Der stolze Orinoco - Jules Verne - E-Book

Der stolze Orinoco E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Die Handlung des Romans spielt in Venezuela auf der gesamten Länge des Flusses Orinoco von der Mündung bis zur Quelle. Drei Gelehrte haben Meinungsverschiedenheiten im Bezug auf die Klärung des exakten Verlaufes und insbesondere die Festlegung des "richtigen" Quellflusses. Sie treten eine Reise an, um den Verlauf des Flusses zu erforschen. Auf der weiteren Reise kommt die Gruppe in ein Gebiet, das von gefährlichen Schurken und wilden Indianern beherrscht wird. Onkel Martial, Jean/Jeanne, Germain und Jaques trennen sich schließlich von dem Rest der Gruppe. Sie fahren zu der weiter flussaufwärts liegenden Missionsstation Santa Juana. Deren Leiter Pater Esperante soll Informationen über den verschollenen Oberst haben. Er hat in der Mission und den umliegenden Dörfern durch seine Tätigkeit Bildung, Glauben und Wohlstand verbreitet. Der zwielichtige Spanier Jorres ist ebenfalls auf dem Weg zu der Missionsstation. Er ist in Wirklichkeit der in dem gesamten Gebiet gesuchte Schurke Alfaniz und hat auf seinem Weg, der ihn zu den räuberischen Indianern der Quivas führt, Morde begangen. Er legt der Reisegruppe einen Hinterhalt, die von den Quivas gefangen genommen wird. Der Indiojunge Gomo, der sich der Gruppe kurz zuvor angeschlossen hat, entkommt dem Hinterhalt und alarmiert dort Pater Esperante, der mit seiner Schutztruppe loszieht, um die Räuberbande zu bekämpfen und deren Gefangene zu befreien. Nachdem dies gelungen ist, stellt sich heraus, dass er in Wirklichkeit der gesuchte Oberst von Kermor ist.

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Jules Verne

Der stolze Orinoco

Inhalt

Erster Band.

Zweiter Band.

Erster Band.

Erstes Capitel. Herr Miguel und seine beiden Collegen.

»Nein, meine Herren, ich begreife wirklich nicht, wie Ihr Streit auf diese Weise ein Ende finden soll, sagte Herr Miguel, bemüht, die hitzköpfigen Gegner zu versöhnen.

– O, er wird auch kein Ende finden, erwiderte Herr Felipe, wenigstens nicht dadurch, daß ich meine Ansicht für die des Herrn Varinas opfere...

– Und ich nicht meine Anschauung zu Gunsten der des Herrn Felipe aufgebe!«... versetzte Herr Varinas.

Schon seit drei vollen Stunden und ohne einander um ein Tüpfelchen nachzugeben, stritten sich die beiden starrsinnigen Gelehrten um eine Frage betreffs des Orinoco, darum nämlich, ob dieser berühmte Strom Südamerikas, die Hauptwasserader Venezuelas, in seinem Oberlaufe die Richtung von Osten nach Westen einhielte, wie es auf den neuesten Landkarten eingezeichnet war, oder ob er nicht vielmehr von Südwesten herkäme, in welchem Falle der Guaviare oder der Atabapo mit Unrecht nur als Zuflüsse desselben betrachtet würden.

»Der Atabapo ist der eigentliche Orinoco, versicherte Herr Felipe sehr bestimmt.

– Nein, das ist der Guaviare!« erklärte Herr Varinas mit gleicher Energie.

Herr Miguel selbst pflichtete der Anschauung bei die die modernen Geographen vertraten. Ihrer Ansicht nach befinden sich die Quellen des Orinoco in dem Theile Venezuelas, der an Brasilien und Britisch-Guyana grenzt, so daß der ganze Lauf des Stromes ausschließlich Venezuela angehört. Vergeblich versuchte Herr Miguel aber, seine beiden Freunde davon zu überzeugen; die Herren widersprachen einander übrigens auch noch in einem andern Punkte von nicht geringerer Bedeutung.

-»Nein, nein, wiederholte der Eine, der Orinoco entspringt in den columbischen Anden, und der Guaviare, den Sie nur für einen Nebenfluß gelten lassen wollen, ist schlecht und recht der Orinoco selbst, der columbisch in seinem Oberlaufe und venezuolanisch in seinem Unterlaufe ist!

– Falsch, falsch! entgegnete der Andre, der Atabapo ist der richtige Orinoco, nicht aber der Guaviare!

– O, liebe Freunde, fiel da Herr Miguel ein, ich bleibe lieber bei dem Glauben, daß einer der schönsten Ströme Amerikas kein andres Land als das unsre bewässert.

– Hier handelt es sich nicht um eine Frage patriotischer Eigenliebe, entgegnete Herr Varinas, sondern um eine geographische Thatsache. Der Guaviare...

– Nein doch, der Atabapo!« rief Herr Felipe.

Die beiden Gegner, die lebhaft aufgesprungen waren, sahen einander scharf ins Auge.

»Meine Herren... meine Herren! Ich bitte Sie...!« fiel Herr Miguel, ein trefflicher Mann von sehr versöhnlicher Natur, beschwichtigend ein.

An der Wand des Raumes, der jetzt von den Salven dieses Wortgefechtes widerhallte, hing eine umfängliche Landkarte. Sie umfaßte, in großem Maßstabe gezeichnet, die neunhundertzweiundsiebzigtausend Quadratkilometer der Oberfläche des spanisch-amerikanischen Venezuela. Welchen Wechselfällen war das schöne Land durch politische Ereignisse unterworfen gewesen seit dem Jahre 1499, wo Hojeda, der Gefährte Florentin Amerigo Vespucci's, als er, am Ufer der Bai von Maracaïbo ans Land gehend, hier einen mitten in den Lagunen auf Pfählen erbauten Flecken vorfand, dem er den Namen Venezuela, d.i. Klein-Venedig, beilegte! Die Karte stellte den Staat so dar, wie er sich nach dem »Grundgesetz« gestaltet hatte, also nach dem Unabhängigkeitskampfe, dessen Hauptheld Simon Bolivar war, nach der Begründung des Generalkapitanats Caracas und nach der 1839 eingetretenen Trennung zwischen Columbia und Venezuela... einer Trennung, die letzteres zu einer unabhängigen Republik machte. Farbige Linien bezeichneten im Orinocobecken die Grenzen der drei Provinzen Varinas, Guyana und Apure. Das Relief seiner orographischen Anordnung und die Verzweigungen seines hydrographischen Systems hoben sich, mit dem Netze seiner größern und kleinern Wasserläufe, durch vielfache Schraffierung darauf deutlich ab. Man sah da den Verlauf der Küste am Antillen-Meere von der Provinz Maracaïbo mit der gleichnamigen Hauptstadt aus bis zum Mündungsdelta des Orinoco, das die Grenze gegen Britisch-Guyana bildet.

Herr Miguel betrachtete diese Karte, die ihm gegenüber seinen Collegen Felipe und Varinas unzweifelhaft Recht gab. Ein innerhalb Venezuelas verlaufender Strom, der sehr sorgfältig eingezeichnet war, bildete einen eleganten Bogen und war ebenso bei seiner ersten Biegung, wo ein Nebenfluß, der Apure, ihm seine Gewässer zuführt, wie bei der zweiten, wo der Guaviare und der Atabapo sich, von den Cordilleren kommend, hinein ergießen, durchweg mit dem prächtigen Namen Orinoco bezeichnet.

Man begriff wirklich nicht recht, warum die Herren Varinas und Felipe sich darauf versteiften die Quellen dieser mächtigen Wasserader in den Bergen Columbiens zu suchen und nicht in dem Gebirgsstock der Sierra Parima, in der Nähe des hohen Roraima, jenes riesigen, zweitausenddreihundert Meter hohen Meilensteins, an dem sich die Ecken dreier südamerikanischer Staaten, die von Venezuela, Brasilien und Britisch-Guyana, berühren.

Hierzu verdient jedoch Erwähnung, daß die beiden Geographen nicht die einzigen waren, die eine solche abweichende Ansicht vertraten. Trotz der Versicherungen kühner Forschungsreisender, die den Lauf des Orinoco fast bis zur Quelle verfolgten, eines Diaz de la Fuente 1760, eines Bobadilla 1764 und eines Robert Schomburgk 1840, trotz der Untersuchungen des unerschrockenen Reisenden Chaffanjon, der die von den ersten Wassertropfen des Orinoco benetzte Flagge Frankreichs auf den Abhängen der Parima entfaltete – ja, trotz all dieser, scheinbar endgiltigen Zeugnisse galt die Frage für manche starrsinnige Geister – richtiger Jünger des Apostels Thomas, die ebenso unbestreitbare Beweise verlangten, wie dieser alte Vater der Ungläubigkeit – doch noch nicht für gelöst.

Wollte man freilich behaupten, daß diese Frage jener Zeit, im Jahre 1893, die Landesbevölkerung besonders beschäftigt hätte, so würde man mit Recht einer Uebertreibung geziehen werden. Zwei Jahre vorher freilich, als das zum Schiedsrichter ernannte Spanien die endgiltigen Grenzen zwischen Columbien und Venezuela festsetzte, nahmen hieran Alle sehr lebhaften Antheil. Dasselbe wäre wohl der Fall gewesen, wenn es sich um die Festlegung der Grenze gegen Brasilien gehandelt hätte. Bei den zweimillionenzweihundertfünfzigtausend Einwohnern aber, unter denen sich auch noch dreihundertfünfundzwanzigtausend »gezähmte« oder in ihren Wäldern und Savannen ganz unabhängig hausende Indianer befinden, und zu denen fünfzigtausend Neger und endlich aus Blutmischung hervorgegangene Mestizen, Weiße, Ausländer, nebst englischen, italienischen, holländischen, deutschen und französischen Farangos gehören, würde es sicher nur eine verschwindende Minderheit gewesen sein, die sich für die erwähnte hydrographische Frage erwärmt hätte. Jedenfalls gab es indeß zwei Venezuolaner, den genannten Varinas, der für den Guaviare, und den genannten Felipe, der für den Atabapo das Recht, sich Orinoco zu nennen, in Anspruch nahm und neben diesen beiden Gelehrten noch einzelne Parteigänger, die jene bei sich bietender Gelegenheit unterstützten.

