Der Sternenritter - Juri Susanne Pavlovic - E-Book

Der Sternenritter E-Book

Juri Susanne Pavlovic

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Beschreibung

Wolfram der Spielmann ist kein Freund von Chaos, aber Chaos ist ein Freund von Wolfram dem Spielmann. Kaum hat Wolfram den geheimnisvollen Turm betreten, trachtet man ihm auch schon nach dem Leben. Inmitten einer prachtvollen höfischen Hochzeit ist es schwer, den Überblick zu behalten, und als dann auch noch ein toter Ritter quicklebendig durch die Gegend spaziert, geraten die Dinge völlig außer Kontrolle. In weiteren Rollen: Sindri und seine Sippe, eine geheimnisvolle Hofdame, ein streitwütiges Pferd, ein Kürenberger Vorfahr und ein Huhn, das über sich hinauswächst. Von Juri Susanne Pavlovic sind folgende Romane im Abrantes-Zyklus erschienen: Das Spielmannslied Der Sternenritter Feuerjäger 1: Die Rückkehr der Kriegerin Feuerjäger 2: Herz aus Stein Feuerjäger 3: Das Schwert der Königin Die Herren von Nebelheim Drei Lieder für die Königstochter Frost-Chroniken 1: Krieg und Kröten Frost-Chroniken 2: Der letzte Magier

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Wolfram von Kürenberg

DER STERNENRITTER

Aus dem Abrantinischen von Susanne Pavlovic

zweite, durchgesehene Auflage

Copyright: Susanne Pavlovic 2013

Amrûn Verlag, 2016

Umschlaggestaltung: Agnes Köhler, Bamberg

eBook-Erstellung: Corinna Rindlisbacher, www.ebokks.de

amrun-Verlag.de

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www.textehexe-fantasy.com

Das Merkwürdige an Geschichten ist: Was man für das Ende der einen halten könnte, ist doch in Wahrheit der Beginn einer anderen.

Das Gutshaus, ein großes, weiß gekalktes Gebäude, duckt sich unter den schweren Wolken. Kalter Wind zerzaust die Bäume und treibt den Regen als dünnen, abreißenden Wasservorhang vom Dach. Es ist schon längst dunkel, und eine Laterne liegt zerbrochen zu meinen Füßen.

Trotzdem kann ich ihn sehen, den Jungen mit den Sommerhimmelaugen, auch wenn die Jahre ihn zu einem anderen gemacht haben.

Ich habe beinahe vergessen, dass er ein Leben außerhalb meiner Geschichten besitzt.

»Kommt erst mal rein«, sagt Vara, die hübsche Frau mit den flammend roten Zöpfen, und hält die Tür auf.

Ich trete ein. Ich bin sechs Tage gewandert, und die Stube des Gutshauses empfängt mich mit knisterndem Feuer im Kamin und dem goldenen Licht von Kerzenflammen.

»Alle Götter«, sagt Vara. »Ihr seid ja völlig durchgefroren. Woher kommt Ihr?«

»Von der Rabenburg«, sage ich und entsinne mich gleich darauf meiner Umgangsformen.

»Wolfram von Kürenberg«, stelle ich mich der Hausherrin vor und zwinge meinen Rücken in eine höfische Verbeugung. Sie soll mich nicht für einen Landstreicher halten, die schöne Herrin, auch wenn ich daherkomme wie einer. »Ich bin ein Spielmann auf Reisen und tausche Geschichten und Neuigkeiten gegen ein Nachtlager … und eine Mahlzeit, wenn es keine Umstände macht.«

»Und mehr als nur eine Nacht und eine Mahlzeit.« Sindri nimmt mir den nassen Rucksack von den Schultern. »Viele, hast du gehört? Ich lasse dich doch nicht gleich wieder verschwinden. Wir haben uns so viel zu erzählen.«

»Ihr kennt euch?«, fragt die Hausherrin erstaunt.

»Ja«, strahlt Sindri.

Nein, denke ich. Ich kenne einen, der dir ähnelt, viel jünger, einen Stern, um den meine Welt sich eine Zeitlang gedreht hat. Ich weiß nicht, wie du zu einem geworden bist, der Haus und Hof hat, Frau und Hund und vielleicht Kinder.

Ich kenne einen Stern, der hinter meinem Horizont versunken ist, vor langer Zeit. Dich kenne ich nicht.

»Es ist lange her«, sage ich.

»Viel zu lange«, sagt er. »Zwanzig Jahre, oder etwas.«

»Siebzehn. Und fünf Monate.«

Er nickt und sieht mich an. Er ist er in den vergangenen Jahren nicht so gealtert wie ich. Es liegt kaum ein Hauch von Silber über seinem langen, nachtschwarzen Haar, und seine Gesichtszüge sind schön wie früher, eine Schönheit, vor der man sprachlos auf die Knie fallen möchte.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragt er.

»Es war ein Zufall. Auf der Rabenburg habe ich eine Geschichte erzählt. Von früher. Von Krona, der Kriegerin, und dem Prinzen aus dem Sauerkrautfass. Einer meiner Zuhörer … der Truchsess von Thrain … hat dich wohl erkannt. Ich wusste nicht, warum er mich hierher nach Weilersbach geschickt hat, bis ich dich dort stehen sah.«

»Von Thrain? Sieh einer an. Dass der uns mal etwas anderes schickt als den frommen Wunsch, die Pest möge uns holen.«

Vara schüttelt strafend den Kopf in seine Richtung, dann tritt sie an mich heran und nimmt mir den Mantel von den Schultern.

»Ich bin erfreut, Euch kennen zu lernen«, sagt sie lächelnd. »Ein Weggefährte von früher. Es wird interessant für mich sein, ein wenig über die jungen Jahre meines Ehemannes zu erfahren, über die er sich so gerne bedeckt hält.«

Ich sehe zwischen den Eheleuten hin und her. Ich frage mich, ob Sindri sich noch an das Ende unserer Geschichte erinnert. Ich weiß plötzlich nicht, wie ich auf der Rabenburg von unserer Jugend erzählen konnte, ohne ein einziges Mal an Ennlin zu denken. Ennlin, die viel später in der Geschichte meines Lebens auftritt, nämlich dann, als die Geschichte von Sindri und dem Spielmann allmählich zu Ende geht – oder das, was ich bis vor Kurzem für das Ende hielt.

Ennlin, die einzige Frau, die jemals mutig genug war, mich beinahe zu heiraten.

»Das ist Vara von Herzberg«, stellt Sindri mir die Hausherrin endlich offiziell vor, und ich reiße mich aus vergangenen Geschichten los und tauche in eine ein, die ganz neu ist. »Meine geliebte Ehefrau.«

Vara nickt und reicht mir die Hand zum Kuss, eine höfische Geste, die sich in der behaglichen Stube des Gutshauses fremd ausnimmt. Ich beuge mich formvollendet über ihre Hand. Sie hat kurze Finger und dunkle Schatten unter den Fingernägeln. Eine Hand, die arbeitet.

Ich frage mich, welches Schicksal eine Blüte vom hohen Stamm der Herzberger in diesen vergleichsweise steinigen Garten verschlagen hat. War es die Liebe?

Ich suche Varas Blick, und sie lächelt. Sie ist schön, auf eine sehr irdische Art, mit Sommersprossen und Grübchen und einem schiefen Eckzahn, und sie verstrahlt Wärme.

»Kommt ans Feuer«, sagt sie. »Habt Ihr trockene Kleidung, oder soll ich Euch etwas aus Sindris Truhe heraussuchen?«

Vara ist eine Frau der Tat, und so vergeht nicht viel Zeit, bis ich am Feuer sitze, einigermaßen trocken und warm und mit einer Suppenschüssel vor mir. Meine Ersatzkleidung hat Wasser gezogen im Rucksack, aber sie ist trockener geblieben als meine Wanderrobe, und das genügt.

Die Suppe schmeckt gut, es ist Salz drin und Fleisch und Hirse. Es scheint ihm nicht schlecht zu gehen, meinem Freund von früher.

Er lässt den Hund rein, der sich vors Feuer legt, mich interessiert mustert und einen strengen Geruch aus seinem nassen Fell verbreitet.

Ich esse und versuche wieder einmal, mir nicht den Anschein des halb Verhungerten zu geben. Ich stehe unter Beobachtung: nicht nur der Hund wendet den Blick nicht von mir, auch Sindri umkreist mich fortwährend, als könne er nicht recht an meine Anwesenheit glauben, und in einer Ecke des großen Raumes bewegt sich sachte eine Tür: Dort wird zumindest gelauscht, wenn nicht beobachtet. Vielleicht tatsächlich Kinder?

Ich versuche, mir den wankelmütigen, auffahrenden Freund meiner Jugend als Vater vorzustellen. Es gelingt mir nicht.

Ich denke, dass vieles einfacher wäre, wenn dieser Fremde nicht Sindris Gesicht trüge.

»Ich weiß gar nicht, wonach ich dich zuerst fragen soll«, sagt Sindri. »Du hast bestimmt viel erlebt. Erzähl mir alles.«

»Ich bin nicht sicher, ob das eine kluge Idee ist«, sage ich. »Nicht alles ergibt eine gute Geschichte.«

»Dass du immer noch in diesem Geschäft bist«, sagt er verwundert und geht vor mir in die Hocke. »Du ziehst von Burg zu Burg und erzählst Geschichten?«

»Das ist mein tägliches Brot. Wobei es immer wieder Zeiten gibt, in denen von täglich nicht die Rede sein kann.«

»Ich dachte, du hättest längst eine Festanstellung«, sagt Sindri, und ich frage mich, ob es eine Floskel ist, oder ob er tatsächlich über mich nachgedacht hat, in den Jahren, die wie ein dunkler See zwischen uns liegen.

