Der Sturm erwartet dich - Ludwig Steinherr - E-Book

Der Sturm erwartet dich E-Book

Ludwig Steinherr

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Beschreibung

Eigentlich möchte Rechtsanwältin Swantje mit ihrem Neffen Benedikt nur ein paar Urlaubstage am oberbayerischen Kochelsee verbringen. Doch in der Idylle braut sich ein Unheil zusammen. Erst treffen die beiden eine verrückte Dorfheilige und einen mysteriösen Kelten. Dann zieht direkt neben ihrer Pension ein berühmter Schauspieler samt Ehefrau und Tochter ein, was gleich am ersten Abend einen hitzigen Streit entfesselt. Und wenig später geschieht ein brutaler Mord, der alle zutiefst verstört. Während die Polizei im Dunklen stochert, gehen auch Swantje und Benedikt auf Spurensuche – und finden sich in einem Labyrinth aus alter Schuld, Verzweiflung und Rache wieder. Doch noch ahnen sie nichts von dem tödlichen Sturm, der sie erwartet …

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Ludwig Steinherr, geboren 1962, lebt als Schriftsteller in München. Er hat vorwiegend Lyrik veröffentlicht, bislang 23 Gedichtbände, aber auch Prosa und Theaterstücke. Seine Werke wurden vielfach übersetzt und ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Allitera der Gedichtband Zur Geburt einer Ming-Vase (2021) sowie die Novellen Verona kopfüber (2022), Der Carolin-Papyrus (2022) und Adriana (2023). Dies ist sein erster Kriminalroman.

Wir danken Herrn Dr. Sebastian Heckelmannund der DEBA Beratungs- und Verwaltungsgesellschaft mbH,München/Bogenhausen für die großzügige Förderungdieses Buches.

Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH München© 2023 Buch&media GmbH MünchenLayout, Satz und Umschlaggestaltung: Johanna ConradGesetzt aus der Adobe Garamond Pro und der Allotrope VariablePrinted in Europe · ISBN 978-3-96233-382-9

Allitera VerlagMerianstraße 24 · 80637 MünchenFon 089 13 92 90 46 · Fax 089 13 92 90 65

Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.allitera.deKontakt und Bestellungen unter [email protected]

1

Vor La Pineta standen an diesem kühlen Juniabend die Gäste Schlange. Der einzige Italiener in Kochel am See war beliebt. Zudem hatte ein Platzregen Scharen von Ausflüglern herbeigetrieben. Unter den Wartenden herrschte eine Stimmung wie auf dem Steg zur Arche Noah.

Eine junge, klatschnasse Mutter mit quengelndem Kind auf dem Arm sagte zu ihrem ebenso begossenen Mann: »Und wenn wir zwei Stunden anstehen – ich will jetzt da rein!« Sie hatte Glück. Gerade wurde der Nebenraum, die Enoteca, geöffnet. Ein schlanker, lustiger Kellner erschien und winkte eifrig die ganze Schlange herein.

Auch Swantje Siel zählte zu den Erlösten. Rasch folgte sie samt ihrem roten Rollkoffer und hörte im Vorübergehen aus einem Trupp bereits gesättigter Gäste den verheißungsvollen Satz: »Also ich könnte sofort noch einmal mit den Antipasti beginnen!«

Dann fand sie sich in der wunderbar dämmerigen Enoteca wieder, zwischen dunklen Holzregalen mit hunderten Weinflaschen.

Sie durfte Platz nehmen an einem der kleinen Zweiertische. Die tropfende Jacke hängte sie über die Stuhllehne. Vor ihr flackerte eine Kerze. Sie atmete tief durch. Geschafft!

Als sie die Speisekarte aufschlug, wurde sie durch ein Foto belehrt, dass der Kellner in Wahrheit der Wirt war und Mimmo hieß. Er war wohl einmal Radrennfahrer gewesen. Dafür sprach nicht nur sein sportlicher Körperbau. Oben auf den Weinregalen standen ringsum Rennräder von Bianchi und Basso. Die Reifen so dünn wie Frauenfinger. Und an den Wänden hingen überall Schwarz-Weiß-Fotos des Giro d’ Italia, die in diesem Kontext das Motto suggerierten: Mit Wein zum Sieg!

Swantje bemerkte irritiert, dass sie in ihrer Ecke als Einzige solo inmitten von filmreifen Liebespaaren saß, alle halb so alt wie sie. Zwei Verliebte am Nebentisch fütterten einander mit Löffeln – Probier mal mein Tiramisu! Und du meine Pannacotta! –, was Swantje albern fand – sie teilte nie ihr Essen, und säße ihr Romeo persönlich gegenüber. Ihr war klar: Auch wenn sie für ihre Jahre flott aussah – in den Augen dieser Kinder wirkte sie mit ihrem grauen kurzen Strubbelhaar und den beiden nicht versteckten Hörgeräten wohl wie eine ältliche Archivarin, die die Hoffnung auf einen Mann im Leben endgültig aufgesteckt hatte.

Und dabei erwartete sie gerade einen Mann, sogar einen deutlich jüngeren, der allerdings in seinem Erscheinen nicht berechenbar war.

Unvorsichtigerweise hatte sie zu Mimmo gesagt: »Es kommt noch jemand! Bitte nur einen Prosecco!« Jetzt, da der zweite Prosecco zur Neige ging, bedauerte sie das zutiefst. Einen dritten konnte sie unmöglich bestellen, ohne als überzeugte Aktivistin des Alkoholismus zu gelten.

Also bestellte sie die kleinen, nein, mittelgroßen – oder, was soll’s, großen Antipasti. Und ach ja, (mit halblaut hastiger Stimme) einen Rosso. Warum nicht? Wer weiß, was Benedikt sich diesmal leisten würde.

Benedikt. Ja, Benedikt Bileam würde auf jeden Fall mit seinem Auftritt für erstauntes Verstummen der Kinoliebespaare sorgen! Er war eine Erscheinung! Mit seiner blonden zurückgekämmten Mähne, der ranken schlanken Zwei-Meter-Statur, dem schallendsubversiven Kinderlachen, bei dem wildfremde Menschen unwillkürlich mitlachten.