Es möge jedoch niemand glauben, daß Herr Miguel und seine beiden Freunde etwa alte verrostete Gelehrte mit kahlem Schädel und weißem Barte gewesen wären. Nein! Sie erfreuten sich als Vertreter ihrer Fachwissenschaft eines wohlverdienten, auch über die Landesgrenzen hinausreichenden guten Rufes. Der älteste, Miguel, zählte erst fünfundvierzig, die beiden andern noch einige Jahre weniger. Von Natur sehr lebhaft und demonstrativ, verleugneten sie in keiner Weise ihre baskische Abstammung, die auch die des berühmten Bolivar war und in den Republiken Südamerikas die der allermeisten Weißen ist, welche zuweilen einen Tropfen corsisches oder indianisches, doch nie eine Spur von Negerblut in den Adern haben.

»Ereifern Sie sich nur nicht zu sehr, liebe Freunde!«

Die drei Geographen trafen Tag für Tag in der Bibliothek der Universität von Ciudad-Bolivar zusammen, und obwohl die Herren Varinas und Felipe übereingekommen waren, die heikle Frage bezüglich des Orinocoursprungs nicht mehr zu berühren, ließen sie sich doch immer wieder zu einer Discussion über dieselbe hinreißen. Selbst nach der so überzeugenden Untersuchung des französischen Reisenden verharrten die Vertheidiger des Atabapo und des Guaviare bei ihrer bisherigen Rede.

Der Leser kennt das aus dem Wortgeplänkel am Anfang dieser Erzählung. Die alte Streitigkeit ging immer weiter fort, so sehr sich Herr Miguel auch bemühte, die Lebhaftigkeit seiner beiden Collegen zu mäßigen.

Er war übrigens eine Persönlichkeit, die schon durch Körpergröße, vornehme, aristokratische Erscheinung, einen braunen, mit einzelnen Silberfäden durchsetzten Vollbart, durch die Wichtigkeit seiner Stellung und den Dreimaster, den er nach dem Vorgange der Begründer der spanisch-amerikanischen Unabhängigkeit zu tragen pflegte, überall einen gewissen Eindruck machte.

Heute wieder mahnte Herr Miguel mit klangvoller, ruhiger, aber eindringlicher Stimme:

»Ereifern Sie sich nur nicht zu sehr, liebe Freunde! Ob er nun von Osten oder Westen herströmt, der Orinoco bleibt allemal ein venezuolanischer Fluß, der Vater der Gewässer unsrer Republik...

– Es handelt sich aber nicht darum, unterbrach ihn der hitzige Varinas, zu wissen, wessen Vater, sondern nur darum, wessen Sohn er ist, ob er auf dem Bergrücken der Parima oder der columbischen Anden geboren wurde...

– Der Anden... der Anden!« rief Herr Felipe, spöttisch die Achseln zuckend.

Offenbar war hier keiner gewillt, in der Frage des Orinoco-Ursprungs dem andern nachzugeben; beide blieben starrköpfig dabei, jeder dem Strome einen andern Vater zuzuweisen.

»Nun, liebe Collegen, nahm Herr Miguel nochmals das Wort in der guten Absicht, sie zu gegenseitigen Concessionen zu bestimmen, es genügte ja, die Augen auf diese Karte zu richten, um zu sehen, daß der Orinoco – er mag kommen, woher er will, vor allem aber, wenn er aus Osten kommt – einen herrlichen Bogen, einen regelmäßigen Halbkreis bildet, gegenüber dem unglückseligen Zickzack, in das ihn der Atabapo oder der Guaviare drängten...

– Was kommt es denn darauf an, ob sein Bett eine schön geschwungene Linie zeigt oder nicht? rief Herr Felipe.

– Wenn sie nur scharf gezeichnet ist und der Natur des Terrains entspricht!« setzte Herr Varinas dazu.

Thatsächlich war es wohl gleichgiltig, ob die Biegungen des Flußlaufes künstlerischen Anforderungen entsprachen oder nicht. Hier lag ja eine rein geographische und keine artistische Frage vor. Die Beweisführung des Herrn Miguel ging von falschen Grundsätzen aus. Er fühlte das recht wohl. Da kam ihm der Gedanke, das Gespräch auf ein andres Thema zu lenken, um ihm seine drohende Schärfe zu nehmen. Das konnte zwar auch nicht dazu dienen, zwischen den beiden Gegnern Uebereinstimmung herbeizuführen, vielleicht aber vereinten sie sich, wie zwei, von ihrer richtigen Spur abgekommene Hunde, zur Verfolgung eines dritten Ebers.

»Zugegeben, sagte also Herr Miguel, stehen wir davon ab, die Sache von dieser Seite aus anzusehen. Sie, Felipe, behaupten – und mit welcher Hartnäckigkeit! – daß der Atabapo, fern davon, nur einen Nebenfluß darzustellen, der Strom selbst sei...

– Das behaupte ich!

– Sie aber, Varinas, bleiben – und mit welcher Halsstarrigkeit! – dabei, daß dem Guaviare die Ehre zukommt, der eigentliche Orinoco zu sein

– Dabei bleib' ich!

– Ja, fuhr Herr Miguel fort, dessen Finger auf der Landkarte dem Laufe des umstrittenen Stromes folgte, warum könnten Sie sich denn nicht Beide täuschen?

– Alle Beide?... stieß Herr Felipe hervor.

– Nur Einer von uns irrt, erklärte Herr Varinas; ich... ich bin das aber nicht!

– Lassen Sie mich nur ausreden, sagte Herr Miguel ruhig, und antworten Sie erst, wenn Sie mich angehört haben. Es giebt doch außer dem Guaviare und dem Atabapo noch andre Nebenflüsse, die ihre Fluthen in den Orinoco ergießen, Zuflüsse, die sich ebenso durch ihren langen Lauf wie durch großen Wasserreichthum auszeichnen. Solche sind z.B. der Caura in seinem nördlichen Theile, der Apure und der Meta in seinem westlichen, und der Cassiquiare nebst dem Iquapo in seinem südlichen Theile. Sehen Sie diese wohl hier auf der Karte?... Ich frage Sie nun, warum könnte einer derselben nicht weit eher der Orinoco selbst sein, als Ihr Guaviare, lieber Varinas, und als Ihr Atabapo, lieber Felipe?«

Es war zum ersten Male, daß eine solche Anschauung zutage trat, und es wird niemand verwundern, daß die beiden Widersacher anfangs still und stumm blieben, als sie dieselbe aussprechen hörten. Die Frage sollte sich also nicht ausschließlich um den Atabapo und den Guaviare drehen?... Nach der Aussage ihres Collegen könnten noch andre Prätendenten auftreten?

»O, ich bitte Sie! rief Herr Varinas, davon kann nicht ernstlich die Rede sein, und Sie sprechen auch selbst nicht im Ernst, Herr Miguel...

– Im Gegentheil, ganz ernsthaft. Ich finde es ganz natürlich, logisch und folglich annehmbar, daß auch andre Flußläufe sich um die Ehre, der wirkliche, eigentliche Orinoco zu sein, bewerben könnten.

– Sie scherzen nur! versetzte Herr Felipe.

– Ich scherze nie, wenn es sich um geographische Fragen handelt, antwortete Herr Miguel ernsthafter. Am rechten Ufer des Oberlaufs giebt es den Padamo...

– Ihr Padamo ist gegenüber meinem Guaviare nur ein Bächlein, fiel Herr Varinas ein.

– Nun sagen wir: ein Bach, den die Geographen für ebenso bedeutend halten, wie den Orinoco, erwiderte Herr Miguel. Auf der linken Seite giebt es den Cassiquiare...

– Ihr Cassiquiare ist nur ein Wasserfädchen gegenüber meinem Atabapo! ließ sich Herr Felipe vernehmen.

– Na, ein Wasserfaden, der die venezuolanischen Becken mit denen des Amazonenstromgebiets verbindet. An derselben Seite mündet ferner der Meta...

– Ihr Meta ist nur so groß wie der Ausfluß eines Wasserleitungshahnes!

– Ja, aber eines Hahnes, dem ein Wasserstrom entquillt, welchen Sachkenner im Verkehrswesen als den zukünftigen Weg zwischen Europa und dem columbischen Ländercomplex betrachten.«

Man sieht hieraus, daß Herr Miguel vielseitig bewandert war und auf alles eine Antwort hatte. So fuhr er denn unbeirrt fort:

»An der rechten Seite giebt es ferner den Apure, den Fluß der Ilanos, der bis fünfhundert Kilometer stromaufwärts schiffbar ist.«

Weder Herr Felipe, noch Herr Varinas erhoben hiergegen Einspruch. Es sah aus, als würden sie von dem so sichern Auftreten des Herrn Miguel halb erstickt.

»Auf der rechten Seite endlich, setzte dieser hinzu, trifft man auf den Cuchivero, den Caura, den Caroni...

– Wenn Sie mit der Aufzählung dieser Liste fertig sind... fiel Herr Felipe ein.

– Werden wir uns darüber aussprechen, vollendete Herr Varinas, der geduldig die Arme gekreuzt hatte, die Worte des gelehrten Collegen.

– Ich bin fertig, antwortete Herr Miguel, und wenn Sie meine persönliche Ansicht zu erfahren wünschen...

– Sollte das der Mühe lohnen? fragte Herr Varinas im Tone überlegener Ironie.

– Schwerlich! erklärte Herr Felipe.

– Ich will sie Ihnen doch nicht vorenthalten, meine werthen Herren Collegen. Keiner der genannten Zuflüsse dürfte wohl als Hauptflußlauf, dem der Name Orinoco rechtmäßig zukäme, zu betrachten sein. Meiner Ansicht nach verdient diese Bezeichnung auch weder der von meinem Freunde Felipe befürwortete Atabapo...

– Irrthum! Irrthum! rief der Genannte.