»Tja«, sage ich. »Schön wär’s.«

»Warum nicht?«, fragt er.

»Treffliches Beispiel für etwas, das keine gute Geschichte ergibt.«

Ich denke an Rother von Steinfeld, einen Mann von hohem Adel und großem Reichtum, der mich damals beinahe in seinen Dienst gestellt hätte. Beinahe.

Man könnte sagen, ich sei ein beinahe glücklich verheirateter Mann in Fast-Anstellung auf Burg Steinfeld.

Und Sindri wartet immer noch auf eine Antwort.

»Sagen wir, ich habe im Laufe der Jahre ein paar … ziemlich entschiedene … Ansichten kultiviert«, umschreibe ich vorsichtig. »Über die Wertschätzung, die Adelige ihren Untergebenen entgegen bringen sollten. Dass Bauern auch Menschen sind. Und Ähnliches. Ein kluger Mann wäre damit diskreter umgegangen, als ich es getan habe. So habe ich mir in gewissen Kreisen den Ruf eines Störenfrieds erworben. Außerdem habe ich ein Problem damit, Brot zu essen, das anderen Menschen mit Gewalt abgenommen wurde.«

Sindri nickt, und Vara scheint mein Unbehagen zu spüren. Sie könne mir einen Krug Gewürzbier aufwärmen, bietet sie an, es sei noch Glut im Herd und es würde gar keine Umstände machen. Ich nehme dankend an, und sie steht auf und entfernt sich nach nebenan.

Ich löffele meine Suppe. Langsam verschwindet das klamme Gefühl auf meiner Haut. Das auf meiner Seele bleibt.

»Du siehst anders aus als in meiner Erinnerung«, sagt Sindri, der für wenige Augenblicke die Gnade hatte, mich in Ruhe essen zu lassen.

»Ich bin älter geworden«, mache ich ihn aufmerksam. »Du übrigens auch.«

»Nicht älter. Na gut, auch älter. Aber vor allem anders. So grau.«

Er macht eine vage Handbewegung.

»Oder … verblichen. Wie ein Gewand, das man übers Jahr draußen vergessen hat.«

»Ich bin nicht verblichen«, sage ich mit Nachdruck. »Ich fühle mich noch sehr lebendig. Danke der Nachfrage.«

Er geht nicht auf mein Wortspiel ein, legt den Kopf schief und betrachtet mich eingehend, und ich empfinde seinen klaren, sommerhimmelblauen Blick beinahe als Berührung.

»Starr mich nicht so an«, sage ich.

Für einen Augenblick weiß ich nicht, wer ich bin: der junge Kürenberger, der eine beinahe romantische Form von Heldenverehrung entwickelt hat für diesen schimmernden, schönen, tragischen Sternenprinzen, oder der ältere, der erfahren musste, wie kalt und grausam Sterne sind, und wie wenig sie sich um das Glück von uns Sterblichen scheren.

»Deine Nase«, sagt Sindri grübelnd. »War die immer schon so groß?«

»Es gibt etwas, das ich in den letzten siebzehn Jahren und fünf Monaten wirklich nicht vermisst habe, und das sind Witze über meine Nase. Niemand in diesem Land, außer dir, fühlt sich nämlich bemüßigt, welche zu reißen.«

»Ich hatte nicht vor, einen Witz zu reißen«, sagt er. »Ich meine, ich freue mich doch für dich, dass du bei solchem Regen immer trockene Füße hast.«

Sein Grinsen ist ansteckend, und ich erlaube mir ein schmales Lächeln. Ich kann schon wieder spüren, wie er an mir zieht.

Mir Witze gefallen zu lassen, die mir eigentlich auf die Nerven gehen, ist der erste Schritt auf einem Weg, den ich nicht einschlagen will.

Als ich den letzten Schluck der warmen Suppe aus der Schale getrunken habe, ist das Grinsen auf seinem Gesicht erloschen.

»Wie konntest du damals nur«, sagt er. »Einfach verschwinden. Wie konntest du mir das antun. Niemand hat mich jemals so verletzt.«

»Ich weiß nicht, ob es klug ist, wenn wir beginnen, uns Vorwürfe zu machen, kaum dass ich hier bin«, sage ich. »Lass es ruhen. Es ist so lange her.«

»Aber ich sehe dich an, und ich erinnere mich«, sagt Sindri. »Nicht nur an den Schmerz. An alles, was ich dir siebzehn Jahre lang nicht sagen konnte, weil du einfach verschwunden warst. Du hast dich nicht einmal verabschiedet.«

»Hast du dich jemals gefragt, was dazu geführt haben könnte, dass ich eines Morgens einfachverschwunden war?«

Er sieht mich an, verunsichert. Ich schmecke selbst das Bittere in meiner Antwort.

»Lass uns an der Oberfläche bleiben«, schlage ich vor, sanfter diesmal. »Lass mich erst ankommen. Ich wusste nicht, dass ich dich hier treffen würde. Ich bin ebenso überrumpelt wie du. Lass mich ankommen, und vielleicht bleibe ich ein Weilchen, und wenn ich mich gewöhnt habe, dann können wir über das sprechen, was war.«

»Du weißt also noch nicht einmal genau, ob du bleiben willst«, stellt er fest.

»Richtig«, sage ich. »Ich habe meine damalige Entscheidung nicht umsonst getroffen, auch wenn es mir schwerfällt, das vor Augen zu behalten.«

»Sie war blöd, deine damalige Entscheidung«, sagt er, ganz klar in seinem Stolz verletzt, und ich frage mich, wie jemand mit fünfundvierzig noch so sehr zwanzig sein kann. »Einfach weglaufen und untertauchen, du meine Güte.«

»Ich will nicht, Sindri«, sage ich und schließe die Augen. »Ich will nicht. Ich will nicht.«

Sein Name geht mir flüssig über die Lippen. Ich habe seine Geschichte erzählt in den letzten Jahren, nicht ständig, aber oft genug, dass der Name mir vertraut geblieben ist wie der des Hildingur, des Sifrit, des Löwenritters.

Nur dass ich mit dem Helden dieser Geschichte plötzlich am Kaminfeuer sitze, was mir mit Hildingur nie gelungen ist, seine Suppe esse und seinem Zugriff ausweiche.

Ich höre sein Seufzen, höre, wie er sich bewegt. Ich blinzele. Er hat sich auf den warmen Steinen vor dem Kamin ausgestreckt und die Hände im zottigen Fell des schwarzen Hundes vergraben, der erstaunt das Gesicht seines Herrn beschnuppert.

»Ist gut, Schwarzer«, murmelt er. »Bist ein braver Hund. Ja. Ein guter Hund.«

Der buschige Schwanz des Tieres bürstet begeistert den Boden, und ich sitze schweigend und beobachte die menschlich-tierische Verbrüderung, bis Vara mit einem dampfenden Krug zurückkommt.

»Die Kinder tun so, als würden sie schlafen«, berichtet sie. »Ich bin sicher, sie haben es gerade noch rechtzeitig ins Bett geschafft, die kleinen Schlüssellochgucker.«

Ihr Ehemann schiebt den Hund von sich herunter, streckt sich und nickt. Vara nimmt mir die leere Suppenschüssel ab und reicht mir den Becher mit dem duftenden Bier. Ich bedanke mich und trinke auf ihr Wohl.

Vara zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich mir gegenüber. Auf den Schoß nimmt sie ein Strickzeug, an dem ein kleiner Kinderstrumpf entsteht, und schon bald bewegen sich ihre Finger wie von selbst. Die hölzernen Nadeln geben ein leises, trockenes Klappern von sich, und sie mustert mich lächelnd.

»Ein Spielmann seid Ihr«, sagt sie. »Man trifft nicht viele in diesem Teil des Landes. Wir leben hier recht abgeschnitten von den Ereignissen im Königreich. Was gibt es Neues?«

Ich habe wenig Erfreuliches zu berichten, bin aber dankbar, meine Gedanken auf etwas richten zu können, das weniger schmerzt.

»Der Krieg im Süden blutet das Land aus. Sie schaffen immer mehr Soldaten auf die Südlichen Inseln. Vorräte, Waffen. Die Adeligen werden zur Kasse gebeten, und wenn die königlichen Geldeintreiber weg sind, gehen die Herren Fürsten runter in ihre Dörfer und holen sich wieder, was man ihnen genommen hat. Und die Bauern und Handwerker haben das Nachsehen.«

»Ich weiß gar nicht, was man auf den Südlichen Inseln will«, sagt Vara. »Was gibt es dort, weshalb man streiten muss?«

»Nicht was – wen. Es gibt Zentallo dort. Zentallinisches Kronland, um genau zu sein. Die angebliche Befreiung der Südlichen Inseln von der Zwangsherrschaft der Zentalliner ist nur eine hervorragende Gelegenheit, sich gegenseitig die Köpfe einzuhauen, ohne dass bei uns daheim Felder und Dörfer kaputt gehen.«

»Es kam einer und wollte Pferde kaufen für die Armee«, sagt Sindri. »Im Sommer. Ich habe ihm keine gegeben. Ich lasse doch nicht zu, dass meine Pferde wochenlang auf einem Schiff herumstehen, nur um dann irgendwo in einer Feldschlacht niedergehauen zu werden.«

»Er hätte einen guten Preis gezahlt«, wirft Vara ein. Die Eheleute wechseln einen Blick, der besagt, dass sie über diesen Punkt mehr als einmal gestritten haben. Sindri wendet schließlich den Blick ab.