Benedikt war ihr Lieblingsneffe – zugegeben, auch ihr einziger Neffe. Zwischen ihnen beiden gab es ein tiefes Band, seit sie ihm als Fünfjährigen anhand eines blauen Plastikkreisels die Unendlichkeit erklärt hatte – oder zumindest das, was sie als Fachanwältin für Mietrecht darüber wusste.

Benedikt, mittlerweile selbst schon an die Dreißig, war ein Sonderfall. In jeder Hinsicht. Er war der sprunghafteste, in seinen Einfällen unberechenbarste Mensch, den es geben konnte.

Alles, was er tat, tat er aus Begeisterung – oder gar nicht. Mit neun Jahren hatte er eine Comic-Gestalt erfunden: Gerold unterm Tisch. Das war ein Junge, der unter dem Wohnzimmertisch lebte und die Gespräche der Erwachsenen von unten kommentierte. Als seine Eltern die Blätter gefunden hatten, waren sie bleich geworden, so treffend waren die Kommentare. Swantje glaubte noch heute, das war die Initialzündung für die Scheidung der beiden gewesen. Der Vater, Unternehmensberater, war ausgezogen. Ohne Erklärung. Vermutlich, da er sich einem Kommentar von Gerold unterm Tisch nicht gewachsen fühlte. Benedikt lebte von da an allein mit seiner Mutter, die im Sekretariat des Münchener Literaturhauses arbeitete. Benedikts Schulzeit war für alle Beteiligten die Hölle. In der sechsten Klasse legte er seinem Mathematiklehrer einen dreißigseitigen Beweis vor, dass der Satz des Pythagoras falsch sei und die gesamte Mathematik widerlegen würde. Der Lehrer hatte eine schlaflose Nacht mit den komplexen Darlegungen verbracht, zwischendurch zweifelnd, ob er einen kleinen Pascal oder einen Vollidioten in der Klasse hatte, und Benedikt am Morgen gesagt, dass er sich geirrt habe. Benedikt fühlte sich missverstanden und rührte von da an kein Mathematikbuch mehr an. Die meisten Lehrer hassten ihn. Eine Deutschlehrerin sagte zur Mutter, Benedikt sei zweifellos eine Art von Genie – nur ein Genie, das zu absolut gar nichts nützlich wäre.

Gefürchtet waren seine Wortmeldungen, die immer begannen mit der Wendung: »Meine Gegenfrage …« Selbst wohlgesonnene Lehrer riefen ihn bald nicht mehr auf.

Eines Tages entdeckte Benedikt eine Zeitungsnotiz über einen Mann, der versucht hatte, sich nach Einnahme einer Riesendosis Schmerztabletten den Blinddarm selbst mittels eines Schweizer Taschenmessers zu entfernen.

Die Mutter war durch sein beharrliches Interesse an diesem Thema und akribische medizinische Recherchen des Sohns so alarmiert, dass sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben anschrie: »Du bist krank!« Worauf er nur mit den Achseln zuckte: »Meine Güte! Wenn das so einen Aufstand gibt, dann eben nicht!« Benedikt verfügte bei aller Leidenschaft über weit mehr Selbsterkenntnis und Selbstironie, als man ihm zutraute.

Der Vater hatte sich in Benedikts Erziehung ein letztes Mal engagiert, kurz nachdem der Sohn das Abitur (durch welches Wunder auch immer) absolviert hatte.

Bei einem der allmonatlichen Pflicht-Treffen hatte Benedikt plötzlich Interesse an einer Analyse der Finanzkrise gezeigt, was im Vater die trügerische Hoffnung auf ein BWL-Studium des Sohns geweckt hatte. Er organisierte für ihn ein Praktikum im Betrieb eines Freunds.

Benedikt hatte allerdings eine Finanzkrise im alten Ägypten gemeint, für deren Studium er mit glühendem Eifer in der Staatsbibliothek Hieroglyphen entzifferte. Er schrieb dem Vater eine Dankeskarte, meinte aber, er sehe keinen Ansatz, wie ihm ein Praktikum in einem Kugellagerbetrieb für die Erforschung der wirtschaftlichen Strukturen unter Ramses dem Dritten hilfreich sein könnte. Der Vater gab es auf. Er fand sich damit ab, dass sein Sohn nicht zu retten war.

Swantje war der einzige Mensch, der nach wie vor an Benedikt glaubte. Vielleicht, weil er ihr genaues Gegenteil war. Sie zielstrebig, er planlos. Sie Vernunft, er Begeisterung. Sie Fachanwältin für Mietrecht, die als Hobby Straftäter verteidigte, er – was auch immer … Zusammen ergänzten sie sich wunderbar. Trotz der räumlichen Trennung – sie in ihrer Kanzlei in Bremen, er mit seiner Mutter in München – war das enge Band nie abgerissen.

In dem Moment servierte Mimmo die »großen Antipasti«, und Swantje blieb erst einmal die Spucke weg – »Familienportion« wäre treffender gewesen. Es war wie in einem Comic: Sie allein und verloren vor diesem Mount Everest von mariniertem Gemüse und duftendem Meeresgetier. Dazu noch der bestellte Rosso – »Salute!« Alle Gäste starrten sie an. Warum musste sie auch so gierig sein!

»Benedikt, komm!«, flehte sie still. »Komm sofort! Vertilge den Berg mit deiner ganzen Begeisterung und deinem Wolfshunger, für den du so berühmt bist!«

Sie faltete in Zeitlupe die Serviette auf. Eigentlich wirklich sehr romantisch hier. Wenn nur Benedikt endlich käme! Sie merkte erst jetzt, wie sehr sie ihn vermisste.