– Noch der von meinem Freunde Varinas empfohlene Guaviare.

– Die reine Ketzerei! polterte der Zweite hervor.

– Und ich ziehe daraus den Schluß, fuhr Herr Miguel fort, daß der Name Orinoco dem Oberlaufe des Stromes vorbehalten bleiben muß, dessen Quellen an dem Bergstock der Parima hervorbrechen. Er verläuft vollständig durch das Gebiet unsrer Republik und benetzt keine andre. Der Guaviare und der Atabapo werden sich wohl oder übel mit der Rolle von Nebenflüssen des Hauptstromes begnügen müssen, eine Rolle, die in der Geographie doch recht annehmbar erscheint...

– Die ich aber nicht annehme! rief Herr Felipe.

– Und die ich rundweg ausschlage!« secundierte ihm Herr Varinas.

Das Ergebniß der Vermittlung des Herrn Miguel in dieser hydrographischen Frage lief also darauf hinaus, daß jetzt drei, statt früher zwei Personen für den Guaviare, den Orinoco und den Atabapo eintraten. Der Streit dauerte noch eine volle Stunde an und würde vielleicht überhaupt niemals ein Ende gefunden haben, wenn nicht Felipe von der einen und Varinas von der andern Seite plötzlich gerufen hätten:

»Wohlan... so reisen wir zur Entscheidung selbst ab!...

– Abreisen? erwiderte Herr Miguel, der einen solchen Vorschlag kaum erwartet hätte.

– Ja ja! erklärte Herr Felipe. Brechen wir nach San-Fernando auf, und wenn ich Sie da nicht einwurfsfrei davon überzeuge, daß der Atabapo der Orinoco ist...

– Und ich, schnitt ihm Herr Varinas das Wort ab, Ihnen nicht haarklein beweise, daß der Guaviare den eigentlichen Orinoco darstellt...

– So wird es meine Aufgabe sein, schloß Herr Miguel, Sie zu der Anerkennung zu zwingen, daß nur der Orinoco in der That der Orinoco ist!«

Unter solchen Verhältnissen und in Folge des berichteten Wortgefechts beschlossen die drei Männer eine derartige Reise. Vielleicht wurde durch diese neue Expedition endlich der Lauf des venezuolanischen Stromes festgestellt, wenn das durch die letzten Forschungsreisen noch nicht endgiltig geschehen war.

Uebrigens handelte es sich nur darum, bis nach San-Fernando, an jene Stelle hinauszugehen, wo der Guaviare und der Atabapo ihre Gewässer, nur wenige Kilometer voneinander entfernt, in den Hauptstrom ergießen. Ließ es sich dort nachweisen, daß der eine und der andere nur Nebenflüsse waren und nichts anderes sein konnten, so mußte man wohl dem Orinoco die Rangstellung zusprechen, von der ihn minderwürdige Wasserläufe zu stürzen suchten.

Man braucht sich nicht darüber zu wundern, daß dieser im Laufe einer hitzigen Discussion aufgetauchte Entschluß sofort zur Ausführung kam, auch nicht über das Aufsehen, das er in der gelehrten Welt und unter den höheren Gesellschaftsclassen von Ciudad-Bolivar ebenso erregte, wie er fast die ganze Republik Venezuela in gelinden Aufruhr brachte.

Es geht mit gewissen Städten, wie mit gewissen Menschen: so lange sie keine feste und dauernde Wohnstätte haben, tasten sie zögernd umher. Das trifft auch für den Hauptort der Provinz Guyana zu, seit dem ersten Entstehen eines solchen im Jahre 1576 am rechten Ufer des Orinoco. Nachdem nämlich der Ort an der Mündung des Caroni unter dem Namen San-Tomé gegründet worden war, wurde er zehn Jahre später um etwa fünfzehn Lieues weiter flußabwärts verlegt. Von den Engländern unter dem Befehle des berühmten Walter Raleigh niedergebrannt, verlegte man ihn 1764 wieder hundertfünfzig Kilometer weiter stromaufwärts, nach einer Stelle, wo die Breite des Flusses kaum noch vierhundert Toisen beträgt. Daher stammte der Name des »Engen« Angostura, der später dem Namen Ciudad-Bolivar weichen mußte.

Dieser Hauptort der Provinz liegt gegen hundert Lieues (450 Kilometer) vom Delta des Orinoco entfernt, dessen Wasserstand – den man an der Piedra del Midio, einem mitten im Strome aufragenden steilen Felsen abliest – unter dem Einfluß der (vom Januar bis zum Mai) trockenen Jahres- und dem der Regenzeit sehr beträchtlich wechselt.

Zu der Stadt, die nach der neuesten Zählung elf- bis zwölftausend Einwohner haben soll, gehört noch die Vorstadt Soledad am linken Stromufer. Sie erstreckt sich von der Alameda-Promenade bis zum Quartier »Chien-sec« (Trockner Hund), ein ganz unpassender Name, da dieser Stadttheil mehr als jeder andre den Ueberschwemmungen ausgesetzt ist, die das plötzliche und häufig sehr starke Anschwellen des Orinoco hervorruft. Die Hauptstraße mit ihren öffentlichen Gebäuden, eleganten Läden und offnen Säulengängen, die Häuserreihen, die sich übereinander am Abhange des schiefrigen Hügels erheben, der die Stadt beherrscht, die ländlichen Wohnstätten, die zerstreut unter grüner Umrahmung hervorschimmern, die eigenartigen Seen, die der Strom flußauf- und flußabwärts durch Verbreiterung seines Bettes bildet, die Bewegung und das Leben des Hafens, die zahlreichen Dampfer und Segelschiffe, die für die Lebhaftigkeit des Stromverkehrs zeugen, der noch durch einen recht bedeutenden Handel vermehrt wird – Alles vereinigt sich hier, das Auge zu ergötzen.

Ueber Soledad, wo später eine Eisenbahn münden soll, wird Ciudad-Bolivar bald mit Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, verbunden sein. Seine Ausfuhr an Rinderhäuten und Hirschfellen, an Kaffee, Baumwolle, Indigo, Cacao und Tabak dürfte dann eine weitere Vermehrung erfahren, eine so große Höhe sie durch die Ausbeutung der goldhaltigen Quarzlager, die 1848 im Thale des Yuruauri entdeckt wurden, auch schon erreicht hat.

Die Neuigkeit, daß die drei gelehrten Mitglieder der geographischen Gesellschaft von Venezuela aufbrechen wollten, um die Streitfrage bezüglich des Orinoco und seiner zwei südwestlichen Zuflüsse aus der Welt zu schaffen, fand also im ganzen Lande den lebhaftesten Widerhall. Die Bolivarier sind etwas heißblütig und machen aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Die Tagespresse nahm die Angelegenheit auf und stellte sich zum Theil auf die Seite der Atabapo-Anhänger, zum Theil auf die der Vertheidiger des Guaviare oder des Orinoco. Die große Menge kam ins Feuer. Man hätte wirklich glauben mögen, die Wasserläufe drohten ihr Bett zu ändern, das Gebiet der Republik zu verlassen und nach irgendeinem andern Staate der Neuen Welt auszuwandern, wenn man ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren ließe.

Bot nun wohl diese Fahrt stromaufwärts ernstliche Gefahren? In gewissem Maße, ja; wenigstens für Reisende, die auf ihre eignen Hilfsmittel angewiesen waren. Gegenüber der beabsichtigten Lösung jener Lebensfrage scheute vielleicht aber auch die Regierung vor einem Opfer nicht zurück. Das war ja eine passende Gelegenheit zur Verwendung der Miliz, die auf dem Papiere wohl zweihundertfünfzigtausend Mann zählt, in der That aber kaum den zehnten Theil dieser Sollstärke erreicht. Warum hätte man den Forschungsreisenden aber nicht eine Compagnie des stehenden Heeres zur Verfügung stellen können, jener »Armee«, die auf sechstausend Mann Soldaten gelegentlich siebentausend Generäle hatte, ohne andre hohe Officiere zu rechnen, wie das Elisée Reclus, der schon so viele ethnographische Curiositäten ans Licht brachte, nachgewiesen hat?

So etwas verlangten die Herren Miguel, Felipe und Varinas aber gar nicht. Sie gedachten auf eigne Kosten zu reisen, und ohne andre Begleitung, als die der Bauern, der Ilaneros, der Flußschiffer und Führer, die mehrfach an den Ufern des Stromes anzutreffen sind. Sie wollten dasselbe ausführen, was andre Pioniere der Wissenschaft vor ihnen vollbracht hatten. Uebrigens gedachten sie ja über den Flecken San-Fernando, an der Vereinigung des Atabapo und des Guaviare, gar nicht hinauszugehen. Nur in den Landestheilen, die der Oberlauf des Stromes bewässert, waren vielleicht Angriffe von Indianern zu befürchten, jener unabhängigen Stämme, die so schwer zu bändigen sind und denen man nicht ohne Grund viele Mordthaten und Räubereien zuschreibt, welche in einem, früher von Caraïben bevölkerten Lande ja gar nichts Wunderbares sind.

In der That ist es nicht rathsam, stromaufwärts von San-Fernando, in der Nähe der Mündung des Meta auf dem andern Flußufer, gewissen Guaharibos zu begegnen, die sich stets gegen alle Gesetze auflehnen, oder jenen Quivas, die im Rufe wilder Grausamkeit schon durch ihre Raubzüge in Columbien standen, bevor sie nach den Ufern des Orinoco versetzt wurden.

In Ciudad-Bolivar war man auch etwas beunruhigt über das Schicksal zweier Franzosen, die vor ungefähr einem Monate von dort aufgebrochen waren. Man wußte von diesen Reisenden wohl, daß sie stromaufwärts bis über die Mündung des Meta hinausgekommen waren, nichts aber über ihr Geschick, seit sie durch die Gebiete der Quivas und der Guaharibos dahinzogen.