»Was ist eigentlich mit Krona?«, fragt er. »Hast du von ihr gehört, in den letzten Jahren? Sie ist womöglich auch dort unten.«

»Ich traf sie in Ehrenfeld, aber das ist lange her. Zehn Jahre vielleicht. Sie war Leutnant der Königlichen Armee, und sehr glücklich damit.«

»Sieh einer an«, sagt er und schaut versonnen in die Flammen. »Sie hat es zu etwas gebracht, nicht wahr? Im Gegensatz zu uns. Wer hätte das gedacht.«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich es zu nichts gebracht habe«, widerspreche ich, für einen Augenblick die Augen vor der Wirklichkeit verschließend.

»Mach dich nicht lächerlich«, sagt er mit einem bitteren Auflachen, das ich nicht an ihm kenne. »Sieh dich doch nur an.«

Ich schweige. Ich erinnere mich an früher. Schon damals hielt er Höflichkeit mir gegenüber oft für verzichtbar.

»Ihr müsst entschuldigen«, sagt Vara gelassen, klemmt sich eine Stricknadel zwischen die Lippen und zählt Maschen. »Gelegentlich geschieht es noch, dass mein geliebter Gatte mit dem Landleben hadert. Dann hätte er gerne eine Burg … und Bedienstete … womöglich sogar einen Spielmann in Festanstellung. Aber die Götter haben für uns etwas anderes vorgesehen. Unser Leben ist gut. Wir haben unser Auskommen, und wir dürfen uns nicht beklagen.«

Aus meiner Sicht gibt es tatsächlich keinen Grund zur Klage. Dieses Haus erscheint mir Bewohner des Straßengrabens als prächtiger Palast und ist so viel mehr, als ich jemals besitzen werde.

Und ja, auch ich frage manchmal die Götter, wie viele Stiefelsohlen ich noch durchlaufen soll, und wie sie sich das denken, wenn ich einmal wirklich alt bin, aber wie es scheint, sehen sich die Götter Zweiflern wie mir nicht verpflichtet.

»Wir haben es schön«, sagt Sindri, stützt sich auf den Ellenbogen und schüttelt sich Haare aus dem Gesicht. »Ein bisschen Pferdezucht, ein paar Weizenfelder. Und Vara ist klug. Sie kann Kräuter mischen und Kindern auf die Welt helfen. Die Menschen holen sie zu allen möglichen Krankheiten, und sie bezahlen mit Brot oder Schinken.«

»Es ist alles keine Hexerei«, sagt Vara ungerührt. »Jeder tut, was er kann.«

Das Bier macht mich warm und schläfrig. Vara ist eine interessierte Frau und merklich ausgehungert nach Neuigkeiten, und ich versuche, ihr Informationsbedürfnis zu stillen, so weit es mir möglich ist. Wir reden über den Krieg im Süden und über die Allianz der Lichtenauer Adelshäuser und darüber, wie die Insel Bergen, widerspenstiger und ungeliebter Teil des Königreiches, so allmählich vom allgemeinen Fortschritt abgetrennt wird. Vara spekuliert über die Interessenslage der Zwerge auf Bergen, und ich gebe ihr Recht, dass ein menschlicher Verstand niemals zur Gänze voraussehen kann, was in den glitzernden Hallen von Erendor beschlossen wird.

»Es hört sich an, als hättest du sie gesehen«, wirft Sindri ein. »Die glitzernden Hallen von Erendor.«

»Das habe ich«, bestätige ich ihm. »Es ist viele Jahre her. Aus menschlicher Sicht zumindest.«

»Ich dachte, sie lassen niemanden rein in ihr Königreich?«

»Nicht jeden. Aber damals hatte ich gute Kontakte. Und ich war lernwillig. Sie haben großartige Geschichten, die Zwerge. Lange, verschlungene Heldengesänge. Und nachdem sie ihr Erstaunen überwunden hatten, dass ein Mensch sich dafür begeistern konnte, waren sie mehr als bereitwillig, mich zu unterrichten. Obwohl ich die übliche Lehrzeit eines zwergischen Geschichtenerzählers erheblich abkürzen musste.«

»Wie lang ist die?«

»Ach, so vierzig, fünfzig Jahre. Sie haben schließlich eingesehen, dass ich nicht mein gesamtes restliches Leben bei ihnen unter Tage verbringen wollte.«

»Hm«, sagt Sindri. »War das der Grund, weshalb ich dich damals nicht wiederfinden konnte? Weil du unter die Erde zu den Zwergen verschwunden bist?«

»Ich wollte mich nicht finden lassen. Deshalb hast du mich nicht gefunden.«

»Oh.«

»Ja.«

»Und du wirst nur wieder ich will nicht, ich will nicht sagen, wenn ich jetzt weiterfrage?«

»Genau.«

Sindri seufzt, setzt sich auf und stützt die Ellenbogen auf die Knie.

»Wärest du gekommen?«, fragt er nach einer Weile. »Wenn du gewusst hättest, dass ich es bin … hier?«

Ich höre, wie das feine Geklapper von Varas Stricknadeln verstummt. Sie sieht zu ihm hinunter, der immer noch uns zu Füßen sitzt. Ein Lächeln hängt wie vergessen in ihrem Mundwinkel. Ihre Augen sind ernst.

Mir liegt ein »Ja« schon auf der Zunge, aus der alten Gewohnheit heraus, ihm zu sagen, was er hören will.

»Ich weiß es nicht«, sage ich. »Ich habe in meinem Leben mehr als eine Dummheit gemacht. Viele davon offenen Auges. Aber ich betrachte mich selbst gerne als einen Menschen, den das Alter weise macht, wenn schon nicht reich.«

Er schweigt und sieht mich an, sein Gesicht ist viel zu offen, viel zu ernst. Und dann tut er etwas, das mich überrascht. Er kniet sich vor mich und nimmt meine Füße in seine Hände.

»Da ist ja Blut dran«, sagt er und betrachtet die alten, fleckigen Stoffstreifen, die ich mir um die Füße wickele, damit die Stiefel nicht so scheuern. »Bist du verletzt?«

»Nein«, wehre ich ab. »Nur ein bisschen wund gelaufen.«

Er löst den Stoffstreifen an meinem rechten Fuß und beginnt, ihn abzuwickeln. Er geht so zärtlich vor, dass ich seine Berührung kaum spüre. In den tieferen Schichten, wo das grobe Leinen eine innige Verbindung mit meiner Haut eingegangen ist, entsteht ein Schmerz, der mir mit kleinen, heißen Nadeln die Haut vom Knochen pickt. Sindri spürt mein Zurückzucken und lässt ab.

»Wir brauchen warmes Wasser«, sagt er. »Ein paar Kräuter. Eine Salbe und Verbände.«

»Bitte nicht«, sage ich mit einem Anflug von Verzweiflung. »Es ist alles in Ordnung. Bestimmt.«

Aber dann habe ich sie beide gegen mich, denn Vara stimmt der Diagnose ihres Mannes zu und belehrt mich ausführlich über die Risiken der Wundfäule, während Sindri geht und die benötigten Zutaten holt.

Das Wasser, das Sindri bringt, ist lauwarm und duftet nach einem sommerlichen Kräutergarten. Dickes, gelbes Öl schwimmt auf der Oberfläche. Sindri nötigt mich zurück in meinen Stuhl, und dann nimmt er meine Füße, wäscht sie und befreit sie von einer letzten angetrockneten Stoffschicht, und ich schwanke so zwischen Wohlbefinden und Schmerz, dass ich später nicht sicher bin, ob er nicht tatsächlich für einen kurzen Augenblick die Stirn gegen mein Knie gelehnt hat.

Der Schmerz überwiegt, als Vara anschließend meine Füße mit Salbe behandelt und vorsichtig in sauberes Leinen wickelt.

»Ihr braucht besseres Schuhwerk«, sagt sie strafend. »Wie kann das sein, dass Ihr mit Eurer Kunst nicht genug verdient, um Euch ein vernünftiges Paar Stiefel machen zu lassen?«

»Es mag daran liegen, dass derzeit Soldaten bevorzugt ausgerüstet werden, nicht Spielleute«, erkläre ich seufzend und verschweige, dass meine großzügige Gastgeberin offenbar keinen Begriff von den Verdienstmöglichkeiten eines wandernden Spielmannes hat. Hätte ich Geld für ein Paar Stiefel, könnte ich genauso auf weichen Pantoffeln gehen. Ein Straßengraben wäre mir dann nur noch vom Hörensagen bekannt, und ich könnte jeden Abend meine Zehen am Feuer meiner Herrschaft wärmen. Überdies befindet man sich, wenn man einmal drei Tage lang nichts gegessen hat, in einer Zwangslage und ist wenig veranlasst, die paar Kupferpfennige für den Schuster zu sparen, wenn man sie auch dem Bäcker geben kann.

Meine Füße sind eingepackt, und endlich hören meine Gastgeber auf, vor mir zu knien.

»Es ist Zeit, schlafen zu gehen«, bestimmt Vara. »Wir werden Euch ein Lager hier vor dem Kamin richten. Ist Euch das recht?«

»Ich danke Euch«, sage ich. »Ich werde ein langes Lied über Eure Großzügigkeit verfassen müssen, denn anders kann ich mich kaum erkenntlich zeigen.«

»Bemüht Euch nicht«, winkt sie lächelnd ab. »Der Neid der Nachbarn, dass wir einen Spielmann beherbergen, ist mir Lohn genug.«

Ihr Blick bleibt auf mir, und sie macht eine Bewegung, als wollte sie mir die Hand auf die Schulter legen.

»Merkwürdig, dass er nie von Euch erzählt hat«, sagt sie.

