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Der stille Gott der Wölfe E-Book

Andreas Englisch

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Beschreibung

Ein erstklassiger und mitreißender Vatikan-Thriller von Andreas Englisch. Vor Jahren fand Schwester Maddalena im vatikanischen Bildarchiv Fotografien eines Dokuments, das nur vom Teufel selbst stammen kann. Sie hielt den Fund geheim – aber nun, kurz vor ihrem Tod, will sie ihr Gewissen erleichtern. Doch noch bevor sie sich dem Bischof mitteilen kann, gerät das geheimnisvolle Dokument in die Hände der Journalistin Caroline Robert. Zusammen mit ihren Ex-Mann Sebastian Schäfer wird ihr schnell klar, dass die Papiere die Kraft haben, unweigerlich die Grundfeste der Kirche und der gesamten europäischen Kultur zu erschüttern. Und so werden beiden rasch zur Zielscheibe der Kirche, die eine Veröffentlichung um jeden Preis verhindern will …

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Andreas Englisch

Der stille Gott der Wölfe

Roman

Die Schriftrolle von Herculaneum

1

Als Schwester Maddalena aufwachte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Tagen wieder wohl. Nicht einmal das Rheuma im linken Knie, das sie seit einem halben Jahrhundert plagte, machte ihr zu schaffen. Es war noch tiefe Nacht, aber sie konnte deutlich das schwarze Holzkreuz an der Wand erkennen. Das Fenster ihrer Zelle war offen. Durch das Eisengitter schien der Mond. Schwester Maddalena war froh, dass er den ausgehungerten Katzen beim Mäusefangen leuchtete. Die weißbraune Katze, die am liebsten im Atrium in der Sonne lag, nannten sie und Schwester Agnese immer die »Heilige Caterina«, weil sie so ein sanftes Wesen hatte. Das durfte die Schwester Oberin nur nicht erfahren.

Im Schlaf hatte sie sich fast ganz aufgedeckt. Jetzt raffte Maddalena die Bettdecke wieder zusammen, türmte sie neben sich auf und grub sich hinein wie eine Katze in einen Haufen Heu. Sie rieb ihre kalten Beine. Das Blut begann wieder zu zirkulieren. Ich stehe nicht mehr auf, dachte sie und bekam vor Wonne eine Gänsehaut. Die müssen mich jetzt bedienen. Am Nachmittag hatte sie gehört, wie sich Schwester Rosalia bei der Oberin beschwert hatte: »Die Maddalena ist gesünder, denn je. Sie will sich nur faul im Bett ausruhen.« Die Schwester Oberin hatte Rosalia ermahnt, nicht schlecht über die Mitschwestern zu reden, ihr die Sünde aber vergeben. Schwester Rosalia musste jetzt auch den Flur und die Archive wischen, weil Maddalena krank war. Geschieht ihr nur recht, dachte Maddalena. Sie hat nie glauben wollen, wie viel da zu wischen ist.

Eine Wolke zog vor den Mond. Maddalena grub sich noch tiefer in die weiche Decke, die man ihr endlich zugestanden hatte. Sie war so glücklich wie zum letzten Mal an jenem Weihnachtsabend, als sie grippekrank hier im Bett gelegen hatte. Man hatte ihr Kerzen und Gebäck gebracht, und es war ein richtig schönes Weihnachtsfest geworden. Auf den Fluren hatte sie das Getuschel gehört und den feierlichen Einzug in die Messe. All die furchtbaren Momente waren ihr erspart geblieben. Sie brauchte das Telefon nicht klingeln zu hören, an das sie nie gerufen wurde. Sie brauchte die Blicke der Mitschwestern nicht zu ertragen, wenn die Oberin die Geschenke herumreichte, die die Verwandten den Ordensschwestern geschickt hatten. Sie hatte seit Jahren nichts mehr bekommen. Man hatte sie wohl vergessen, genau wie Schwester Cristina, die fast nie sprach und die nie Verwandte gehabt zu haben schien. Am ersten Weihnachtstag war sogar der französische Professor in ihre Zelle gekommen, für den sie Dutzende von Fotos aus dem Archiv herausgesucht und vergrößert hatte.

Am meisten freute sich Maddalena heute Nacht aber darüber, dass sie recht behalten hatte. In den letzten Tagen hatte sie zum ersten Mal seit mehr als vierzig Jahren keine Kopfschmerzen mehr gehabt. Wie oft hatte sie der Oberin in den Stunden des Gesprächs vor dem Abendbrot gesagt, dass die Fixierflüssigkeit an ihren Kopfschmerzen schuld sei. Die Oberin hatte es nicht hören wollen. Seitdem sie nicht mehr in den stinkenden Räumen des Fotolabors arbeiten und Filme entwickeln musste, waren die Kopfschmerzen auf wundersame Weise verschwunden. Es machte sie glücklich, die Winkel ihres Gehirns danach zu erforschen, ob sich nicht doch ein kleiner Schmerz ankündigte, und nichts zu finden.

Maddalena wurde es zwischen den Decken jetzt richtig warm. Einen Moment lang dachte sie daran, an das Fenster zu gehen und in den Hof zu schauen. Sie fürchtete zwar nicht die Kälte im Zimmer, aber sie hatte Angst, im Hof Schwester Cristina zu sehen. Es musste schon mehr als fünfzehn Jahre her sein, dass sie nachts aufgestanden war, um das Fenster zu schließen, und unten im Hof Schwester Cristina mit einer Taschenlampe in der Hand gesehen hatte. Sie hatte sich zu Tode erschrocken. Seit fast fünfzig Jahren verzichtete Cristina freiwillig auf den Dienst in der Küche, um mit den Pilgern in die Katakomben unter dem Kloster zu steigen. Aber dass Schwester Cristina auch nachts durch die Gänge unter der Erde geisterte, das wusste nur sie, Schwester Maddalena. Sie hatte es niemandem verraten, aber sie hatte Cristina seitdem immer als ein Gespenst angesehen. Nie hatte sie bei Tisch neben der blassen Nonne sitzen können, ohne daran zu denken, dass Schwester Cristina vielleicht gar nicht aus Fleisch und Blut war, sondern in Wahrheit das Gespenst einer Frau, die den Pilgern ihr eigenes Grab zeigte.

Obwohl sie jetzt schon lange wach lag, war Maddalena immer noch nicht müde. Sie spürte einen Stich in der Brust und schloss die Augen, um nicht daran denken zu müssen. Sie hatte, obwohl der Arzt die Tür schon geschlossen hatte, genau gehört, wie er zur Oberin gesagt hatte, es gebe keinen akuten Grund zur Besorgnis, aber in solchen Fällen könne es auch sehr schnell gehen. Vielleicht würde sie nie wieder Weihnachten erleben. Bis dahin waren es noch neun Monate.

So wird es vielleicht sein, dachte sie. Ein Stich in der Brust, der immer stärker wird, und dann plötzlich setzt das Herz aus. Es wird stiller sein als je zuvor. Das Blut wird nicht mehr rauschen im Kopf. Vielleicht kommt dann der Kopfschmerz, weil das Hirn kein frisches Blut mehr bekommt. Vielleicht sterben dann die Glieder ab, so dass du zuerst die Füße und die Beine, dann die Hände nicht mehr spürst. Dann wird das Augenlicht schwinden, es wird dunkler sein als jemals zuvor. Sie wusste, was dann geschehen würde. Ihre Seele würde den Körper verlassen, durch die Tür auf den Korridor eilen, die acht Treppen hinauffliegen, vorbei an den Räumen des Fotolabors mit den überalterten Maschinen. Dann würde sie den Gang mit den Archivschränken entlang fliegen und vor dem Schrank mit dem Buchstaben L anhalten. Und dann – dann würde ihre Seele den Packen mit den zweiundfünfzig Negativstreifen hinter den Aufnahmen vom Lateran hervorziehen, ihn ihr ins Gesicht schleudern und schreien: »Warum hast du das getan?«

Maddalena öffnete rasch die Augen. Die Wolke vor dem Mond war verschwunden. Ja, warum hatte sie es getan? Warum hatte sie nie um Vergebung gebeten dafür, dass sie ohne Genehmigung der Schwester Oberin von den Negativen Abzüge gemacht und den Text darauf heimlich gelesen hatte? Diese Schrift, vor der die ersten Christen, die Pilger des Mittelalters, die Toten der Weltkriege verschont geblieben waren und die ausgerechnet sie in diesem alten Schrank entdeckt hatte. Sie wusste es. Sie wusste genau, warum sie nie gebeichtet hatte. Die Schrift hatte ihren Glauben erschüttert, und in all den Jahren, in denen sie die Zeichen immer wieder heimlich studiert hatte, war der Zweifel gewachsen. Es hatte lange gedauert, bis sie ihn niedergerungen hatte. Danach hatte sie die Negative nur noch mit einem weißen Tuch, das sie heimlich mit Weihwasser tränkte, angefasst. Die Fotoabzüge von den Negativen, die sie für die Übersetzung gebraucht hatte, hatte sie im Ofen in der Halle verbrannt.