Sie hatte ihn ein, nein, fast zwei Jahre nicht mehr gesehen. Die ganze Sache mit ihrer Scheidung. Aber das Tal der Tränen lag hinter ihr. Sie konnte ihre Höhle wieder verlassen. Wie es Benedikt wohl ging? Die Nachrichten waren spärlich gewesen. Im Gegensatz zu ihr, die eine passionierte Briefeschreiberin war, gab es von Benedikt allenfalls kryptische Blitzlichter. Spät nachts einmal eine Mail von ihm. Ein Caravaggio-Gemälde, auf dem er eine Gestalt mit einem Pfeil markiert hatte. Über die Bedeutung rätselte sie noch immer. Benedikt kam mittlerweile in die Jahre. Fast dreißig. Kein Kind mehr. Die Tatsache, dass er das Architekturstudium nun auch geschmissen hatte (vermutlich, weil er keine Pyramiden bauen durfte), beunruhigte sie doch etwas. Sie führte das Rotweinglas zum Mund – exzellenter Primitivo! –und sah wie durch eine Hellseherkugel eine verschwommene Gestalt vor sich auftauchen. Sie setzte rasch ab und verschluckte sich beim Anblick.

Benedikt! Ihr kleiner Neffe Benedikt! Mit schlohweißem Haar!

Während sie hustete, klopfte er ihr lachend auf den Rücken. »Tante Swantje! Nicht erschrecken! Ich bin’s doch nur! Ja, ja, ich weiß! Ich bin ein Opa geworden! Liegt bei uns in der Familie! Du weißt ja, Papa war auch mit dreißig schon weiß!«

Dann lachte er sein schallend-subversives Gerold-Lachen, dass der ganze Raum grinste.

Wenn das kein Überraschungsdate war!

Als Swantje klar gemacht hatte, dass sie keine Erste Hilfe mehr brauchte, faltete Benedikt seine große Gestalt auf dem kleinen Stuhl vor ihr zusammen.

Passend zur neuen Haarfarbe war er ganz hell gekleidet. Die Leinenjacke sah irgendwie selbst genäht aus. Seinen schlaffen KakiRucksack schleuderte er achtlos unter den Tisch.

»Ich freue mich riesig!«, rief er. »Entschuldige, dass ich so spät dran bin. Es gab noch einen kleinen Zwischenfall. Ich bin mit dem Zug gekommen. Ganz pünktlich. Aber gleich hinterm Bahnhof sah ich eine Katze auf einem Laternenmast sitzen, ganz oben, und schreien. Keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte. Also rief ich mit dem Handy die Feuerwehr. Die kamen tatsächlich mit dem großen Löschzug. Als ich ihnen die Lage erklärt hatte, wollten sie aber die Leiter nicht ausfahren. Irgendein Schaulustiger meinte, ob ich nicht eine Pistole hätte, um die Katze runterzuschießen. Ich sagte, wenn ich eine Pistole hätte, würde ich sie zu etwas anderem benützen. Na ja, dann gab ein Wort das andere. Die Polizei kam auch. Du bist ja Rechtsanwältin. Und die beste. Du wirst mich da schon rausboxen. Die Katze war übrigens plötzlich verschwunden. Keiner hat gesehen, wie. Da hab ich mich dann einfach verabschiedet.«

»Benedikt!«, sagte Swantje. Sie nahm seine Hände. »Wunderbar, dass du da bist! Los, bestell was! Nimm Wein! Hier, ein Glas! Und stürz dich gleich auf die wunderbaren Antipasti! Ich hoffe, sie reichen!«

»Tut mir leid«, erwiderte Benedikt. »Ich muss dich enttäuschen! Ich bin Asket geworden! Ich habe mir das Essen abgewöhnt und das Trinken schon lang.«

Zehn Minuten später schob er die leere Platte zur Seite und erklärte, nun doch etwas Hunger zu haben. Rasch winkte er Mimmo herbei und bestellte nach intensiver Beratung die nach der Wirtin benannten Spaghetti Grazia. Dazu ein Viertel Pinot Grigio.

»Die Architektur ist also endgültig vorbei?«, fragte Swantje.

»Architektur? Schon seit Ewigkeiten, ich komme gerade aus Dublin. Eigentlich wollte ich mein Englisch verbessern. Das hatten mir Freunde geraten. Aber dann habe ich spontan dort Altgriechisch gelernt, bei einem ganz verschrobenen Professor, in seiner Privatwohnung. Nur drei Studenten. Zwei saßen auf dem Bett, einer auf dem Schreibtischstuhl. An der Wand waren auf Regalbrettern Gipsbüsten aufgereiht. Man musste beim Übersetzen immer aufpassen, dass einem nicht Homer oder Plato den Schädel einschlugen. Mein Englisch habe ich auch verbessert. Allerdings nur den englischen Homer-Wortschatz. Das Ganze hatte übrigens einen politischen Hintergrund. Ich hatte nämlich den Einfall: Wie wäre es, die sprachlichen Nachteile von Flüchtlingskindern auszugleichen, indem der Unterricht in unseren Schulen generell auf Altgriechisch gehalten wird? Da hätten alle dieselben Chancen. Kein Heimvorteil. Was meinst du? Außerdem schadet es niemandem, als ersten Lehrer Sokrates zu haben! Wobei – immer muss das auch nicht gut gehen, ein Philosoph als Lehrer. Ich meine, Aristoteles hat Alexander den Großen erzogen, der danach die halbe Welt kaputt geschlagen hat, und Seneca war der Hauslehrer von Nero …«

Swantje dachte an ihre Schriftsätze, ihre Klienten, die sich über Wohnungsmängel und Vertragsklauseln zankten.

Und dagegen nun Benedikt! Swantje seufzte so tief erleichtert auf, als wäre sie nach langer Zeit nach Hause gekommen.

Lächelnd erhob sie ihr Glas und prostete ihm zu. Kling!

Die Liebespaare ringsum hatten es aufgegeben, noch um Aufmerksamkeit zu buhlen – Swantje und Benedikt hatten gewonnen.

»Weißt du, was mich derzeit fasziniert? Neuroparasiten!«, verkündete Benedikt übergangslos.