»Nein«, sage ich. »Gar nicht. Es ist im Gegenteil genau das, was ich von ihm erwartet hatte.«

Ich darf auf dicken Schafsfellen liegen in dieser Nacht, unter schweren, warmen Wolldecken, und beobachten, wie die Glut im Kamin langsam in sich zusammenfällt. Ich zupfe an den drei schmalen Lederbändchen, die sich um mein Handgelenk spannen. Sie sind nicht gerissen in all den Jahren, und auch der Knoten hat sich nie gelöst. Ich werde wohl eines Tages mit ihnen begraben werden.

Zwei der Lederbändchen haben sich auf merkwürdige Art miteinander verschlungen. Die ursprünglichen Farben sind nicht mehr zu erkennen, trotzdem kann ich sie auseinanderhalten.

Die ehemals rote Schnur steht für Krona, das ist unstrittig. Die weiße und die schwarze Schnur sind es, die sich verschlungen haben, aber welche Farbe nun für Sindri steht und welche für mich, habe ich immer noch nicht abschließend geklärt.

Ich schließe die Augen und bringe meine Füße näher an die wohltuende Wärme.

Es war nicht schwer, sich schließlich doch berühren zu lassen.

Es ist nie schwer, am Anfang. Immer nur am Ende.

Ich erwache, weil jemand an meinen Haaren zupft. Ich blinzele. Es ist schon hell, und mein Straßengraben ist komfortabel mit Fellen ausgestattet. Ich erinnere mich an diesen einen Morgen vor ein paar Jahren, als ich inmitten einer Schafherde aufgewacht bin. Die Biester können einem buchstäblich die Haare vom Kopf fressen.

Ich reiße die Augen auf und schrecke hoch. Der Straßengraben verschwindet.

»Dummchen«, sagt eine strafende Stimme. »Jetzt hast du ihn geweckt!«

Sie klingt wie die kindliche Ausgabe ihrer Mutter, und sie sieht auch genauso aus: ein kleines Mädchen mit feuerrotem Haar und großen, blauen Augen. Sie hat eine Stupsnase und eine Menge Sommersprossen, und ihre nackten Füße, die unten aus ihrem viel zu großen Kittel heraus schauen, sind schmutzig. An der Hand hält sie einen kleinen Jungen, der ihr Bruder sein muss. Ein paar Jahre jünger, einen Kopf kleiner, aber dieselben roten Locken.

Der kleine Junge klammert sich an den Kittel seiner Schwester und betrachtet mich mit riesigen Augen.

Wenn das Sindris Kinder sind, frage ich mich, warum sie ihm so gar nicht ähnlich sehen.

»Guten Morgen«, sage ich und versuche ein schläfriges Lächeln. »Wer seid ihr denn?«

»Ich bin Almut«, sagt sie bereitwillig. »Ich bin schon acht. Das ist Peter, aber der ist erst sechs.«

»Ich bin Wolfram.« Vorsichtig setze ich mich auf. Ich fühle mich warm und ausgeruht.

»Ich weiß«, sagt Almut. »Du bist der Spielmann, der gestern Abend ankam. Ich hab durch die Küchentür gelinst.«

Der kleine Junge, Peter, steckt den Daumen in den Mund und starrt mich immer noch unverwandt an.

»Wir hatten noch nie einen Spielmann bei uns«, sagt Almut. »Ich glaube, die wollen bei uns nicht sein, weil unser Hof so schmutzig ist. Kannst du auf einem Seil tanzen?«

»Leider nicht.«

»Feuer spucken?«

»Nein.«

»Kannst du zaubern?«

»Ich kann Geschichten erzählen. Und musizieren.«

»Das ist auch schön«, sagt sie tröstend. »Feuer kriegen wir auch mit dem Feuerstein hin.«

»Ganz recht«, sage ich und versuche im Stillen zu ergründen, wie bereitwillig meine Füße und mein steifer Rücken mein Gewicht tragen werden, wenn ich jetzt von meinem Lager krabbele. Ich will keinen allzu gebrechlichen Eindruck machen, wenn ich schon nicht Feuer spucken kann.

Sie nimmt mir die Entscheidung ab. Mit zielsichererem Blick hat sie meine Laute entdeckt, die, in ihre Wachstuchhülle eingeschlagen, bei meinem Rucksack schlummert.

»Was ist das?«, fragt sie und nähert sich dem Packen neugierig.

»Eine Laute«, erkläre ich. »Ein Musikinstrument. Man zupft die Saiten, und es klingt ganz zart, wie Silberglöckchen.«

Augenblicke später habe ich das eingepackte Instrument im Arm und zwei erwartungsvolle Augenpaare auf mich gerichtet. Ich befreie die Laute von ihrer Hülle und lasse die Hand für einen Atemzug auf dem warmen, rötlichen Holz.

Ihrer Stimme ist am frühen Morgen eher zu vertrauen als meiner eigenen, und so schlage ich ein paar Akkorde an und zupfe dann die Melodie vom Herbstmond. Beide Kinder lassen sich auf meinem Lager nieder. Ich bin zu einem kleinen Frühstückskonzert verpflichtet, wie es scheint.

Ich spiele das Lied zu Ende, und Almut klatscht begeistert. Peter zeigt stumme Konzentration, seine kleine, klare Stirn hat sich vom angestrengten Beobachten ganz verfinstert.

Ich zupfe kräftig die D-Saite.

»Hier«, sage ich. »Wenn du dein Ohr näher heranbringst, kannst du den Ton schwingen hören.«

Ich zupfe erneut, und er lauscht angestrengt. Dann geht ein Lächeln über das kleine Gesicht, und er streckt die Hand aus. Ich lasse ihn zupfen, und er beißt sich auf die Unterlippe vor Konzentration. Dann verändere ich die Tonlage, in dem ich die Saite am Hals der Laute abdrücke, und er sieht mich an, als hätte ich das Rad erfunden.

Ich lächle und zwinkere ihm zu. Kaum zu glauben, dass ein so ernster kleiner Kerl Sindris Sohn sein soll.

»Sing ein Lied«, verlangt Almut.

Ich habe keine besonders gute Singstimme, und morgens, direkt nach dem Aufwachen, schon gar nicht, aber ich glaube kaum, dass die junge Dame dieses Argument gelten lässt. Also krame ich aus meinem Gedächtnis ein paar Kinderreime hervor, besinge den Zwerg auf dem Butterberg und die Katze mit der blauen Tatze und habe selten mit so einfachen Mitteln mein Publikum begeistert. Almut singt mit mir, mit glockenheller, unbefangener Kinderstimme, und Peter strahlt und klatscht im Takt. Als das Lied zu Ende ist, springt er auf die Füße und rennt auf seinen kurzen Beinen davon, nur um gleich darauf mit einer kleinen Holzflöte in der Faust zurückzukommen. Auffordernd hält er sie mir unter die Nase.

»Eine schöne Flöte hast du da«, lobe ich das einfache Instrument. Er nickt und streckt sie mir weiterhin entgegen.

»Du sprichst nicht recht viel, was?«, frage ich ihn.

»Gar nicht«, belehrt mich Almut. »Er spricht gar nicht. Seit Papa zu den Göttern gegangen ist, hat er keinen Ton gesagt.«

»Oh«, sage ich erschrocken. »Ich verstehe. Das tut mir leid.«

Peter setzt die Flöte an die Lippen, spielt eine kleine, aufsteigende Tonfolge und hält mir das Instrument wieder entgegen. Ich nehme es entgegen und wiederhole die Tonfolge. In Peters Gesicht geht die Sonne auf. Er wedelt aufgeregt mit den Händen, und so spiele ich ihm die Melodie von der Wasserfee, ein leichtes, kleines Stückchen, das er sogleich fast fehlerfrei nachspielt.

Wir probieren gerade das Lied von den sieben Räubern, als der Hausherr auftaucht. Er hat eine Schale in der Hand, aus der es dampft. Seine Haare hängen ihm wirr ums Gesicht, er sieht aus, als sei er gerade von seinem Schlaflager gekrochen.

»Den Göttern sei Dank, du bist noch da«, sagt er, und sein Gesicht hellt sich auf. »Ich hatte schon Angst, du hättest dich im Morgengrauen davongeschlichen.«

»Ich habe es verschlafen, das Morgengrauen«, erkläre ich.

Er sieht mich lange und forschend an und zieht sich dann einen Stuhl an den Tisch.

»Guten Morgen!«, trompetet Almut begeistert. »Schau mal, Sindri, der lustige alte Mann macht Musik mit uns!«

Sindri prustet in seine Schale. Ich ziehe eine Grimasse.

»Der lustige alte Mann möchte gerne Tee«, sage ich. »Wenn es möglich ist.«

»Bestimmt«, sagt sie. »Es ist noch welcher in der Küche. Mama kocht immer welchen, wenn sie aufsteht, damit Sindri Tee hat, wenn er … später aufsteht.«

»Schwirr ab«, sagt Sindri. »Bring ihm Tee, ja? Dass du das nicht längst gemacht hast, gute Güte.«

Almut trollt sich, Peter im Schlepptau.

»Komm zu mir, kleiner Wolf«, sagt Sindri. »Beim Aufwachen dachte ich für einen Augenblick, ich hätte dich nur geträumt.«

Ich wünsche mich zurück in meinen tiefen Schlaf. Ich kann nicht einmal den alten Spitznamen hören, ohne dass etwas in mir aufbricht.

Ich setze mich zu ihm an den Tisch, und er schiebt mir seine Teeschale rüber.

»Ähm«, sage ich. »Vielen Dank, aber ich warte lieber.«

»Wieso? Du wolltest Tee, oder?«

»Keinen, in den du hineingespuckt hast.«

Er nickt und nimmt einen Schluck.

Ich sehe mich um. Der Raum wirkt größer, nun da die Sonne durch die Fenster fällt. Überall zeigen sich die Spuren bescheidenen Wohlstandes: Wandteppiche, eine schwere Truhe mit kunstvollen Beschlägen, ein vielarmiger Leuchter mit goldgelben Kerzen.

