Der Tag, an dem Hope verschwand - Claire North - E-Book

Der Tag, an dem Hope verschwand E-Book

Claire North

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Beschreibung

GEWINNER DES WORLD FANTASY AWARDS 2017 in der Kategorie "Bestes Buch"!

ICH BIN DAS MÄDCHEN, DAS DIE WELT VERGISST ...

Mein Name ist Hope Arden. Und ich bin die wohl beste Diebin der Welt. Der Grund dafür ist einfach, wenn auch erstaunlich: Niemand kann sich an mich erinnern. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr bin ich für andere Menschen nicht mehr als ein Schatten, ein namenloses Gesicht. Ich habe keine Freunde außer Reina, mit der ich mich immer wieder anfreunde. Doch nun ist sie tot. Es heißt, sie habe sich umgebracht, aber ich glaube, dass mehr dahintersteckt. Ich werde die Wahrheit herausfinden — und wenn ich sie erst mal ans Licht gebracht habe, wird sie niemand vergessen ...

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.




















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Seitenzahl: 722

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103104105

Über dieses Buch

ICH BIN DAS MÄDCHEN, DAS DIE WELT VERGISST …

Mein Name ist Hope Arden. Und ich bin die wohl beste Diebin der Welt. Der Grund dafür ist einfach, wenn auch erstaunlich: Niemand kann sich an mich erinnern. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr bin ich für andere Menschen nicht mehr als ein Schatten, ein namenloses Gesicht. Ich habe keine Freunde außer Reina, mit der ich mich immer wieder anfreunde. Doch nun ist sie tot. Es heißt, sie habe sich umgebracht, aber ich glaube, dass mehr dahintersteckt. Ich werde die Wahrheit herausfinden – und wenn ich sie erst mal ans Licht gebracht habe, wird sie niemand vergessen …

*** GEWINNER DES WORLD FANTASY AWARDS 2017 in der Kategorie »Bestes Buch«! ***

Über die Autorin

Claire North, geboren 1986, ist das Pseudonym der britischen Autorin Catherine Webb, die bereits mit 14 Jahren entdeckt wurde. Seitdem hat sie diverse Fantasy-Romane geschrieben und wird unter anderem mit großen Literaten wie Philip Pullman verglichen. Die vielen Leben des Harry August gilt als ihr Meisterwerk und wurde von Presse und Autoren hochgelobt.

CLAIRE NORTH

DER TAG, AN DEM HOPE VERSCHWAND

Roman

Übersetzung aus dem Englischen von Eva Bauche-Eppers

beBEYOND

Deutsche Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by Claire North

Titel der englischen Originalausgabe: »The Sudden Appearance of Hope«

First published in Great Britain in 2016 by Orbit, an imprint of Little, Brown Book Group

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Hanka Jobke, Berlin

Lektorat/Projektmanagement: Sabine Biskup

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Einband-/Umschlagmotiv: Guter Punkt, Anke Koopmann

unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock/PEPPERSMINT

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4943-6

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Sie sagten, im Sterben hätten sie nichts gehört außer Geschrei.

Ich lasse Tinte auf Papier strömen und beobachte die Welt durch das Fenster meines Zugabteils, graue Wolken über Schottland, und das Geschrei dauert an, aber es stört mich nicht. Nicht mehr.

Ich schreibe dies, damit man sich an mich erinnert. Wirst du über mich urteilen, der du diese Zeilen liest? Wer bist du? Lügner, Betrüger, Dieb, Ehemann, Ehefrau, Mutter, Tochter, Freund, Feind, Polizist, Arzt, Lehrer, Kind, Mörder, Priester? Ich finde dich fast spannender als mich selbst, wer auch immer du sein magst.

Wer immer du bist: Dies ist meine Geschichte.

Dies ist meine Wahrheit.

Lies und vergiss mich nicht.

2

Ich war sechzehn Jahre alt, als die Welt mich vergaß.

Es war ein schleichender Prozess, Stück für Stück.

Mein Vater vergaß, mich von der Schule abzuholen.

Meine Mutter deckte den Tisch für drei Personen, statt für vier. »Oh«, sagte sie, als ich ins Zimmer kam. »Ich habe wohl gedacht, du wärst nicht zu Hause.«

Eine Lehrerin, Miss Tomas, die Einzige im gesamten Kollegium, der ihr Beruf Berufung war, voller Vertrauen in ihre Schüler und deren Potenzial, vergaß, nach den Hausaufgaben zu fragen, rief mich nicht an die Tafel, ignorierte mich, wenn ich mich meldete, bis ich es schließlich aufgab, mich am Unterricht beteiligen zu wollen.

Fünf Freunde, fünf Herzensmenschen, mit denen ich immer zusammenhing und die eines Tages an mir vorbei zu einem anderen Tisch gingen, nicht herausfordernd, ohne Kalte-Schulter-Attitüde, sondern weil sie mich anschauten und jemanden sahen, den sie nicht kannten.