Zu seinen großen Vorzügen (zumindest in Swantjes Augen) gehörte, dass er immer nur von sich und seinen Interessen sprach. Man musste nie in den trüben eigenen Erinnerungen herumstochern. Man bekam immer fangfrische Begeisterung geliefert.

»Neuroparasiten?«

»Ja, weil –«, Benedikt holte tief Luft. »Also Parasiten sind ja an sich schon hochinteressant, oder?«

»Allerdings«, sagte Swantje. Die Erinnerung an ihren Ex-Mann war noch frisch.

»Aber Neuroparasiten sind wirklich faszinierend: Man muss sich das bloß vorstellen: Parasiten, die in einen fremden Organismus eindringen und nicht nur an ihm nagen und zehren, sondern sein Gehirn manipulieren und ihm ihren Willen aufzwingen. Komplett. Zum Beispiel: Da gibt es im mittel- und südamerikanischen Regenwald einen winzigen Fadenwurm, Myrmeconema neotropicum, der will unbedingt in einen bestimmten Vogel gelangen, der sein Endwirt ist. Was macht er? Er dringt in eine Ameise ein und manipuliert deren Färbung und Verhalten, sodass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von diesem Vogel gefressen wird. Wahnsinn, oder? Ein Parasit, der das Verhalten seines Wirts fernsteuert und ihn zur Marionette, zum willenlosen Zombie verwandelt! Die befallenen Tiere werden versklavt bis zum Suizid, um den Interessen des Parasiten zu gehorchen. Ich will gefressen werden, sagt der Parasit zu seinem Wirt, also lass du dich mit mir fressen! Ich will ins Wasser gelangen, also stürz du dich mit mir ins Wasser! Und das Härteste: Es gibt sogar Neuroparasiten, die Menschen befallen können! Toxoplasmose zum Beispiel. Bei Katzen, du weißt ja. Und genau diese einzelligen Parasiten Toxoplasma gondii können auch den Menschen befallen und bei ihm Schizophrenie und Depressionen bis zum Selbstmord auslösen. Das ist noch gar nicht ansatzweise erforscht.«

»Gruselig«, gab Swantje zu. »Und das beschäftigt dich?«

»Ja, das interessiert mich brennend, liebe Tante! Das hat doch gewaltige Konsequenzen! Woher wissen wir, welcher Neuroparasit in uns sitzt und sagt: Studiere Architektur! oder Heirate diesen Mann! Ist das nicht wie mit den biblischen Dämonen, die Menschen rütteln und schütteln und sie geifern und fluchen und schlimme Dinge tun lassen oder sie sogar ins Feuer werfen? Die Sünde! Das Böse! Vielleicht sind das nicht wir – sondern irgendwelche Neuroparasiten?«

»Furchtbar«, sagte Swantje.

»Meine Gegenfrage«, erwiderte Benedikt: »Könnte es nicht eine große Hoffnung sein? Beseitige den Neuroparasiten – und alles ist gut.«

In diesem Augenblick erschien die Wirtin, eine üppige süditalienische Schönheit mit schwarzer Designerbrille, und servierte eigenhändig die ihr gewidmete Pasta, die intensiv nach Scampi und Knoblauch duftete.

»Grandios!«, rief Benedikt, der wahrer Kunst immer Beifall zollte.

»Ich liebe sie!«, lachte Grazia und strich über ihre Hüften: »Alles Spaghetti Grazia! Buon appetito!«

Und für eine halbe Stunde durfte Swantje den seltenen Anblick eines schweigenden Benedikts genießen.

»So«, seufzte Benedikt. »Nun muss ich leider ebenfalls einem fremden Willen folgen, nicht dem eines Neuroparasiten, aber dem meiner Blase. Weißt du, wo die Toiletten sind?« Damit lachte er sein schallendes Gerold-Lachen. Im Nebenzimmer hörte man als Echo, wie jemand ihn nachahmte.

Dann sah Swantje den jugendlichsten Greisenkopf, der ihr je begegnet war, um die Ecke verschwinden.

Nach fünfzehn Minuten runzelte Swantje die Stirn, nach fünfundzwanzig Minuten war sie der Panik nahe. Da kam Benedikt kopfschüttelnd um die Ecke. »Hab mich verlaufen.«

»Verlaufen? Mein lieber Benedikt! Die Toiletten sind nur einmal ums Eck fünf Meter geradeaus.«

»Geradeaus ist bei mir nie einfach geradeaus«, erwiderte Benedikt kryptisch. »Das muss irgendwie mit der Krümmung des Raums zusammenhängen. Plötzlich stand ich auf einem finsteren Hof, wo Ratten umhersprangen. Dann fuhr ich in einem Aufzug und sah, wie jemand mit einem Schweißbrenner im Dunkeln herumfuhrwerkte, als würde er damit eine Oper dirigieren. Keine Ahnung, wie ich wieder hierhergekommen bin.«

»Ja«, sagte Swantje. »Dein Orientierungssinn ist legendär. Ich weiß noch, wie du etwa vier Jahre alt warst und ich zum Babysitten kam, plötzlich standst du heulend im Zimmer, weil du nicht mehr aus deiner Bettdecke herausgefunden hattest …«

»Na ja, Odysseus hat auch Jahrzehnte gebraucht, um aus dem Mittelmeer herauszufinden«, sagte Benedikt. »Aber sag mal, wozu sind wir eigentlich hier? Du warst so geheimniskrämerisch. Sollen wir einen Mordfall lösen? Läuft hier ein alpiner Serienkiller herum?«

»Mordfall? Nein, lieber Neffe. Alles ganz harmlos. Habe ich dir je von Anna und Gérard erzählt?«

Benedikt zuckte mit den Achseln.

»Anna und Gérard habe ich vor fünf Jahren an der Ostseeküste kennengelernt, an einem extrem windigen Tag. Niemand sonst wagte sich ans tobende Meer. Nur wir drei. Wir mussten uns anbrüllen, um gegen die Brandung anzukommen. Trotzdem war es die zarteste und intensivste und herzlichste Unterhaltung, die du dir vorstellen kannst. Die beiden sind ein Liebespaar, wie man es nur aus Büchern kennt. Romeo und Julia und so. Menschen, von denen man nicht glaubt, dass es sie in Wirklichkeit gibt. Und dabei schon nicht mehr ganz jung. Fast fünfzig.«

(Nicht ganz jung?, dachte Benedikt. Ein Greisenpaar! Aber er sagte es nicht, da Swantje selbst schon auf die sechzig zuging.)