So lebt er also, mein Elfenprinz.

»Sind süß, die kleinen Racker, nicht«, sagt Sindri in meine Gedanken hinein.

»Allerdings«, pflichte ich ihm bei. »Und aufgeweckt.«

»Aus Varas erster Ehe«, sagt Sindri. »Sie war mit Willem von Herzberg verheiratet, bis er einen Unfall hatte. Hat sich ein Messer in den Bauch gerammt, versehentlich, als er einem Wildschwein das Fell abzog, und hat sich davon nicht mehr erholt. Peter war zwei, damals, und spricht seither kein Wort mehr.«

»Ja«, sage ich. »Almut hat so etwas erwähnt.«

Sindri nickt und sieht plötzlich nicht mehr aus wie ein Elfenprinz, sondern wie einer, der viel Bitteres hat schlucken müssen.

»Dann bist du noch nicht lange verheiratet«, rechne ich nach. »Ein Jahr? Zwei?«

»Etwas mehr als zwei«, sagt er. »Ich weiß nicht, warum sie mich so schnell geheiratet hat. Vielleicht hat mein Äußeres gereicht.«

»Und du?«, frage ich und denke, dass seine Geschichte mich nicht so interessieren sollte. Bin ich nicht Spielmann genug, dass ich ein schönes Schicksal für diese Figur erfinden könnte? Eines mit einem glücklichen Ende? »Warum hast du sie geheiratet?«

»Sie war gut zu mir«, sagt er einfach. »Sie hat mich von der Straße geholt.«

»Im übertragenen Sinn, schätze ich.«

»Natürlich. Du glaubst doch nicht, dass jemand wie ich tatsächlich auf der Straße leben muss.«

»Ähm. Nein. Natürlich nicht.«

»Wie ist es bei dir? Keine Frau, keine Kinder?«

»Nein. Ich teile meinen Straßengraben nur mit der Hohen Frau Literatur.«

»Wie einsam.«

»Manchmal, ja.«

Er bläst über seinen Tee.

»Ich erinnere mich, dass du damals schon mit den erfundenen Frauen geschickter warst als mit den echten.«

»Besten Dank auch. Aber ich glaube, am Geschick hat es nicht gelegen. Eher schon mit meiner völligen Unfähigkeit, mich selbst zuverlässig zu ernähren, geschweige denn Frau und Kinder dazu.«

»Ja. Wahrscheinlich.«

Er stellt seine Teeschale zurück, ohne getrunken zu haben, und sieht mich an.

»Hast du schon entschieden, ob du bleiben wirst?«

»Nein.«

»Himmel, Wolfram, was soll das? Ist das eine späte Rache? Lass mich nicht zappeln. Ich muss weg, für zwei, drei Tage, und ich will wissen, ob du noch da bist, wenn ich zurückkomme.«

Ich bin überrascht von dieser Wendung, und ich weiß nicht, ob ich traurig oder erleichtert sein soll.

»Es ist meine Entscheidung, Sindri. Sie hat vorrangig etwas mit mir, und erst in zweiter Linie etwas mit dir zu tun. Auch wenn es dir schwerfällt, das zu glauben.«

»Sag es mir, bitte. Sag, dass du noch hier sein wirst, wenn ich zurückkomme.«

»Wohin musst du eigentlich?«

»Ein paar Pferde verkaufen. Ich hatte ein paar gute Nachzuchten und habe sie über den Sommer angeritten. Es gibt mehr Interessenten, als ich bedienen kann.«

»Glückwunsch.«

Er nickt. Wir merken beide, wie schwer wir uns miteinander tun. Zu viel steht zwischen uns, als dass die alte, gewohnte Leichtigkeit aufkommen könnte. Wir sind zu alt für das, was wir früher hatten, wir haben aber auch nichts Neues.

»Ich weiß nicht, ob ich bleiben will, und wie lange«, sage ich. »Du weißt, ich bin so etwas wie ein hauptberuflicher Gast im Leben anderer Leute. Mit den Jahren entwickelt man ein Gespür, wenn die Anwesenheit eines Gastes die gewohnten Abläufe zu stören beginnt. Man weiß im Voraus nie, wann das sein wird, aber wenn es so weit ist, ist es Zeit zu gehen.«

»Quatsch«, sagt er. »Deine Nicht-Anwesenheit war störend, die letzten siebzehn Jahre. Jetzt, wo du wieder da bist, weiß ich gar nicht, wie ich es ohne dich ausgehalten habe.«

»Und so sehr hast du mich vermisst, dass du nicht einmal deiner Frau von mir erzählt hast.«

Es klingt bitter, wo es sich doch beiläufig hätte anhören sollen.

»Ich habe dich nicht nur vermisst«, sagt Sindri. »Ich habe in der Zwischenzeit auch ein paar andere Sachen gemacht. Ein paar Jahre zwischendurch habe ich dich vielleicht auch ganz vergessen. Aber dann war da dieser Kerl in der Kneipe, der ein Geschichtenerzähler sein wollte, und hat die Geschichte von Jedesil und Anka erzählt. Er hat sie wirklich verhunzt, und deshalb musste ich ihm leider auf die Fresse hauen. Da habe ich dann wieder an dich gedacht.«

Ich weiß nicht recht etwas mit diesem Geständnis anzufangen, also schweige ich.

»Einer, der ein Auge verliert, oder einen Arm, denkt auch nicht ständig dran, wenn die Wunde einmal verheilt ist«, sagt Sindri. »Man gewöhnt sich. Deshalb fehlt es trotzdem.«

Ich ertappe mich dabei, wie ich ihm glauben will.

Dann kommt Almut und bringt mir eine Schale Tee. Sie hat die Augen darauf geheftet und bewegt sich mit winzigen Trippelschritten, um nichts zu verschütten. Ich stehe auf und nehme ihr die Schale ab. Sie lächelt erleichtert.

»Ich habe gehört, ihr habt viele schöne Pferde«, sage ich zu ihr, und sie nickt stolz.

»Ich habe sogar ein eigenes«, sagt sie. »Ein Pony. Es heißt Mina und ist ganz schwarz.«

»Und bestimmt wunderhübsch. Willst du es mir später mal zeigen?«

»Wenn ich Zeit habe«, sagt sie wichtig. »Wenn ich es gefüttert habe. Ich kümmere mich nämlich ganz alleine drum.«

»Sie ist eine tolle Reiterin«, bestätigt Sindri und sieht so stolz aus, als wäre sie seine eigene Tochter. Sie strahlt, und ich spüre die Bindung, die zwischen den Beiden besteht.

Ich frage mich, warum er keine eigenen Kinder mit Vara hat.

Der Tee ist heiß und süß und weckt mich sanft. Als ich ausgetrunken habe, versuche ich, mich nützlich zu machen, was allerdings im Keim erstickt wird.

»Sitzen bleiben«, sagt Vara und drückt mich zurück auf meinen Stuhl. »Schont Eure Füße, seid so gut.«

Während die Anderen Frühstück machen, nehme ich Peter auf mein Knie und lasse ihn die Laute zupfen. Seine tiefe Konzentration hat etwas Rührendes, und er ist kaum dazu zu bewegen, das Instrument beiseitezulegen und vom Frühstücksbrei zu essen.

»So«, sagt Sindri, als wir uns alle aus der großen Schüssel bedienen. »Du hast also die alte Fledermaus getroffen. Ist er immer noch das knochige Schreckgespenst, das er früher war?«

Ich blicke verständnislos genug, dass Vara einen Namen nachschiebt.

»Severin von Thrain«, sagt sie und schüttelt strafend den Kopf in Richtung ihres Ehemannes. »Wie geht es ihm?«

»Gut, nehme ich an«, sage ich. »Er war nicht sehr mitteilsam, und ich habe keine Vergleichswerte. Er scheint zumindest in seiner Arbeit aufzugehen.«

Vara lächelt. »Das war schon immer so. Er ist ein kluger Mensch. Ich kenne keinen, der so viele Bücher gelesen hat wie er.«

Sindri schnaubt und schiebt sich einen Löffel Brei in den Mund.

»Mein geliebter Ehemann hat dem Truchsess nicht verziehen, dass er in Jugendtagen eine gewisse Schwäche für mich hatte«, erklärt Vara.

»Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts«, knurrt Sindri.

»Und zwischendurch«, ergänzt Vara lächelnd. »Er war an meiner Seite, als mein erster Ehemann starb. Und das, obwohl ich ihm klar gemacht hatte, dass ich sein Werben nicht erhören würde. Er ist wirklich ein guter Freund.«

»Er ist ein Idiot«, knurrt Sindri.

»Ich dulde nicht, dass du so über ihn sprichst«, sagt sie, nun eine Spur schärfer. »Wir haben das Thema abschließend geklärt.«

»Schreibst du ihm wieder Briefe, sag mal?«

»Ich diskutiere nicht mit dir, wem ich Briefe schreibe. Und nicht, mit wem ich befreundet bin.«

Ich rühre im Brei und versuche, unsichtbar zu sein, während die Gewitterwolke über dem Ehepaar steht. Almut macht es mir leicht, sie erzählt von ihrem Pony und davon, wie sie es selbst zugeritten hat, und will wissen, wo ich schon überall herumgekommen bin. Der elterliche Streit scheint sie nicht sonderlich zu berühren, und tatsächlich hat sich nach kurzer Zeit der Himmel wieder aufgehellt. Sindri küsst seine Frau über der Breischüssel und schmeichelt ihr, bis sie lächelt und ihm übers Haar streicht. Scheinbar erträgt er Zwist immer noch so schlecht wie vor zwanzig Jahren.