Was hätte sie tun sollen? Ihr Beichtvater, der Don, der nicht einmal Latein lesen konnte, hätte sie nicht verstanden. Du hättest dir den richtigen Beichtvater suchen müssen, das wäre deine Pflicht gewesen, dachte Maddalena. Du hättest dafür um Verzeihung bitten müssen, dass du die Schrift einfach versteckt hast, und dafür, dass du am Glauben zweifeltest. Wenn du nicht endlich beichtest, dachte sie, dann wird in dem Moment, wo dein armes Herz stehenbleibt, die Reue kommen. Aber deine Zunge hat dann vielleicht nicht mehr die Kraft, um zu sagen: »Vergib mir«. Dann bleibt vielleicht nicht mehr genug Zeit für die Absolution.

Maddalena rieb vorsichtig ihre Beine. Seit langer Zeit fühlte sie wieder Kraft. Sie raffte die Decke zur Seite und richtete sich vorsichtig auf. Im Sitzen fühlte sie sich schon weniger kräftig. Ihr war schwindelig. Der Mond tanzte im Fenster. Aber es würde schon gehen. Sie zog die dünnen Filzpantoffeln über und zündete eine der Kerzen an, die vor dem Bild der Madonna bereitlagen. Sie konnte es nicht wagen, das Licht im Kloster anzuschalten, denn das würde die anderen wecken.

Bis zur Tür ging es ganz einfach. Im Flur löschte ein Windstoß die Kerze. Geh immer an der Wand lang, bis zur Treppe, dann kann nichts geschehen. Langsam tastete sie sich vor. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Es war viel heller, als sie geglaubt hatte. Warum musste ich erst vierundsiebzig Jahre alt werden, um einmal nachts durch das Kloster zu geistern, dachte sie und lächelte. Sie fasste das Treppengeländer an und stieg Stufe um Stufe hinauf. Es war ganz einfach. Bald lag auch der Korridor hinter ihr, und schon stand sie vor den ersten Archivschränken. Ich bin ein alter Blitz, dachte sie. Bis zum Buchstaben M war sie in dreißigjähriger Arbeit gekommen. Sie hatte mehr als 130 000 Fotos und Negative sortiert. Es tat ihr leid, dass sie nicht mehr geschafft hatte. Die Gelehrten würden vielleicht nie erfahren, wie viele Fotos im vatikanischen Bildarchiv ruhen.

Die oberste Schublade im L-Schrank ließ sich leicht aufziehen. Vor zwei Jahren hatte sie den Film zum letzten Mal in der Hand gehalten. Der weiße Lappen, ganz und gar vertrocknet, lag noch bereit. Maddalena schlug das Kreuzzeichen, nahm dann das Tuch in ihre Hand, zog das Paket mit den Negativen heraus und zählte sie durch. Sie waren alle noch da. Sie schloss den Schrank. Vorsichtig rollte sie das Paket zusammen. Lass es bloß nicht fallen, dachte sie. Ein Kratzer nur, und ein ganzer Absatz ist zerstört.

Langsam schlich sie durch den leeren, dunklen Korridor zurück. Plötzlich fühlte sie sich einsam. Sie blieb an einem Fenster stehen und blickte in den Hof. Was ist, dachte sie, wenn der Bischof diesem Flavius Plancus glaubt? Sie schlug das Kreuzzeichen. Dann sind wir verloren, dachte sie. Dann sind wir alle verloren.

2

Stoßfest, wasserdicht bis dreißig Meter Tiefe, sechs Weckmelodien, zwei programmierbare Zeitzonen, Stoppuhr und beleuchtetes Ziffernblatt, und das alles für knapp 40 000 Lire. Schäfer fühlte sich behaglich. Nicht nur, weil er seine Traumuhr in dem Prospekt entdeckt hatte, auch weil es jetzt im März endlich wieder warm genug in der ungeheizten Wohnung war, so dass man problemlos noch mindestens eine halbe Stunde auf dem Klo sitzen bleiben und die ganze Broschüre durchblättern konnte. Diese Broschüre eines großen deutschen Warenhauses, dessen Name ihm nichts sagte, hatte er gemeinsam mit einem Bündel Zeitungen von einem Kunststudenten ergattert. Der war gerade erst aus Deutschland angekommen und hatte an der Theke einer Kaffeebar in der Nähe des Bahnhofs herumgelungert.

Schäfer hatte gleich geahnt, welch sagenhaften Nachmittag er mit dem bunten Warenhauskatalog aus Deutschland verbringen würde. Er blätterte noch einmal eine Seite zurück. Allerdings konnte der HlsT-Chronograph sogar die Wassertiefe anzeigen und kostete auch nur knapp 60 000 Lire. Sebastian Schäfer dachte nach. Auf der einen Seite befand er sich selten in einer größeren Wassertiefe als zehn Zentimeter unter der Oberfläche seiner vollgelaufenen Badewanne. Auf der anderen Seite war es ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass einem die Armbanduhr bei einem U-Boot-Unfall anzeigen konnte, wie viele Meter man bis zur Oberfläche würde schwimmen müssen.

Es klingelte an der Tür. Schäfer blätterte ärgerlich eine Seite um. Ich werde auf keinen Fall aufmachen. Seit Tagen fällt es niemandem ein, mich zu besuchen, und wenn es mir endlich einmal gut geht in der Wohnung, will mir jemand den Nerv töten. Es klingelte ein zweites Mal, energischer. Ignorieren, dachte Schäfer. Die Klingel summte jetzt ununterbrochen, außerdem polterte jemand mit den Händen gegen die Tür. Schäfer beschloss, ganz leise zu sein und darauf zu hoffen, dass der Unbekannte vor der Tür aufgeben werde. Die Türklingel surrte nun mit einem Panik verbreitenden Unterton.

So eine Scheiße, dachte Schäfer, feuerte die Broschüre auf die Erde, wischte sich den Hintern und ging zum Waschbecken. Er knöpfte die Hose zu und brüllte: »Subito, subito!«

Er stieg über den Stapel Telefonbücher, der immer im Flur lag, und öffnete die Tür.

Sie war es. Sie trug ziemlich flache schwarze Schuhe, schwarze Nylons, einen dezenten schwarzen Rock und ein blaues Jackett. Ihre Haare hatte sie etwas kürzer geschnitten, aber ihr Gesicht war immer noch das schönste, das er je gesehen hatte. Sie war unglaublich sexy und unglaublich selbstbewusst, weil sie das wusste. Wie immer kam er sich in ihrer Gegenwart alt und langweilig vor.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich hereinkomme?«

»Nein.«

Sie schob sich an ihm vorbei, ließ ihn stehen mit der Klinke in der Hand und brachte nicht einmal die Neugier auf, einen Blick in sein chaotisches Schlafzimmer zu werfen, dessen Tür offenstand.

»Das ist die Küche, nehme ich an.« Sie ging durch die Tür, und er hörte, wie sie ihre Tasche auf einen der Stühle fallen ließ.

Falsch, dachte er und schloss die Wohnungstür. Du hättest ihr die Hand geben oder die Jacke abnehmen sollen, als wäre nichts gewesen. Du solltest schon längst in der Küche sein. Warum nicht die paar Schritte an den Küchentisch, einmal Küsschen-Küsschen auf die Wangen und dann ein gewöhnlicher Plausch.

Wegen der ganzen anderen Schritte geht es vielleicht nicht, dachte Schäfer, der anderen Schritte durch den Flur zur Tür beim geringsten Geräusch – damals, als er noch gedacht hatte, sie könnte zurückkommen. Das musste es sein. Die Abende, an denen er sich, wenn es geklingelt hatte, kämmte, bevor er die Tür aufmachte. Die Hoffnung auf dem Weg hinunter zum Briefkasten, der leer war; sechs Jahre lang.

Sie hatte schon die Espressomaschine gefunden, Kaffee hineingeschüttet, die Herdflamme und eine Zigarette angezündet, als er mit der Hand die Wurstpelle, eine Käserinde und den Senffleck von der Tischdecke wischte. Er ließ sich auf den Campingstuhl fallen und sah sie an, wie sie am Herd stand und den blubbernden Kaffee im Auge behielt, als könne die Maschine explodieren.

»Ich dachte, ich mache uns einen Kaffee. Schließlich bin ich deine Frau.« Sie lachte.

Schäfer setzte sich an den Tisch neben dem Fenster. Dass sie seine Frau sein sollte, kam ihm absurd vor. Aber sie hatten sich nie scheiden lassen. Du musst den Mund aufmachen, dachte er.

»Irgendwie sind wir ja geschieden«, sagte er lahm.

»Aber nicht vor dem Richter. Das zählt«, sagte sie. Sie lachte. Sie lachte nach jedem zweiten Satz. Schäfer hatte das nie verstanden. Denn sie war nicht unsicher. Sie ließ den Blick über die sterbenden Topfpflanzen auf der Fensterbank und über das Ungeheuer von Küchenschrank wandern.

»Du hast ja immer noch die Porzellanteller von der Marchetti«, sagte sie.