Der übrigens noch wenig bekannte Oberlauf des Orinoco, der sich schon seiner Entfernung wegen dem Einflusse der venezuolanischen Behörden fast ganz entzieht, keinen Handelsverkehr hat und den umherirrenden Banden der Eingebornen preisgegeben ist, bietet freilich erst die meisten Gefahren. Sind auch die seßhaften Indianer im Westen und Norden des großen Stromes von milderen Sitten, da sie vielfach Landbau treiben, so trifft das doch nicht für die zu, die inmitten der Savannen des Departements Orinoco leben. Räuber aus Habgier wie aus Noth, scheuen sie vor keiner Unthat, vor keinem Morde zurück.

Die Tagespresse nahm die Angelegenheit auf.

Niemand weiß bisher, ob es in Zukunft gelingen werde, diese wilden, unbezähmbaren Naturen unter eine geordnete Regierung zu beugen, denn ebenso, wie das bezüglich der Raubthiere auf den Ilanos nicht zu erwarten ist, dürfte es bezüglich der Eingebornen auf den Ebenen des Alto-Orinoco unmöglich sein. Thatsächlich haben nicht wenig Missionare es ohne sonderlichen Erfolg versucht.

Einer derselben, ein zu den fremden Missionen gehörender Franzose, weilte schon seit mehreren Jahren in jenen hohen Gebieten des Stromes. Man hat aber nichts davon gehört, daß sein Muth und seine Opferfreudigkeit ihren Lohn gefunden hätten, daß es ihm gelungen wäre, jene wilden Völkerschaften nur einigermaßen zu civilisieren und für die katholische Religion zu gewinnen, ebensowenig davon, daß der muthige Apostel der Mission von Santa-Juana jene Indianer, die sich bisher jedem Versuche einer Civilisierung widersetzten, um sich zu sammeln vermocht hätte.

Doch handelte es sich – um auf Herrn Miguel und seine beiden Collegen zurückzukommen – jetzt nicht darum, über den Gebirgsstock der Roraima bis in jene entlegenen Landestheile vorzudringen. Läge das freilich im Interesse der geographischen Wissenschaft, so schreckten sie gewiß nicht davor zurück, den Orinoco, ebenso wie den Atabapo und den Guaviare bis an ihre Quellen zu verfolgen. Ihre Freunde erwarteten übrigens, und nicht unberechtigter Weise, daß die Frage, wegen des Ursprungs an der Vereinigung der drei Wasserläufe ihre Lösung finden werde. Allgemein nahm man an, daß das zu Gunsten des Orinoco geschehen werde, der sich nach der Aufnahme von dreihundert Nebenflüssen und nach einem Laufe von zweitausendfünfhundert Kilometern durch fünfzig Arme in den Atlantischen Ocean ergießt.

Zweites Capitel. Der Sergeant Martial und seine Neffe.

Die Abfahrt des Geographentrios – eines Trios, dessen Instrumente jedenfalls nie in gleiche Stimmung kommen würden – war auf den 12. August, mitten in der Regenzeit, angesetzt.

Am Vorabend dieses Tages gegen acht Uhr plauderten zwei im Hôtel von Ciudad-Bolivar abgestiegene Reisende in dem Zimmer eines derselben. Ein leichter erfrischender Luftzug strich durch das Fenster herein, das nach der Alameda-Promenade zu lag.

Eben hatte sich der jüngere der beiden Fremdlinge aufgerichtet und sagte zu dem andern in französischer Sprache:

»Sei achtsam, mein guter Martial, und ehe ich mich zur Ruhe lege, erinnre ich Dich noch einmal an alles, was vor der Abreise zwischen uns vereinbart worden ist.

– Wie Sie wünschen, Jean...

– Sapperment, rief Jean, da fällst Du ja gleich bei den ersten Worten aus der Rolle!

– Aus meiner Rolle...?

– Gewiß... Du duzest mich ja nicht.

– Richtig!... Das vermaledeite Duzen!... Ich bitte Sie... nein, ich bitte Dich... der Mangel an Gewohnheit...

– Der Mangel an Gewohnheit, mein armer Sergeant!... Das meinst Du wirklich?... Seit einem Monat haben wir Frankreich verlassen und Du hast mich doch auf der ganzen Ueberfahrt von Saint-Nazaire bis Caracas Du genannt.

– Das ist freilich wahr! antwortete der Sergeant Martial.

– Und jetzt, wo wir in Bolivar angekommen sind, das heißt, an dem Punkte, wo unsre Reise anfängt, die uns so viel Freude – vielleicht so große Enttäuschungen, so viele Schmerzen bereiten wird..«

Jean hatte diese Worte in tiefer Erregung ausgesprochen. Seine Brust hob sich, seine Augen wurden feucht. Dennoch bemeisterte er sich, als er das Gefühl von Unruhe sah, das die harten Züge des Sergeanten Martial widerspiegelten.

Da schlug er lächelnd einen freundlicheren Ton an.

»Jawohl; jetzt, da wir in Bolivar sind, vergißt Du, daß Du mein Onkel bist und ich Dein Neffe bin...

– Ich alter Dummkopf! rief der Sergeant Martial, der sich einen tüchtigen Klaps an die Stirne gab.

– Nein... doch Du beunruhigst Dich, und statt daß Du mich behütetest, scheint es fast nöthig... Sage mir, lieber Martial, pflegt nicht gewöhnlich der Onkel den Neffen zu duzen?

– Allerdings wohl immer.

– Und hab' ich Dich nicht seit unsrer Einschiffung daran gewöhnt, indem ich stets Du zu Dir sagte?

– Ja... und doch... damit angefangen hast Du nicht so von... von...

– Kleinauf! unterbrach ihn Jean, das Wort besonders betonend.

– Freilich... nicht von kleinauf! wiederholte der Sergeant Martial, dessen Blick, als er sich auf den angeblichen Neffen richtete, einen ganz sanften Ausdruck bekam.

– Und vergiß auch nicht, setzte der junge Mann hinzu, daß »klein« auf Spanisch pequeño heißt.

– Pequeño, wiederholte der Sergeant Martial. Ein hübsches Wort. Ich kenne es und auch noch gegen fünfzig andre... kaum mehr, soviel ich mir auch Mühe gegeben habe!

– O, der Dickschädel! rief Jean. Hab' ich Dir während der Ueberfahrt auf dem »Pereire« nicht Tag für Tag Deine spanische Aufgabe überhört?

– Zugegeben, Jean! Es ist aber schrecklich für einen alten Soldaten in meinen Jahren, der sein Lebtag nur französisch gesprochen hat, noch dieses Charabia der Andalusier lernen zu sollen. Wahrhaftig, es fällt mir schwer, mich zu hispanisieren, wie jener Andre sagt...

– Das wird sich schon noch finden, lieber Martial.

– Na ja, für die fünfzig Wörter, wovon ich sprach, hat sich's ja schon gefunden. Ich kann zu essen verlangen: »Deme usted algo de comer; zu trinken: Deme usted de beber«; um ein Bett ersuchen: »Deme usted una cama«; nach dem Wagen fragen: »Enseñeme usted el camino«; wie viel kostet das?: »Cuánto vale esto« Ich kann auch Danke schön! »Gracias« und Guten Tag!: »Buenos dias« sagen, ebenso wie Guten Abend!: »Buenos noches«, und wie befinden Sie sich?: »Como esta usted?« Daneben versteh ich zu wettern und zu schimpfen wie ein Aragonier oder ein Castilianer: Carambi de carambo de caramba...

– Genug, genug! unterbrach ihn Jean, ein wenig erröthend. Diese Schimpfreden hab ich Dir nicht gelehrt, und Du wirst gut thun, sie nicht bei jeder ersten besten Gelegenheit anzuwenden...

– Was denkst Du, Jean?... Die Gewohnheiten eines alten Unterofficiers! Mein Leben lang hab' ich mit lauter Tölpeln und mit manchem Donnerwetter nur so herumgeworfen, und wenn man seine Rede nicht mit ein paar solchen Kraftausdrücken würzt, kommt sie mir immer recht schal vor. Was mir am meisten gefällt an diesem spanischen Kauderwälsch, das Du wie eine Señora sprichst...

– Nun, das wäre, Martial...?

– Ja, wohl zu verstehen, daß dieses Kauderwälsch solche Kraftausdrücke in schwerer Menge... fast mehr als andre Wörter hat.

– Und die hast Du Dir natürlich am leichtesten gemerkt...

– Das gesteh' ich, Jean; der Oberst von Kermor war es aber, als ich unter ihm diente, nicht gewesen, der mir wegen meiner Bombendonnerwetter Vorwürfe gemacht hätte!«

Bei Erwähnung des Namens von Kermor veränderte sich der Gesichtsausdruck des jungen Mannes und eine Thräne benetzte die Lider des Sergeanten Martial.

»Siehst Du, Jean,« nahm der Soldat wieder das Wort, »wenn Gott jetzt zu mir spräche: »»Sergeant, in einer Stunde wirst Du Deinem Oberst die Hand drücken, in zwei Stunden werd' ich aber meinen Blitzstrahl auf Dich herabschleudern!««, dann antwortete ich gewiß: »Herr... mach' Deinen Blitzstrahl fertig und ziele mir aufs Herz!«

Jean trat an den alten Vertrauten heran, trocknete ihm die Thränen ab und betrachtete zärtlich die gute Seele, diese rauhe und offenherzige jeder Aufopferung fähige Natur. Und als Martial ihn an sich zog und in seine Arme preßte, sagte der Jüngling schmeichelnd: »O, so sehr sollst Du mich nicht lieben, bester Sergeant!«

»Wäre mir das möglich?...

– Möglich... und nothwendig... wenigstens vor den Leuten, wenn man uns beobachtet...

– Wenn uns aber niemand sieht...

– Dann steht es Dir frei, Deiner Zärtlichkeit – doch mit einiger Vorsicht – Ausdruck zu geben.

– Das wird schwierig werden!

– Schwierig ist gar nichts, was man nicht umgehen kann. Vergiß nie, was ich bin, ein Neffe, der einer strengen Behandlung seitens seines Onkels bedarf...

– Du lieber Gott! Streng!... seufzte der Sergeant Martial, während er die großen Hände zum Himmel erhob.

