Der Spiegel des Schöpfers - Thomas Franke - E-Book

Der Spiegel des Schöpfers E-Book

Thomas Franke

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Beschreibung

Die ehrgeizige Chirurgin Leonie Brandstätter hat zu viel Alkohol im Blut, als sie auf einer einsamen Landstraße einen jungen Mann anfährt. Um der Polizei zu entgehen, nimmt sie ihr bewusstloses Unfallopfer mit nach Hause. Rasch stellt sich heraus, dass der attraktive Ari in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich ist: Er spricht eine unbekannte Sprache. Die gesellschaftlichen Gepflogenheiten sind ihm fremd. Seine Verletzungen heilen unerklärlich schnell. Und wie sich bald herausstellen wird, hat er mächtige Feinde.... Thomas Frankes rasanter Roman konfrontiert mit dem Bösen dieser Welt. Gleichzeitig beschreitet er ungeahnte Wege des Glaubens. Eine spannende Geschichte über das Erbe der Menschheit.

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Über den Autor

Thomas Franke ist bei einem sozialen Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaftlicher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich Autor von Büchern für Kinder und Erwachsene. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

www.thomasfranke.net

Inhalt

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Danksagung

1

Es war ein Fehler gewesen hierherzukommen. Leonie nippte an ihrem Caipirinha und starrte an den Leibern der Tanzenden vorbei auf den üppigen Garten. Die Luft war schwülwarm. Aus den Lautsprechern drangen Reggae-Klänge, die perfekt zu einer karibischen Nacht passten. Allerdings rauschten hinter den sorgfältig gestutzten Hecken nicht die Wellen des Atlantiks, sondern die Kiefernwälder Brandenburgs.

Die Terrasse der Villa war so groß wie ein Volleyballfeld und der Garten dahinter ähnelte einem Park. Öllampen und Fackeln verbreiteten warmes Licht. Erik war nicht nur reich, er hatte auch Geschmack.

Leonie seufzte und sah hinüber zu ihrer Kollegin Johanna. Eng umschlungen tanzte sie mit ihrem Verlobten. Seit mehr als einer Stunde ging das schon so. Selbst zu dem alten Hardrock-Klassiker »Jump« von »Van Halen« hatten die beiden nicht voneinander lassen können. Wahrscheinlich hatte der Schweiß sie fest miteinander verklebt.

»Willst du tanzen?« Ein rotwangiges Gesicht beugte sich über sie und das geöffnete Hemd bot einen großzügigen Ausblick auf eine behaarte Männerbrust. Unter buschigen Augenbrauen starrten zwei dunkle Augen konzentriert in ihren Ausschnitt.

Ja, es war ein Fehler gewesen! Sie schüttelte den Kopf und zupfte an ihrem kurzen Sommerkleid.

Schweißige Finger legten sich auf ihre Schulter. »Komm, es ist eine herrliche Nacht!«

»Nein!« Verärgert schüttelte sie die Hand des lästigen Verehrers ab.

»Nun sei doch nicht so …«

Leonie stand auf und bemerkte mit einem kritischen Blick auf seine zunehmend haarlose Kopfhaut: »Kann es sein, dass Sie eine Immunschwäche haben?«

»Hä?«

»Diese krustös-nässenden und schuppenden Läsionen der Kopfhaut sind typisch für einen Mykosebefall.«

Der Mann wich zurück und strich sich instinktiv mit der Hand über die hohe Stirn. »Was?«

»Pilzinfektion«, erklärte Leonie, »das kann ziemlich unangenehm sein. Sie sollten unbedingt zum Arzt gehen. Darf ich mal vorbei?« Sie zwängte sich an dem verdutzten Mann vorbei und stöckelte, so rasch es ihre Würde und ihre neuen Cut-Out-Sandalen von Christian Louboutin zuließen, auf die Tanzfläche zu. Gut, vermutlich handelte es sich bei den Schuhen um vergleichsweise günstige Fälschungen aus China, aber das machte sie auch nicht bequemer.

»Blöde Kuh. Pilzinfektion – so ein Schwachsinn!«, hörte sie den Mann hinter sich brummen.

Sie gestattete sich ein kleines Lächeln, bis ihr Absatz beim Betreten des Rasens hängen blieb und sie mit rudernden Armen gegen einen Bistrotisch stieß. Ein Glas mit Rotwein kippte um und ergoss sich auf das weiße Hemd einer jungen Hostess, die sie daraufhin mit traurigen Augen anblickte.

»Entschuldigung. Das tut mir sehr leid«, stammelte Leonie.

Die junge Frau hob das Glas auf und ging an ihr vorbei auf die Terrasse zu.

»Mist!« Leonie zog ihre Schuhe aus und betastete kurz die Blase an ihrem kleinen Zeh. Dann stand sie auf und zwängte sich durch die Tanzenden hindurch zu dem eng umschlungenen Paar.

»Johanna?«

Verträumt blickte ihre Freundin an der Schulter Eriks vorbei zu ihr.

»Tut mir leid, für mich ist Feierabend! Aber es war eine wunderbare Party und ich wünsch dir alles Glück dieser Welt.«

»Danke. Musst du wirklich schon gehen?«

»Ich habe Frühdienst«, log Leonie, »und muss einigermaßen brauchbar sein.«

»Schön, dass du gekommen bist, Leonie«, sagte Erik. »Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Nein danke!« Nicht nur reich und gut aussehend, sondern auch noch nett, seufzte Leonie. Warum müssen die Besten immer vergeben sein? »Ich bin mit dem Auto da.« Sie drückte Johanna einen Kuss auf die Wange, schenkte Erik eine flüchtige Umarmung und lief barfuß bis zum Parkplatz.

Immerhin war ihr alter Opel Corsa freundlich zu ihr und sprang sofort an. Sie warf die Schuhe auf den Rücksitz, schob eine CD von »Green Day« in die Anlage und gab Gas. Bei allgemeinem Frust war laute Punk-Musik genau das Richtige.

Als sie den beleuchteten Parkplatz hinter sich gelassen hatte, legte sich die Dunkelheit wie ein Mantel um sie. Dichte Wolken verdeckten die schmale Sichel des Mondes. Die Scheinwerfer schnitten gelbe Löcher in die Nacht und gaben flüchtige Blicke auf die alten, dicht belaubten Alleebäume frei. Leonie war es nicht gewohnt, Landstraße zu fahren, schon gar nicht in der Nacht. In Berlin war es nie vollkommen dunkel. Eine Welt gänzlich ohne Straßenlaternen, Leuchtreklame und flackernde Fernsehbilder hinter den Fensterscheiben der Häuser schien ihr seltsam urtümlich und auch ein wenig bedrohlich.

Nur zögernd folgte Leonie den Anweisungen ihres Navigationsgeräts und bog in eine Straße ein, die so schmal war, dass sie in ihren Augen gerade mal als Wanderweg durchging. Das schlecht asphaltierte Sträßchen schlängelte sich durch einen ausgedehnten Wald. Leonie drosselte ihr Tempo und entspannte sich ein wenig. Sie hatte es nicht eilig. Anders, als sie behauptet hatte, musste sie erst am nächsten Nachmittag wieder zum Dienst.

Sie beneidete Johanna. Das frisch verlobte Paar hatte sich ganze vier Wochen freigenommen, um die Westküste der USA entlangzureisen: San Francisco, Los Angeles, San Diego … Eine solche Reise war schon immer Leonies Traum gewesen. Aber während des Studiums hatte sie nicht genug Geld gehabt, und seit sie als Assistenzärztin im Klinikum Benjamin Franklin arbeitete und zugleich Forschungsarbeit an der Charité in Mitte leistete, hatte sie keine Zeit mehr. Abgesehen davon, gab es seit einigen Monaten niemanden mehr, mit dem sie gemeinsam fahren konnte.

Ein grelles Licht ließ sie erschrocken zusammenzucken. Im ersten Moment dachte sie, einer der unzähligen Blitzer, die die fleißige Brandenburger Polizei aufgestellt hatte, hätte sie erwischt, dann registrierte sie durch die wummernden Bässe von »Green Day« hindurch ein dumpfes Grollen. Ein Gewitter setzte ein! Kurz darauf prasselten dicke Regentropfen auf die Frontscheibe.

»Na wunderbar!«, murmelte Leonie. Sie schaltete den Scheibenwischer auf volle Leistung, aber der Regen kam so dicht, dass sie die Straße bald nur noch verschwommen erkennen konnte. Das Krachen des Donners wurde immer lauter, und ein Blitz zuckte so dicht neben der Straße herunter, dass sie sehen konnte, wie er Funken sprühend in einen Baum einschlug. Erschrocken riss Leonie am Lenkrad. Das Auto brach zur Seite aus und wäre beinahe von der Straße abgekommen, wenn sie nicht im letzten Moment gegengelenkt hätte.

»Scheiße!« Leonie drosselte das Tempo auf knapp fünfzig und tastete nach dem Lüftungsschalter. Die Beleuchtung des Armaturenbretts war schon seit Jahren defekt.

Die Straße machte eine enge Kurve, schemenhaft jagten Bäume vorbei. Sie fuhr hinab in eine Talsenke – und auf einmal war alles verändert. Es gab einen Schlag, als wäre die Straße plötzlich abgesackt. Die Musik ging aus. Dann schien es ihr, als würde die Nacht sich verdichten, sich mit erstickender Schwärze um sie legen. Leonie spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufstellten. Da war etwas in der Dunkelheit! Es strich kalt und gestaltlos über ihre Haut und schien ihr Innerstes berühren zu wollen. Etwas Unmenschliches, unsagbar Böses. Dann, von einem Augenblick auf den nächsten, war es vorüber.