»Anna ist noch immer sehr schön und schlaksig und blond, mit japanischen Tattoos von seltsamen Kraken auf den Armen. Gérard dagegen stammt aus Südfrankreich und ist rund wie ein Heißluftballon, ich hatte an dem Tag die ganze Zeit Angst, er würde davonfliegen, obwohl bei ihm die Gefahr sicher am geringsten war. Er wirkt immer verlegen und etwas tapsig, begeht dauernd Ungeschicklichkeiten, scheint aber ein brillanter Koch zu sein. Das konnte ich noch nicht ausprobieren, aber diesmal hat Anna es mir versprochen. Dabei ist Gérard der sensibelste, zartfühlendste Mensch, den ich kenne. Die beiden sind im Leben ziemliche Loser. Ständig in Geldnot. Vielleicht muss das so sein, wenn man nur für seine Liebe lebt. Kann ich nicht beurteilen. Sie haben sich jedenfalls mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Als Bademeister, glaub ich. Eine Hundeschule hatten sie auch. Und irgendwann waren sie angestellt in einem Klettergarten, obwohl ich wirklich nicht weiß, was Gérard dort machen konnte, vielleicht hat er als Sicherungsgewicht gejobbt. Das ist nicht böse gemeint – ich liebe ihn wirklich heiß und innig. Jedenfalls vor einem halben Jahr der Glücksfall. Das große Los! Annas Großtante stirbt und hinterlässt ihr ein allerdings ziemlich heruntergekommenes Haus in Kochel samt rund 200.000 Euro. Die beiden konnten ihr Glück nicht fassen. Jetzt renovieren sie den alten Kasten und wollen eine Pension daraus machen – und Gérard träumt von einem Nobelrestaurant …

Bisher ist das alles noch Zukunftsmusik. Bisher sind sie noch dabei, Löcher zu verspachteln und den Hausschwamm zu bekämpfen. Aber immerhin, drei, vier Zimmer sind schon notdürftig fertig. Und wir dürfen als erste Gäste dort Probe wohnen. Was sagst du? Zu Gast bei Romeo und Julia in Kochel?«

»Wow!«, sagte Benedikt. Es war nicht klar, ob der das Angebot meinte oder die beiden Gläser Grappa aufs Haus, die der todmüde Mimmo vor ihnen zwinkernd aufstellte – sie waren tatsächlich die letzten Gäste.

»Es geht übrigens nicht nur ums Wohnen«, fügte Swantje hinzu, während der Grappa in ihrer Kehle brannte. »Die beiden kommen mir so zart und hilflos und verletzlich vor in ihrer Liebe. Und nun haben sie zum ersten Mal Glück. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich sie beschützen muss.«

»Wovor?«

»Keine Ahnung. Vor Neid. Vor bösen Mächten. Vor dem Schicksal.«

»Bin dabei! Ich bin ein erstklassiger Bodyguard!«, rief Benedikt. Zu diesem Schlusswort leerten sie ihre Gläser.

Draußen erwartete sie die Dunkelheit. Die Berge mächtig. Schwarz. Ihre Anwesenheit mehr zu spüren als zu sehen. Aber gewaltiger, als wenn man sie am Tag sah. Eine tiefe archaische Präsenz.

Swantjes roter kleiner Rollkoffer machte in der Stille einen Höllenlärm auf dem Gehweg. »Ist das dein ganzes Gepäck?«, fragte sie.

Benedikt hielt den leer wirkenden Military-Rucksack empor: »Survival Kit! Damit hab ich schon den Amazonas bereist!«

Ihre Stimmen klangen lauter als in der Stadt. Jedes Wort hallte wie in einem antiken Theater. »Wohin?«

»Nicht weit«, antwortete Swantje. Sie gingen an einem dunklen Minigolfplatz vorbei.

»Minigolf, Tante! Minigolf ist perfekt für mich! Da bin ich Meister!«

»Stopp!«, rief Swantje und hielt ihn an der Schulter fest. »Wir müssen über die Mittenwalder Straße! Aber Vorsicht! Tagsüber riskiert man hier jedes Mal sein Leben. Das ist die Durchgangsstraße. Lauter verrückte Raser. Bärtige Motorradrocker in den Sechzigern. Und hier in der Kurve sieht man sie immer zu spät. Nachts ist natürlich weniger Verkehr. Aber man kann Pech haben. Irgendein besoffener Discoheimkehrer. Peng. Vorbei. Das kann man vermeiden, indem man die Ampel hier benutzt. Auch nachts.« Sie drückte den Knopf. Die rot leuchtenden Lettern SIGNAL KOMMT! wirkten in der dunklen Einsamkeit surrealistisch.

»Ja«, sagte Benedikt. »Aber du weißt ja, in der griechischen Tragödie verfällt man seinem Schicksal gerade dadurch, dass man es umgehen will.«

»Klugscheißer!«, erwiderte Swantje. Sie schaute auf die Uhr.

»Oje! Schon nach elf! Eigentlich waren wir für neun angekündigt. Ich hoffe, die beiden sind überhaupt noch wach. Anna und Gérard wollten uns ja eigentlich selbst bewirten, aber ich dachte, ich hab meinen Lieblingsneffen nun so lange nicht gesehen. Da will ich ihn ein, zwei Stunden erst mal für mich haben …«

Sie stiegen eine dunkle Straße hinauf, die auf einen Hügel führte. Links ein schwarzes Café & Hostel, das aber Ferien zu machen schien. Rechts weiter oben ein kleines weißes Kircherl, eher eine Kapelle. Hinter Bäumen tauchte ein Bauernhaus auf. Der Zaun überwuchert von Büschen und Blumen. Alles schaute verwildert und verwunschen aus.