– Gewiß! Ein Neffe, den Du nur hast auf die Reise mitnehmen müssen, weil es unangezeigt war, ihn allein zu Hause zu lassen, wo er Dummheiten begehen könnte.

– Dummheiten!...

– Einen Neffen, aus dem Du nach Deinem Vorbilde einen Soldaten machen möchtest...

– Einen Soldaten!...

– Natürlich... einen Soldaten, der in harter Schule erzogen werden muß und dem man keine Vorwürfe und Zurechtweisungen ersparen darf, wenn er sie verdient.

– Und wenn er keine verdient?..

– Das wird sich schon zeigen, erklärte Jean lächelnd, denn er ist ein schlechter Rekrut...

– Ein schlechter Rekrut!... Ich dächte doch...

– Und wenn Du ihm vor den Leuten den Kopf zurechtgesetzt hast...

– Werd' ich ihn unter vier Augen um Entschuldigung bitten! rief Martial.

– Ganz nach Belieben, alter Freund, vorausgesetzt, daß uns niemand sieht!«

Der Sergeant Martial umarmte seinen Neffen, nachdem er vorausgeschickt hatte, daß sie hier in dem verschlossenen Hôtelzimmer wohl Keiner beobachten könne.

»Und jetzt, lieber Freund, sagte Jean darauf, ist die Zeit gekommen, der Ruhe zu pflegen. Geh' in Dein Zimmer hier nebenan, ich werde mich in dem meinigen einschließen.

– Wünschest Du, daß ich die Nacht über vor Deiner Thür wache? fragte der Sergeant Martial.

– Das ist unnöthig. Hier droht keinerlei Gefahr...

– Gewiß nicht; und doch...

– Wenn Du von Anfang an meinen Schutzengel in dieser Weise spielst, wirst Du Deine Rolle als gestrenger Onkel herzlich schlecht spielen...

– Als gestrenger Onkel?... Könnt' ich gegen Dich jemals streng auftreten?

– Es muß aber sein... um jeden Verdacht abzuwenden.

– Nun, Jean, warum hast Du mit aller Gewalt hierher gewollt?...

– Weil ich mußte!

– Warum bist Du nicht da unten in unserm Hause geblieben... in Chantenay oder in Nantes?

– Weil es meine Pflicht war, abzureisen!

– Hätte ich diese Reise nicht allein unternehmen können?

– Nein!

– Gefahren?... Es ist mein Beruf, Gefahren zu trotzen. Ich hab' in meinem Leben nichts andres gethan! – Obendrein bedeuten sie für mich nicht so viel, wie für Dich.

– Ich habe doch darauf bestanden, Dein Neffe zu werden, lieber Onkel!

– Ja, doch wenn mein Oberst darum hätte befragt werden können! rief der Sergeant Martial..

– Und wie denn? entgegnete Jean, dessen Stirn sich furchte.

– Freilich, das war ja unmöglich! Erhalten wir aber in San-Fernando zuverlässige Auskunft und ist es uns jemals vergönnt, ihn wieder zu sehen, was wird er dann sagen?

– Er wird es seinem alten Sergeanten Dank wissen, daß dieser meinen Bitten nachgegeben, daß er zugestimmt hat, mich diese Reise unternehmen zu lassen. Er wird Dich in die Arme drücken und erklären, daß Du ebenso Deine Pflicht gethan hast, wie ich die meine!

– Ich sehe schon, rief der Sergeant Martial, Du machst mit mir eben, was Du willst!

– Das ist ganz in der Ordnung, da Du mein Onkel bist und der Onkel stets dem Neffen gehorchen muß... natürlich nicht vor den Leuten!

– Nein... nicht vor andern Leuten! So lautet die Ordre.

– Und nun, mein lieber Martial, geh' schlafen und schlafe recht gut. Morgen früh müssen wir uns beizeiten auf dem Orinoco-Dampfer einschiffen and dürfen seine Abfahrt nicht verfehlen.

– Gute Nacht, Jean!

– Gute Nacht, mein Freund, mein einziger Freund!... Morgen, und Gott leihe uns seinen Schutz!«

Der Sergeant Martial ging nach der Thür, öffnete sie und drückte sie sorgsam wieder zu, dann aber lauschte er, bis Jean den Schlüssel umdrehte und den Riegel an der Innenseite vorschob. Einige Augenblicke stand er still und hatte das Ohr an die Thürfüllung gelegt. So hörte er, daß Jean, ehe er sich zu Bette begab, sein gewohntes Abendgebet sprach. Erst nach erlangter Gewißheit, daß der junge Mann sich niedergelegt hatte, begab er sich nach seinem Zimmer, und sein einziges Gebet, während er sich mit der Faust an den Kopf hämmerte, lautete:

»Ja... daß der Herr des Himmels uns beschütze, denn was wir vorhaben, ist ja grade schwer genug!«

Caracas.

Wer sind nun diese beiden Franzosen? Woher kommen sie? Welcher Beweggrund führte sie nach Venezuela? Warum sind sie übereingekommen, hier als Onkel und Neffe aufzutreten? Zu welchem Zwecke wollen sie sich an Bord eines der Orinoco-Dampfer einschiffen und wie weit wollen sie den großen Strom hinausgehen?

Auf alle diese Fragen ist es vorläufig unmöglich, eine erschöpfende Antwort zu geben. Das wird die Zukunft thun, und in der That wird es auch nur die Zukunft zu thun im Stande sein.

Aus dem im Vorhergehenden wiedergegebenen Zwiegespräch läßt sich indeß etwa das Folgende ableiten:

Es waren zwei Franzosen, zwei Bretagner aus Nantes. Wenn über ihre Herkunft kein Zweifel herrscht, so ist das dafür desto mehr der Fall bezüglich der Bande, die sie verknüpfen, und nicht leicht zu sagen, welch gegenseitige Stellung sie einnehmen. Unbekannt ist ja auch jener Oberst von Kermor, dessen Namen zwischen ihnen so häufig erwähnt wurde und sie so tief zu erregen schien.

Jedenfalls mochte der junge Mann nicht älter als sechzehn bis siebzehn Jahre sein. Er war mittelgroß und für sein Alter offenbar recht kräftig entwickelt. Sein Gesicht erschien etwas ernst, selbst traurig, wenn er sich seinen gewohnten Gedanken hingab; seine Züge machten aber einen bestechenden Eindruck mit dem sanften Blick der Augen, dem lächelnden Munde mit perlweißen Zähnen, und mit der warmen Röthe seiner Wangen, die durch die viele freie Luft bei der Ueberfahrt hierher jetzt etwas gebräunt waren.

Der andre der beiden Franzosen – er mochte an der Grenze der Fünfziger stehen – entsprach völlig dem Typus des Sergeanten, des ehemaligen Soldateneindrillers, der so lange gedient hatte, wie seine Jahre ihm zu dienen erlaubten. Seinen Abschied als Unterofficier nehmend, hatte er unter dem Befehle des Obersten von Kermor gestanden, der ihm in einer Schlacht des blutigen Krieges von 1870/71 mit eigner Gefahr das Leben gerettet hatte. Er war einer der wackern Alten, die, wenn sie auch gelegentlich brummen, im Hause ihres frühern Vorgesetzten bleiben, zum Factotum der Familie werden, die Kinder derselben erziehen sehen, wenn sie sie nicht selbst erziehen und, was man auch sagen möge, verwöhnen, und die ihnen zuerst das Reiten lehren, indem sie die Kleinen auf den Knien schaukeln, und den ersten Gesangunterricht ertheilen, indem sie ihnen die Signale des Regiments beibringen.

Trotz seiner fünfzig Jahre ist der Sergeant Martial noch stramm und kräftig. Abgehärtet und unempfindlich durch seinen Beruf als Soldat, auf den weder Hitze noch Kälte merkbaren Einfluß haben, würde er am Senegal nicht sieden und in Rußland nicht erfrieren. Seine Constitution ist fest, sein Muth jeder Probe gewachsen. Er fürchtet sich vor nichts und niemand, höchstens vor sich selbst, denn er mißtraut allem, was er aus eigner Anregung unternimmt. Groß von Gestalt, dabei ziemlich hager, haben seine Glieder nichts von ihrer früheren Kraft eingebüßt, und auch in seinem jetzigen Alter hat er sich die ganze militärische Strammheit bewahrt. Er mag ein Brummbär, ein alter Schnauzbart sein, doch im übrigen, welch gutmüthige Natur, welch vortreffliches Herz, und was würde er nicht alles für die thun, die er liebt! Es scheint jedoch, daß diese sich in unsrer niedern Welt auf zwei Persönlichkeiten beschränken, auf den Oberst von Kermor und auf Jean, dessen Onkel zu spielen er zugestimmt hat.

Mit welch' ängstlicher Sorgfalt behütet er den jungen Mann! Wie sorgt er für ihn, obgleich er sich entschlossen hat, sich seiner Ansicht nach sehr streng zu erweisen! Man hätte ihn freilich nicht fragen dürfen, was diese Strenge für Zweck habe und warum er überhaupt diese ihm so widerstrebende Rolle spiele. Da hätte man zornige Blicke zu sehen und recht abschreckend lautende Antworten zu hören bekommen. Ja, er hätte jeden Frager mit Grazie dahin verwünscht, wo der Pfeffer wächst.

Daran hatte es auch während der Fahrt von der Alten nach der Neuen Welt über den Atlantischen Ocean keineswegs gefehlt. Wie waren da die Passagiere des »Pereire«, die sich Jean hatten nähern, mit ihm gelegentlich plaudern oder ihm kleine, an Bord so alltägliche Dienste erweisen wollen, da sie sich für den jungen Mann zu interessieren schienen, der von seinem querköpfigen und wenig umgänglichen Onkel so hart behandelt wurde – wie waren sie zurückgescheucht worden mit dem ernstlichen Rathe, so etwas nicht noch einmal zu versuchen!