Ihre zitternden Finger fanden endlich den Lüftungsschalter. Im selben Moment erschien wie aus dem Nichts eine bleiche Gestalt auf der Straße! Leonie schrie entsetzt auf und trat mit voller Wucht auf die Bremse. Die Reifen des alten Corsa blockierten und sie schlitterte unkontrolliert über den regennassen Asphalt. Das Geräusch, mit dem der Körper auf das Blech des Autos traf, war entsetzlich laut, ein furchtbarer martialischer Knall. Die Gestalt prallte gegen die Windschutzscheibe, schlug auf dem Dach auf und stürzte zurück auf die Straße. Eine halbe Ewigkeit später blieb das Auto stehen.

Der Motor war aus. Beide Hände um das Lenkrad gekrallt, starrte Leonie auf die nachtschwarzen Baumstämme, die stumm und unbeteiligt die Straße säumten. Der Regen trommelte auf das Autodach. Einen wahnwitzigen Moment lang fragte sich Leonie, ob ihre überstrapazierten Nerven ihr einen Streich gespielt hatten. Dann sah sie den Riss in der Windschutzscheibe.

»Oh Gott«, wisperte sie. »Oh mein Gott!«

Sie hörte ihren eigenen hektischen Atem und spürte das Trommeln ihres Herzschlags. Ihr Blick fiel auf den Zündschlüssel. Plötzlich verspürte sie den starken Impuls, den Motor zu starten und einfach loszufahren. Sie könnte nach Hause fahren, sich ins Bett legen, und am nächsten Tag würde all dies nur noch ein böser Traum sein. Fahr los, wisperte eine Stimme in ihr, verschwinde von hier!

Leonie nahm die Hand vom Lenkrad, starrte auf den Zündschlüssel … Sie erschauerte. Ganz langsam drehte sie sich um und blickte die Straße hinab. Da lag jemand, gut zwanzig Meter entfernt, nur schwach beleuchtet vom rötlichen Schein ihrer Rücklichter.

Leonie schluckte trocken. Dann öffnete sie das Handschuhfach und tastete zwischen Taschentuchpackungen, CD-Hüllen und zerknüllten Landkarten nach der Taschenlampe. Die Batterien waren leer. Leise fluchend öffnete sie die Tür. Der Regen prasselte auf sie ein und innerhalb von wenigen Sekunden war sie bis auf die Haut durchnässt. Sie holte das Warndreieck und den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Kofferraum.

»Du bist Ärztin!«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Du hast schon schlimmere Situationen erlebt!« Entschlossen schritt sie auf den reglosen Körper zu. Ihre nackten Füße spürten die Wärme des Asphalts durch das kühle Regenwasser hindurch. Je näher sie kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Und als sie schließlich bei der bleichen Gestalt ankam, ließ sie überrascht den Erste-Hilfe-Koffer fallen. Es war ein Mann. Ein nackter Mann! Er trug nicht einmal eine Badehose. Langes Haar fiel ihm ins Gesicht. Blut rann von seiner Schläfe hinab und mischte sich mit dem Regen. Das linke Bein lag in einem seltsamen Winkel da und schien gebrochen zu sein. Zudem hatte er sich den linken Arm ausgekugelt. Hastig beugte sich Leonie vor und legte ihre Finger an seine Halsschlagader. Der Puls ging kräftig und gleichmäßig.

»Gott sei Dank!«, seufzte sie.

Dann erinnerte sie sich an das Warndreieck und eilte weiter die Straße hinab. Mehrmals verfluchte sie die filigrane Konstruktion, ehe es ihr endlich gelang, das dämliche Ding aufzustellen. Sie eilte zurück zu dem Verletzten, griff sich den Erste-Hilfe-Kasten und streifte die Gummihandschuhe über. Dann kniete sie neben dem Mann nieder und starrte ihn erschrocken an. Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, er hätte eben noch anders dagelegen. Zögernd legte sie die Hand auf seine ausgerenkte Schulter und drückte zu. Er rührte sich nicht. Wenn er bei Bewusstsein wäre, hätte er vor Schmerz aufschreien müssen. Leonie atmete tief durch. Vorsichtig drehte sie den Verletzten auf den Rücken und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Aus einer Platzwunde rann noch immer Blut. Auch am rechten Oberarm hatte er einen tiefen Schnitt. Sie verband die Wunden. Der strömende Regen wusch das Blut von seinem Körper. Der Mann schien noch jung zu sein, nicht älter als Mitte zwanzig, und er war muskulös, wie ein Sportler. Was um Himmels willen hatte ihn dazu bewogen, bei diesem Wetter mitten in der Nacht durch die Wälder Brandenburgs zu rennen? Gab es in der Nähe einen Badesee? War er dort vom Gewitter überrascht worden?

Leonie schüttelte den Kopf und verdrängte die Fragen. Um den Mann weiter behandeln zu können, brauchte sie mehr Licht. Sie hastete zurück zum Auto, sandte ein stummes Gebet zum Himmel und drehte den Zündschlüssel. Der Wagen sprang an! Sie gab Gas und würgte den Motor ab. Shit! Noch einmal startete sie den Motor. Dieses Mal löste sie die Handbremse und wendete den Wagen. Langsam fuhr sie an den Verletzten heran, bis das Licht der Scheinwerfer ihn voll erfasste. Dann stieg sie aus und kniete sich neben dem Mann nieder. Hatte sein linker Arm nicht eben noch etwas anders gelegen? Unsinn! Im Licht der Scheinwerfer untersuchte sie die weiteren Verletzungen. Inzwischen war sie sich nicht mehr sicher, ob sein Bein wirklich gebrochen war. Sie legte einen straffen Verband an. Dann packte sie seinen ausgekugelten Arm und erinnert sich an die vielen harten Stunden mit Dr. Waigert in der Unfallchirurgie. Sie drückte ihren rechten Fuß auf die Brust des Mannes, packte seinen Unterarm mit beiden Händen, ein kräftiger Ruck, und das Gelenk rutschte zurück in die Pfanne. Der Mann gab nicht einen Laut von sich. Nach einer gründlichen Untersuchung stellte sie, bis auf ein paar kleinere Schnitte und Prellungen, keine weiteren Verletzungen fest.

Die junge Frau stand auf und starrte auf den Bewusstlosen hinab. Sie musste die Feuerwehr und die Polizei rufen! Leonie biss sich auf die Lippen. Man würde einen Alkoholtest bei ihr machen. Zwei Caipirinhas und ein Baileys on the Rocks ließen keinerlei Zweifel darüber aufkommen, wie das Ergebnis ausfallen würde. Sie würde ihren Führerschein verlieren und vermutlich eine Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung am Hals haben. Und, was am Schlimmsten war, Dr. Rupert würde sie niemals in sein Team aufnehmen. Ihre Karriere würde durch diesen einen Anruf bei der Polizei ein abruptes Ende finden.

Der Verletzte sah gut aus, erstaunlich gut für einen Mann, der gerade mit einem Auto kollidiert und mindestens zehn Meter durch die Luft geschleudert worden war. Natürlich durfte sie seine Verletzungen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Andererseits: War sie nicht selbst Ärztin? Und eine verdammt gute noch dazu?

Sie kauerte nieder und bettete seinen Kopf auf ihre Knien. Das kann nicht gut gehen! Leonie schob beide Arme unter seinen Achseln hindurch, packte seinen rechten Unterarm und stemmte sich langsam hoch. Er war schwer. Wenn das rauskommt, bist du erledigt. Sie biss die Zähne zusammen und schleifte den reglosen Körper des Mannes zum Auto. Dort wuchtete sie ihn auf den Beifahrersitz.

»Du bist ja völlig irre«, sagte sie zu sich selbst und wickelte mit zitternden Händen Mullverband um seine Brust und den Autositz, sodass er aufrecht sitzen blieb. Anschließend legte sie eine Decke über ihn, stopfte sie hinter den Schultern fest und gurtete ihn an.

Ihr schlechtes Gewissen pochte wie eine schmerzhafte Wunde, als sie sich setzte und anschnallte. Sie strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht, startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Das Gewitter hatte sich verzogen und der Regen ließ nach. Die dichte Wolkendecke lockerte auf. Ein paar bleiche Mondstrahlen fielen auf die nasse Straße und ließen sie silbrig glänzen. Sie wendete. Als sie in den Rückspiegel sah und einen letzten Blick auf den Unfallort warf, glaubte sie zu sehen, wie sich eine dunkle Gestalt aus dem niedrigen Buschwerk des Waldes löste. Ein Schauder ergriff sie. Unwillkürlich trat sie das Gaspedal durch und der Wagen fuhr mit aufheulendem Motor los. Die Gestalt verschwamm mit der Nacht.

Die Fahrt zurück nach Berlin war eine beinahe surreale Erfahrung. Leonies Sinne waren überreizt und schienen jedes noch so kleine Detail wahrzunehmen. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, sich wie in dichtem Nebel zu bewegen. Sie fuhr instinktiv, schaltete, lenkte, bremste und gab Gas.

Ihre Gedanken rasten. Mit Schaudern dachte sie an ihre merkwürdigen Empfindungen kurz vor dem Unfall. Was hatte es mit diesem nackten Mann neben ihr auf sich? Vielleicht war er ja tatsächlich bloß ein Badender, der vor dem Gewitter geflohen war, vielleicht war er auch ein Junkie auf einem abgefahrenen Trip oder ein durchgeknallter Esoteriker, der nackt um Bäume tanzte. Aber möglicherweise war er auch ein gefährlicher Irrer, der sich auf sie stürzen und sie vergewaltigen und ermorden würde, sobald er erwachte.