Ja, allerdings. Er hatte alles noch. Sie sah ihn jetzt an. Er war sich sicher, dass sie ihn mit den Augen prüfte, wie einen Gegenstand aus dieser Küche, der kurioserweise einmal zu ihrem Leben gehört hatte. Sie wird auf einen Kaffee bleiben, dachte Schäfer. Sie hat sich einen Nachmittag gegönnt, wie man sich manchmal die Zeit gönnt, in alten Briefen zu lesen, oder sich mit einem vergessenen Andenken aus Plastik, das man auf dem Dachboden gefunden hat, in die Sonne setzt, um darüber nachzudenken, wie doch die Zeit vergeht. Jetzt erst fiel ihm eine Antwort auf ihre Frage ein. Ja, er hatte etwas dagegen, dass sie hereinkam.

Sie nahm zwei Espressotassen aus dem Schrank, die für ihre Begriffe offenbar nicht sauber waren. Sie wusch sie aus, schenkte Schäfer ein, stellte die Tasse vor ihm ab und lehnte sich an den Kühlschrank.

»Du hast dich etwas gehenlassen, mein Lieber«, sagte sie und deutete mit der Tasse auf seinen Bauchansatz.

Er sah sie schweigend an, wie sie langsam von dem heißen Kaffee nippte, sah auf ihre Hüften, die in den schwarzen Minirock gezwängt waren, das Jackett, unter dem sie offenbar nichts als einen BH trug, auf ihren braunen Hals und das jugendlich geschminkte Gesicht. Dieser Körper hatte ihm Scham eingeflößt für seinen eigenen Körper und manchmal sogar Abscheu vor der Wölbung seines Bauches, den roten, dünnen Härchen auf den Beinen und den schlaffen Oberschenkeln. Nur ganz selten hatte er gespürt, dass ihr Körper zu ihm gehörte.

»Du bist natürlich immer noch sehr schön«, sagte er.

Sie zupfte ein paar Fusseln vom Revers ihres Jacketts.

Sie war eine dieser Frauen, denen Männer wie er nachschauten. Schäfer hatte nie in Erfahrung bringen wollen, dass sie sich präziser Regeln der Kosmetik und eines gefüllten Kleiderschranks bediente, um ihre Schönheit herbeizuzaubern, wie ganze Völkerscharen anderer Frauen auch. Ihn interessierte das nicht. Er wusste nur, dass er selbst aussah wie ein Sack, auch wenn er einen neuen Anzug probierte, genauso wie die fülligen nordeuropäischen Touristinnen, die sich in die zierlich geschnittene italienische Garderobe zwängten.

Schäfer wusste, dass Frauen wie Caroline ihn bezauberten, aber nicht mit ihm sprachen, wenn sie nicht mussten. Ein Ozean lag zwischen ihnen und diesem Typ der ältlichen Studentin, die sich gern zu ihm an den Tisch setzte und spätestens nach dem zweiten Treffen »mein Bärchen« zu ihm sagte. Meistens verliebten sie sich nicht in ihn, sondern suchten nur einen Platz, wo sie einen Moment mit ihrem Gepäck aus thailändischen Windspielen, Batikdrucken aus toskanischen Kommunen, mit ihren Kindern und ihrer Angst ausruhen konnten.

Sie hatte die Tasse abgesetzt und hielt nun eine brennende Zigarette in der Hand. Sie hielt ihm die Schachtel hin, aber er lehnte ab.

»Du rauchst nicht mehr?«

»Nein.«

Sie atmete eine Wand aus Rauch aus, die sie gegen Schäfers Blick abschirmte. »Es ist fast sechs Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, nicht? Manchmal frage ich mich, was ich in all diesen Jahren eigentlich getan habe.« Sie sah dem Rauch nach, als wolle sie ein Geständnis machen, oder als erwarte sie eins.

Schäfer schob die Tasse von sich. »Wie solltest du auch wissen, was du getan hast?«

»Ich meine, es ist immerhin viel Zeit vergangen.«

»Du hast es doch geschafft, ganz nach oben zu kommen. Was schert es dich denn jetzt, wie du das geschafft hast?«

Sie drückte die Zigarette aus. »Ich hatte deine Streitlust ganz vergessen.«

Es war plötzlich dunkel geworden. Draußen hatte es zu regnen begonnen.

»Ich will nicht streiten. Aber die Antwort auf die Frage, was du gemacht hast, liegt doch auf der Hand. Du hast Zeitungen verkauft. Du hast Dinge und Menschen ans Licht gezerrt, dass ihnen Hören und Sehen verging.«

»Und woher, bitte schön, willst du das wissen?«

Er nahm einen Stapel Zeitungen, die auf dem Heizkörper unter dem Fenster trockneten, schmiss sie auf den Tisch und ließ sich wieder in den Stuhl fallen.

Er hatte ihre Berichte gelesen, ihre Reportagen, Kommentare. Zu Anfang hatte er herauszulesen versucht, ob es ihr gut oder schlecht ging. Später hatte er sich einfach daran gewöhnt, die Zeitungen nach ihrer Autorenzeile – »Von Caroline Robert« – zu durchsuchen, ohne dass er hätte sagen können, warum er las, was sie schrieb.

Sie spielte mit einer neuen Zigarette in der Hand.

»Ich, oder sagen wir lieber, wir haben versucht, Nachrichten an die Menschen zu liefern, die Nachrichten haben wollen. Wir haben informiert, angeklagt, aufgedeckt.«

»Es ist nichts passiert in den letzten Jahren. Zumindest nicht das, was du und deine Freunde aufgebauscht und erfunden habt. Fast nichts, was auf dieser Welt wirklich passiert, interessiert irgendwen, deshalb stehen diese Dinge auch nicht in der Zeitung.«

Sie zündete sich die zweite Zigarette an. »Du hast das natürlich alles vorher gewusst?«

Schäfer schwieg.

»Ich hätte bei dir bleiben sollen, mich neben dich wie eine Kröte aufs Bett setzen und darauf warten, dass alle auf den Bauch fallen. Ich wollte in meinem Leben eigentlich noch ein paar Erfahrungen machen, Sebastian. Ich habe mich Hunderten von Fällen angenommen, von Leuten, die verzweifelt waren oder arm oder krank.«

»Und wenn dein Text über das Leid der Welt fertig war, bist du aus deinem Designerkleid gestiegen, zwischen deine Seidenbettwäsche gekrochen und hast dir einen Stoßseufzer auf das Leid der Welt abgerungen.«

»Ich habe keine Seidenbettwäsche, und ich kann auch ohne Designerkleider leben, allerdings sehe ich nicht ein, warum ich den Rest meines Lebens in einer fettigen Küche oder zwischen schmutzigen Laken verbringen muss.«

»Du meinst, so wie ich.«

»Es scheint dir ja zu gefallen.«

Schäfer nahm eine Zigarette aus ihrer Schachtel. Wenn du jetzt auch noch wieder anfängst zu rauchen, bist du ein Schwächling, dachte Schäfer. Er zündete sie an.

»Du bist in Mailand mittlerweile Chefredakteurin. Habe ich recht?«

»Stellvertretende Chefredakteurin. Und du – schreibst immer noch Reiseführer, wie ich hörte?«

»Ja, immer noch Reiseführer. Wie du siehst, geht das Geschäft schlecht. Ich soll dich übrigens grüßen von der Contessa Baldini.«

»Das war doch die elegante Oma in Taormina, nicht?«

»Ja, sie führt das Hotel immer noch.«

Damals warst du noch keine Frau, dachte Schäfer. Damals warst du noch ein Mädchen. Du hast dich noch geschämt, wenn uns die Baldini beim Knutschen auf der Terrasse erwischte, und bist rot geworden, wenn dir diese kleinen sizilianischen Kellner mit ihrem Sinn für Romantik eine Rose an den Tisch brachten. Später, als die Baldini gehört hatte, dass sie Reiseführer schrieben, waren sie immer wieder in ihr Hotel eingeladen worden. Die Baldini hatte zwar nicht viel davon gehabt, aber aus irgendeinem Grund schien sie zu glauben, dass die Schäfers ihr Glück für die kommende Saison bringen würden.

Sie schenkte ihm Kaffee nach und nahm sich selbst auch noch eine Tasse. »Das passiert mir jetzt zum zweiten Mal«, sagte sie.

»Was?«

»Dass ich bei jemandem vorbeischauen will, nur so, als hätte ich noch einen Koffer bei ihm untergestellt. Und wenn ich dann da bin, muss ich sehen, dass mir der Koffer vor die Tür gestellt wurde.«

»Wie meinst du das?«

»Bei Ludovico war es ähnlich.«

»Das ist ja beruhigend, dass ich etwas mit ihm gemeinsam habe, immerhin hast du mich wegen dem Schwachkopf sitzenlassen.«

»Er sieht immer noch sehr gut aus.« Sie trank ihre Tasse in einem Schluck aus.