Wenn der Neffe ein reichlich weites Reisecostüm mit flatternder Jacke und Hofe trug, die kurz geschnittenen Haare mit einem weißen Tropenhelm bedeckte und starksöhlige Stiefeln an den Füßen hatte, so erschien der Onkel im Gegentheil in einen langen Rock eingezwängt. Ohne grade eine Uniform zu sein, erinnerte er an eine solche doch durch den militärischen Zuschnitt. Es fehlten nur die Schnüre und die Achselstücke daran. Unmöglich konnte man den Sergeanten Martial überzeugen, daß es rathsamer sei, eine dem venezuolanischen Klima mehr angepaßte Kleidung zu wählen, die er folglich hätte anlegen sollen. Wenn er keine Dienstmütze trug, kam das nur daher, daß Jean ihn genöthigt hatte, auch einen Tropenhelm aus weißem Stoff aufzusetzen, der besser als jede andre Kopfbedeckung gegen die Gluthstrahlen der Sonne schützt.

Der Sergeant Martial war dem Befehle nachgekommen. Doch, »was kümmerte er sich denn um das bischen Sonne!« – er mit seinem Felle von kurzen, starren Haaren und einem Schädel aus Stahl!

Selbstverständlich enthielten die, wenn auch nicht gar so umfänglichen Reisesäcke des Onkels und des Neffen, was Kleidung zum Wechseln, Leibwäsche, Toilettenbedürfnisse, Schuhwerk u. dgl. betraf, alles, was eine solche Reise erforderte, da sich solche Dinge unterwegs ja nicht neu beschaffen ließen. Darunter befanden sich Schlafdecken und auch Waffen und Munition in ausreichender Menge, ein Paar Revolver für den jungen Mann und ein zweites Paar für den Sergeanten Martial – ohne ein kurzes Gewehr zu zählen, von dem letzterer, ein sehr sichrer Schütze, bei Gelegenheit guten Gebrauch zu machen hoffte.

Bei Gelegenheit?... Sind die Gefahren im Gebiete des Orinocobeckens denn gar so groß, daß man wie im Innern Afrikas jeden Augenblick zur Vertheidigung bereit sein muß? Streifen wohl so viele Banden räuberischer, blutdürstiger Indianer, die zum Theil noch Menschenfresser sein sollen, an den Ufern und in der Nachbarschaft des Stromes umher?

Ja und nein.

Wie es schon aus dem Gespräche der Herren Miguel, Felipe und Varinas hervorging, bietet der untere Orinoco von Ciudad-Bolivar bis zur Einmündung des Apure keinerlei Gefahr. Sein Mittellauf, zwischen dieser Flußmündung und San Fernando de Atabapo, erheischt schon einige Vorsicht, besonders wegen der übel beleumundeten Quivas-Indianer. Der Oberlauf des Stromes aber ist nichts weniger als sicher; die Stämme, die hier hausen, haben noch ihre völlige Wildheit bewahrt.

Wie der Leser weiß, lag es nicht in der Absicht des Herrn Miguel und seiner beiden Collegen, über den Flecken San-Fernando hinauszugehen. Ob der Sergeant Martial und sein Neffe sich noch weiter hinauswagen würden, ob unvorhergesehene Zwischenfälle sie vielleicht bis zu den Quellen des Orinoco hinauf führen sollten, das konnte niemand wissen und wußten sie vorher selbst nicht.

Unzweifelhaft war nur, daß der Oberst von Kermor Frankreich vor vierzehn Jahren verlassen hatte, um sich nach Venezuela zu begeben. Was er daselbst machte, was aus ihm geworden war, infolge welcher Umstände er sich zu einer so überstürzten Auswanderung entschlossen hatte, daß er nicht einmal seinen alten Waffengefährten davon unterrichtete – das wird vielleicht der Verlauf dieser Erzählung lehren. Aus der Unterhaltung des Sergeanten Martial und des jungen Mannes hätte sich in Bezug hierauf nichts Bestimmtes entnehmen lassen.

Was diese Zwei selbst anging, wäre etwa Folgendes zu berichten:

Vor drei Wochen hatten sie ihre Wohnung in Chantenay bei Nantes verlassen und sich in Saint-Nazaire auf dem »Pereire«, einem Packetboot der Transatlantischen Gesellschaft eingeschifft, das nach den Antillen bestimmt war. Von da hatte ein andres Schiff sie nach La Guayra, dem Hafen von Caracas, übergeführt und eine kurze Eisenbahnfahrt sie endlich nach der Hauptstadt Venezuelas gebracht.

Ihr Aufenthalt in Caracas währte nur eine Woche. Sie verwandten auch gar keine Zeit auf den Besuch der, wenn nicht merkwürdigen, so doch recht hübschen Stadt, in der der Höhenunterschied zwischen dem obern und dem untern Theile über tausend Meter beträgt. Ja sie bestiegen kaum den Calvarienberg mit seiner umfassenden Aussicht auf die ganze Ortschaft mit ihren meist leicht gebauten Häusern – leicht, weil sie so weniger Gefahr bei Erdbeben bieten – wie dem von 1812, bei dem zwölftausend Menschen umkamen. Uebrigens giebt es in Caracas auch recht schöne Parkanlagen mit vielen immergrünen Bäumen, einige sehenswerthe öffentliche Gebäude, wie den Palast des Präsidenten, eine Kathedrale von herrlicher Architektur, und Terrassen, die das prächtige Antillenmeer zu beherrschen scheinen; übrigens wogt hier das bunte Leben einer großen Stadt, denn Caracas zählt schon über hunderttausend Einwohner.

Alles das vermochte den Sergeanten Martial und seinen Neffen aber keinen Augenblick von dem abzuziehen, was sie hier vor allem beabsichtigten. Sie benützten die acht Tage fast ausschließlich zur Einziehung von Erkundigungen bezüglich der Reise, die sie vorhatten und die sie vielleicht bis in die fernsten und fast unbekannten Theile der Republik Venezuela führen sollte. Was sie hier erfuhren, war freilich nicht viel und meist recht unbestimmt, sie hofften sich aber in San-Fernando ausführlicher und besser unterrichten zu können. Von da aus wollte Jean seine Nachsuchungen, soweit wie es irgend nöthig erschien, ausdehnen und wenn es sein mußte, bis nach den gefährlichen Gebieten des obern Orinoco vordringen.

Wenn der Sergeant Martial dann etwa seine Autorität geltend machen wollte, wenn er Einspruch erhob, daß Jean sich den Gefahren einer solchen Reise aussetzte, so stieß er allemal – der alte Soldat wußte das ja gar zu gut – auf einen so zähen Widerstand bei dem jungen Manne – eigentlich Knaben dieses Alters, auf einen so unbeugsamen Willen, daß er schließlich nachgab, weil er eben nachgeben mußte.

Deshalb wollten also die beiden Franzosen, die erst am Abend vorher in Ciudad-Bolivar eingetroffen waren, schon am nächsten Morgen an Bord des Dampfers weiter fahren, der den Dienst auf dem untern Orinoco versieht.

»Gott leihe uns seinen Schutz, hatte Jean gesagt... ja, er beschütze uns bei der Hinreise wie bei der Wiederkehr!«

Drittes Capitel. An Bord des »Simon Bolivar«.

»Der Orinoco entstammt dem irdischen Paradiese«, so heißt es in einem der Berichte des Columbus. Als Jean diese Anschauung des großen genuesischen Seefahrers zum erstenmale vor dem Sergeanten Martial aussprach, meinte dieser nur:

»Na, das werden wir ja sehen!«

Vielleicht hatte er nicht unrecht, das Urtheil des berühmten Entdeckers Amerikas anzuzweifeln.

Ebenso war es wohl richtiger, in den Bereich reiner Legenden die Behauptungen zu verweisen, nach denen der große Strom aus dem Lande El Dorado herkommen sollte, wie es die ersten Erforscher dieser Gegenden – ein Hajeda, Pinzon, Cabral, Magelhaens, Valdivia, Sarmiento und viele Andre zu glauben schienen, die nicht die Gebiete Südamerikas durchzogen.

Jedenfalls beschreibt der Orinoco in der Republik einen ungeheuern Halbkreis zwischen dem dritten und dem achten Grade nördlicher Breite, dessen Bogenende bis zum siebzigsten Grade westlicher Länge von Paris hinreicht. Die Venezuolaner sind stolz auf ihren Strom, und natürlich standen die Herren Miguel, Felipe und Varinas in dieser Hinsicht ihren Landsleuten in keiner Weise nach.

Der Sergeant Martial und Jean von Kermor.

Vielleicht hatten sie sogar die Absicht, öffentlich gegen Elisée Reclus aufzutreten, der im zehnten Band seiner neuen »Allgemeinen Geographie« dem Orinoco nur den neunten Rang unter den Strömen der Erde zuertheilt, nämlich nach dem Amazonenstrome, dem Congo, dem Parana-Uruguay, dem Niger, Yang-tse-Kiang, dem Brahmaputra, dem Mississippi und dem Sanct-Lorenzo. Sie hätten ja nach Diego Ordaz, einem Gelehrten des sechzehnten Jahrhunderts, dagegen anführen können, daß die Indianer ihn »Paragua«, das heißt »Das große Wasser«, genannt hatten. Trotz eines so schwerwiegenden Beweismittels unterdrückten sie jedoch ihren Widerspruch, und vielleicht thaten sie gut daran, denn das Werk des französischen Geographen stützt sich auf gar zu verläßliche Quellen.

Am 12. August früh sechs Uhr war der »Simon Bolivar« – dieser Name wird ja niemand wundernehmen – zur Abfahrt bereit. Der Dampferverkehr zwischen Ciudad-Bolivar und den Ortschaften an dem untern Laufe des Orinoco besteht erst seit einigen Jahren und reicht über die Mündung des Apure nicht hinaus. Unter Weiterbenützung dieses Flusses können Passagiere und Waaren aber bis nach San-Fernando (de Apure, nicht zu verwechseln mit San-Fernando am Orinoco) hinauf gelangen, Dank der venezuolanischen Gesellschaft, die diesen zweimonatlichen Dienst eingerichtet hat.

An der Mündung des Apure oder vielmehr einige Meilen stromabwärts, bei dem Flecken Caïcara, mußten die Passagiere, die auf dem Orinoco weiter hinauf wollten, den »Simon Bolivar« verlassen und sich den nothdürftig ausgestatteten Indianerbooten anvertrauen.