Verlier nicht die Nerven und bleib ruhig!, befahl sie sich. Wer auch immer dieser Typ sein mag, in diesem Moment ist er vor allem ein Unfallopfer mit mehreren nicht unerheblichen Verletzungen. Wenn er erwacht, wird ihm alles wehtun, und er wird sich kaum bewegen können.

Ja, erwiderte eine leise Stimme in ihr. Und dann wird er dich als Erstes fragen, warum er nicht in einem Krankenhaus liegt, wo er hingehört.

Sie biss sich auf die Lippen. Das würde sie später klären. Ihr würde schon irgendetwas einfallen. Wenn es hart auf hart kam, konnte sie ihn immer noch ins Krankenhaus bringen.

Als sie die Stadtgrenze von Berlin erreichte, schienen die Lichter der Straßenlaternen in ihren Augen zu brennen. Sie hielt an einer roten Ampel. Auf der linken Straßenseite stand ein Wartehäuschen der BVG, von der beleuchteten Reklamewand lächelte sie eine junge Frau mit einer Tüte Eiscreme in der Hand an.

Aus den Augenwinkeln nahm sie plötzlich eine Bewegung neben sich wahr. Vor Schreck würgte sie den Motor ab.

»Sanveriim … sanveriim d’ Lew!«, kam es heiser und gequält von den Lippen des jungen Mannes. Dann sackte er wieder in sich zusammen.

»Oh Scheiße«, keuchte Leonie. Mit klammen Fingern startete sie den Motor erneut. Den Rest des Weges blieb der Mann reglos und ohne Bewusstsein.

Gegen drei Uhr morgens parkte sie den Wagen vor ihrem Haus. Noch vor wenigen Wochen hatte sie den Hausbesitzer lauthals verflucht, weil er nachträglich einen Fahrstuhl in den schönen alten Bau aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte einsetzen lassen. Mehrere Monate lang hatten der Baulärm und der Dreck sie jeden Morgen zu fantasievollen Schimpftiraden animiert. Nun hätte sie den feisten alten Mann küssen mögen für seine großartige Idee.

Die junge Frau sah sich gründlich um, bevor sie die Beifahrertür öffnete und den Bewusstlosen aus dem Auto über die Straße schleifte. Ihre Muskeln brannten, als sie den Mann endlich in den Fahrstuhl und dann in die Wohnung im vierten Stock gezerrt hatte.

Sie zog den Verletzten ins Schlafzimmer und wuchtete ihn auf ihr Bett. Dann holte sie den Arztkoffer aus dem Schrank und sorgte für ausreichend Beleuchtung. Sie hörte seine Lunge ab und kontrollierte den Herzschlag. Behutsam tastete sie den Bauch ab. Es schienen keine inneren Verletzungen vorzuliegen. Die Wunde an der Schläfe blutete nicht mehr und die Schwellung an der Schulter hätte schlimmer sein können. So weit sah es gut aus. Sorgfältig untersuchte sie das Bein. Wie es schien, hatte sie sich wirklich getäuscht. Sie konnte keinen Bruch ertasten. Einen Moment nagte sie unschlüssig an der Unterlippe. Dann entschloss sie sich, das Bein trotzdem mithilfe von reichlich Tape und Verbandsmaterial stillzulegen. Anschließend reinigte und desinfizierte sie die unzähligen Schnitte und Schrammen.

»So, das hätte auch keine Notaufnahme besser hinbekommen«, murmelte sie und schloss den Koffer wieder. Natürlich entsprach das nicht der Wahrheit. Eine Röntgenaufnahme des Beins wäre durchaus hilfreich gewesen. Aber es war ja niemand da, der ihr widersprechen konnte. Außer natürlich die Stimme ihres Gewissens, aber die überhörte sie geflissentlich. Sie stellte den Koffer zurück in den Schrank und betrachtete den Fremden.

»Was hattest du dort im Wald zu suchen? Warum bist du einfach auf die Straße gelaufen?«

Der Mann sah nicht so wild aus, wie es direkt nach dem Unfall den Anschein gehabt hatte. Er hatte sehnige Muskeln und kein überschüssiges Fett. Aber er war auch keiner von diesen aufgeblähten Bodybuildertypen. Seine Haut war gebräunt, er trug weder Schmuck noch ein Tattoo. Die Gesichtszüge waren ungewöhnlich. Sie ließen sich nicht ohne Weiteres als asiatisch, europäisch oder afrikanisch einstufen. Auffällig waren die hohen Wangenknochen. Das Haar war dunkel, aber mit einem Stich ins Rötliche. Ohne die dunkle Hautfarbe und den muskulösen Körperbau hätte er beinahe knabenhaft gewirkt.

»Es tut mir leid«, flüsterte Leonie. Sie deckte ihn mit ihrer Bettdecke zu. »Hättest du mich heute Nacht in adäquater Kleidung zum Tanzen aufgefordert, hätte ich vielleicht sogar eingewilligt. Aber wer weiß, ob das gut gewesen wäre. Ich habe mich schon zu oft getäuscht. Und deshalb, sei mir bitte nicht böse, werde ich dich lieber einsperren.«

Sie öffnete das Fenster und zog die Gardine vor. Frische Luft war gut, neugierige Blicke von den Nachbarn gegenüber nicht. Anschließend löschte sie das Licht und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.

Leonie holte einen Besen aus der Kammer und verkeilte mit ihm die Türklinke. Kurz zog sie eine Dusche in Erwägung. Dann verwarf sie den Gedanken. Müde schlüpfte sie aus ihrer klammen Kleidung, zog sich ein T-Shirt in XXL-Größe über und ließ sich auf das Sofa sinken. Sie war so erschöpft, dass sie einschlief, bevor sie daran dachte, das Licht zu löschen.

2

Es war der starke Drang, die Toilette aufzusuchen, der Leonie aus der klebrigen Umarmung wirrer Träume zerrte. Sie gähnte und streckte sich. Dabei stieß sie mit der Hand die Fernbedienung vom Sofatisch. Irritiert setzte sie sich auf, wickelte sich aus der dünnen Baumwolldecke und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

Ein dumpfer Schmerz saß in ihren Schläfen. Das T-Shirt klebte an ihrer Haut. Sie war völlig durchgeschwitzt und hatte einen unangenehm pelzigen Geschmack auf der Zunge. Alles in allem fühlte sie sich ziemlich furchtbar. Es wurde auch nicht besser, als ihre trägen Synapsen allmählich die Erinnerungen der vergangenen Nacht zurück in ihr Bewusstsein brachten. »Scheiße.« Sie hob die Fernbedienung auf und tappte hinaus in den Flur. Der Besen versperrte noch immer wirkungsvoll das Schlafzimmer. Sie lauschte an der Tür. Alles war ruhig. Es würde sie nicht wundern, wenn ihr Patient den ganzen Vormittag weiterschlafen würde.

Sie hatte also noch ein wenig Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie diese ganze Katastrophe einigermaßen glimpflich ausgehen konnte. Wenn sie Glück hatte, erinnerte sich der Mann an nichts und war ihr sogar dankbar für ihre Hilfe.

Der Druck ihrer Blase zwang sie rasch ins Bad. Sie bemühte sich, den erschreckenden Anblick ihrer wirren Haare und der verlaufenen Schminke in ihrem bleichen Spiegelbild zu übersehen. Hastig lüpfte sie das T-Shirt und ließ sich mit einem Seufzer auf die Klobrille sinken. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, massierte sie sich die pochenden Schläfen. Über das Plätschern im Klobecken hinweg hörte sie das Klappern eines Fensters. Wahrscheinlich fütterte Frau Wolniczak wieder heimlich die Tauben im Hinterhof. Sie hoffte nur, dass die spitzzüngige alte Dame ihre Wohnung nicht allzu genau beobachtete. Es gab ohnehin schon genug Gerüchte über sie.

Ein Geräusch unterbrach ihre Gedanken. Noch bevor sie reagieren konnte, öffnete sich plötzlich die Tür, und ihr Patient betrat das Bad. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Ihr fassungslos gestammeltes: »Besetzt!« wurde mit einem strahlenden Lächeln und einem Schwall unverständlicher Worte erwidert, die keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeiner Sprache hatten, die sie jemals gehört hatte.

Leonie war unfähig, sich zu rühren. Die gegensätzlichsten und absurdesten Gedanken entsprangen den verschiedensten Regionen ihres überforderten Hirns und bildeten ein einziges Chaos. Nicht nur, dass der Mann bar jeglichen Schamgefühls einfach in ihr Bad eindrang, er war auch bis auf einen in dekorativen Fetzen herunterhängenden Verband am Bein unbekleidet. Und … er war von geradezu atemberaubender, unwirklicher Schönheit.

Wie hatte sie das gestern übersehen können?

Der Typ ist völlig durchgeknallt, aber … unglaublich gutaussehend. Verdammt, du hast einen Irren in deine Wohnung geschleppt … Wie ist er überhaupt aus dem Zimmer gekommen? Hätte er nicht warten können, bis ich mir die Haare gewaschen habe? Gleich wird er mich umbringen … Was für ein beschissener Morgen …

Annähernd eine halbe Minute starrte sie den Mann, der fortwährend auf sie einredete, von der Klobrille aus an. Dann brüllte sie: »Raus!«

Er hielt überrascht inne. Dann deutete er stirnrunzelnd mit dem Zeigefinger auf seine Brust und wiederholte: »R-A-U-S?« Anschließend machte er eine seltsame Geste, und ein Wort, das wie eine Melodie klang, kam von seinen Lippen.