Nach dem Frühstück beginnt die familiäre Routine. Zwei Männer aus dem Dorf treffen ein, die regelmäßig im Stall mitarbeiten. Sindri verschwindet zu den Pferden und nimmt den Hund mit, nach seinen Worten, damit er ihn auf mich hetzen könne, wenn ich versuchen würde, zu fliehen.

Er kennt mich immer noch zu gut, aber er unterschätzt meine Gerissenheit.

Vara setzt sich mit den Kindern an den Tisch, um sie zu unterrichten, und ich kämpfe mit der Versuchung.

Es fiele mir nicht schwer, mich in dieses Familienleben zu fügen. Ich habe mein Leben lang nichts anderes getan, als mich in das Leben anderer Menschen zu fügen, ich beherrsche es in einer Perfektion, dass man meine Anwesenheit vergessen könnte, bis es Zeit für ein Lied wird, oder eine Geschichte.

Manchmal denke ich, ich habe kein eigenes Leben. Nur das anderer Leute.

Dieses Gastleben ist besonders angenehm. Es ist warm, ruhig, die Kinder sind reizend, die Hausherrin freundlich und warmherzig. Ich werde nicht behandelt wie ein Dienstbote.

Draußen hat der Regen aufgehört, aber es ist kalt geworden. Der Atem ballt sich in Wolken vor dem Mund, und über den Pfützen liegt eine hauchdünne, glitzernde Schicht.

Ich könnte bleiben, bis es nicht mehr geht, mir vielleicht eine Empfehlung aussprechen lassen, wohin ich mich von hier aus wenden soll. Man kennt sich unter Nachbarn, auch wenn man Tagesreisen auseinander wohnt. Es sind immer welche dabei, die einen Spielmann beherbergen wollen, für ein paar Nächte zumindest.

Wenn ich kein neues Ziel habe, muss ich versuchen, den Weg nach Halmesholm zu finden, der nächsten größeren Stadt, und mich dort in den Wirtshäusern durchschlagen.

Und so wird es wohl geschehen, auch wenn ich nichts mehr hasse, als Lieferant für Sauflieder zu sein.

Denn hier will ich nicht bleiben und zusehen, wie alles von vorne anfängt. Ich versuche zumindest, ich versuche wirklich, aus meinen Fehlern zu lernen.

Sindri werde ich anlügen. Ich werde versprechen, auf ihn zu warten, und wenn er weg ist, still meine Sachen packen und meiner Wege gehen.

Beim letzten Mal hat es mehr als siebzehn Jahre gedauert, bis wir uns wieder begegnet sind. Mit ein bisschen Glück bin ich beim nächsten Mal schon eine verblichene Spielmannslegende.

»Ich will nicht«, sagt Almut bockig. »Rechnen ist doof.«

»Rechnen ist wichtig«, sagt Vara mit sanfter Konsequenz. »Wer nicht rechnen kann, ist arm.«

Das sehe ich anders, aber ich hüte mich, ihr in den Rücken zu fallen.

»Ich kann morgen wieder rechnen lernen«, sagt Almut. »Heute will ich mit Wolfram spielen. Er kann Musik machen!«

»Ich weiß, aber er wird ja nicht gleich weglaufen. Du kannst erst rechnen, und dann mit ihm Musik machen.«

Sie sehen zu mir hinüber. Ich unterdrücke ein Seufzen.

Nein, ich werde nicht gleich weglaufen. Nur rechtzeitig.

»Hast du schon mal einen Mumbel getroffen?«, frage ich Almut.

»Einen Mumbel?«

»Genau. Sie sind klein und bunt, und sie leben im Wald in kleinen Höhlen.«

»So etwas gibt’s doch gar nicht«, sagt sie skeptisch.

»Aber doch«, sage ich todernst. »Hast du noch nie einen gesehen?«

»Nein.«

»Wenn du nicht rechnen kannst, ist das vielleicht besser so. Man sollte nämlich wirklich gut rechnen können, wenn man einen trifft.«

»Warum?«

Weiß ich auch nicht, aber ich habe ja noch ein bisschen Zeit, mir eine Geschichte zusammen zu spinnen.

»Mach deine Aufgaben fertig, und danach erzähle ich dir die ganze Geschichte. In Ordnung?«

Almut nickt seufzend und packt ihren Kohlestift fester.

Damit die Kinder nicht ständig zu mir und meiner Laute herüber gucken, wickele ich mich in meinen Umhang und steige sehr vorsichtig in meine Stiefel.

Wird das ein Spaß, bis ich in Halmesholm bin.

Auf dem schlammigen Hof herrscht rege Betriebsamkeit. Das Eis auf den Pfützen ist zerstampft, und ich muss einem Pferdehinterteil ausweichen, als ich aus der Tür trete. Inmitten des Treibens ist Sindri, hoch zu Ross auf einem schlanken, silbergrauen Hengst.

Plötzlich sehe ich meinen Sternenritter wieder vor mir: jung wie der Morgen, im Sattel des Silbergrauen, gekleidet in eine Rüstung, die ihm nicht gehört. Er hat soeben den Helm abgenommen, und sein schwarzes Haar flattert im Wind wie eine Fahne. Ein fassungsloses Murmeln geht durch das Publikum auf den Rängen.

Ich erinnere mich an diese Geschichte. Sie hat lange Zeit in mir geschlafen.

»Ob er dir gefällt, will ich wissen?«

»Mh?«

Sindri hat das junge, unruhige Pferd vor mir angehalten. Es tänzelt, und er führt es mit sicherer Hand und hat mich offenbar um meine Meinung gebeten, als ich noch in ferner Vergangenheit auf dem Turnierplatz weilte.

»Er ist schön«, versichere ich. Ich bin immer noch kein Pferdekenner. Nur Schusters Rappen sind mir geläufig.

»Er stammt von meinem ersten Schimmelhengst ab«, erklärt Sindri stolz. »Der Silbergraue ist sein Ur-Urgroßvater. Als ich beschloss, zu züchten, habe ich die Nachkommen des Silbergrauen zurückgekauft.«

»Na, hoffentlich haben sie nicht sein mieses Temperament geerbt«, merke ich an und bringe den Ärmel meiner Robe vor neugierigen Pferdelippen in Sicherheit.

»Eigenwillig sind sie alle«, sagt Sindri. »Aber sie haben die besten Anlagen. Hier, ich schenke ihn dir, wenn du willst.«

»Oh«, sage ich erschrocken. »Das – das ist sehr großzügig, aber … ich glaube nicht, dass ich ihm gewachsen bin, mit meinen paar Reitkünsten.«

Wie um meine Worte zu unterstreichen, wirft der junge Schimmel den Kopf hoch und rennt ein paar Schritte rückwärts. Sindri treibt ihn nach vorne, und der Schimmel macht eine Reihe kleiner Bocksprünge, die eher spielerisch als gefährlich aussehen.

»Du hättest ein ganz anderes Auftreten«, sagt Sindri. »Stell dir vor, du reitest in den Burghof ein, mit wehendem Umhang, auf einem rassigen Pferd. Das macht doch etwas her, oder nicht?«

»Ein solches Pferd würde ich vor allem von unten sehen«, sage ich. »Aus dem Straßengraben.«

»Dann such dir ein anderes aus. Ich habe eine lammfromme Stute. Isabellfarben, mit weißen Fesseln. Die ist nicht so spektakulär, aber wirklich sehr hübsch.«

»Vielen Dank für dein großzügiges Angebot, aber ich fürchte, ich muss weiterhin zu Fuß gehen. Was ich mir verdiene, reicht gerade zum Überleben. Ich kann unmöglich noch ein Pferd davon durchfüttern und versorgen.«

Sindri seufzt.

»Warum machst du das noch?«, fragt er. »Von Burg zu Burg ziehen?«

»Ich habe nichts anderes gelernt, schon vergessen?«

»Was ist mit deiner eigenen? Der Kürenburg? Gut, die war ein bisschen baufällig, wenn ich mich recht erinnere, aber immer noch besser als ein Straßengraben, oder nicht?«

»Bis auf den geringen Umstand, dass sie mir nicht mehr gehört«, sage ich und hätte gerne ein anderes Thema angeschnitten. Doch mein Unbehagen geht spurlos an ihm vorbei.

»Warum nicht?«, fragt er erstaunt.

»Ich hatte nicht die Mittel, meinen Anspruch zu behaupten«, verkürze ich eine mehrjährige Leidensgeschichte. »Das Gebiet gehört jetzt den Rosenbergern. Was für die Leute dort nur von Vorteil ist. Die Rosenberger sorgen wenigstens für Ordnung.«

»Dann gibt es kein Kürenberg mehr?«, fragt er bestürzt. »Nur noch einen Kürenberger.«

»So ist es«, sage ich. »Und wie steht es auf dem Winterfeld?«

»Prima«, sagt Sindri. »Meine Mutter ist eine schreckliche alte Hexe, und sie will einfach nicht sterben. Offiziell gehört alles meinem Bruder und seiner Frau, aber sie hat nach wie vor die Fäden in der Hand. Mein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben.«

»Das tut mir leid.«

»Mir nicht. Ich war seit Jahren nicht dort. Sie haben mich offiziell verstoßen, damit ich nach dem Tod meines Vaters nichts erbe. Konsequent, nicht? Nach all den Jahren.«

Ich nicke und schlucke ein Seufzen. Ich weiß, wie schwer es ist, sich zu versöhnen, wenn die alten Wunden nicht heilen wollen.

»Ich bin kein Winterfelder mehr«, teilt er mir mit. »Ich bin ein Herzberger. Varas Familie ist großartig. Nicht besonders reich oder mächtig, aber sie sind freundlich. Sie haben mich aufgenommen wie einen verlorenen Sohn.«

Ich nicke. Er hat lange genug eine Familie vermissen müssen, und ich gönne ihm sein spätes Glück.