Alle machten ihren Wünschen in lebhaften Zurufen Luft.

Der Dampfer war berechnet zur Fahrt auf diesen Flüssen, deren Wasserstand zwischen der trocknen Jahreszeit und der Regenzeit sehr beträchtlich wechselt. Nach einem Modelle, ähnlich denen der Packetboote des Magdalenenstromes in Columbien, hatte er einen ganz flachen Boden und also so wenig wie möglich Tiefgang. Als einzigen Betriebsmechanismus besaß er ein sehr großes Rad ohne Ueberbau (Radkasten) am Hintertheil, das von einer starken, doppelt wirkenden Maschine bewegt wurde. Stelle man sich also eine Art Floß vor mit einem Aufbau, neben dem sich die zwei Schornsteine der Schiffskessel erhoben. Dieser Aufbau, mit einem Spardeck darüber, enthielt Salons und Cabinen für die Passagiere, das untere Deck diente zur Unterbringung der Waaren – eine Einrichtung, die auch an die amerikanischen Flußdampfer mit ihren ungeheuern Balanciers und mächtigen Treibstangen erinnert. Das Ganze ist bis hinauf zum Platz des Lootsen und des Kapitäns, der sich ganz oben unter dem Banner der Republik befindet, mit grellen Farben angestrichen. Auf den Rosten verbrennt man nur Holz aus den nahen Wäldern, und man bemerkt bereits fast unübersehbare baumlose Flächen, wo die Axt des Holzfällers gearbeitet hat, an jeder Seite des Orinoco.

Ciudad-Bolivar liegt vierhundertzwanzig Kilometer von den Mündungen des Orinoco, und wenn sich die Flut auch bis dahin bemerkbar macht, so vermag sie doch die Normalströmung nicht umzukehren. Die Fahrzeuge, die stromaufwärts wollen, können sich also der Flut auch nicht mit besonderem Vortheil bedienen, vorzüglich bei starker Anschwellung des Wassers, die bei der Hauptstadt zwölf bis fünfzehn Meter über dem normalen Stand betragen kann. Im allgemeinen wächst der Orinoco aber bis Mitte August und behält dann sein Niveau bis Ende September. Hierauf tritt ein Abfallen ein bis in den November, das, unterbrochen durch einen kürzere Zeit anhaltenden höheren Stand, bis zum April fortdauert.

Die Fahrt des Herrn Miguel und seiner Collegen sollte also in günstiger Jahreszeit stattfinden, wo alle drei in Frage kommenden Wasserläufe untersucht werden konnten.

Am Einschiffungsplatz in Ciudad-Bolivar strömten am betreffenden Tage eine Menge Freunde der drei Geographen zusammen. Wenn das schon bei der Abfahrt der Fall war, wie würde es erst bei der Rückfahrt sein! Alle, die für den berühmten Strom Partei nahmen, machten ihren Wünschen in ebenso lebhaften und geräuschvollen Zurufen Luft, wie die Vertheidiger der beiden Zuflüsse, und trotz des Lärmens und Hastens der Lastträger und der Schiffsbedienung, die die Landverbindungen des Dampfers zu lösen begann, trotz des betäubenden Prasselns der Kessel und des ohrzerreißenden Ausströmens des Dampfes durch die Sicherheitsventile, unterschied man doch immer noch deutlich die Rufe:

»Viva el Guaviare!

– Viva el Atabapo!

– Viva el Orinoco!«

Das hatte wieder heftige Auseinandersetzungen der Anhänger verschiedener Ansichten zur Folge, die ein schlechtes Ende zu nehmen drohten, obwohl Herr Miguel die hitzigen Streitköpfe zu beschwichtigen sich bemühte.

Von dem Spardeck aus, wo sie Platz genommen hatten, beobachteten der Sergeant Martial und sein Neffe diese lärmenden Auftritte, von denen sie nicht das Geringste begriffen.

»Was mögen nur die Leute wollen? rief der alte Soldat. Das erscheint doch wie die reine Revolution!«

Um eine solche konnte es sich aber schon deshalb nicht handeln, weil in den spanisch-amerikanischen Staaten diese stets unter Mitwirkung des Militärs vor sich gehen. Hier sah man jedoch keinen einzigen von den siebentausend Generalen des Generalstabs von Venezuela.

Jean und der Sergeant Martial konnten über jene Vorgänge indeß nicht lange im Unklaren bleiben, denn im Verlaufe der Fahrt mußte die zwischen dem Herrn Miguel und seinen beiden Collegen streitige Frage jedenfalls wieder zur Erörterung kommen.

Der Kapitän gab seine letzten Befehle – zuerst dem Maschinisten, seine Maschine fertig zu halten, dann den Schiffsleuten, die Sorrtaue am Vorder- und am Hintertheile schießen zu lassen. Alle, die nicht zur eigentlichen Reisegesellschaft gehörten und die sich hier und da auf dem Oberbau verstreut hatten, mußten nun nach dem Quai zurückkehren. Nach einigem Gedränge und verschiedenen Rippenstößen waren denn bald auch nur noch die Passagiere und die Schiffsbedienung an Bord.

Sowie sich der »Simon Bolivar« in Bewegung gesetzt hatte, verdoppelten sich die Zurufe und wurde der Tumult, aus dem man das Hochschreien auf den Orinoco und seine Zuflüsse heraushörte, nur noch ärger. Als das Fahrzeug dann ein Stück vom Ufer abgekommen war, peitschte sein mächtiges Rad das Wasser mit aller Kraft und der Steuermann lenkte es der Mitte des Stromes zu. Eine Viertelstunde später verschwand die Stadt hinter einer Biegung des linken Stromufers und bald sah man auch nichts mehr von den letzten Häusern von Soledad auf dem jenseitigen Ufer.

Die Ausdehnung der venezuolanischen Ilanos schätzt man auf nicht weniger als fünfmalhunderttausend Quadratkilometer, die von horizontalen, fast ganz glatten Ebenen eingenommen werden.

Höchstens an vereinzelten Stellen zeigt der Erdboden Erhebungen, die man im Lande Bancos nennt, und noch seltner Anhöhen mit seitlich abfallenden Wänden, die sogenannten Mesas. Die Ilanos steigen erst am Fuße der Berge, deren Nachbarschaft sich schon bemerkbar macht, etwas mehr an. Andre Landstrecken, die Bajos, ziehen sich bis an den Strom heran. Durch diese ungeheuern Gebiete, die während der Regenzeit ein üppiges Grün bedeckt und die in der trocknen Jahreszeit gelb oder fast farblos erscheinen, wälzt der Orinoco seine Wassermassen in einem großen Halbkreis hin.

Die Passagiere des »Simon Bolivar« übrigens, die etwa den Wunsch hegten, den Strom vom hydrographischen oder vom geographischen Gesichtspunkte aus näher kennen zu lernen, hätten sich nur an die Herren Miguel, Felipe und Varinas zu wenden brauchen, um über alles Auskunft zu erhalten. Die gelehrten Herren waren ja jeden Augenblick bereit zu den eingehendsten Mittheilungen über die Uferortschaften, über alle vom Strome aus sichtbaren Dörfer, wie über die Nebenflüsse und die verschiedenen nomadischen oder seßhaften Volksstämme der Gegend. An gewissenhaftere und mehr unterrichtete Ciceroni hätte man sich gar nicht wenden können – die Herren waren ja stets bereit, sich den Passagieren bezüglich solcher Fragen völlig zur Verfügung zu stellen.

Die größte Menge der Fahrgäste auf dem »Simon Bolivar« hatte es freilich kaum nöthig, noch etwas über den Orinoco zu lernen, denn sie waren auf diesem schon viele Mal stromauf oder stromab gefahren, die einen bis zu den Mündungen des Apure, die andern bis zu dem Flecken San-Fernando de Atabapo. Die meisten waren Kaufleute oder einfache Händler, die ihre Waaren nach dem Innern schafften oder solche den östlichen Häfen zuführten. Die gewöhnlichsten Handelsartikel bestanden hier aus Cacao, Fellen, Rinder- und Hirschhäuten, Kupfererzen, Holzwaaren, Farbstoffen, Tonkabohnen, Kautschuk, Sarsaparille und endlich aus lebendem Vieh; die Aufzucht von Vieh bildet die Hauptbeschäftigung der Ilaneros auf den weiten Ebenen.

Venezuela gehört in seiner ganzen Ausdehnung zur Tropenzone. Seine Mitteltemperatur liegt zwischen vierundzwanzig und dreißig Grad Celsius. Sie wechselt aber, wie das ja in allen Gebirgsgebieten der Fall ist. Zwischen den Anden der Küste und denen im Westen erreicht die Wärme die höchsten Grade; hier hat man die Gebiete zu suchen, die das Bett des Orinoco durchschneidet und nach denen Seewinde niemals Eingang finden. Sogar die Hauptwinde, die aus Norden und Osten kommenden Passate, werden durch die Höhen an der Küste aufgehalten und tragen nur sehr wenig zur Mäßigung der Wärme bei.

Heute sah der bedeckte Himmel etwas regendrohend aus und die Passagiere litten nicht allzusehr von der Hitze. Der Wind wehte von Westen, also der Bewegung des Schiffes entgegen, so daß sich dessen Passagiere dabei recht wohl befanden.

Der Sergeant Martial und Jean, die beide auf dem Spardeck lagen, betrachteten aufmerksam die beiden Ufer des Stromes. Ihre Reisebegleiter schienen von dem Schauspiel weniger angezogen zu werden. Nur das Geographentrio ließ sich keine Einzelheit entgehen und besprach alles mit einer gewissen Lebhaftigkeit.