Eine Dissoziation zwischen Name und Gesicht beim Verlesen der Anwesenheitsliste. Mein Name bleibt im Gedächtnis, aber die Verbindung ist gekappt: Was ist Hope Arden? Eine Aneinanderreihung von Buchstaben ohne Bedeutung, sonst nichts.

Erst gerät mein Gesicht in Vergessenheit, dann meine Stimme und schließlich, nach und nach, der Zusammenhang zwischen mir und meinen Taten.

An dem Tag, als mein bester Freund Alan mich vergaß, ohrfeigte ich ihn. Er rannte entsetzt aus dem Klassenzimmer, und ich, mit vor Schuld glühendem Gesicht, lief ihm hinterher. Als ich ihn fand, saß er im Flur des naturwissenschaftlichen Trakts und rieb sich die gerötete Wange.

»Alles gut?«, fragte ich.

»Brennt ein bisschen.«

»Ich wollte das nicht. Tut mir leid.«

»Kann man hinterher immer sagen.«

Seine Augen schwammen in Tränen, aber er schaute mich an wie eine Fremde. Woran erinnerte er sich in diesem Moment? Nicht an mich, nicht an Hope Arden, mit der er aufgewachsen war, Tür an Tür. Nicht an meine Hand auf seiner Wange, meine überschnappende Stimme, die fliegende Spucke, du kennst mich, sag, dass du mich kennst! Er empfand Traurigkeit, Wut, Angst, all diese Gefühle spiegelte sein Blick, aber woher rührten sie? Was war die Ursache? Er wusste es nicht mehr, und die Erinnerung an mich zerfiel wie Sandburgen am Meeresstrand, wenn die Flut sie erreicht.

3

Dies ist keine Geschichte des Vergessenwerdens.

So, wie die Erinnerung an mich verblasste, verblasste auch ein Teil von mir. Wer immer diese Hope Arden war, die mit ihren Freunden lachte, mit ihrer Familie lächelte, mit ihrem Schatz flirtete, über ihren Chef lästerte, mit ihren Kollegen Erfolge feierte – sie gibt es nicht mehr, und mit einiger Betroffenheit habe ich festgestellt, wie wenig übrig bleibt, wenn all das fehlt.

Wenn Worte auf Papier das Einzige sind, das von mir in Erinnerung bleiben wird, und wenn ich etwas schreiben will, was überlebt, wenn ich fort bin, sollte es wichtig sein.

Also schreibe ich über Perfection.

Für dich, lieber Leser, beginnt die Geschichte in Venedig, dem Ort, an dem die Welt sich dessen, was Perfection bedeutete, zum ersten Mal bewusst wurde. Für mich hingegen und meine Rolle in diesem Stück begann alles viel früher, in Dubai, genau an dem Tag, an dem Reina bint Badr al-Mustakfi in ihrer Hotelsuite im siebten Stock des Burj Al Arab Jumeirah Selbstmord beging.

Weil die Suite 830 britische Pfund pro Nacht kostet und weil es sich zweifelsfrei um Suizid handelte und somit um einen gesellschaftlichen Fauxpas, wurde der Leichnam wenige Stunden nach der Entdeckung durch den Lieferanteneingang weggeschafft. Eine nepalesische Putzfrau erhielt den Auftrag, die Spuren des Malheurs zu beseitigen, aber Reina hatte ganz klassisch das heiße Bad gewählt, um sich die Oberschenkelarterie zu öffnen, und so mussten lediglich einige Handtücher und der Wannenvorleger verbrannt werden.

Ich erfuhr von ihrem Tod, weil ihre Cousine Leena fürchterlich schrie. Schrie – nicht weinte. Wenn später die Sprache auf den Vorfall kam, sagte sie nicht: »Meine Cousine Reina hat Selbstmord begangen, und zwar weil …«, sondern: »Meine Cousine Reina hat Selbstmord begangen, und ich bin nie darüber hinweggekommen.«

Ich mochte Leena nicht besonders. Deshalb fiel es mir leicht, sie für meine Zwecke zu benutzen. Ohne Gewissensbisse.

Reina hingegen war mir sympathisch. Sie wusste nicht, dass wir Freundinnen waren, aber das machte mir nichts aus. Es ist ein Umstand, mit dem ich zu leben gelernt habe.

Ich verschaffte mir Zutritt zu dem Leichenschauhaus, in das man Reina gebracht hatte, mit einem falschen Namen auf dem Zettel an ihrem großen Zeh, die Haut so grau wie das stählerne Bett, auf dem sie lag. Ich durchsuchte die Kleidungsstücke, die man ihr ausgezogen hatte, blätterte in einem Notizbuch voller wunderlicher Einfälle und Bemerkungen über Passanten, die sie beobachtet hatte, und fand dort auch mich wieder: Frau, Haut wie Milchkaffee, stark verdünnt. Rosa Kopftuch, sehr kurz geschnittene Nägel, schaut allen Leuten unverhohlen ins Gesicht, stört sich nicht daran, dass man sie anstarrt.