Leonie griff nach dem Erstbesten, das ihr in die Finger kam. »Raus hier, aber sofort!«, brüllte sie und schleuderte die Klobürste nach ihm.

Er fing das unappetitliche Geschoss verdattert auf und stolperte gegen das Waschbecken. Offensichtlich waren Leonies Gesten eindeutig genug. Er ging rückwärts zur Tür hinaus, nicht ohne zuvor die Klobürste wie eine gefährliche Waffe auf dem Boden abzulegen.

Kaum war er draußen, sprang Leonie auf und rammte mit der Schulter die Tür ins Schloss. Mit beiden Händen umklammerte sie die Türklinke. Auf der anderen Seite rührte sich nichts. Sie legte das Ohr an das Türblatt und lauschte. Alles blieb still. Lautlos verfluchte sie den Tag, an dem sie den dämlichen Badezimmerschlüssel verloren hatte.

Ohne die Klinke loszulassen, beugte sie sich vor und linste durchs Schlüsselloch. Außer dem Stromzähler und ihrem Wollschal, den sie schon vor Monaten hatte wegräumen wollen, war nichts zu sehen. Behutsam öffnete sie die Tür und steckte ihren Kopf durch den Spalt. Der Fremde war nicht zu sehen. Sie schlich hinaus auf den Flur. Wohnzimmer und Küche waren ebenfalls leer und die Schlafzimmertür noch immer versperrt. Sie lugte durchs Schlüsselloch. Nichts war zu sehen. Wo war der Kerl? Hatte er die Wohnung verlassen? Leise zog sie den Besen unter der Klinke hervor, hielt ihn schlagbereit in der rechten Hand und öffnete mit einem Ruck die Tür. Nichts! Sorgfältig überprüfte sie alle Schränke und sah sogar unter Bett und Sofa nach. Keine Spur von dem Verletzten. Sie lief zur Wohnungstür – abgeschlossen. Hatte der Typ sich weggebeamt? War er vielleicht eine Art Zauberkünstler? Oder, schlimmer noch, litt sie unter Wahnvorstellungen?

Leonie biss sich auf die Lippen. Darüber wollte sie gar nicht erst nachdenken. Kopfschüttelnd ging sie zurück ins Bad und verkeilte mit dem Besen die Klinke. Auch wenn der Mann offenbar verschwunden war, sie fühlte sich wohler, wenn die Tür verschlossen blieb, während sie duschte.

Es tat gut, das warme Wasser auf ihre Schultern prasseln zu lassen. Sie spülte mit Schmutz und Schweiß zumindest für diesen Augenblick auch ihre Sorgen fort. Anschließend föhnte sie ihre langen Haare trocken und band sie zu einem Zopf. Alles war so wunderbar alltäglich und normal. In diesem Bad war die Welt im Gleichgewicht.

Das Klingeln an der Tür kam so unerwartet, dass sie erschrocken zusammenzuckte. »Shit!«

Verschiedene Szenarien rasten ihr durch den Kopf. Für einen kurzen Augenblick sah sie das Gesicht des Fremden und dann Frau Wolniczaks vorwurfsvolle Blicke. Hastig warf sie sich den Morgenmantel über und eilte zur Tür. Sie warf einen Blick durch den Spion. Vor ihrer Wohnung stand ein Polizist in Uniform.

Der Mann blickte in dem Moment auf, in dem sie durch den Spion lugte, und ein leises, kaum merkliches Lächeln legte sich auf seine Züge. Es war fast so, als könne er sie durch die Tür hindurch beobachten. Leonie schluckte.

»Machen Sie auf, Frau Brandstätter.«

Leonie öffnete die Tür einen Spalt. »Ja, was wollen Sie?«

»Sie hatten vergangene Nacht einen Unfall«, sagte der Mann. Er sprach ruhig und sachlich, ohne den Hauch einer Anklage in der Stimme.

»Wie kommen Sie denn darauf?«, erwiderte Leonie, vielleicht eine Spur zu hastig. Woher wusste die Polizei davon? Und wie hatte man sie so schnell ausfindig machen können?

»Es war auf der L771 in der Nähe von Tremsdorf. Sie erinnern sich doch sicherlich daran?«

Leonie schüttelte stumm den Kopf. Der Mann hatte irritierend farblose Augen, die von einem hellen, verwaschenen Graublau waren.

»Wir haben Ihr Warndreieck gefunden«, sagte der Polizist. Plötzlich trat er näher und senkte die Stimme, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen. Unwillkürlich wich Leonie einen Schritt zurück. »Es hat wohl einen ziemlich lauten Knall gegeben, als das Unfallopfer gegen Ihre Stoßstange geprallt und über Ihr Auto hinweggerollt ist. So etwas lässt sich schwer überhören oder gar übersehen.«

Leonie starrte den Mann an. Sein Lächeln blieb unverändert. Seine Schultern waren leicht gebeugt, wie bei einem Beamten, der zu lange hinterm Schreibtisch gesessen hatte. Äußerlich hatte er nichts Bedrohliches an sich, und doch spürte Leonie eine Furcht, die beinahe an Panik grenzte. Noch ehe sie ein Wort über die Lippen bringen konnte, stand der Polizist schon auf ihrer Türschwelle und fragte: »Wo ist der Mann?«

Leonie wusste nicht genau, was es war, das ihren Widerstandsgeist weckte. Vielleicht war es die instinktive Bereitschaft, einer Bedrohung mit Aggression zu begegnen. Vielleicht war es auch die Sorge um ihre Karriere.

»Welcher Mann? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«

Der Gesichtsausdruck des Polizisten blieb unverändert. Langsam ließ er seinen Blick von Leonies Gesicht bis hinab zu ihren nackten Füßen gleiten, fast so, als versuche er, einen Gegner neu einzuschätzen. »Der Mann, den Sie erst angefahren und dann in Ihren verbeulten Opel Corsa geschleift haben.« Er sah abrupt wieder auf. »Wo ist er?«

Leonie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Es stimmt zwar, dass ich gestern auf der Heimfahrt einen Unfall hatte, aber ich habe keinen Menschen verletzt. Es war ein furchtbares Gewitter und an irgendeinem Waldstück ist mir ein Tier vors Auto gelaufen. Natürlich hatte ich einen Schock. Aber ich bin ausgestiegen und habe überall nachgesehen. Da war nichts. Vielleicht hätte ich den Förster informieren sollen oder so. Es tut mir leid, daran hatte ich nicht gedacht.«

»Sie lügen, Frau Brandstätter.« Die Stimme des Mannes klang amüsiert.

»Und Sie sollten besser Beweise für Ihre wilden Theorien haben!«, erwiderte Leonie trotzig.

Der Mann hob die Hand, als wolle er sie berühren. Leonie wich zurück, und der Polizist schob seine Mütze in den Nacken, während er in die Wohnung kam. »Dürfte ich kurz Ihr Bad benutzen?« Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter, sein Blick huschte in die Küche, und er öffnete die Schlafzimmertür.

»Hey, was fällt Ihnen ein?!«

»Verzeihung, die andere Seite, nehme ich an?« Er schritt rasch hinüber ins Bad.

»Ich habe Ihnen überhaupt nicht erlaubt –«

Die Tür wurde vor ihrer Nase geschlossen.

»Was soll denn das?!«, rief Leonie und griff nach der Türklinke. Es plätscherte. Hastig zog sie die Hand zurück. »Und setzen Sie sich gefälligst hin!«

Kurz darauf ertönte die Klospülung.

Die Tür öffnete sich. »Vielen Dank!«, sagte der Polizist und lächelte. Sein Blick verharrte auf ihrem Ausschnitt.

Leonie sah hastig an sich herab. Ihr Bademantel war verrutscht. Noch während sie ihn zurechtzupfte, war der Mann an ihr vorbeigeschlüpft und schlenderte ins Wohnzimmer.

»Schön haben Sie es hier«, sagte er im Plauderton. Er blickte hinter das Sofa. »So hell und geräumig –«

»Raus!«, schrie Leonie. »Sie verlassen sofort meine Wohnung!«

»Natürlich«, erwiderte der Mann, drehte sich um und kam direkt auf sie zu.

Leonie wich zur Seite aus und warf ihm einen finsteren Blick zu.

Der Polizist trat hinaus in den Hausflur. »Wir werden uns noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen und Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.«

Leonie schlug die Tür hinter ihm zu.

»Einen schönen Tag noch, Frau Brandstätter«, drang es gedämpft in die Wohnung. »Ich hoffe, Sie waren vorsichtig. Der Mann ist schwer krank.«

Sie lugte durch den Spion und erhaschte einen Blick auf den Rücken des Mannes. Einen Augenblick lang erwog sie, die Tür zu öffnen und ihn nach seinem Namen und seiner Dienststelle zu fragen. Aber stattdessen hängte sie die Türkette ein, nahm den Schlüssel vom Regal und drehte ihn zweimal im Schloss um.

Dann sah sie noch einmal durch den Spion. Niemand war zu sehen. Sie lauschte auf das Knarren der Stufen. Erst als sie hörte, wie die Hauseingangstür ins Schloss fiel, atmete sie erleichtert aus.