Hätte sich Jean an dasselbe gewendet, so würde er ja über Alles verläßliche Auskunft erhalten haben. Einerseits aber würde der eifersüchtige und strenge Sergeant Martial keinem Fremden gestattet haben, mit dem Neffen ein Gespräch zu beginnen, und andrerseits brauchte dieser wirklich niemand, um »Schritt für Schritt« alle Dörfer, Inseln und Windungen des Stromes zu erkennen. Er besaß einen sichern Führer in dem Berichte über zwei Reisen, die Chaffanjon im Auftrage des französischen Ministers des Unterrichts unternommen hatte. Die erste im Jahre 1884 umfaßte den Unterlauf des Orinoco zwischen Ciudad-Bolivar und der Mündung des Caura, wobei auch dieser bedeutende Nebenfluß untersucht wurde; die zweite, in den Jahren 1886 und 1887, erstreckte sich über den ganzen Lauf des Stromes von Ciudad-Bolivar bis zu dessen Quellen. Der Bericht des französischen Reisenden zeichnet sich durch die äußerste Verläßlichkeit aus, und Jean hoffte ihn noch häufig mit Vortheil zu benützen.

Der Sergeant Martial war natürlich mit einer hinreichenden Geldsumme – in Piastern – versehen, um alle Unkosten der Reise bestreiten zu können. Er hatte sich auch mit einer gewissen Menge von Tauschgegenständen versorgt, wie mit Stoffen, Messern, Spiegeln, Glas- und Kunstwaaren, sowie mit andern hübschen Sachen von geringem Werthe, die den Verkehr mit den Indianern der Ilanos erleichtern helfen sollten. Der ganze Vorrath füllte zwei Kisten, die mit dem übrigen Gepäck in der Cabine des Onkels neben der seines Neffen standen.

Sein Buch vor den Augen, verfolgte Jean gewissenhaft die beiden Stromufer, die sich entgegengesetzt der Richtung des »Simon Bolivar« scheinbar dahin bewegten. Sein Landsmann hatte bei jener Fahrt die Reise freilich unter ungünstigeren Umständen, nämlich in einem, oft nur durch Ruder fortbewegten Segelschiffe zurücklegen müssen, während jetzt Dampfboote bis zur Apuremündung verkehren. Von hier aus mußten sich der Sergeant Martial und Jean indeß ebenfalls mit derselben unvollkommenen Beförderungsmethode begnügen, da der Strom gar zu viele Hindernisse bietet, die den Reisenden arge Unbequemlichkeiten verursachen.

Noch am frühen Morgen kam der »Simon Bolivar« in Sicht der Insel Orocopiche vorüber, deren Bodenerzeugnisse die Hauptstadt der Provinz reichlich mit dem Nöthigsten versehen. Hier engt sich das Bett des Orinoco bis auf neunhundert Meter ein, verbreitert sich aber ein wenig stromaufwärts wieder um das Dreifache. Von dem Oberdeck aus konnte Jean die umgebenden, nur von isolierten Cerros unterbrochenen Ebenen auf weite Strecken hm übersehen.

Im Laufe des Vormittags vereinigten sich die Passagiere – im Ganzen etwa zwanzig – zum Frühstück im Salon, wo Herr Miguel und seine beiden Collegen die ersten waren, die ihre Plätze einnahmen. Der Sergeant Martial ließ sich jedoch kaum überholen; er schleppte dabei auch seinen Neffen mit sich, auf den er in so barschem Tone sprach, daß es Herrn Miguel gar nicht entgehen konnte.

»Ein recht bärbeißiger Kerl, dieser Franzose, bemerkte er gegen den neben ihm sitzenden Herrn Varinas.

– O, ein Soldat, das sagt ja Alles!« erwiderte der Vertheidiger des Guaviare.

Das Auftreten des alten Unterofficiers war eben militärisch genug, daß niemand darüber in Zweifel bleiben konnte.

Der Sergeant Martial hatte sich schon vor dem Frühstück »die Kehle geputzt«, indem er einen Anisado, einen Branntwein aus Zuckerrohr und mit Anis vermischt, verschluckte. Jean, der solche starke Getränke nicht zu lieben schien, bedurfte keines derartigen Reizmittels, um der Mahlzeit alle Ehre anzuthun. Er hatte neben seinem Onkel am Ende des Salons Platz genommen, und der Gesichtsausdruck des Brummbärs war so abstoßend, daß niemand versucht wurde, sich an seine Seite zu setzen.

Die Geographen nahmen die Mitte der Tafel ein und führten daran auch das Wort. Da es bekannt war, in welcher Absicht sie diese Reise unternommen hatten, interessierten sich die andern Fahrgäste natürlich für alles, was die Herren sagten, und selbst der Sergeant Martial schien nichts dagegen zu haben, daß sein Neffe ihren Worten lauschte.

Die Speisekarte enthielt zwar mancherlei Gerichte, doch nur von geringer Güte; auf den Dampfern des Orinoco darf man indeß keine hohen Ansprüche machen. Immerhin wäre es gewiß wünschenswerth gewesen, während der Fahrt auf dem Oberlaufe des Stromes solche Bistecas zu haben – obgleich diese von einem Kautschukbaume herzurühren schienen – solche Ragouts, die in safrangelber Sauce schwammen, solche Eier, wenn sie auch so hart waren, daß man sie hätte an den Bratspieß stecken können, oder solch aufgewärmtes Geflügel, das nur durch sehr langes Kochen einigermaßen weich geworden war. Von Früchten gab es unter andern Bananen in Ueberfluß, entweder im Naturzustande oder durch Einlegen in Melissesyrup zu einer Art Consitüre verwandelt. Ferner recht gutes Brod, natürlich Maisbrod, selbst Wein, doch leider nur recht theuern und schlechten.

Das war also das Almerzo, das Frühstück, das übrigens recht schnell erledigt wurde.

Am Nachmittag kam der »Simon Bolivar« an der Insel Bernavelle vorbei. Zahlreiche Inseln und Eilande verengten hier das Bett des Orinoco, und das Rad mußte mit doppelter Kraft arbeiten, um die heftige Strömung zu überwinden. Der Kapitän erwies sich dabei so geschickt in der Führung des Schiffes, daß er gewiß auch durch diese gefährlicheren Stellen glücklich hindurch kam.

An der linken Seite zeigte sich das Ufer jetzt von vielen Buchten mit dichtbewaldeten Abhängen zerrissen, vorzüglich jenseits von Almacens, einem kleinen Dorfe mit nur dreißig Bewohnern, das noch ganz so aussah, wie es Chaffanjon acht Jahre früher gesehen hatte. Hier und da rauschten kleine Abflüsse, wie der Bari, der Lima und andre herab. Ihre Mündungen umrahmten Haine von Coniferen, deren durch einfache Einschnitte gewonnenes Oel einen begehrten Artikel bildet, oder eine Anzahl Mauritiuspalmen. Auf allen Seiten aber tummelten sich ganze Gesellschaften von Affen, deren Fleisch die Bistecas des Frühstücks, die bei der Mittagstafel wieder erscheinen sollten, bei weitem übertrifft.

Es sind übrigens nicht allein Inseln, die die Schifffahrt auf dem Orinoco schwierig gestalten; der Strom ist da und dort auch von gefährlichen Rissen unterbrochen, die mitten im Fahrwasser steil emporstarren. Dem »Simon Bolivar« glückte es jedoch, jeden Zusammenstoß zu vermeiden, und gegen Abend legte er nach einer Fahrt von fünfundzwanzig bis dreißig Lieues bei dem Dorfe Moitaco an.

Hier sollte bis zum nächsten Morgen Halt gemacht werden, da es nicht rathsam schien, in der Nacht, die bei einer dichten Wolkendecke und dem Fehlen des Mondes sehr finster werden mußte, weiter zu fahren.

Um nenn Uhr glaubte der Sergeant Martial die Zeit zum Niederlegen gekommen, und Jean versuchte es gar nicht, dem Wunsche seines Onkels entgegenzutreten.

Beide zogen sich also nach ihren, im zweiten Stockwerke des Aufbaues gelegenen Cabinen zurück. Diese enthielten jede eine sehr einfache Lagerstätte mit einer leichten Decke und eine jener Matten, die man hier Esteras nennt – übrigens genug Bettzeug für die warme Tropengegend.

Der junge Mann betrat seine Cabine, legte die Kleider ab und begab sich zu Bett, worauf der Sergeant Martial noch den »Toldorahmen«, ein mit Musselin bespanntes Gestell, in Ordnung brachte, das man wegen der blutdürstigen Insecten des Orinoco hier gar nicht entbehren kann. Er wollte keinem einzigen dieser verwünschten Muskitos gestatten, die Haut seines Neffen zu belästigen. Mit seiner mochte das so hingehen, denn sie war so dick und lederartig, daß Insecten ihr nicht viel anhaben konnten, und wenn sie es doch versucht hätten, würde er sich ihrer schon zu erwehren wissen.

Auf diese Weise geschützt, schlummerte Jean ruhig bis zum frühen Morgen, trotz der Myriaden von Blutsaugern, die seinen Toldo umschwärmten.

In den ersten Morgenstunden setzte sich der »Simon Bolivar«, dessen Kesselfeuer man auch in der Nacht unterhalten hatte, wieder in Bewegung, nachdem die Manschaft das in den benachbarten Wäldern gefällte Holz herangeschafft und auf dem Vorderdeck aufgeschichtet hatte.

Der Landungsplatz des Dampfers befand sich in einer der beiden Buchten zur Rechten und zur Linken von Moitaco. Sobald er aus dieser Bucht hinaus war, verschwand auch schon die Gruppe hübscher Häuschen – früher ein wichtiger Mittelpunkt der spanischen Mission – hinter einer Biegung des Flusses. In diesem Dorfe hatte Chaffanjon vergeblich nach dem Grabe eines der Begleiter des Doctor Crevaux, des François Burban – einem Grabe, das auf dem bescheidnen Friedhof von Moitaco nicht mehr nachzuweisen war – gesucht.

Im Laufe des Tages passierte der Dampfer den Weiler Santa-Cruz, ein Häuschen von zwanzig Hütten am Stromufer, ferner die Insel Guanares, den ehemaligen Sitz der Missionäre, fast genau an der Stelle, wo der Bogen des Flusses sich nach Süden zu wendet, um dann nach Westen zu weiter zu gehen, und endlich die Insel Muerto.