschein zwischen die Lippen schob.

Nach Mitternacht kostete das Steak weniger als eine Schachtel Zigaretten. Die Ofenkartoffel gab es gratis, ebenso eine Auswahl an Softdrinks. Kaj schnitt sich einen Bissen vom Fleisch ab. Während er kaute, saß er sich selbst in einer anderen Dimension gegenüber, in der alles so ähnlich war wie in seiner eigenen, nur goldener.

Vielleicht waren wir im früheren Leben schlecht, sagte Michelle neben ihm, die das Steak bereits verschlungen hatte.

Kaj wischte sich etwas von der Lippe. Der goldene Spiegel war verschlissen, Flecken blieben auf dem Gesicht.

Ich mag dich! Sie lächelte ihn über den Spiegel hinweg an.

Kaj verspürte den Drang, sie über Léon aufzuklären.

Er kenne Léon aus der Fabrik. Gemeinsam haben sie Flaschen abgefüllt. Es stank. Die Anlage lief Tag und Nacht. Léon musste das Förderband mit leeren Flaschen bestücken, die vollen Flaschen verpacken und auf eine Palette stapeln, und Kaj musste die Behälter mit roten Deckeln und Etiketten wieder auffüllen. Die Würze war durch Schläuche aus dem oberen Stockwerk in die Abfüllanlage geflossen. Kaj musste darauf achten, dass die Flaschen richtig etikettiert waren, dass sie nicht in der Abfüllanlage stecken blieben oder umkippten. Das Glas zersplitterte immer, wenn eine Flasche schräg unter den Abfülldorn geriet, und alles spritzte auf die Maschine. Dann drückte er den Not-Aus-Knopf. Das passierte ein- bis zweimal pro Stunde. Die Arbeit war nicht schwer, die Maschine war nicht sehr laut, und man konnte sich unterhalten, ohne zu schreien. Alle zwanzig bis dreißig Minuten kam jemand mit einem Hubwagen und brachte eine neue Palette mit leeren Flaschen und nahm die vollen mit. Léon und er trugen Haarnetze und Schutzmasken. Die Sohlen schmatzten, wenn sie um die Maschine herumliefen. Es gab auch ein Radio. Nur der Gestank, der war unmöglich aus der Nase zu bekommen. Alles und jeder roch nach Arbeit, auch noch im Freien. Léon arbeitete wie alle anderen. Jeden Tag und immer bis zum Ende. Nach einer Woche kam jemand aus der Verwaltung den Flur entlang. Léon grüßte ihn, sie kannten sich. Als der Mann Léon bat, ihn zum Mittagessen zu begleiten, zog Léon sein Haarnetz und seine Schutzmaske ab und warf sie in den Papierkorb. Er winkte zum Abschied, und die beiden verschwanden. Unmittelbar danach kam eine Arbeiterin und nahm Léons Platz an der Maschine ein.

Kaj hob das viereckige Fläschchen neben dem Salz- und Pfefferstreuer hoch. Er träufelte etwas von der Flasche auf seine Fingerspitze und sagte: Léon sind wir egal.

Was ’n da drin, fragte Michelle, die nicht so aussah, als ob sie zugehört hätte. Kaj spritzte auch einen Tropfen auf ihren Finger.

Eiweiß, Salzsäure und Lauge zum Neutralisieren.