Leonie ging ins Bad und warf einen angewiderten Blick auf die hochgeklappte Klobrille. Während sie sich mit reichlich Desinfektionsmittel darum bemühte, ihre beschmutzte Privatsphäre wiederherzustellen, fragte sie sich, wie der Polizist sie so schnell gefunden hatte. Der Unfall hatte sich erst vor ein paar Stunden ereignet. Und warum hatte er gesagt, der Fremde sei krank? So fit, wie er nach dem schweren Unfall gewirkt hatte, musste er über eine ausgezeichnete Konstitution verfügen. Oder hatte er von einer Geisteskrankheit gesprochen? Diese Hypothese konnte sie in jedem Fall nicht ausschließen. Vielleicht war er ein aus der Forensik entflohener Mörder oder ein Terrorist?

Leonie, jetzt fängst du an durchzudrehen! Mach dir lieber Gedanken darüber, wie du einer Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung, Trunkenheit am Steuer und Freiheitsberaubung entgehen willst. Der Polizist schien genau zu wissen, was geschehen war – woher auch immer.

Aber er hat dich nicht gleich mit zur Wache genommen, gab eine hoffnungsvollere Stimme in ihr zu bedenken, und das wiederum bedeutet, dass er nichts Konkretes gegen dich in der Hand hat.

Leonie wusch sich die Hände und ging hinüber ins Schlafzimmer. Sie entschied sich für ein dünnes, ärmelloses Baumwollkleid. Das nächtliche Gewitter hatte kaum Abkühlung gebracht, es versprach ein schwüler Tag zu werden.

Sie zog sich an und machte das Bett. Dabei fand sie einige Verbandsreste unter der zerwühlten Decke. Kopfschüttelnd betrachtete sie die von rostbraunen Blutflecken durchsetzten weißen Stoffbänder. Warum hatte der Fremde sie entfernt? Der Mann war ein völliges Rätsel – und er würde es wohl auch für immer bleiben. Ein Umstand, den sie nicht sonderlich bedauerte … nicht sonderlich, aber ein wenig doch, wie sie überrascht feststellte.

Seufzend schüttelte sie das Kissen auf und ging hinüber zum Fenster. Sie öffnete die Flügel weit, um ein wenig frische Morgenluft hereinzulassen, bevor die Wärme unerträglich wurde. Die Zweige des großen alten Kastanienbaums im Hof raschelten leise.

Leonie stutzte. Es war völlig windstill. Sie warf einen Blick nach unten und erstarrte. Ein nackter Mann mit einem zerfetzten Verband am Bein hatte sich in Höhe des zweiten Stocks irgendwie mit einem Fuß hinter dem Abflussrohr der Dachrinne verkeilt und zog mit der linken Hand an einem Ast, während er die rechte nach einer unreifen Kastanie ausstreckte.

3

Leonies Augen wurden groß. Es bestand kein Zweifel daran: Sie hatte gestern Nacht einen Geisteskranken in ihre Wohnung geschleppt. Und dieser Wahnsinnige kletterte nun wie ein Gecko an der Hausfassade entlang und versuchte unter Lebensgefahr, eine Kastanie vom Baum zu pflücken – noch dazu nackt! Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, fand dieser Irrsinn auch noch direkt unterhalb von Frau Wolniczaks Küchenfenster statt. Leonie dachte daran, den Kerl einfach zu ignorieren, die Fenster zu schließen und zu hoffen, dass er irgendwann verschwand. Dann fiel ihr der merkwürdige Polizist wieder ein und ein Schauer lief ihr über den Rücken. So einfach war die ganze Angelegenheit leider nicht. Sie hatte den Fremden angefahren und hierhergeschleppt.

»Hey!«, wisperte Leonie in den Hof hinab.

Der Mann tastete sich dichter an die Kastanie heran.

»Hey«, wisperte Leonie nun etwas lauter und schielte gleichzeitig zum Küchenfenster ihrer alten Nachbarin. Hatten die weißen Gazevorhänge sich nicht gerade ein winziges bisschen bewegt?

Plötzlich raschelte es. Der Mann gab eine Art gutturales Trällern von sich und hielt mit glücklichem Lächeln die stachelige Frucht in der Hand.

»Ja, großartig, eine Kastanie – ich bin mir sicher, sie ist ein ganz wundervolles Exemplar, für das man ruhig sein Leben riskieren kann«, murmelte Leonie. Etwas lauter zischte sie: »He, du!«

Der Mann sah auf und warf ihr ein strahlendes Lächeln zu.

Leonie bleckte die Zähne. »Kaum rauf!«, zischte sie und gestikulierte wild. »Aber leise!«

Er schien zu verstehen. Jedenfalls steckte er die Kastanie zwischen die Kiefer und begann geschickt, das Abflussrohr der Dachrinne emporzuklettern.

Leonie hielt die Luft an, als er sich auf Höhe ihres Fensters hinüberlehnte, das Fensterbrett mit der rechten Hand packte und Anstalten machte, die Dachrinne loszulassen.

»Was soll das denn werden? So geht das nicht. Warte, ich hole etwas, woran du dich festhalten –«

Der Mann ließ los. Einen winzigen Moment lang schien er in der Luft zu schweben, dann holte er irgendwie Schwung, und im nächsten Moment landete er geschmeidig vor ihr auf dem Fensterbrett. Leonie stolperte überrascht ein paar Schritte zurück. Der Mann folgte ihr und sprang von der Fensterbank ins Zimmer. Seine sehnigen Muskeln zeichneten sich deutlich unter der braunen Haut ab. Er betrachtete die Kastanie in seiner Hand und drückte den Daumen in die harte Schale. Ohne Schwierigkeiten brach er sie auf.

Leonie wich instinktiv einen weiteren Schritt zurück. Der Fremde hatte überall Schnitte gehabt und müsste eigentlich mit grün-blauen Hämatomen übersät sein. Stattdessen glänzte die Morgensonne warm auf seiner makellosen Haut. Von der tiefen Platzwunde an der Schläfe war nur ein winziger, verschorfter Riss geblieben. Er hatte sich den Arm ausgekugelt. Leonie selbst hatte ihn eingerenkt. Sehnen und Bänder waren vollkommen überdehnt gewesen. Mit so einem Arm konnte man unmöglich klettern. Und, wie ihr gleich darauf einfiel, erst recht nicht mit einem gebrochenen Bein.

Leonie wich zurück, bis sie mit den Waden gegen das Bett stieß. Hatte sie sich am Vortag so getäuscht? Waren die Verletzungen harmlos gewesen und der Schock hatte ihr wirre Bilder vor Augen gemalt? Sie schüttelte den Kopf.

»Wer bist du?«, kam es tonlos von ihren Lippen.

Statt einer Antwort betrachtete der Fremde interessiert den unreifen, blassen Kastanienkern und biss hinein. Nur um den zähen, bitteren Brocken gleich darauf wieder hastig auszuspucken. Er schüttelte sich, und sein Gesicht zeigte dabei eine solch tief empfundene Überraschung und eine beinahe kindlich anmutende Empörung, dass Leonie unwillkürlich lächeln musste und sich ihr aufgeregt flatterndes Herz wieder etwas beruhigte.

»Okay«, murmelte sie, »fangen wir einfach noch mal von vorn an.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Guten Morgen, ich bin Leonie. Es tut mir leid, dass ich dich angefahren habe, aber wie ich sehe, geht es dir schon wieder deutlich besser.«

Der Mann betrachtete interessiert ihre Hand, machte aber keine Anstalten, sie zu ergreifen. Stattdessen wanderte sein Blick nach oben und er sah ihr in die Augen.

Leonie starrte ihn an. Als sie den Fremden an diesem Morgen in einer zugegebenermaßen recht außergewöhnlichen Situation das erste Mal in wachem Zustand gesehen hatte, hatte sie den Eindruck makelloser Schönheit gehabt. Nun wurde ihr bewusst, was wirklich das Besondere an ihm war. Es waren nicht unbedingt die markanten Linien oder seine exotischen Gesichtszüge. Es gab genug männliche Fotomodelle, deren Gesichtszüge perfekter geschnitten waren. Was ihn so außergewöhnlich machte, war die ursprüngliche und übersprudelnde Lebendigkeit, die sich in seinem Gesicht widerspiegelte. Es schien, als hätte die Urkraft des Lebens selbst Gestalt angenommen. Seine Augen waren von einem dunklen, intensiven Grün, wie sie es noch nie gesehen hatte, und sie schienen tief in sie hineinzublicken. Sie fühlte sich auf eine seltsame, weit über das Körperliche hinausgehende Art und Weise nackt und ungeschützt. Hastig schlug sie die Augen nieder und starrte auf seine schmutzigen nackten Zehen. Das beruhigte sie wieder. Sie räusperte sich und wiederholte ihre Worte auf Englisch.

Er sah sie weiterhin interessiert, aber ahnungslos an.

Sie kramte ihr Schulfranzösisch hervor und probierte es schließlich noch auf Latein – vergeblich.

Der Mann sagte etwas und die Worte perlten von seinen Lippen wie eine fremde, exotische Melodie. Es klang freundlich, konnte aber alles Mögliche bedeuten. Vielleicht bot er ihr gerade an, in einem kannibalistischen Akt der Völkerverständigung ihre rechte Wade zu verspeisen und im Gegenzug eine seiner Nieren für sie in der Pfanne zu braten?

Plötzlich trat er näher, umfasste mit beiden Händen ihren Kopf und legte seine Stirn an ihre. Er blies sie mit seinem warmen Atem an. Leonie war zu überrascht, um zu reagieren. Sie spürte nur ein sanftes Prickeln auf der Haut. Der Fremde sagte irgendetwas, dann trat er zurück und lächelte sie an.

»Okay«, sagte Leonie, »ich vermute mal, das war jetzt eine Art Begrüßung?«

Er antwortete mit einem melodiösen, aber völlig unverständlichen Wortschwall. Dann deutete er auf seine Brust und wiederholte ein Wort, mehrmals und betont deutlich. Es klang wie: »Ch’arih …«, und dann folgte eine Silbe, für die eine menschliche Zunge eigentlich nicht geschaffen sein konnte.