»Und was sollte ich deiner Ansicht nach tun? Jubeln, dass du wieder da bist?«

»Was soll das denn? Ich bin nicht wieder da, ich bin nicht zurückgekommen. Ich wollte dich nur kurz sehen, weil ich zufällig in Rom bin, und basta.«

»Hast du einen meiner Nachfolger jetzt gerade losgeschickt, um dir neue Ohrringe zu kaufen, und dir selbst die Zeit genommen, um zu kontrollieren, ob ich tatsächlich keinen Zentimeter weitergekommen bin, seit du mich verlassen hast?«

Sie nahm ihre Tasche. »Hast du mit dem Streit nur angefangen, um herauszufinden, ob ich solo bin? Das hättest du einfacher haben können. Ich bin solo.«

»Ich habe keinen Streit angefangen«, sagte Schäfer. Er rührte in der Kaffeetasse und sah auf ihre Beine, die immer noch dieselben Beine waren, nur dass sie jetzt so weit weg waren wie auf einem anderen Planeten.

»Nein, du hast keinen Streit angefangen, du hast mir nur erklären wollen, dass ich mein Leben damit verschwende, mich als Journalistin aufzuspielen.«

»Bevor du es wurdest, waren wir beide einmal eine ziemlich lange Zeit glücklich.«

Sie presste die Tasche vor ihren Bauch. »Du warst glücklich, weil du schon damals mit der Welt da draußen alles geklärt hattest, was es zu klären gab, und für mich gleich mit. Welche Meinung ich dazu hatte, war dir völlig egal. Du wolltest da unter deiner Bettdecke liegenbleiben, am besten mit mir. Wie zwei angeschossene Tiere, das war doch dein Lieblingsvergleich.«

Sie nahm sich noch eine Zigarette.

»Da draußen ist es aber gar nicht so grauenhaft, wie du meinst. Es gibt nicht nur Haie und Ungeheuer, sondern auch ganz normale Menschen, die versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Dabei machen sie sich manchmal auch schmutzig.«

Schäfer trank jetzt seinen Kaffee und sah aus dem Fenster. Es regnete immer stärker.

»Deswegen wolltest du auch noch einmal bei mir vorbeischauen«, sagte er, »um zu sehen, aus welcher armseligen Welt du entkommen bist, mit schmutzigen Laken und überquellenden Mülleimern.«

»Sebastian, du bist ekelhaft zu dir selbst.«

Schäfer zündete sich eine zweite Zigarette an. »Du hast doch recht«, sagte er. »Ich habe dich verloren, ich habe den Anschluss verloren, und ich bin arm. Für deine Verhältnisse bin ich wahrscheinlich bettelarm. Auf jeden Fall bin ich ärmer als jeder andere Siebenunddreißigjährige, den ich kenne. Das, was du brauchst, kann ich dir nicht bieten. Das konnte ich wahrscheinlich nie.«

Sie quetschte ihre Zigarette aus. »So stimmt das nicht«, sagte sie. »Es kommt mir nicht auf eine Penthauswohnung an.«

»Nein«, sagte Schäfer, »nicht nur.«

Es war plötzlich zum ersten Mal, seitdem sie gekommen war, still. Es war so still, dass man es hören konnte. Er sah sie an, sie kratzte etwas von den Fingernägeln und schaute nicht zurück. Diese Art von Stille war ihr zuwider. Er wusste das. Er hätte noch einmal ganz von vorne anfangen müssen, aber dazu war es jetzt schon zu spät. Er wollte nicht warten, bis sie sagen würde: »Ich muss jetzt leider gehen.«

Sie wog ihre Tasche in der Hand, als wolle sie das Gewicht abschätzen.

Er stand auf. »Es ist wohl besser, du gehst jetzt. Ich müsste zwar lügen, wenn ich sagte, ich habe zu tun, aber wie du siehst, könnte ich wenigstens mal abwaschen.«

Augenblicklich stieß sie sich vom Kühlschrank ab. Er brachte sie zur Tür. Sie hatte schon die Klinke in der Hand.

»Hören wir noch voneinander?« fragte sie. »Ich bleibe ein paar Tage hier, um eine Reportage über Katakomben-Klöster zu machen. Ich wohne im Hotel am Forum.«

»Ich melde mich«, sagte er.

Sie öffnete die Tür. Er hätte ihr gern wenigstens die Hand gegeben, aber er traute sich nicht. Die Tür schlug hinter ihr zu.

3

Die »heilige Caterina« kauerte am Beckenrand unter den Bäumen im Klosterhof und sah neugierig den Goldfischen zu. Im Wasserbecken spiegelten sich die tief hängenden Wolken. Der graue Himmel verwandelte das warme Rot der Mauern in ein schmutziges Rostbraun. Schwester Agnese fürchtete einen Moment, die Katze könne versuchen, mit der Tatze einen Fisch zu fangen, denn ihre Augen folgten begierig den schillernden roten Rücken im Wasser. Dann verlor die heilige Caterina aber das Interesse an den Fischen und sprang vom Beckenrand hinunter in den Hof. Schwester Agnese war froh, dass sie sich nicht im Wesen der Katze getäuscht hatte.

Die Unschuldigen können nicht gegen ihre Natur handeln, dachte sie. Sie blickte auf die elegante Frau, die abseits im Hof unter dem grauen Himmel saß und in einer Zeitschrift blätterte. Wenn du gleich alles falsch machst, überlegte Schwester Agnese, dann liegt das daran, dass du unschuldig bist und nicht anders handeln kannst.

In den Campingstühlen unter den Torbögen wartete eine Gruppe ernst dreinblickender Polen. Schwester Agnese hatte ihnen schon die Eintrittskarten verkauft. Jetzt blieb sie bei der Gruppe stehen, als lebendes Pfand, das für die bereits gezahlten viertausend Lire eine Gegenleistung garantierte. Denn Schwester Cristina war noch immer mit den lärmenden Kindern einer Schulklasse in den Katakomben. Wenn sie endlich heraufkam, würde sie sich vielleicht tatsächlich dazu herablassen, mit der Dame zu sprechen. Wenn nicht, dachte Agnese, dann bin ich an der Reihe. Immerhin liegt es in Gottes Hand.

Agnese glaubte allerdings nicht daran, dass Gott die Eigenliebe Cristinas bezwingen konnte. Von einem gütigen Gott wäre das vielleicht zu viel verlangt. Sie hatte nie vergessen, wie Cristina sich damals bei ihrem Eintritt in das Kloster vor der Schwester Oberin damit gebrüstet hatte, dass sie nicht kochen und nicht nähen könne und deshalb auch nicht zum Hausdienst eingeteilt werden wolle. Die Katakomben seien ihre Berufung, hatte sie erklärt und betont, dass sie eine Studierte in Archäologie sei und acht Sprachen beherrsche. Dabei beherrschte sie nicht einmal wirklich alle acht Sprachen, deren sie sich rühmte. Schwester Maddalena schwor, dass Schwester Cristina in Wirklichkeit keine Silbe Latein verstand, obwohl sie immer so gelehrig auf die Grabtafeln der ersten Christen blickte.

Mich sollte die Dame von der Zeitung interviewen, dachte Schwester Agnese. Ich hätte schon was zu erzählen. Was Cristina wirklich in den Katakomben treibt, zum Beispiel, wird sie der Journalistin gegenüber bestimmt verschweigen. Dabei hatte sie – Agnese – einmal mit eigenen Augen im entlegenen Südflügel, im dritten unterirdischen Stockwerk, Spaten, Spitzhacke und ein paar Öllämpchen in einem Grab in der Wand entdeckt. Schwester Cristina schien demnach an den Feiertagen und vielleicht sogar nachts auf eigene Faust in den unerforschten Teilen der Katakomben zu graben. Das Werkzeug hatte Agnese ganz zufällig entdeckt, als sie den Elektrikern den Stromkasten unter der Erde zeigen sollte.

Plötzlich vernahm sie hinter sich die festen Schritte von Schwester Cristina. Das war das Unheimlichste an ihr. Selbst junge Pilger hörte man schwer atmen, wenn sie die zahllosen Treppen bis an die Oberfläche gestiegen waren. Nur Schwester Cristina keuchte nie. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man glauben, dass sie gar nicht atme. Die Polen waren schon aufgesprungen, als Schwester Cristina in der Tür erschien. Die Kinder tummelten sich, froh, wieder an der frischen Luft zu sein, im Hof.

»Die Dame dort drüben wartet auf dich. Sie ist von der Zeitung. Mit der Schwester Oberin hat sie schon gesprochen. Sie hat eine Empfehlung vom Bischof.«

Schwester Cristina nahm die Kapuze der Regenjacke ab, die sie immer in den Katakomben trug, und schaute in den Hof.

»Mag sie warten. Ich muss diese Herrschaften noch führen. Und danach ist es Zeit für Mittag.«

Sie wandte sich ab. Die polnische Pilgergruppe trottete hinter ihr her.

Es muss wohl sein, seufzte Schwester Agnese. Einen Augenblick lang hätte sie Schwester Maddalena am liebsten verflucht, obwohl Maddalena ihr immer die beste Freundin im Kloster gewesen war.

Die heilige Caterina hatte sich auf dem Schoß der Dame niedergelassen und ließ sich streicheln. Schwester Agnese ging über den leeren Hof, über dem die Wolken so bedrückend tief hingen, auf die Dame zu. Sie wusste plötzlich nicht mehr, was zu sagen sie sich vorgenommen hatte, und wollte schon abdrehen zum Klostereingang, als die Dame sie rief.