»Wenn uns hier jemand die Kehle durchschneiden wollte, hätte er es leicht«, sagte Benedikt.

Swantje lachte, klinkte das Türchen auf und ging über einen Kiesweg durch den geheimnisvoll duftenden Bauerngarten voraus. Dann zog sie an einer wahrhaftigen Klingelschnur. Schritte knarzten rasch eine Treppe herunter. Die Tür flog auf. Eine blonde, sehr schöne Frau, etwas außer Atem, stand vor ihnen. Sie erinnerte Benedikt auf den ersten Blick frappierend an Botticellis Primavera, besonders in diesem geblümten Kleid, das sie sicher nicht jeden Tag trug. Anna fiel Swantje um den Hals. Dann reichte sie sie weiter an einen verlegenen Mann von imposantem Leibesumfang, der sie sehr zart auf beide Wangen küsste: »Bon soir!« Gérard, mit angegrauten Locken und Nickelbrille, trug ein Leinenhemd, groß wie ein barockes Schiffssegel, und eine Jeans voller Farbspritzer.

»Und du«, sagte Anna, »du bist Benedikt, gell?«

Die beiden fielen sich um den Hals. Anna küsste ihn einfach auf den Mund. »Oha«, rief Swantje. »Liebe auf den ersten Blick! Das muss man als Nordlicht erst einmal verkraften.«

Gérard umarmte Benedikt und lächelte scheu. Warum Anna Gérard liebte, war auf den ersten Blick klar: Ein Walfisch der Güte und Empfindsamkeit, dessen Tiefe man die unerhörtesten Walgesänge zutraute.

»Ich hoffe, es ist nicht schlimm, dass wir so spät kommen!«, bemerkte Swantje mit schlechtem Gewissen.

»Nein! Gar nicht!«, erwiderte Anna. »Wollt ihr noch einen Imbiss? Wein?« Dabei musste sie gewaltig gähnen und Gérard gähnte unwillkürlich mit. Ein sanftes Walfischgähnen. Alle lachten.

»Keine Angst!«, beruhigte sie Benedikt. »Wir sind genauso hundsmüd wie ihr! Wir brauchen nur irgendwo ein Hundekörberl.«

»Das wird für deine langen Haxen kaum reichen! Aber kommt mit! Ich bring euch gleich zu euren Zimmern und mach euch dabei eine Blitzführung durchs Haus, damit ihr euch auskennt. Also hier gleich rechts neben dem Eingang ist die Küche, links das Wohn- und Esszimmer. An diesem Bauerntisch bekommt ihr morgen das Frühstück. Ich weiß, alles ist hier noch ein bisserl düster. Riecht auch eine Spur nach Kuhstall. Stammt alles von meiner Erbtante. Wir haben fürs Erste ihre Möbel behalten. Vielleicht finden die Gäste das …«

» … urisch«, ergänzte Gérard, worüber wieder alle lachten.

»Hier gleich neben der Küche die Treppe nach oben, wo unser Schlafzimmer ist. Die Treppe knarzt … also der Boden knarzt hier überall, das merkt ihr ja, aber die Treppe knarzt wie die Hölle, da müssen wir was machen … aber keine Angst, wir bleiben bis zum Frühstück in unserem Bett und stören euch nicht. Hier unten der Gang. Rechts Bad und Klo und ein Gästezimmer. Links zwei Gästezimmer, in denen ihr schlaft. Hinten noch ein kleineres Zimmer, das man zur Not auch vermieten kann. Eher ein Hundekörberl …« Anna öffnete alle Türen. Man sah dunkle Bauernbetten, aber mit neuen Matratzen und Decken.

»Ganz rasch zeig ich euch noch das obere Stockwerk.« Alles knarzte die Stufen empor. Anna hatte mit dem Höllenlärm nicht übertrieben. »Also im Prinzip dieselbe Aufteilung wie unten. Vorn statt der Küche und dem Esszimmer zwei Wohnzimmer, die Gérard gerade renoviert …« Alle blickten in ein Chaos aus Leitern, Farbtöpfen, Tapeten. Gérard lächelte verlegen. »Hier der Gang. Rechts Bad, Klo, eine Vorratskammer. Links unser Schlafzimmer und daneben eine winzige Kammer. Noch ein Hundekörberl … Also ihr seht, alles leicht zu finden.«

»Leicht? Für mich ist das ein Labyrinth«, erwiderte Benedikt.

»Für dich ist auch die eigene Bettdecke ein Labyrinth«, flüsterte Swantje ihm boshaft zu.

»Und wer schläft im Hundekörberl? Der Minotaurus?«, fragte Benedikt, ohne auf die Neckerei einzugehen.

»Nein! Bislang nur der Hausschwamm!«, lachte Anna.

»Und wann wollt ihr die Pension eröffnen?«, forschte Swantje mit zweifelndem Blick in Richtung der Renovierungsarbeiten.

»Also eigentlich haben wir seit vorgestern geöffnet. Wir stehen sogar schon im Internet. Aber die Saison beginnt schlecht. Viel Regen. Und wir haben ja keine Stammgäste. Das dauert sicher noch Tage, bis uns jemand entdeckt. Und bis dahin seid ihr unsere Premiumgäste!«

2

Als Swantje am nächsten Morgen erwachte, glaubte sie, dreitausend Jahre unter einem Berg begraben geschlafen zu haben. Sie wälzte mit übermenschlicher Kraft das Felsmassiv ihrer Daunendecke von sich und sammelte in archäologischer Kleinarbeit ihre Knochenreste zusammen. Als sie das Gefühl hatte, das Skelett beisammenzuhaben, schleppte sie es unter die Dusche.

Das magere Brünnlein, das aus dem ebenfalls prähistorischen Duschkopf tröpfelte, brachte sie nach und nach wieder zur Besinnung.