»Ari …? Ist das dein Name?«

Der Mann blickte sie einen Moment lang stirnrunzelnd an. Dann nickte er lächelnd. »Ari.«

Leonie legte die Hand auf ihre Brust und sagte: »Leonie. Ich heiße Leonie.«

Der Mann nickte und wiederholte völlig akzentfrei: »Leonie.«

»Hey, offenbar bist du sprachbegabter als ich. Pass auf, Ari, ich mache dir folgenden Vorschlag: Als Erstes gehst du duschen. Ich organisiere dir etwas zum Anziehen. Dann bringe ich dich dorthin zurück, wo du hergekommen bist, und wir tun so, als wären wir uns nie begegnet. Einverstanden?«

Ari blickte sie konzentriert an. Dann zeigte er auf die Kastanie und ließ sie fallen. Anschließend führte er seine Hand zum Mund, trällerte irgendein völlig unverständliches Wort und machte Kaubewegungen.

»Ah, du hast Hunger. Ich verstehe. Gut, dann gibt es nach dem Duschen noch ein Frühstück, bevor wir aufbrechen, in Ordnung?«

»Frühstück«, wiederholte Ari.

»Ja, Frühstück. Und jetzt zeige ich dir die Dusche. Komm mit.« Sie winkte ihm und ging voraus.

Der Mann folgte ihr bereitwillig. »Frühstück«, murmelte er, und es klang, als amüsiere er sich über die Anordnung der Silben.

Leonie schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. In welch absurde Situation war sie nur hineingeraten? Sie öffnete die Badezimmertür und zog den Duschvorhang beiseite: »Bitte sehr, ich wünsche viel Vergnügen!«

Der hohe Flur lag im Halbdunkel. Es roch nach Bohnerwachs. Der Stuhl aus dunkel gebeiztem Holz knarrte leise, als er sich zurücklehnte. Falk Hartmann wartete geduldig. Er hatte Jahre gebraucht, um so weit zu kommen. Auf ein paar Stunden mehr kam es nicht an. Er blickte hinüber zu der doppelflügeligen Tür, durch die gedämpfte Schreie zu ihm herausdrangen. Hartmann atmete tief ein, und seine Finger strichen über die kunstvollen Schnitzereien an den Stuhllehnen. Ein leises Kribbeln durchfuhr ihn.

Irgendwann erstarben die gedämpften Schreie. Er stand auf und schlenderte auf die Tür zu. Wenige Minuten später wurde die Klinke heruntergedrückt. Zornig gewisperte Worte drangen an sein Ohr »… verschwendete seine Zeit damit, den Spalt zu suchen, anstatt den Schlüssel zu ergreifen. Er hat ein doppeltes Spiel gespielt. Vielleicht tut er das noch immer?«

»Das bezweifle ich«, erwiderte eine weibliche Stimme.

Ein breitschultriger, riesenhafter Mann trat heraus und nickte ihm zu. Ohne Hast ging Hartmann an dem Hünen vorbei in einen schwach erleuchteten Saal. Drei Gestalten blickten ihm entgegen. Das Kribbeln in seinem Bauch wurde stärker. Jeder von ihnen war ein Magister Maximus Gnosticus – der innerste Kreis.

Hartmann trat vor und sank geschmeidig zu Boden. Seine Stirn berührte den kalten Marmor. Die feinen italienischen Schuhe vor seinen Augen waren beschmutzt, ein dunkler, dickflüssiger Tropfen rann über das glänzende Leder hinab auf den frisch gereinigten Boden.

»Steh auf!«

Er gehorchte.

Die Meister fixierten ihn. Ihre Blicke waren schwer zu deuten. Durch den dunklen Schleier aus Macht und Mysterium spürte er Zorn und mühsam unterdrückte Erregung, aber zu seinem nicht geringen Erstaunen auch so etwas wie Furcht.

»Du weißt, warum wir dich rufen ließen?«, fragte der älteste der drei. Er war ein schmalbrüstiger Mann mit gestutztem grauen Bart, der im bürgerlichen Leben unter dem Namen Herbert van Thomsen im Vorstand eines großen Ölkonzerns saß. Wie er wirklich hieß, wusste niemand.

Hartmann nickte.

»Der Leviathan erhebt sein Haupt aus den brodelnden Fluten und zerrt an den Ketten, die ihn gefangen halten.« Er blickte Hartmann in die Augen. »Er duldet nicht, dass Versagen und Ungehorsam ihm entgegenstehen. Wie weit bist du vorangekommen?«

»Ich bin dicht dran. Gebt mir Zeit bis morgen.« Hartmann sprach ruhig, aber das Blut in seinen Adern rauschte.

»Du scheinst dir sehr sicher zu sein … vielleicht zu sicher?« Der Graubärtige hob die Brauen.

Falk Hartmann ertrug seinen stechenden Blick. »Wann habe ich euch jemals enttäuscht?«, erwiderte er ruhig.

»Deine bisherigen Aufträge waren nichts im Vergleich zu dem, was dich nun erwartet«, erklärte ein anderer der drei Meister – ein hagerer und blassgesichtiger Mann Ende fünfzig. Er nannte sich Dr. Mark Schemkowski und forschte als Physiker am Max-Planck-Institut. »Hier geht es um mehr, als du dir vorzustellen vermagst!« Er machte eine kurze, bedeutungsvolle Pause. Dann fuhr er fort: »Vermutlich ahnst du bereits, dass dein bisheriger Mentor die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte?«

Hartmann dachte an den Blutstropfen auf dem feinen ledernen Herrenschuh und nickte.

»Er beging einen zweifachen Fehler. Erst ließ er sich überraschen und reagierte zu spät und dann hielt er sich für klüger als seine Meister!«

»Was soll ich tun?«

»Du wirst die Stelle deines Mentors einnehmen.«

»Uns ist bewusst, dass du nicht die leiseste Ahnung hast, worum es hier eigentlich geht«, warf die einzige Frau in der Runde ein. Mit Ende dreißig war sie ungewöhnlich jung. Sie gehörte noch nicht lange zum innersten Kreis. Hartmann wusste nur, dass sie Medizinerin war und sich mit Gentechnik beschäftigte. Ihren Namen kannte er nicht. Sie hob ihre makellosen gezupften Augenbrauen. »Aber du verfügst über Eigenschaften, die sehr nützlich sind. Und wenn du dich bewährst«, ihre Lippen kräuselten sich, »dann wird dein Lohn alle deine Vorstellungen übertreffen.«

»Du wirst die Weihe empfangen«, sagte der Bärtige.

Hartmann verbeugte sich. »Es ist mir eine große Ehre.«

Die drei nickten stumm. Doch Hartmann entging das schwer zu deutende Funkeln in den Augen der Frau nicht.

»Folge uns!«, sagten die drei wie aus einem Munde. Es klang wie der Beginn eines Ritus.

Die Meister wandten sich um und gingen auf eine unscheinbare, verschlossene Tür zu.

Hartmann war kein religiöser Mensch. Er glaubte nicht an übernatürliche personenhafte Wesenheiten, die sich für die Belange der Menschen interessierten. Aber er glaubte an das Prinzip der Macht und an die gewaltigen Möglichkeiten, die ihm innewohnten. In seinen Augen waren Begrifflichkeiten wie »Gott«, »Engel«, »Teufel«, »Dämonen« nichts anderes als kindische Vorstellungen, die den wahren Charakter des Übernatürlichen eher verschleierten als offenbarten. Die Wahrheit lag jenseits von Gut und Böse, so wie das Magma in der Tiefe der Erde weder gut noch böse war, ob es nun heiße Quellen speiste, in denen Menschen badeten, oder in gewaltigen Eruptionen hervorbrach und Tod und Verheerung brachte. Ebenso gab es eine unpersönliche, aber gewaltige Quelle kosmischer Energie. Eine Quelle, der er sich immer weiter genähert hatte, seit er Stufe um Stufe in den Hierarchien des uralten Ordens erklommen hatte.

Hartmann glaubte nicht an übernatürliche Wesen. Aber als er diese Tür vor sich sah, zögerte er. Ein ungewohntes, fast vergessenes Gefühl keimte in ihm auf: Furcht! Nein, Furcht war das falsche Wort. Eine irrationale, nahezu kindische Angst griff nach ihm und schnürte ihm die Kehle zu. Hinter dieser Tür wartete etwas, etwas Wissendes, Lauerndes, unsagbar Böses. Sein Herz pochte, seine Nackenhaare sträubten sich. Er konnte den Widerwillen, diese Schwelle zu übertreten, körperlich spüren. Geh nicht!, schrie es in ihm. Kehr um! Flieh, so schnell du kannst!

Die Frau schien sein Zögern zu spüren. Sie wandte sich um und hob kühl eine Augenbraue.

Hartmann reagierte, ohne nachzudenken. Gleichmäßig setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Angst schrie weiterhin in ihm und dennoch ging er weiter. Eine andere Stimme in seinem Inneren übertönte die ängstlichen Warnungen: Es ist zu spät, um jetzt noch umzukehren!

Die Meister öffneten die Tür und traten ein. Hartmann zögerte erneut einen winzigen Moment. Ein süßlicher Geruch schlug ihm entgegen. Er ballte die Hände zu Fäusten und trat über die Schwelle. Samtschwarze Stille schluckte jedes Geräusch bis auf seinen eigenen keuchenden Atem.