Es waren nur ein paar Schritte bis zu der Bank. Schwester Agnese blieb vor der Dame stehen, faltete die Hände vor dem Bauch und blickte auf die Spitzen ihrer schwarzen Ledersandalen herunter. Ich werde tun, was Maddalena will, auch wenn ich gegen die Regeln verstoße und die Oberin hintergehe, dachte sie. Aber lügen werde ich nicht.

»Meinen Sie, dass es noch eine Weile dauern wird mit der Nonne, die die Führungen macht?« fragte die Dame.

»Sie ist gerade erst mit einer Gruppe Pilger hinuntergestiegen. Die Führung dauert mindestens vierzig Minuten.«

Die Dame schlug die Beine übereinander. »Meinen Sie, dass die Nonne sich fotografieren lässt?«

»Wir sind zur Demut angehalten.« Schwester Agnese wagte es jetzt, die Augen zu heben. Im Blick der Dame lag kein Verdacht. Ohne Lug und Trug ist diese Frau, dachte Schwester Agnese. Sie fürchtete zu erröten.

»Wir haben im Kloster nicht nur die Katakomben. Wir verwalten auch das Fotoarchiv für den ganzen Kirchenstaat.«

Die Dame nahm einen Notizblock heraus. »So? Das ist ja interessant.«

»Schwester Maddalena hat es ihr Leben lang betreut. Jetzt ist sie aber leider sehr krank. Möchten Sie sie nicht besuchen?«

Die Dame lachte sie an. »Ich kenne die Schwester doch gar nicht. Und das Betreten der Zellen hat mir die Oberin ausdrücklich verboten. Das lassen wir mal lieber.«

Sie lacht mich aus, dachte Agnese. Sie hat es gleich gemerkt. »Ich dachte, wo sie doch eine Empfehlung haben vom Bischof, könnten Sie ja bei Schwester Maddalena hineinschauen und dann das Fotoarchiv ansehen. Es sind mehr als hunderttausend Bilder.«

Die Dame schrieb jetzt etwas in den Kalender. »Ich warte lieber hier. Das einzige Foto, das ich brauchen könnte, wäre eine alte Aufnahme von dem Kloster. Irgendetwas um die Jahrhundertwende, wenn Sie so was haben.«

»Ich kann einmal fragen gehen, wenn Sie möchten.«

»Tun Sie das«, sagte die Dame.

Schwester Agneses Hände schwitzten, als sie den Hauseingang erreichte.

Das war nichts, dachte sie. Gott sei Dank war das nichts. Sie ging so leise wie möglich durch den kalten Korridor. Die Sonne schien jetzt durch die Fenster, konnte die großen Hallen aber nicht erwärmen. Jeder Schritt hallte laut, so dass man meinte, das Kloster sei von flüsternden Stimmen erfüllt. Nicht einmal vor dem Bild der Heiligen Caterina, der die Kirche geweiht war, standen Blumen. Nur Stechpalmen, die in die Kapelle getragen wurden, wenn jemand gestorben war. Sechs für den aufgebahrten Sarg einer gewöhnlichen Nonne und zwölf für die Oberin.

Langsam stieg Agnese die Treppe hinauf. Die Stufen waren noch nass vom Wischen, und sie fürchtete zu fallen. Wenn die Oberin sie jetzt sehen würde, konnte sie sagen, dass sie einen Krankenbesuch bei Maddalena machen wollte. Das stimmte schließlich auch. Auf dem Korridor standen die Fenster offen, damit die nassen Fliesen trockneten. Agnese fror. Noch einmal mache ich so etwas nicht, dachte sie.

Sie klopfte leise an die Tür. Vielleicht schläft sie, und wenn sie schläft, dann ist es besser so.

Sie erschrak fast, als sie Maddalenas Stimme hörte. So leise wie möglich ließ sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Die Fensterläden in Maddalenas Zelle waren heruntergelassen. Nur vor dem Bild der Madonna brannte eine Kerze.

Maddalena saß aufrecht auf dem Bett. Sie hatte die weißen Haare gekämmt, die ihr bis auf die Schultern herabfielen.

»Das war nichts«, sagte Agnese.

Maddalena faltete die Hände. »Wo ist sie denn?«

Schwester Agnese griff zur Bettdecke. »Leg dich wieder hin. Sie wollte nicht kommen. Sie ist unten im Hof.«

»Ist sie eine Dame? Kann ich ihr trauen?«

»Leg dich hin!« befahl Agnese. Sie half ihr, die Beine auf das Bett zu heben, und deckte sie zu. Dann setzte sie sich auf den Stuhl neben das Bett.

»Sie ist eine richtige Dame von einer Zeitung. Aber sie wollte nicht kommen. Sie wollte nur ein altes Foto vom Kloster.« Agnese fühlte Schwester Maddalena die Stirn. »Du fieberst. Reg dich nicht so auf. Du solltest lieber schlafen.«

Schwester Maddalena legte die Hände auf der Decke zusammen. »Und der Bischof?«

»Ja, sie kommt vom Bischof.«

»Hast du sie gefragt?«

Agnese nickte.

»Dann können wir es ihr mitgeben. Sag ihr, das alte Foto vom Kloster schicken wir ihr später. Gib es ihr und sag ihr, dass sie es auf keinen Fall lesen darf und dass sie es zum Bischof bringen soll.«

»Maddalena, du bist in einem Zustand der Barmherzigkeit. Lade doch nicht noch mehr Schuld auf dich. Gott hat es nicht gewollt, dass sie zu dir kommt.«

»Wenn ich doch Worte finden würde, um dir alles zu erklären. So, dass auch du es verstehst.«

»Warum schickst du es dem Bischof nicht einfach mit der Post?«

Maddalena richtete sich auf. »Wie denn? Wenn du die Oberin um Briefmarken bittest und sie dich dann befragt, was du zu verschicken hast, wirst du dann für mich lügen?«

»Das Seelenheil verspielt man nicht«, sagte Agnese. Sie glaubte, Tränen in Maddalenas Augen funkeln zu sehen.

»Und wenn ich der Oberin sage, dass ich einen Brief an den Bischof schicken will, und ihr dann den Umschlag gebe, meinst du etwa, sie würde dann nicht hineinschauen, um zu erfahren, was ich dem Bischof mitzuteilen habe?«

Es war kalt im Zimmer. Ich habe getan, was ich konnte, dachte Agnese. Jetzt soll sie mich gehen lassen. »Gib es doch Carmela.«

Maddalena rieb sich die Tränen aus den Augen. »Eine Kochhilfe, mit der Schürze um, wird der Bischof nie empfangen. Wenn wir es dieser Frau von der Zeitung geben, wenn sie zu seiner Exzellenz geht und sagt: Sehen Sie, das hier schickt Ihnen Schwester Maddalena, dann wird er es lesen.«

»Aber warum ist das denn so wichtig?«

»Gib mir deine Hand«, sagte Maddalena. »Ich weiß nicht, ob ich zum Herrn gehe. Ich weiß es nicht. Ich fürchte mich. Der Bischof wird eine Antwort wissen. Dann kann ich einschlafen.«

Agnese hielt die kleinen knochigen Hände fest. »Du bist eine arme Nonne wie ich. Der Herr wird mit uns barmherzig sein.«

»Wenn es den Herrn gibt.«

Schwester Agnese ließ ihre Hand los. »Lästere nicht! Was ist mit dir?«

Maddalenas Stimme klang jetzt ganz fest. »Warum gibt er uns so lange schon kein Zeichen mehr?«

»Es ist nicht an uns, das zu fragen. Wir müssen glauben und hoffen.«

»Aber wenn wir es nicht können, wegen dieser Schrift? Ich weiß nicht, ob sie von eines Menschen Hand stammt, aber das muss ich in Erfahrung bringen. Ich kann doch nicht im Zweifel sterben. Wenn ich beten muss, Herr, ich komme jetzt zu dir, dann muss ich auch daran glauben, verstehst du das denn nicht? Und ich kann es nicht, wegen der Schrift.«

»Wenn es aber eine Heilige Schrift ist, warum gibst du sie nicht unserem Beichtvater?«

»Es ist keine Heilige Schrift. Don Onofrio würde sie nicht verstehen. Er würde sie verbrennen.«

»Wenn sie nicht heilig ist, was ist sie dann?«

»Vielleicht ist sie nicht von dieser Welt und nicht des Himmels.«

Schwester Agnese faltete die Hände. »Der Leibhaftige?«

Maddalena nickte.

Der Tod ist es, dachte Schwester Agnese. Der Tod ist so nah bei ihr, dass ich ihr glaube. Auf dem Sterbebett lügt man nicht. Sie ist nicht mehr die Schwester Maddalena, sie liegt da wie eine, die weiß.

»Wenn das ein Schriftstück aus den Krallen des Satans ist, warum verbrennst du es nicht?«

Langsam und mit Mühe richtete sich Maddalena auf. »Ich muss wissen, dass es eine Fälschung ist, eine Versuchung des Geistes. Der Bischof ist ein gelehrter Mann. Er wird es erkennen. Er wird die richtigen Worte finden, die meine Zweifel zerstreuen. Ich muss doch bald sterben.«

Die Kerze vor der Madonna flackerte. Es war jetzt sehr dunkel in der Zelle.