Dann beansprucht ein Knecht mit einem störrischen Jungpferd seine Aufmerksamkeit, und er trabt davon und ruft seine Anweisungen über den Hof wie ein Feldherr.

Eine Stunde später ist alles für die Abreise vorbereitet. Papiere sind gebündelt und unterschrieben, die zum Verkauf bestimmten Jungpferde gestriegelt und gezäumt und der Hausherr gestiefelt und gespornt.

Trotzdem drückt er sich unter der Tür herum und findet den Absprung nicht.

»Ich könnte morgen erst reiten«, sagt er zu Vara, die Fäuste in den Hosentaschen vergraben. »Meinst du nicht?«

»Du hättest gestern schon reiten müssen«, widerspricht sie ihm mit der gleichen sanften Konsequenz, die sie auch ihren Kindern gegenüber an den Tag legt. »Wie lange willst du die Leute warten lassen?«

»Es gibt Leute, die lassen andere siebzehn Jahre lang warten.«

»Die machen dann aber auch keine Geschäfte. Komm schon. Du weißt, wir brauchen das Geld.«

Sindri zögert und nickt.

»Er ist weg, wenn ich wiederkomme«, sagt er finster. »Ich habe das im Gefühl.«

Ich schweige und gebe mich undurchschaubar.

»Warum sollte er?«, versucht Vara zu vermitteln. »Er ist doch erst angekommen.«

»Lass ihn nicht weg«, sagt Sindri. »Ich komme so schnell wie möglich zurück. Lass ihn bloß nicht weg!«

»Ich weiß nicht, was du hast. Ich dachte, ihr wäret alte Freunde.«

»Das sind wir«, sagt Sindri. »Aber er ist ein alter Freund, der immer wegrennt.«

»Die Dinge sind nicht ganz so einfach«, sage ich.

»Dann machen wir sie uns einfach«, sagt er. »Versprich, dass du noch da sein wirst, wenn ich wiederkomme.«

Ich verspreche es ihm in die himmelblauen Augen. Die Lüge schmerzt mich, aber in der direkten Auseinandersetzung war ich ihm noch nie gewachsen, und ich sollte vielleicht nicht zimperlich sein, wenn man bedenkt, wie oft er mich in der Vergangenheit angelogen hat.

Ich bin nicht nachtragend. Ich habe nur ein gutes Gedächtnis.

Er nickt zögernd. Draußen ruft einer der Männer, und er wirft einen eiligen Blick über die Schulter. Dann ist er mit wenigen, langen Schritten bei mir, packt mich unsanft und zieht mich in seine Arme.

»Wage es nicht«, flüstert er. »Wage es nicht. Wage es einfach nicht.«

Für einen Augenblick gerate ich ins Wanken. Er ist mir so vertraut, wenn ich die Augen schließe. Oft genug hat er mich früher auf diese stürmische Weise umarmt, und ich weiß noch, wie es sich anfühlt, wenn ich die Umarmung zurückgebe, wenn sein Zappeln langsam vergeht und seine Anspannung sich löst. Wie er mir in den Kragen schnauft und »Ach, kleiner Wolf« murmelt, und wie ich mich fühle, als hätte meine Existenz eine Bedeutung.

Und ich erinnere mich, wie er es immer wusste und seinen Vorteil daraus zog.

Ich mache mich sachte los und schiebe ihn von mir. Er streicht sich Haare aus der Stirn, setzt an, weiß dann nicht, was er sagen soll, lässt die Hände fallen und stürmt hinaus.

Vara folgt ihm auf leisen Sohlen nach draußen.

»Habt ihr euch schon verabschiedet?«, frage ich die Kinder. Almut nickt.

»Was hat Sindri gemeint?«, fragt sie. »Warum rennst du weg?«

»Weil es manchmal klüger ist«, sage ich. »Wenn es gefährlich wird, und man kann nicht gewinnen, muss man wegrennen.«

»Aber bei uns ist es doch nicht gefährlich.«

»Ich weiß. Komm, setz dich zu mir. Du auch, Peter. Ich erzähle euch von den Mumbels.«

Almut setzt sich neben mich, und Peter klettert mir auf den Schoß. Ich beginne meine Geschichte und kann tatsächlich so tief in sie eintauchen, dass ich die Geräusche der Abreise vom Hof nicht mehr höre.

Ich höre erst die Stille, die sich über uns senkt, als Vara wieder hereinkommt und die Tür hinter sich schließt.

»Was ist denn hier los«, sagt sie belustigt, und wir drei sehen auf. Wir sitzen auf dem Fußboden vor dem Kamin und haben ein kleines Bühnenbild errichtet: Holzscheite markieren die Baumstämme im Wald, aus Kissen haben wir die Mumbelhöhle nachgebaut, der Mumbelkönig ist ein mit Stroh ausgestopfter Handschuh und Almuts Puppe hat die krönende Hauptrolle als kleine Rechenkönigin.

Peter wirft seiner Mutter einen strafenden Blick zu und legt den Finger an die Lippen. Sie nickt lächelnd und setzt sich zu uns.

Manchmal denke ich, ich erzähle nur für Erwachsene, um die Zeit totzuschlagen, bis ich es wieder für Kinder tun kann.

Es ist eine ziemlich lange, verschlungene Geschichte, und als sie zu Ende ist, fühle ich mich besänftigt und beinahe heiter. Peter klatscht begeistert in die kleinen Hände, und Almut fasst mich um den Hals und küsst meine Wange.

»Bravo«, sagt Vara und strahlt. »Ich kann es nicht erwarten, heute Abend eine von den großen Geschichten zu hören. Kennt Ihr die vom Löwenritter? Das ist mir die liebste.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein«, sage ich brav.

Später findet Vara mich draußen im Hof, wo ich dabei bin, meinen Rucksack zu säubern und seinen Inhalt durchzulüften. Es ist ein sonniger Nachmittag, der Himmel ist von durchsichtigem Blau, und der Wind nimmt zärtlich die braunen Blätter von den Bäumen und legt sie ins Gras.

»Warum hatte er solche Angst, Ihr könntet gleich wieder abreisen?«, fragt sie mich geradeheraus. Sie ist wohl keine Frau, die Zeit verschwendet.

Ich halte in meiner Arbeit inne.

»Wir haben uns damals nicht im Guten getrennt«, umschreibe ich vorsichtig. »Mich heimlich aus dem Staub zu machen, war meine einzige Möglichkeit.«

»Warum?«

»Weil ich noch nie die Kraft hatte, ihm die Stirn zu bieten, wenn es darauf ankam.«

Sie lächelt schmal.

»Ich verstehe, was Ihr meint. Manchmal ist es, als wolle man einem Schlachtross in vollem Galopp Einhalt gebieten.«

»Genau.«

»Worum ging es bei Eurem Streit?«

»Das ist schwer zu beschreiben. Ich denke, im Grunde darum, dass ich mich nicht länger auf diese Weise besitzen lassen wollte. Vordergründig um eine Frau.«

»In die Ihr beide verliebt wart?«

»Nein. Er war nicht verliebt. Er wollte nur nicht, dass ich es war.«

Vara sieht mich forschend an. In ihren Augen liegt das Braun und Gold des Herbstes.

»Wir wollten heiraten«, sage ich widerstrebend. »Er hat uns auseinander gebracht.«

»Aber wie kann das gehen, wenn zwei sich einig sind?«

Ich klopfe Staub aus meiner Schlafmatte, bis ich mich zu einer Antwort durchgerungen habe.

»Wenn man eine Kette sprengen will, sucht man sich das schwächste Glied aus«, sage ich. »Das war ich. Ich war immer das schwächste Glied. Bitte, Vara, zwingt mich nicht, tiefer in diese Geschichte einzutauchen. Es ist viele Jahre her, aber ich mag sie immer noch nicht erzählen.«

»Er versucht immer noch, Menschen zu besitzen«, sagt sie. »Er versucht, sie zu besitzen, wie ein Bettler sich an einen Brotlaib klammert. Ich denke, man hat ihn oft hungern lassen in seinem Leben.«

»Er ist maßlos«, sage ich. »Er ist nicht zufrieden mit dem, was andere satt macht.«

»Umso tragischer für ihn.«

»Besitzt er Euch?«

Sie lächelt schmal.

»Ich tue, was ich kann.«

Ich falte meine Schlafmatte und verstaue sie im Rucksack. Es gab Zeiten, da musste ich sie oben auf die Klappe binden, weil sie nicht hineinpasste. Die Zeiten sind vorbei.

»Und nun wollt Ihr Euch davonschleichen wie ein Dieb«, sagt sie. »Euer Wort brechen. Mich einem Mann überlassen, der drei Wochen lang nicht mit mir sprechen wird, weil er mir gram ist.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln.

»Es klingt nicht rühmlich, so wie Ihr das sagt.«

»Versucht selbst, eine rühmliche Geschichte draus zu machen, Herr Geschichtenerzähler.«

Ich kann nicht mehr länger lächeln.

»Ich bin keine rühmliche Figur, Vara. Ich bin nur der Skaeldin. Die Helden sind die anderen.«

Sie nickt und schlingt ihr Tuch fester um sich. Der Wind streicht ihr sachte durch das flammend rote Haar.