Aus dem Bad drang das gleichmäßige Plätschern der Dusche. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Mischbatterie und Lauten des Staunens über das plötzlich hervorsprudelnde Wasser hatte Ari sich offenbar rasch an den Luxus einer warmen Morgendusche gewöhnt. Er war nun schon über eine halbe Stunde im Bad. Durch die Türritzen drang bereits feiner Wasserdampf in den Flur.

Leonie deckte den Frühstückstisch und kochte Kaffee. Dann machte sie sich auf die Suche nach passender Kleidung für ihren unfreiwilligen Besucher. In der hintersten Ecke ihrer Abstellkammer stieß sie schließlich auf einen alten Koffer, in dem sie allerlei Kuriositäten aufbewahrte. Dort fand sie ein muffig riechendes Hertha-Trikot, Größe XL. Sie erinnerte sich, dass sie es vor vielen Jahren einmal getragen hatte, ihrem damaligen Freund zuliebe. Die Freundschaft hatte nicht allzu lange gehalten. Die passende Hose lag unter einem Stapel von Stoffresten, die sie als Putzlappen verwendete. Es war eine alte fadenscheinige Baumwolljogginghose, deren Farbe sie nach längerem Betrachten unter Anthrazit-Rosa einordnete. Wer ihr dieses Prachtexemplar vererbt hatte, blieb allerdings in den Nebeln der Vergangenheit verborgen.

Leonie klopfte an die Badezimmertür. Die Dusche lief noch immer. »Ari?«

Keine Reaktion.

»Alles in Ordnung?« Sie legte das Ohr an die Tür und lauschte. Als eine halbe Minute verstrichen war, drückte sie die Klinke herunter und stieß die Tür einen Spalt auf. Wasserdampf schlug ihr entgegen. »Ari?«

Langsam zog der Dampf ab und sie konnte seine Gestalt hinter dem Duschvorhang erkennen. »Was machst du denn da so lange?«

Wieder erfolgte keine Reaktion. Leonie seufzte. Da er sich nicht an die Regeln des Anstands hielt, brauchte sie es wohl auch nicht zu tun. Sie trat vor und zog den Duschvorhang beiseite. Ari stand reglos und mit geschlossenen Augen unter der Dusche. Nur seine Lippen bewegten sich und flüsterten leise fremdartige Worte, die im Rauschen des Wassers untergingen.

Was tat er da? War er in eine Art Trance verfallen? In jedem Fall schien er sie überhaupt nicht zu bemerken. Unschlüssig verharrte Leonie. Schließlich bemerkte sie, wie ihre Augen unwillkürlich dem Lauf des perlenden Wassers folgten, es rann über seine straffe, makellose Haut … Leonie spürte ein Ziehen in der Magengegend. Nein!, sagte sie zu sich selbst. Sei keine Idiotin! Entschlossen trat sie vor und stellte das Wasser aus.

Ari schlug die Augen auf. Ein jungenhaftes Lächeln legte sich auf seine Züge, als er sie ansah, und ein Schwall melodiöser Worte kam über seine Lippen.

Plötzlich fühlte Leonie Scham in sich aufsteigen. Sie wich seinem Blick aus und reichte ihm ein Handtuch. »Ich leg dir was zum Anziehen aufs Waschbecken. Und beeil dich, sonst wird der Kaffee kalt.« Leonie hoffte, dass ihre Gesten hinreichend verständlich waren.

Sie verließ das Bad und wartete in der Küche. Nachdenklich goss sie sich Kaffee ein und starrte, den Becher in beiden Händen haltend, aus dem Fenster. Eine seltsame Ahnung überkam sie. Nur zweimal in ihrem Leben hatte sie ein ähnliches Gefühl gehabt. Das erste Mal, als sie 12 Jahre alt gewesen war und plötzlich mit unumstößlicher Gewissheit wusste: Papa wird sterben! Nur zwei Wochen später hatte der ausgemergelte Körper ihres Vaters den Kampf gegen den Krebs verloren. Das zweite Mal war sie 19 Jahre alt gewesen. Es war der Abend ihres Abi-Balls. Sie stand allein auf einem Balkon, laute Musik drang zu ihr heraus, während die ersten warmen Nieseltropfen auf sie herabfielen. Sie hatte einen Studienplatz in Betriebswirtschaftslehre und wusste doch plötzlich mit absoluter Sicherheit: Du wirst Ärztin werden. Diese Erkenntnisse waren beide in einer nüchternen Klarheit zu ihr gekommen, und genau die gleiche Gewissheit empfand sie auch jetzt: Seit ungefähr 14 Stunden ist diese Welt kein vertrauter Ort mehr für dich. Nichts in deinem Leben wird so bleiben wie zuvor.

Leonie nippte an ihrem Kaffee und staunte ein wenig über ihre eigene Gelassenheit. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Ari betrat den Raum, die Hose lässig um die Hüfte gebunden, das Trikot wie ein Stirnband um seine langen, nassen Haare gewickelt, und es klingelte an der Tür.

4

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, fuhr Leonie den verunsichert lächelnden Ari an.

Der junge Mann zupfte etwas hilflos an einem Ärmel des Hertha-Trikots, der ihm dekorativ über das rechte Ohr hing.

Es klingelte ein weiteres Mal.

»Warte hier!«, knurrte Leonie. »Und bleib weg vom Fenster!«

Sie eilte zur Tür und lugte durch den Spion. Ein Mann in einer beige-grünen Polizeiuniform beugte sich vor und drückte erneut auf den Klingelknopf. Shit! Leonie fuhr herum und hetzte zurück zu Ari. »Vergiss, was ich gesagt habe. Das Fenster ist eine ganz großartige Idee. Du musst raus hier, und zwar schnell!« Sie packte ihn an der Schulter und schob ihn ins Schlafzimmer. Dann öffnete sie das Fenster und befahl: »Raus!«

»Raus?« Ari runzelte die Stirn und kratzte sich nachdenklich am Gesäß.

»Ja, raus. Verdammt noch mal. Mach schnell. Bleib draußen, bis der Typ weg ist. Ich sage dir Bescheid, wenn die Luft wieder rein ist. Dann musst du so schnell wie möglich wieder reinkommen. Alles klar?«

Ari lächelte höflich und sprang auf das Fensterbrett. Natürlich war überhaupt nichts klar, aber Leonies hektisches Gestikulieren schien ihm zumindest ausreichend verdeutlicht zu haben, dass sein Aufenthalt in dieser Wohnung nicht länger erwünscht war.

Es klopfte an der Tür und eine ungeduldige Männerstimme rief: »Ich weiß, dass Sie zu Hause sind. Bitte machen Sie auf!«

»Raus«, wiederholte Ari und schwang sich über das Fensterbrett.

»Richtig!«, sagte Leonie und schlug das Fenster vor seiner Nase zu.

Dann hetzte sie ins Bad, betätigte die Klospülung und rief: »Ich komme ja schon!«

Sie hängte die Kette aus und öffnete die Tür.

»Was wollen Sie denn schon wieder hier?«, fauchte Leonie, und gleichzeitig sagte der Polizist in vorwurfsvollem Tonfall: »Das hat ja ganz schön lang gedauert.«

Dann schwiegen beide.

Verblüfft stellte Leonie fest, dass der bärtige junge Mann mit den breiten Schultern nichts mit dem unangenehmen Beamten gemein hatte, der zuvor bei ihr gewesen war. Und auch der Polizist schien aus irgendwelchen Gründen überrascht. Einen Moment lang starrte er sie mit offenem Mund an. Dann glitt sein Blick zum Klingelschild, und seine bärtigen Wangen röteten sich. Er räusperte sich und sagte nun etwas freundlicher: »Frau … äh, Brandstätter, es tut mir leid, dass ich Sie stören muss. Aber es gab einen Hinweis, dem wir nachgehen müssen.«

»Was für ein Hinweis?«, fuhr Leonie ihn an. »Ich habe Ihrem Kollegen doch schon alles über den Unfall gesagt.«

»Unfall? Tut mir leid, Frau Brandstätter, ich weiß nicht, was Sie meinen.« Er kratzte sich am Hinterkopf.

Leonie betrachtete ihn aufmerksamer. Etwas an dieser Geste kam ihr vage vertraut vor.

Der Polizist fuhr in amtlichem Tonfall fort: »Es gibt eine Meldung, der wir nachgehen müssen, und –«

»Rubi?!«, entfuhr es Leonie. »Ruben Lemke, bist du das?«

Der Mann zuckte zusammen und fuhr fort: »Möglicherweise haben Sie mit der ganzen Sache nichts zu tun, aber es ist unsere Pflicht, allen Hinweisen nachzugehen.«

»Du bist es wirklich!«, rief Leonie triumphierend. »Der dicke Rubi … Paulsen-Gymnasium siebente bis dreizehnte Klasse. Jetzt tu nicht so, als würdest du mich nicht erkennen. Du hast mich immer abschreiben lassen. Außerdem warst du in meine beste Freundin Hanna verknallt. Verrückt, wir haben uns mindestens zehn Jahre nicht gesehen. Wie geht’s dir? Du siehst wirklich gut aus, richtig fit. Warum bist du eigentlich bei den Bullen gelandet? Ich dachte immer, du wirst Pfarrer oder so was.«

»Leonie«, erwiderte der Mann mit gequältem Lächeln, »ich –«

»Ha! Ich wusste doch, dass du es bist.« Leonie lächelte. Sie war erleichtert, dass ihr eine zweite Begegnung mit dem aufdringlichen Polizisten von heute Morgen erspart blieb. Aber sie freute sich auch aufrichtig, einen alten Schulkameraden zu treffen. Rubi war ein netter, etwas unbeholfener Junge gewesen, der als guter Kumpel zu ihrer eingeschworenen Clique gehört hatte.