»Woher hast du diese Schrift?«

»Sie steht auf Fotonegativen. Es ist ein lateinisches Buch, das Seite für Seite abgelichtet wurde. Der Film lag seit wer weiß wie vielen Jahren im Archiv.«

»Wann hast du die Filme gefunden?«

Maddalena antwortete nicht.

Agnese nahm ihre Hand und legte sie unter die Decke. »Du bist müde, und du fieberst. Schlaf jetzt!«

»Nein, ich habe keine Zeit mehr. Ich werde noch genug schlafen. Die Schrift habe ich schon vor zehn Jahren gefunden.«

»Aber warum gabst du sie nicht gleich dem Don?«

»Ich wusste doch nicht, um was es sich handelte. Ich habe so viele Jahre da gesessen und übersetzt. Damals war ich noch nahe bei Gott. Erst später, als ich die Schrift verstand, kam nachts der Zweifel über mich.«

»Hast du gebeichtet?«

»Dem Don? Er würde nichts verstehen. Gib mir deine Hände.«

Sie richtete sich langsam im Bett auf. Schwester Agnese sah, dass sie weinte.

»Lass mich nicht allein! Hilf mir doch! Es ist vielleicht mein letzter Wunsch. Gib es der Dame. Sag ihr, sie soll den Umschlag nicht aufmachen. Sie soll ihn dem Bischof bringen. Ich weiß, dass sie es tun wird.«

»Was weinst du denn?«

»Es geht gleich besser. Sie soll ihm sagen, Schwester Maddalena schickt es ihm. Er soll sich meiner erbarmen. Ich warte auf seine Antwort, damit ich in Ruhe sterben kann. Geh jetzt.«

Agnese stand auf. »Bitte den Herrn, dass er uns verzeiht für unsere Sünde, die Schwester Oberin zu hintergehen. Wo ist es denn?«

Maddalena zog einen braunen Umschlag unter der Bettdecke hervor.

Für so einen kleinen Umschlag diese vielen Tränen, dachte Schwester Agnese. Der Name des Bischofs stand schon darauf.

4

Sebastian Schäfer lag im Bett und hielt die Augen fest zusammengekniffen, damit die Lider sich nicht immer wieder von alleine hoben. Er wusste, dass er auf diese Weise nicht einschlafen würde, aber er war viel zu müde, um aufzustehen. Gegen sechs Uhr hatte ihn ein mörderischer Lärm geweckt. Der Müllwagen war genau vor seinem Mietshaus mit einem Auto zusammengestoßen. Schäfer war sehr spät ins Bett gegangen und noch sehr müde gewesen, als er von dem Lärm aufgewacht war. Trotzdem konnte er nicht mehr einschlafen. Zwei Stunden blieb er noch im Bett, grub sich, so tief er konnte, in die Kissen und wartete vergeblich darauf, dass der Schlaf zurückkehren würde. Gegen acht Uhr stand er auf, machte sich einen dünnen Kaffee und versuchte, die Seite über Sehenswürdigkeiten in Spoleto zu Ende zu schreiben. Er war zu müde, um sich zu konzentrieren. Also ging er wieder ins Bett.

Mittlerweile war es schon Vormittag, und der Schlaf ließ noch immer auf sich warten. Wenn ich nicht wenigstens noch zwei Stunden schlafe, kann ich diesen Tag vergessen, dachte Sebastian Schäfer. Er rollte sich zur Wand. Der Kühlschrank in der Küche sprang an und summte.

Wenn jetzt wenigstens jemand anrufen würde, um mich mit seinem Geschwätz zu stören, würde ich ganz sicher so müde, dass ich endlich schlafen könnte, dachte Sebastian Schäfer. Er sah auf seine Armbanduhr. Ein halbe Stunde noch, dachte er. Eine halbe Stunde bleibst du noch liegen, und wenn du dann nicht eingeschlafen bist, stehst du auf. Er kniff die Augen wieder zu. Du musst dich nur zwingen, nicht alle zehn Minuten auf die Uhr zu schauen. Das Telefon klingelte neben seinem Bett. Gott sei Dank, dachte er und nahm ab.

»Hallo?«

»Hab ich dich geweckt? Ich bin es.«

»Wer ist denn da?«

»Sieh an, du erkennst meine Stimme nicht mehr. Ich bin's, Caroline. Hör mal, ich hätte eine Arbeit für dich. Ich kann dir sechshundert Mark am Tag zahlen. Die Arbeit wird ein paar Tage dauern. Kannst du sofort kommen?«

Sechshundert Mark am Tag, das war ein sagenhaftes Honorar.

»Was soll ich denn tun?«

»Du warst doch so verrückt, Latein zu studieren. Du musst mir einen lateinischen Text übersetzen. Es ist ziemlich viel.«

»Ich bin alles andere als ein Profi.«

»Das macht nichts. Du bist genau der Richtige für die Arbeit. Komm her!«

»Gut, ich komme. Ich bin gleich da.« Er wollte auflegen.

»Warte! Weißt du überhaupt, in welchem Hotel ich wohne?«

»Ja. Du hast es mir gesagt.«

»Bis gleich.« Sie legte auf.

Schäfer rollte sich noch einmal tief in die Bettdecke. Du brauchst jetzt ein paar Tassen starken Kaffee unten in der Bar, dachte er. Vorher musst du noch duschen und dir die Haare anständig waschen. Vielleicht will sie ja nur, dass du ihr ein paar Inschriften aus den Katakomben übersetzt. Vielleicht kannst du das sogar auf ihrem Zimmer tun, und vielleicht bist du mit ihr dort sogar ein paar Minuten allein. Zum ersten Mal seit Wochen stand er in fröhlicher Stimmung auf.

Obwohl Sebastian Schäfer die Hoteltür hinter sich schloss, hielt der Lärm unvermindert an, der sich durch die dünne Glastür nicht aussperren ließ. Die Flüstermusik aus den Lautsprechern in der Halle wirkte grotesk, weil sie nur dann zu hören war, wenn die Ampeln auf Rot standen und für einen winzigen Augenblick die Kreuzung frei war. Ein Einzelzimmer mit Frühstück kostete hier schätzungsweise zweihundertsechzig Mark pro Nacht, überlegte Schäfer, während er auf die Rezeption zusteuerte. Er mochte diese Art teurer römischer Hotels. Er konnte sich an die Zeit erinnern, als er seine Vormittage in solchen Empfangshallen verbracht hatte, in denen arbeitsunwillige Portiers nie die Zaungäste wegjagten, die nur kamen, um eine der zerfledderten Zeitungen durchzulesen. Es gab solche Hotels nur in Rom, mit diesen durchgesessenen Kunstledersofas in abgeschabtem Rot und Braun und den Trockenblumen, die sich langsam in dem Staub auflösten, der sich auf den fleckigen Teppichböden verteilte. In Rom gab es nicht jene Inseln der Gastlichkeit, die man mit hohen Zimmerpreisen erkaufte, wie etwa in Florenz oder sogar in Neapel, weil die Besucher in Rom seit Jahrhunderten wie lästige Fliegenschwärme behandelt wurden, für die niemand je die Hotelhalle renovierte, wenn es sich verhindern ließ, und die froh sein mussten, wenn sie in der Saison ein lautes Zimmer bekamen, und Saison war immer.

An der Rezeption lungerte ein einsamer Portier – seine Kollegen waren offenbar alle noch beim Mittagessen – und füllte seinen Totoschein aus.

»Ich möchte zu Caroline Robert. Welche Zimmernummer hat sie?«

Der Portier sah ihn an, als hätte Schäfer ihn gebeten, ihm ein Vermögen zu leihen. »Sind Sie überhaupt angemeldet?«

»Die Dame wartet auf mich.«

»Das werden wir gleich wissen, ob sie auch wirklich wartet. Wie heißen Sie?«

Sebastian Schäfer hätte gern gesagt: Ich bin ihr Mann. »Ich heiße Schäfer.«

»Moment.« Der Portier wählte eine Nummer und murmelte etwas in den Hörer. Dann legte er auf. Als würde er ihm die Riesensumme gewähren, um die Schäfer gebeten habe, sagte er: »Sie hat Zimmer Nummer 72.«

Das Zimmer entpuppte sich als eine mittlere Suite. Auf den ersten Blick verbreitete der Veloursteppich einen gewissen Glanz, ebenso wie die Goldlack-Einrichtung, die erst beim näheren Hinsehen preisgab, wie abgeschabt sie war. Ein paar nackte Kabel baumelten von der Wand unter dem Telefon, dessen Tastatur Caroline auseinandergeschraubt hatte, um ihren Minicomputer, der auf dem Bett stand, anzuschließen.

Caroline stand vor einem Barocktischchen und schrie in den Telefonhörer, der an dem Gerippe hing. An der rechten Wand hatte sie zwei schlecht gemalte Ölbilder abgehängt, die dümmliche Bäuerinnen zeigten und jetzt an der Wand lehnten, um einer Reihe großformatiger Fotos Platz zu machen, die mit Klebestreifen auf die Tapete geklebt waren. Die Hoteldirektion wird das nicht so gern sehen, dachte Schäfer. Auf den beiden enormen roten Sofas hatte Caroline den Inhalt ihrer Handtasche und einen Stapel Negativbögen verteilt. Sie knallte den Hörer auf die Gabel.