»Er kann frühestens morgen Abend wieder hier sein«, sagt sie. »Und das nur, wenn er sein Pferd schindet. Was er niemals tun würde, für keinen Skaeldin der Welt. Ich denke, wir müssen ihn nicht vor übermorgen zurück erwarten. Bis dahin könnt Ihr Eure eigene Heldenhaftigkeit entdecken, und wenn Ihr Euch entscheidet, wegzulaufen, könnt Ihr das morgen besser als heute. Ihr humpelt ja schon, wenn Ihr den Hof überquert.«

Ich seufze und schaue hinunter auf meine wenigen Habseligkeiten, die ich auf der Bank ausgebreitet habe. Ich denke an gefrorene Pfützen, an blutige Füße und an Löwenzahnsuppe, die um diese Jahreszeit auch immer dünner wird.

»Wenn Ihr so freundlich sein wollt, mich bis morgen zu beherbergen, werde ich mit Freuden bleiben«, sage ich, und sie lächelt zufrieden.

»Gut«, sagt sie. »Ihr könnt Euch nützlich machen, in dem Ihr die Kinder beschäftigt haltet, damit sie mir nicht ständig vor den Füßen herumlaufen.«

Und so geschieht es, dass ich meine Fluchtpläne verschiebe und den Tag über auf Sindris Spuren wandere: in dem Wohnraum, in dem sein Mantel am Haken hängt, an dem Tisch, über den sein Ärmel streifte, Tee aus einer Schale trinke, die seine Lippen schon ungezählte Male berührt haben.

Ich versuche wirklich, aus meinen Fehlern zu lernen, aber es fällt mir so schwer.

Der Abend kommt auf leisen Sohlen und hängt blaue Schleier ins Fenster. Nach einem wunderbaren Abendessen bleiben alle sitzen und sehen mich erwartungsvoll an.

»Wann gehen denn die Kinder zu Bett?«, erkundige ich mich vorsichtig.

»Gar nicht«, sagt Almut empört.

»Die Wahrheit ist, dass sie mich vorhin weichgeklopft haben«, gibt Vara mit einem halben Lächeln zu. »Ich habe ihnen erlaubt, länger aufzubleiben. Ausnahmsweise. Ihr könnt den Löwenritter sicher so erzählen, dass sie keine schlechten Träume bekommen, oder?«

»Ich will die Geschichte von den Mumbels«, sagt Almut wie von der Bogensehne abgeschossen.

»Mumbels hatten wir heute schon«, sage ich. »Ich dachte an etwas anderes. Die Geschichte vom Sternenritter. Ihr wisst, dass ich euren Ziehvater von früher kenne?«

»Als ihr Kinder wart?«

»Nein. Später. Wir waren schon erwachsen, aus der Sicht von euch Kindern. Aus meiner Sicht waren wir sehr, sehr jung.«

Ich sehe ihn wieder, in der geliehenen Rüstung, mit flatterndem Haar auf dem Turnierplatz. Es ist die zweite Geschichte von Wolfram und Sindri, und sie ereignet sich im Sommer nach unserem ersten Abenteuer.

Ich weiß, ich sollte sie nicht erzählen. Ich sollte das Weite suchen, nicht das, was uns verbindet.

»Ihr habt eine Geschichte, in der mein Ehemann vorkommt?«, sagt Vara erstaunt.

»Und meine Wenigkeit. Aber wie immer bin ich nur der Erzähler.«

»Ich erteile dem Löwenritter eine Absage«, erklärt Vara. »Ich möchte von Sindris jungen Jahren hören. Er hält sich so bedeckt, wenn es darum geht.«

»Es waren gute Jahre«, sage ich. »Trotz allem.«

Ich trinke mir mit gewärmtem Bier Mut an, werfe alle Vorsicht über Bord und lasse mich in die Geschichte fallen.

Die Geschichte beginnt mit einem Höhepunkt. Räumlich betrachtet. Aus moralischer Sicht beginnt sie mit einem absoluten Tiefschlag.

»Weißt du«, sagte Sindri, »wir hätten es schlimmer treffen können.«

»Aha?«, sagte ich. »So? Wie denn?«

»Sie hätten die Luftlöcher vergessen können«, sagte Sindri. Seine Stimme klang dumpf wie meine. Es war sehr stickig und ziemlich warm, und meine Robe hatte sich zu einem unlösbaren Knoten um meine Beine gedreht.

»Du wirst dir noch wünschen, dir ginge die Luft aus, nur damit dein Leiden sich verkürzt«, knirschte ich, und er lachte bemüht.

»Wenn mir die Luft ausgeht, geht sie dir auch aus.«

»Ich kann länger durchhalten als du«, sagte ich. »Ich habe kein so aufgeblasenes Ego zu versorgen!«

»Komm schon, Wolfram«, sagte er. »Hör auf zu streiten. Wir sitzen gemeinsam in der Patsche, wir sollten uns einen Plan zurechtlegen.«

»Und was für ein Plan sollte das sein?«

»Was weiß ich? Es ist uns gelungen, uns aus den Klauen einer gefährlichen Zauberin zu befreien. Da sollte das hier wirklich keine Herausforderung sein, oder?«

»Korrigiere«, sagte ich. »Es ist uns gelungen, dich aus den Klauen einer gefährlichen Zauberin zu befreien, aber offensichtlich nur, weil sie nicht auf die Idee kam, uns in ein Fass zu sperren und uns damit oben in einen Baum zu hängen!«

»Hm«, sagte Sindri nachdenklich. »Da ist was dran.«

Ich versuchte ein Seufzen und hörte, wie ein wildes Stöhnen meinen Mund verließ. Ich schlug mit der Faust gegen die hölzerne Wand unseres Gefängnisses, aber alles, was ich erreichte, war eine sachte Schaukelbewegung.

»Lass das!«, schrie Sindri erschrocken und klammerte sich an mich. Ich war ihm gerade gut zur Hand, denn wir waren ineinander gefaltet wie die Blätter im Herzen eines Salatkopfes.

»Nicht schaukeln!«, quietschte Sindri und grub seine Finger in meinen Arm. »Nicht schaukeln! Mir wird schlecht, du weißt, ich bin nicht seefest …«

»Du behältst dein Abendessen«, wies ich ihn an. »Unter allen Umständen! Und wenn du daran erstickst.«

»In Ordnung«, sagte Sindri unglücklich.

»Und jetzt lass meinen Arm los.«

Sindri seufzte und lockerte seinen Griff.

»Und noch etwas«, sagte ich ihm. »Nur zu deiner Kenntnisnahme. Ich sitze in deiner Patsche. Das ist ein Unterschied, auf den ich Wert lege.«

»Erbsenzähler«, murrte Sindri.

»Meinetwegen«, sagte ich.

Wir schwiegen. Meine Haut fühlte sich warm und klebrig an, und meine Robe schien aus Brennnesseln gewebt zu sein.

Ich hob die Hand und steckte zwei Finger durch das Luftloch, das man uns freundlicherweise in den Deckel geschlagen hatte.

»Hilfe«, sagte ich müde und wackelte mit den Fingern. »Hilfe. Ist irgendjemand da draußen?«

»Sie werden uns finden«, sagte Sindri. »Oder?«

»Nachdem Fässer in Baumkronen nicht zum üblichen Ortsbild gehören, ist das wahrscheinlich. Es ist aber auch wahrscheinlich, dass der Müllersgeselle die Geschichte herumerzählt hat und man der Ansicht ist, es könnte zu unserer Läuterung beitragen, noch eine Weile hier herumzuhängen.«

»Ich hänge gerne mit dir herum«, sagte Sindri. »Mit dir am allerliebsten.«

»Spar’s dir«, sagte ich. »Ein paar Schmeicheleien werden mich nicht wieder freundlich stimmen.«

Vorsichtig, um mir nicht einen Splitter einzureißen, zog ich die Hand ein. Draußen wurde es schon Nacht, und ich hörte, wie ein leichter Wind die Blätter um uns herum bewegte. Der Ast, an dem wir hingen, knarrte leise. Mir gegenüber stöhnte Sindri und rieb sich die Beine, wobei seine Knie schmerzhaft gegen meine Ellenbogen stießen. In dem bisschen Licht, das durch das Luftloch drang, schimmerte sein Gesicht geisterhaft blass.

»Ich hoffe, die Sache war es wenigstens wert«, sagte ich nach einer Weile.

»Wir haben gar nichts gemacht«, sagte Sindri missmutig.

»Ist klar. Ihr habt euch nur zufällig in dieser Scheune getroffen. Ohne eure Kleider.«

»Wir haben nichts gemacht, wovon man Kinder kriegt«, verdeutlichte Sindri.

»Allem Anschein nach wollte der Müllersgeselle sich darauf nicht verlassen«, sagte ich. »Weißt du eigentlich, wie blöd ich dastand? Ich habe dich noch in Schutz genommen! Nein, habe ich gesagt. Beruhige dich, Kunz. Er hilft ihr nur, die Schafe einzufangen, habe ich gesagt! Götter! Es geschieht mir beinahe recht, mit dir in diesem Fass zu sitzen. So viel Dummheit muss bestraft werden.«

»Wir wollten die blöden Schafe einfangen! Aber dann lief eines davon in die Scheune – und – Götter, Wolfram! Sie war willig, sie hat sich mir buchstäblich an den Hals geworfen! Wie hätte ich da nein sagen können?«

»Du hättest es tun können.«

Sindri schnaubte. »Ganz andere Dinge hätte ich mit ihr tun können, aber habe ich nicht! Weil ich nämlich anständig bin und nicht will, dass sie Schwierigkeiten bekommt.«

»Ganz offensichtlich hat man da, wo du herkommst, eine andere Definition von Anstand.«

»Kann sein«, fauchte Sindri, »weil ich nämlich nicht aus einem prüden, lustfeindlichen, hinterwäldlerischen Dorf komme!«

Ich hatte die Aufforderung, doch zurückzugehen, wenn es dort so viel besser war, schon auf der Zunge, aber ich schluckte sie hinunter. Ich wollte den Bogen nicht überspannen.