»Leonie, ich bin im Dienst. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über alte Zeiten zu plaudern.«

»Schade, ich fänd es nett. Aber meinetwegen, erledige deinen Job. Welche dramatischen Ereignisse führen dich zu mir?«

Die ohnehin schon roten Wangen von Ruben Lemke wurden noch eine Spur röter. »Es geht um etwas … anderes.«

»Ich verstehe!«, unterbrach Leonie. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich vermute, die besorgte Nachbarschaft hat sich bei euch gemeldet, genauer gesagt, eine besorgte Nachbarin. Sie heißt Hannelore Wolniczak und steht gerade lauschend hinter ihrer Wohnungstür, habe ich recht?« Die letzten Worte hatte sie mit erhobener Stimme gesprochen. Und für einen kurzen Moment glaubte sie, das leise Knarren von Dielen zu hören, als die alte Frau in der Nachbarwohnung ertappt zusammenzuckte.

»Es spielt doch keine Rolle, wer –«, setzte Ruben an.

Leonie unterbrach ihn erneut: »Was ist es dieses Mal? Behauptet sie wieder, ich würde in meiner Wohnung Drogenpartys feiern? Hat sie in einem meiner Bekannten einen gesuchten Terroristen wiedererkannt? Hat sie dir erzählt, dass ich in der Nacht heimlich ihren Briefkasten mit Werbematerial verstopfe, dass ich Ratten in meiner Wohnung züchte und ihre Katze vergiftet habe?«

»Äh …«

»Hat sie dir auch anvertraut, dass ich in Vollmondnächten nackt auf dem Dach schlafwandle?«

Rubens Gesicht war anzusehen, dass sie zumindest mit einigen ihrer Vermutungen ins Schwarze getroffen hatte. »Leonie, ich –«

Die Nachbartür wurde aufgerissen und das zornige Gesicht einer älteren Dame erschien. »Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen!«, fauchte die Frau. »Und ich werde nicht zulassen, dass Sie in diesem Haus weiter Ihr Unwesen treiben!«

»Guten Morgen, Frau Wolniczak«, grüßte Leonie kampfeslustig. »Sind Sie ausgeruht und bereit für die Terroristenjagd? Der letzte arabische Selbstmordattentäter, der meine Wohnung verließ, war übrigens ein italienischer Koch. Und das Einzige, das er in seinem Leben bisher getötet hat, war frischer Kohlrabi.«

»Sehen Sie, Herr Wachtmeister, wie sie die Dinge verdreht? Ich sage Ihnen, ihr ist alles zuzutrauen.«

»Na, Frau Wolniczak, nun übertreiben Sie es nicht –«, setzte Ruben an.

»Hier über den Flur hat sie die Leiche gezerrt. Ich habe es genau gesehen!«, unterbrach ihn die alte Frau keifend.

Leonie schnaubte spöttisch. »Oh, jetzt bin ich sogar zur Leichensammlerin aufgestiegen«, erwiderte sie. »Vermutlich war gerade Vollmond und mir wuchsen lange Reißzähne aus dem Mund. Lesen Sie gerne Vampirromane, Frau Wolniczak? Ich finde, blutsaugende, vertrocknete Untote würden hervorragend zu Ihnen passen.«

Ruben seufzte leise und massierte sich die Nasenwurzel.

»Sie waren nicht nackt, aber der Tote war es«, erwiderte die alte Frau. »Und ich bin mir sicher, mich würden Sie am liebsten auch tot sehen.«

»Auch wenn es mir aus Prinzip schwerfällt, aber in diesem Fall bin ich durchaus geneigt, Ihnen zuzustimmen«, zischte Leonie.

»Haben Sie das gehört, Herr Wachtmeister?«, kreischte die alte Dame. »Haben Sie gehört, diese Person hat mich bedroht! Sie will mich umbringen!«

Leonie lachte spöttisch.

Das war der Moment, in dem Ruben Lemke die Geduld verlor. »Ruhe!«, brüllte er mit einer Donnerstimme, die Leonie erschrocken zusammenfahren ließ.

»Aber, Herr Wachtmeister –«, meldete sich Frau Wolniczak.

»Ruhe, verdammt noch mal! Ich werde mir das nicht länger anhören!« Er fuhr zu der alten Dame herum, die daraufhin erbleichend einen Schritt zurückwich. »Sie gehen jetzt sofort zurück in Ihre Wohnung, schließen die Tür hinter sich und begeben sich in Ihr Wohnzimmer, weit weg von der Tür. Habe ich mich klar ausgedrückt?!«

»Aber –«

»Sofort!«

Schneller, als Leonie ihr zugetraut hätte, schlüpfte Frau Wolniczak in ihre Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu. »Bravo, Rubi. Wo hast du gelernt, dich –«

»Halt die Klappe, Leonie«, herrschte Ruben sie an. »Du beantwortest jetzt einfach meine Fragen. Keine Plaudereien über die Vergangenheit und kein Wort zu deinen kindischen Nachbarschaftsstreitigkeiten.«

Leonie presste die Lippen zusammen und nickte. Sie war wütend, aber auch ein wenig beschämt.

»Die ganze Sache hat einen ernsten Hintergrund«, sagte Ruben. »Ein Mann wurde als vermisst gemeldet, und wir sind angehalten, jeder Spur nachzugehen.«

»Ach?«, Leonie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie hob die Brauen. »Werden in Berlin nicht täglich Hunderte von Menschen als vermisst gemeldet?«

»Keine Fragen, Leonie. Nur Antworten – klar und präzise. Also, was ist dran an dieser Geschichte? Hast du gestern Nacht einen leblosen Mann in deine Wohnung gebracht?«

Leonie verbarg ihre aufkeimende Besorgnis hinter einem lasziven Lächeln. »Ich habe von einer Feier Herrenbesuch mitgebracht. Das ist wohl kaum ein Verbrechen. Der Mann war ganz sicher nicht tot, und ich würde es auch für übertrieben halten, ihn als vollkommen unbekleidet zu bezeichnen, zumindest, als wir uns im Hausflur befanden.«

»Schon gut, ich verstehe«, sagte Ruben. »Kanntest du den Mann schon länger?«

»Ich wüsste zwar nicht, was dich das angeht, aber … nein. Wir haben uns erst an diesem Abend kennengelernt. Ich hatte ein bisschen getrunken, und es war eine aufregende Nacht, also frag mich nicht nach allzu vielen Details.«

»Das werde ich nicht.«

Etwas an seinem Tonfall versetzte Leonie einen kleinen Stich.

»Ist der Mann noch bei dir?«

»Nein.«

»Hättest du etwas dagegen, wenn ich mich in deiner Wohnung ein wenig umsehe?«

»Überhaupt nicht.« Leonie trat zur Seite. »Komm rein.«

Ruben betrachtete sie, bis sie die Augen niederschlug. Dann sagte er: »Ich denke, das ist nicht nötig. Du solltest zukünftig etwas vorsichtiger sein. Es ist nicht ungefährlich, sich mit völlig Unbekannten einzulassen.« Er reichte ihr die Hand. »Ich wünsche dir noch einen schönen Tag. Es war … interessant, dich nach all den Jahren wiederzutreffen.«

»Ja, das fand ich auch«, meinte Leonie und erwiderte seinen Händedruck. »Vielleicht können wir uns ja bei Gelegenheit noch mal in Ruhe unterhalten?«

Er lächelte knapp. »Du solltest dich mit deiner Nachbarin aussöhnen.« Er wandte sich ab und sagte laut in Richtung Nachbarstür: »Und Sie sollten sich lieber an die Anweisungen der Polizei halten, Frau Wolniczak.«

Erneut knarrten die Dielen hinter der Tür der alten Dame.

Ruben stieg ohne ein weiteres Wort die Stufen hinunter.

Leonie blickte ihm nur kurz nach. Dann sandte sie einen mörderischen Blick zur Nachbarwohnung und schlug die Tür zu. Anschließend hetzte sie zurück ins Schlafzimmer. Es grenzte an ein Wunder, dass Frau Wolniczak den im Hof herumkletternden Ari noch nicht bemerkt hatte, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihren Beobachtungsposten zum Küchenfenster verlegen würde.

Leonie riss das Fenster auf. »Ari!«, flüsterte sie. »Verdammt noch mal, wo steckst du?«

Es raschelte im Gebüsch bei den Mülltonnen. Aris eifriges Gesicht erschien zwischen den Blättern. »Leonie.« Er gab ein paar gutturale Laute von sich, die perlend wie Gesang zu ihr nach oben drangen, dabei winkte er mit irgendwelchem Grünzeug zu ihr hinauf.

Leonie schielte nervös zu den Fenstern ihrer Nachbarin hinüber. »Lass das Gebüsch, wo es ist, und komm rauf, schnell!« Sie winkte hektisch und Ari schien zu verstehen. Er stopfte die Blätter in seinen Jogginghosengürtel. Dann nahm er kurz Anlauf, sprang leichtfüßig auf das kleine Mäuerchen neben der Biomülltonne. Von dort aus schnellte er ein gutes Stück höher gegen die Rückwand des Hinterhauses, um sich dann mit einer blitzschnellen federnden Bewegung zu einem dicken Ast des alten Kastanienbaumes hochzukatapultieren. Von dort schwang er sich mühelos hinauf und kletterte die Äste des Baumes mit einer Geschwindigkeit hoch, als würde er im Laufschritt eine Rolltreppe emporeilen.