»Schön, dass du schon da bist. Setz dich! Willst du was zu trinken? Kaffee oder Orangensaft oder so? Ich bestelle mal eben etwas.« Sie nahm wieder den Telefonhörer in die Hand.

Schäfer setzte sich in einen der riesigen Barocksessel. Mein Gott, ich hatte schon ganz vergessen, wie sie ist, wenn sie zu Hochform aufläuft, dachte er.

Sie riss sechs Fotos von der Wand und reichte sie ihm. »Wie lange brauchst du, um das zu übersetzen?«

Schäfer ließ seinen Blick über die Zeilen wandern. Es waren Fotos von einem handgeschriebenen, alten Text. Aber es war keine Inschrift, von denen hatte er in der Universität Hunderte übersetzt. Es war eines der sehr seltenen alten Bücher. Er las ein paar Sätze. »Das ist kein mittelalterliches Latein. Wo hast du das her?«

»Das spielt doch keine Rolle. Wie lange brauchst du für die ersten zwölf Seiten?«

»Wenn du sie mir mitgibst, sagen wir: eine Woche.«

»Du hast für die ersten Teile bis heute Abend Zeit. Dafür verdoppele ich das Honorar. Zwölfhundert Mark für heute und je sechshundert Mark für morgen und übermorgen.«

Sebastian Schäfer dachte nach. Auf der einen Seite ging ihm ihr Chefinnen-Ton auf die Nerven. Auf der anderen Seite wäre das Problem, woher er das Geld für die Miete nehmen sollte, mit dieser Arbeit für eine ganze Weile gelöst.

»Also was ist?« Caroline sah ihn an mit diesem Gesicht, das zu ihrem Ärger puterrot anlief, wenn sie aufgeregt war.

»In Ordnung«, sagte er. »Aber erst will ich wissen, was das alles soll.«

Sie ließ sich in einen Sessel fallen, ihm gegenüber. »Erst übersetzt du. Wenn du fertig bist, erzähle ich dir alles.«

Sebastian Schäfer zog seinen Mantel aus. »Liebe Chefin, wenn du mir nicht sagst, für wen ich was übersetzen soll, rühre ich keinen Finger.«

»Du hast einen schwierigen Charakter.«

»Deswegen haben wir ja so gut zusammengepasst.«

»Haben wir das?« fragte sie. Sie sprang auf und lehnte sich gegen den Barocktisch. »Also gut. Die Fotos sind Vergrößerungen von einem Negativstreifen, den mir die Oberin eines Klosters geschenkt hat«, log sie.

»Und?«

»Soweit ich es begriffen habe, enthält er einen lateinischen Text, der noch nie veröffentlicht wurde.«

»Wieso glaubst du, dass er noch nie veröffentlicht wurde?«

Sie deutete auf den Computer, der auf dem Bett stand. »Ich kann immerhin genug Latein, um die Namen in dem Text zu erkennen. Der Rest war ein Kinderspiel. Ich brauchte mich nur noch in unsere zentrale Datenbank einzuwählen und die Namen abzugleichen. Sie sind noch nie in irgendeiner Form veröffentlicht worden, nicht in Italien, nicht in Europa. Nirgendwo, in keinem Buch, in keiner Zeitschrift. Nichts.«

»Seit wann interessiert du dich für antike Bücher?«

»Wir haben eine Archäologie-Zeitschrift im Verlag, für die ist das ein gefundenes Fressen.«

»Wieso sollten die sich um einen antiken Text reißen?«

»Mein lieber Sebastian, es gibt auf dieser Welt nun einmal Spinner, die sich Zeitschriften kaufen, um Jahrtausende alte Briefe, Tagebücher, Einkaufslisten zu lesen.«

»Ich bin einer von ihnen.«

»Siehst du, für solche Leute drucken wir in unserer Zeitschrift Woche für Woche einen übersetzten Originaltext. Wir möbeln diese alten Dinger immer mit einem Motto auf. Wir basteln Überschriften wie ›Wussten Sie, was Cicero von Sklaven hielt?‹«

»Natürlich wissen eure Leser, was Cicero von Sklaven hielt.«

»Klar, aber komischerweise lesen sie es immer wieder.«

»Und jetzt hast du sogar eine Sensation, weil du ihnen keinen aufgewärmten Lateintext vorlegst, den sie sowieso schon kennen, sondern einen, der zum ersten Mal auf der Welt veröffentlicht wird, und zwar in eurer Zeitschrift.«

»Jetzt hast du es begriffen.«

»Und die Nonne hat ihn dir also geschenkt? Wieso?«

»Weiß ich nicht, ist ja auch egal.«

»Der Text gehört dem Vatikan, wenn er in einem Kloster war. Es wird wahrscheinlich eine Weile dauern, die Monsignori sind ja nicht so schnell, aber irgendwann kommen sie wahrscheinlich dahinter, dass du ihr Archivmaterial ohne Genehmigung verwertest und mit Vatikaneigentum einen Haufen Geld verdienst.«

»Die kommen sofort dahinter. Wir schreiben nämlich darüber, dass der Text aus einem Vatikanarchiv stammt.«

Schäfer zündete sich eine Zigarette an. »Dann wird es Ärger geben.«

»Hoffentlich. Wenn die ein bisschen Ehre im Leib haben, werden sie vor Gericht ziehen.«

Caroline stieß sich vom Tisch ab, nahm Schäfer die Zigarette aus der Hand und steuerte quer durch den Raum. »Sobald die klagen, bieten wir natürlich einen Vergleich an, und gleichzeitig starten wir in einer unserer Tageszeitungen eine Serie darüber, warum eigentlich der Kirchenstaat interessante Sachen in seinem Archiv vergraben darf. Das gehört alles der Allgemeinheit.« Sie zerquetschte die Zigarette im Aschenbecher. »Kannst du mir folgen?«

»Problemlos.«

»Die Akten über den Prozess gegen Galilei, gegen Savonarola, was immer du willst, halten die Kirchenherrscher einfach in ihrem Geheimarchiv zurück. Die ganze Aktion wird damit enden, dass der Vatikan zumindest einige Akten zugänglich machen wird, und Dutzende historischer Institute werden sich mit Freude die Arbeit teilen. Darüber hat vor uns noch nie jemand geschrieben.«

Schäfer zündete sich eine neue Zigarette an. »Wenn du ihn veröffentlichst, kommt deine Nonne, die dir den Text gegeben hat, in Teufels Küche.«

»Nachrichten sind immer unbequem. Es gibt immer jemanden, dem irgendetwas nicht gefällt. Das muss uns egal sein.«

»Ist der Schwester denn klar, was für Konsequenzen das haben kann?«

»Nein. Aber wir schützen unsere Informanten. Soweit wir können.«

»Wie hast du denn dein Archäologie-Fachblatt davon überzeugt, einen völlig unbekannten Text zu veröffentlichen, der von einem Dilettanten wie mir übersetzt wird?«

»Das war kein Problem. Ich musste ihnen nur erzählen, dass ich einen bisher unbekannten antiken Text in der Hand habe, den die Konkurrenz auch hat. Schon haben sie mir alles geglaubt. Die wollen nur noch als erste auf dem Markt sein. Das werden sie ja auch.«

»Die drucken den Text ohne Genehmigung des Vatikans?«

»Natürlich.«

»Und wozu das Ganze?«

Es klopfte. Ein livrierter Kellner brachte drei Flaschen Orangensaft, diverse Kannen mit Milch und Kaffee und vier Teller mit belegten Broten. Caroline gab ihm ein fürstliches Trinkgeld, und er verschwand.