Der erste Gedanke, der ihr kam: Warum hatte sie Benedikt eigentlich immer für ein zölibatäres Wesen gehalten? Oder vielmehr: für ein ewiges Kind, das die Schwelle der Pubertät nie überschreiten würde? Wegen seines Kinderlachens? Seiner Verweigerung gegenüber der Erwachsenenwelt? Tatsächlich war ihr nie in den Sinn gekommen, er könnte eine Freundin oder gar mehrere Freundinnen oder einen Freund haben. Er hatte nie eine Silbe geäußert – und sie hatte nie gefragt, obwohl sie sonst in Beziehungsdingen eher als neugierig und tratschsüchtig galt.

Benedikt war eben ihr kleiner Neffe, dem man allerlei Schabernack zutraute, aber bei Gott keine Liebschaften.

Die gestrige Szene mit Anna, so harmlos sie war, hatte dieses Bild plötzlich in den Karton der alten Erinnerungen verschwinden lassen. Ja, plötzlich gab es das Bild eines Benedikt, der eine Frau zwar nicht leidenschaftlich, aber lebhaft küsste. Irgendwie versetzte ihr das einen Stich ins Herz. Weil die Zeit verging? Weil sie alt wurde? Weil die Kinder groß werden? Weil nichts so bleiben kann, wie es ist?

Jedenfalls nahm sie sich vor, heute ein wenig nachzubohren. Vielleicht hatte er bereits zwei Ehen hinter sich und mehrere Kinder gezeugt – und sie wusste nichts davon.

Als sie die Zähne geputzt und ihre nasse Stachelfrisur irgendwie angeordnet hatte, setzte sie die Brille auf und legte ihre beiden Hörgeräte an.

Da vernahm sie Benedikts helles Gerold-Lachen, begleitet von Annas Alt. Was geht da ab? Schnell! Nichts verpassen!

Swantje öffnete die Tür und war erst einmal sprachlos, welchen Höllenlärm das machte. Aber offensichtlich hatte sie nichts zerbrochen, das gehörte so. Der nächste Schock war der Holzboden im Gang. Nur ein Schritt – und das Holz schrie empört auf. Als wäre sie einer Katze auf den Schwanz getreten. Gestern Nacht, zusammen mit den anderen, war ihr das gar nicht so extrem aufgefallen. Wie konnte man sich hier auf gesittete Weise fortbewegen, ohne den gesamten Hausstand in Mitleidenschaft zu ziehen?

Gérard, der in diesem Moment den Gang entlangkam, machte es ihr vor – ein gleichzeitiges Donnern, Quietschen und Kreischen, als rumpelte eine Dampflok in den Bahnhof ein.

Er grüßte Swantje mit einer zarten Verneigung. Ohne weitere Hemmungen quietschknarzpolterte Swantje ihm nun hinterher.

Als sie vor Gérard, der ihr mit einer galanten, wenn auch nur angedeuteten Verneigung die Tür aufhielt, die Küche betrat, hörte sie Benedikt gerade dozieren:

»Die Idee ist einfach, es gibt nicht nur ein Universum, sondern unendlich viele. Als wäre die Wirklichkeit ein Hotel mit unendlich vielen Stockwerken, Milliarden und Abermilliarden und wir bewohnen nur eines davon. Aber zugleich gibt es in unendlich vielen Stockwerken über und unter uns unendlich viele Annas und Benedikts. Jede mögliche, jede überhaupt denkbare Welt existiert wirklich, jede mögliche Geschichte spielt sich irgendwo ab. Das ist doch krass! Ich meine, in einer Welt sitzen wir hier und sprechen miteinander, während Benedikt und Anna in einer anderen möglichen Welt zur gleichen Zeit Walzer tanzen oder einem Engel begegnen (sofern man Engel für möglich hält) oder einen Mord begehen – und noch Milliarden andere Dinge tun.

Mit einem Wort: Das Universum ist ein Multiversum. Was hältst du davon?«

»Wunderbar!«, sagte Anna, die ihm gerade die dritte Portion Rühreier auftürmte und dabei seine Wange streichelte. »Sofern nur sämtliche Benedikts in sämtlichen möglichen Welten nun satt sind, denn mehr Eier habe ich nicht. Ich muss erst wieder einkaufen.«

»In anderen möglichen Welten hast du bereits Milliarden Eier eingekauft«, erwiderte Benedikt kauend.

»Keine Eier mehr?«, unterbrach Swantje. »Liebe Anna, ich fürchte, ich muss dich an zwei Dinge erinnern: Erstens, ich bin deine Freundin und zweitens, was du da mit meinem Neffen treibst, ist Verführung Minderjähriger.«

»Tante Swantje!«, rief Benedikt und verschluckte sich. »Sorry! Dich hab ich ganz vergessen! Hier! Nimm meine Eier! Ich hab schon genug!«

»Kein Problem! War nur Spaß!«, sagte Swantje. »Iss nur! Ich finde schon was. Du wächst ja noch!«

»Nein«, rief Benedikt und rumpelte entschieden auf. »Für mich ist es jetzt sowieso Zeit zum Morgenspaziergang. Anna – in welcher Richtung geht’s zum See?«

Während Swantje nun tatsächlich seinen Platz und seine Eier übernahm und während Gérard am Nebentisch seiner Lieblingstätigkeit nachging (er zeichnete erstaunliche Mandalas), gab Anna Benedikt eine kurze Wegbeschreibung.

»Ich werd’s schon finden. Was sind das eigentlich für grausliche Viecher auf deinen Armen, diese japanischen Tattoos?«

»Erkläre ich dir in einem anderen Universum! Jedenfalls nicht deine Neuroparasiten …«

Kurz darauf schritt Benedikt in dieser möglichen Welt den Pfad zum See hinunter, an Bäumen und Wiesen vorbei, die noch feucht waren von einem leichten Regen. Die Berge waren übrigens weg. Verschwunden. Verschluckt vom Nebel.

Die kleine Welt der Bauernhäuser, die geblieben war, sah aus wie in einer trüben Schneekugel ohne Schnee. Eine Idylle, die doch irgendwie trügerisch wirkte.

Benedikt spazierte an einigen nassen Büschen vorbei – er bog um eine Ecke und trat an eine kleine Mauer. Und da war er, der See, als hätte er ihn erwartet.

Benedikt stand da und atmete.

Der See schien nur einzigen Satz zu sagen, mit jedem Wellenschlag: Ich bin tiefer, als du denkst.

Benedikt genoss diesen Satz und schloss kurz die Augen, um ihn in sich dringen zu lassen.

Dann öffnete er sie wieder. Über die dunklen Berge und Hügel wehten Nebelschwaden. Alles sah aus wie eine Landschaft in Der Herr der Ringe. Dunkel. Archaisch. Mysteriös.

Welche Menschen hatten hier schon gelebt? Vor Jahrhunderten? Jahrtausenden? Welche Dramen hat sich hier abgespielt? Welche Gewalt?

Besonders interessierte ihn eine kleine dunkel bewaldete Kuppel, die am linken Ufer wie eine Burg aus dem Wasser ragte.

Benedikt ging ein Stück am Ufer entlang. Enten und schwarze Vögel, die er nicht kannte, zogen weite Kielspuren. Ein paar orange Bojen schaukelten glucksend. Auf einer Bank saß ein junges Mädchen in Joggingkleidung und hörte mit Ohrstöpseln lautlose Musik.

Rechts stand ein Campingbus. Ein Mann stieg hustend in Unterhosen aus und kramte in einem Rucksack.

Benedikt blieb noch einmal stehen. Nahm das Bild des Sees in sich auf.

»Suacha Sie wos?«, hörte er eine Frauenstimme krächzen.

Benedikt fuhr herum. »Wie bitte?«

Eine alte Frau im Regenmantel und mit Fahrrad stand vor ihm. »Suacha Sie wos? Ham Sie wos verlorn? Dann müassn S’ zum Heiligen Antonius betn!«

»Nein, nein«, sagte Benedikt. »Ich hab nichts verloren! Vielen Dank!«

»San Sie da sicher? Nix verlorn? Sie schaugn aber so, als ob Sie wos suacha tatn. Des wissen die meisten Leut ja heutzutag gar nimma, dass ma do zum Heiligen Antonius betn muass!«

»Doch«, sagte Benedikt und nickte lächelnd. »Das weiß ich schon noch! Meine Großtante aus Hornstein hat das auch immer gesagt, dass man da zum Heiligen Antonius beten muss!«

»Heiliger Antonius, kreuzbraver Mo, pack mi am Schüppl und führ mi dran no!«, betete die Frau ihm vor.

»Ja, ja«, lachte Benedikt, »am Haarschüppl! Gell!«

»Ja, genau! Des is nämlich scho a Fügung. Wissn Sie des, dass scho boid da Heilige Antonius sein Geburtstag hot?«

»Nein, das wusst’ ich nicht«, gab Benedikt zu.

»Schaun S’!«, sagte die Alte und kramte ein kleines Papierstück hervor. »Da hob i a Heiligenbuidl für Sie! Vom Heiligen Antonius! Des is da wichtigste Heilige! Dea findt ois! Dea bringt ois zruck! So an Heilign braucht ma heutzutag am meisten! I höif eahm oft, wann er’s mia sogt! Gestern erst! Die Blumentöpf von da Frau Eberswald, die verschwunden warn. I hab sie gfunden und zruckbracht. Da Heilige Antonius hot ma s’ zoagt! Hot mi hiegfüat! Oder domois des Göid! Auf Hella und Pfennig! Zruckzoiht! I loss ma nix nachsogn! Ich höif bloß dem Heilign Antonius!«

»Das ist schön«, sagte Benedikt. »Übrigens«, versuchte er das Thema zu wechseln, »vielleicht können Sie mir helfen – wissen Sie, was das da drüben ist? Diese dunkle Halbinsel da?«

»De Jocher Birg moanan S’? Des erzöih i Eahna. Woin S’ mi net a Stückerl begleiten?« fragte die Alte. »Nur do an Berg ’nauf zur Mittenwoider. Dann kenna mia no a bisserl ratschn. Dann erzöih i Eahna wos.«

Benedikt zögerte kurz, ob er wirklich schon wieder auf demselben Weg zurückgehen sollte, auf dem er gerade gekommen war, aber die Jocher Birg interessierte ihn brennend. »Gern«, sagte er.

Also stiegen sie im Schneckentempo vom See wieder zur Hauptstraße hinauf, während die alte Frau, die schon ein bisserl was Hexenhaftes hatte, ihr Fahrrad schob und ihm erzählte.

»Auf da Jocher Birg, da ham friehra die Kelten ghaust!«

»Wirklich? Kelten?«, entfuhr es Benedikt.

»Jo, freili! Kenna Sie die Kelten? Des warn sündige Heidn! Gonz a grausams Voik. Hoibnackert sans rumglaufen. Menschenfresser! Heidnische! Und die Weiber von dene erst! Gonz nackert! Sündig, sog i. Der Heilige Antonius hätt de olle bekehrt und tauft und zu guade Christenmenschen gmacht! I höif ja immer dem Heilign Antonius! Prankl hoaß i übrigens!«

»Sehr erfreut! Ich heiß Benedikt!«

»A scheena Name! A Papstname! Da ko nix passiern!«, rief Frau Prankl. »So, jetzt samma auf da Mittenwoider, jetzt steig i aufs Radl. I muass schnöi no zur Frühmess. Pfia Gott! Und denkan S’ an den Heilign Antonius.«

Benedikt sah, wie gerade ein Auto die Mittenwalder entlangraste. »Moment!«, wollte er noch rufen, da sprang Frau Prankl samt Fahrrad direkt vor das Auto, dass die Bremsen quietschten, Benedikt blieb fast das Herz stehen, der Autofahrer fluchte aus dem Fenster. Aber Frau Prankl, beschützt vom Heiligen Antonius, schwang sich unbeirrt in den Sattel und radelte voll Gottvertrauen die Rennstrecke im vollen Karacho hinunter – so schnell, dass sie den heidnischen Motorradrockern mit ihrem Tempo Angst gemacht hätte.