Sie nahm sich eine Tasse Kaffee und ließ sich neben Schäfer in einen Sessel fallen. »Die haben mich hierher abgeschoben für diese blödsinnige Katakomben-Reportage. Aber das lasse ich nicht mit mir machen.«

»Dich haben sie abgeschoben?«

»Es gibt in jeder Zeitung immer wieder mal jemanden, der meint, er allein wisse, wie man Auflage macht. Ich bin zu alt, um auf Kirchhöfen Nonnen zu interviewen. Ich habe diese Zeitschriften entworfen, verstehst du das? Ich pflege meine Leute rauszuschicken, um mal eine Reportage wie diese Katakomben-Serie zu machen, und dann stellen die mich, ausgerechnet mich, verstehst du, damit kalt.«

»Und jetzt?«

»Jetzt habe ich denen gezeigt, wie man eine Nachricht machen kann, wenn man keine hat. Das Manuskript war ein Geschenk des Himmels, deswegen pauken wir das jetzt auch durch, du und ich.«

Sie musste Luft holen. Sebastian Schäfer beeilte sich, eine Frage einzuschieben. »Und wozu die Eile? Warum muss der Text noch heute übersetzt werden?«

»Wenn wir den Text bis morgen früh durchtelefonieren, heben sie ihn noch in die aktuelle Ausgabe. Du brauchst nichts aufzuschreiben, diktiere einfach die Übersetzung in das Tonband da auf dem Tisch. Ich besorge eine Maus, die uns das heute Nacht abtippt. Dann sind wir damit übermorgen am Kiosk.«

»Und wenn du eine Woche später erscheinen würdest, wo wäre das Problem?«

»Wenn herauskommt, dass wir den Text haben, weil irgendjemand den Mund aufmacht, jagt uns der Vatikan das Ganze per einstweiliger Verfügung wieder ab, bevor wir damit am Kiosk sind.«

»Warum sollte er das tun?«

»Schäfer, ich kenne die Zeitungen, glaub es mir. Wenn es um die Kirche geht, gibt es in jeder Redaktion einen, der danach giert, endlich der Kirchenspitze mal einen Gefallen tun zu können, weil er sich davon das Himmelreich oder eine Privataudienz beim Papst verspricht. Wenn so heißer Stoff zu lange in der Redaktion liegt, steckt irgendeine Betschwester den Kirchenmännern, dass wir sie um einen Haufen Geld betrügen wollen. Dann bleibt denen gar nichts anderes mehr übrig, als gerichtlich zu reagieren. Die nehmen uns den Text ab.«

»Und dann ist deine Sensationsgeschichte im Eimer.«

»Richtig.«

»Du solltest der Nonne einen guten Anwalt besorgen.«

»Den wird sie bekommen.«

Das ist genau die Art von Geschichten, bei denen ich nie mitmachen wollte, dachte Schäfer. Er sah Caroline an, deren Wimperntusche verwischt war, was äußerst selten geschah. Warum können wir hier nicht einfach sitzen bleiben und Kaffee trinken und ein bisschen quatschen und vielleicht sogar ein bisschen flirten und diesen ganzen Unsinn vergessen, dachte er.

»Warum beauftragst du nicht ein Übersetzerbüro?«

»Es darf keiner wissen, dass ich den Text habe. Dir vertraue ich.« Dir vertraue ich auch, dachte er. Er wollte sagen: Eigentlich warst du der einzige Freund, den ich je hatte. Aber es wäre nicht sehr passend gewesen.

»In Ordnung«, sagte er. »Ich brauche eine Schreibmaschine, einen Stapel Papier, ein, zwei Wörterbücher und Nougatpralinen. Die regen meinen Verstand an.«

Sie lachte. »Sollst du alles haben. Die Wörterbücher habe ich schon besorgt.«

Während sie zum Telefon ging, um die Kellner loszuschicken, räumte er einen Tisch frei, zog einen passenden Sessel herbei und versuchte, die Fotos in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die Aufnahmen waren sehr gut. Jeder Buchstabe zeichnete sich genau ab. Die Fotos mussten ziemlich starke Vergrößerungen sein. Jeder Buchstabe war mindestens dreimal so groß, wie er im Original sein konnte. Deutlich sah man die Papyrusfasern, besonders an der Stelle, wo die Tinte verlaufen war. Der Text musste also auf eine Buchrolle geschrieben worden sein, bevor das Pergament sich durchgesetzt hatte. Also war er vor dem fünften Jahrhundert nach Christus geschrieben worden, oder es handelte sich um eine sehr gute Fälschung.

Der Text war in Spalten aufgeteilt. Schäfer zählte nach. Jede Spalte war dreißig bis vierzig Buchstaben breit und sechzig Zeilen lang. Der Fotograf hatte jeweils zwei Spalten auf einem Bild abgelichtet. Die Fotos konnte man wie die Seiten eines Buches hintereinander legen. Der Text bestand nur aus leicht kursiv geschriebenen Großbuchstaben. Da die ersten Kleinbuchstaben erst etwa um das Jahr 300 auftauchten und es vor dem Jahr 278 v. Chr. kaum lateinische Bücher gab, musste der Text wohl irgendwann in diesem Zeitraum von 600 Jahren entstanden sein.

Glücklicherweise schien der Schreiber ein Pedant gewesen zu sein. Schäfer hatte noch nie einen antiken Text gesehen, der so sauber geschrieben und so gut erhalten war. Nur wenn dem Autor die Tinte im Griffel ausgegangen war, wurden die Buchstaben leicht undeutlich. Meistens hatte er diese Stellen jedoch noch einmal überschrieben. Die Worte ließen sich recht leicht lesen, da der Schreiber auf allzu übertriebene Schnörkel und Haken verzichtet hatte. Mühsam war nur die Trennung der Worte und Sätze, da der Autor fast keine Satzzeichen verwendet und viele Wörter ohne Trennung aneinandergehängt hatte.

Der Stil schien ziemlich kompliziert zu sein. Der Schreiber musste in jedem Fall ein Gelehrter gewesen sein, allerdings kein wirklich hochgebildeter Mann wie Cicero oder Seneca. Denn ganz offensichtlich benutzte der Autor ein Latein der Umgangssprache. Er schrieb, wie er vermutlich gesprochen hatte. Statt »dominam«, die Akkusativform von »Hausherrin«, schrieb er »domna«. Das »i« und vor allem das wichtige »m« als Kennzeichen des Akkusativs ließ er weg. Schäfer fand auf den ersten Blick einen weiteren, ähnlichen Fall. Statt »frigidam« – »frisch, kalt« – schrieb der Autor »fridam«.

Alles in allem wird die Übersetzung kein allzu großes Problem sein, dachte Schäfer, irgendwie werde ich das schon in halbwegs verständliches Deutsch bringen können.

Er trank einen Schluck Wasser, der aber den aufsteigenden starken Brechreiz nicht vertreiben konnte. Schäfer ahnte, was passieren würde, wenn er jetzt nicht sofort aufstand und hinausging. Die berechtigte Schelte seitens des Vatikans und der Nonne würde Caroline einstecken müssen, das war ihr Problem. Aber den Ärger um die Übersetzung würde er ausbaden müssen.

Er hatte das schon einmal erlebt. Während er an dem letzten Toskana-Kunstführer schrieb, spendierte der Verlag eine ansehnliche Summe, damit Schäfer einen Experten für mittelalterliches Latein anheuern konnte. Der sollte die Übersetzungen der lateinischen Inschriften aus Kirchen und Klöstern überprüfen, die im Text auftauchten. Schäfer hatte es damals nicht eingesehen, das Geld sozusagen zum Fenster hinauszuwerfen, und selbst übersetzt. Als der Führer erschien, gab es ein Desaster. Sogar ein englischer Pfarrer, der Experte für mittelalterliches Latein war und sich den deutschen Reiseführer irgendwie besorgt hatte, schrieb ihm, die Übersetzungen seien eine Katastrophe. Der Professor eines Instituts für Probleme der Syntax im mittelalterlichen Latein warnte alle Schüler und Studenten eindringlich davor, den Reiseführer zu kaufen. Dabei warf der Gelehrtenkreis Schäfer nicht einmal vor, falsch übersetzt zu haben. Ungefähr war das alles richtig, aber zwischen ungefähr richtig und wissenschaftlich korrekt klaffte nach Meinung der Professoren ein Abgrund, groß wie ein Ozean.

Der Verlag hatte den Führer vom Markt nehmen müssen. In einem Telegramm hatte der Verleger von Schäfer 80 000 Mark Schadensersatz verlangt, mehr Geld, als er damals in zwei Jahren verdiente. Er hatte sich in der Wohnung verbarrikadiert, war nicht mehr ans Telefon gegangen, hatte alle Briefe ungeöffnet zurückgeschickt. Damals ging er kaum noch aus dem Haus, schrak jedes Mal zusammen, wenn es an der Tür klingelte. Der Verlag hatte Gott sei Dank von einer Klage dann doch noch abgesehen, aber Schäfers Ruf auf diesem Gebiet war ein für alle Mal ruiniert. Scharenweise waren seine Auftraggeber abgesprungen. Diesmal würde zweifellos das gleiche passieren, eine Heerschar von Lateinprofessoren würde problemlos Tausende von Fehlern in der Übersetzung ausmachen, und die Zeitschrift wäre binnen kürzester Zeit ihren Ruf als Fachmagazin los.

Schäfer sah zu Caroline, die im Zimmer auf und ab lief und alles Mögliche gleichzeitig tat. Er dachte daran, dass er jetzt sofort nach Hause gehen und abends allein eine Pizza essen konnte, in der Gewissheit, dass er schlau genug gewesen war, diesmal dem Ärger zu entgehen. Vor dem Einschlafen würde er vermutlich aus dem Fenster sehen und dann doch noch Caroline anrufen, um ihr wortreich zu erklären, dass er diesen Job trotz akuten Geldmangels wirklich nicht hatte annehmen können. Sie würde sich für seine Erklärungen allerdings nicht interessieren.

Sie setzte sich vor ihm auf den Schreibtisch. »Was ist? Fang an! Oder hast du Angst? Schlimmstenfalls, Sebastian, landen wir beide vor dem Richter und dann im Knast. Wir können dann ja eine Familienzelle beantragen, schließlich bist du mein Mann.«

Schäfer versuchte zu lächeln, zündete sich eine Zigarette an und begann mit der Arbeit.

5

ERSTE BUCHROLLE, SPALTE EINS