Ich schloss das Büchlein, drückte es an mein Herz und steckte es ein, eine kleine Kostbarkeit, die es verdiente, in Ehren gehalten zu werden. Ihr Smartphone lag in einer durchsichtigen Plastiktüte bei ihren Schuhen, die PIN ließ sich an den fettigen Flecken erkennen, die ihre Fingerspitzen beim Tippen auf dem Display hinterlassen hatten. Ich nahm es an mich, setzte mich im backofenheißen Schatten auf die Eingangstreppe des städtischen Leichenschauhauses und arbeitete mich durch SMS und E-Mails auf der Suche nach etwas Verstörendem oder einem Aufschrei innerer Qual, etwas, das erklärte, warum Reina jetzt so kalt in dem stillen Gebäude hinter mir lag.

Perfection fand ich nur, weil es mir eine Message entgegenschleuderte:

Dein letzter Besuch im Fitness-Center ist 48 Stunden her – vom Wünschen allein bekommt man keinen perfekten Körper!

Eine App, die im Hintergrund lief.

Vorsicht! Du hast nach dem letzten Einkauf deine empfohlene Tagesration an gesättigten Fettsäuren überschritten! Weißt du, dass gesättigte Fette eine Hauptursache für Herzerkrankungen sind?

Was für eine gottverdammte App war das denn?

Ich öffnete sie, neugierig.

Auch du kannst perfekt sein.

Die Bedienoberfläche war schlicht, übersichtlich. Keine Zusatzfunktionen, keine Personalisierung.

Perfektion ist möglich. Es ist an der Zeit.

Ein Polizist kam auf mich zu, erkundigte sich, ob ich mich verlaufen habe. Ich klappte das Handy zu, steckte es ein und antwortete entschuldigend, dass mir ein wenig flau gewesen sei.

Er sagte, freundlich und mitfühlend: »Alles Leid, das Sie in Ihrem Leben erfahren, teilen Sie mit vielen anderen Menschen, solchen, die jetzt leben, und solchen, die erst geboren werden. Man ist nie gewappnet, nichts vermag den Schmerz zu lindern, aber ich denke, Sie sollten wissen, dass Sie nicht allein sind in der Stunde der Not. Die gesamte Menschheit, die war, ist und sein wird, steht an Ihrer Seite.«

Ich lächelte und bedankte mich und ging weg, bevor er sah, dass ich weinen musste.

In derselben Nacht, bäuchlings auf dem Hotelbett liegend, unter mir das Meer, über mir Staub, abonnierte ich Perfection.

Ich gab einen erfundenen Namen ein und eine in einem Internetcafé erstellte Wegwerf-E-Mail-Adresse.

Beim Beitritt wurden mir automatisch fünfhundert Punkte gutgeschrieben, ausreichend für einen 5-Dollar-Rabatt beim Kauf eines Vitamindrinks einer beworbenen Marke. Die App ermittelte über WLAN meine Position bis auf fünf Meter genau und nannte mir einen Laden in einer halben Meile Entfernung, in dem ich meine Gutschrift einlösen konnte.

Mach schnellere Fortschritte.

Verlinke dein Leben.

Die App bat um ein Foto von mir. Ich schickte das Foto einer Fremden von Facebook.

Daraufhin gratulierte man mir zu einem wunderschönen Körper, allerdings könne man ihn noch perfektionieren.

Erwäge eine Umstellung deiner Ernährung – hier einige Tipps.

Finde die für dich perfekte Sportart!

Ein Fragebogen. Ich füllte ihn aus und erfuhr, dass Ausdauersport im mittleren Level für mich perfekt wäre. Eine Liste geeigneter Trainer wurde mir angezeigt, dazu die Pluspunkte, die mir gutgeschrieben würden, wenn ich einem der von Perfection zertifizierten Clubs beiträte.

Verlinke dein Leben, erinnerte man mich.

Erreiche Perfektion durch Perfection.

Die App fragte nach meinen Bankdaten.

Wenn du uns Einsicht in deine Finanzsituation und Ausgaben gewährst, kann Perfectiondein wahres Ich erkennen. Perfektioniere deine Karriere und deinen Lifestyle durch für dich maßgeschneiderte Vorschläge.

Ich verweigerte die Eingabe der Daten, und als ich am nächsten Morgen nachschaute, hatte man mir zweihundert Punkte abgezogen.

Der Weg zur Perfektion ist steinig. Du hast es in der Hand.

Ich schloss die App und beschränkte ihren Zugriff auf mein Handy.

4

Dinge, die schwierig sind, wenn die Welt dich vergisst:

VerabredungenEinen Job finden (und behalten)Durchgängige medizinische BetreuungEinen Kredit aufnehmenAbschlüsse in Schule, Studium, AusbildungReferenzen bekommenIn einem Lokal bedient werden

Dinge, die einfach sind, wenn die Welt dich vergisst:

AuftragsmordDiebstahlSpionageSorglose One-Night-Stands (mit Kondom)Kein Trinkgeld geben

Eine Weile nachdem ich vergessen worden war, spielte ich mit dem Gedanken, Profikillerin zu werden. Ich sah mich in einem hautengen Lederanzug, mit Wind in den Haaren, wie ich mit einem Präzisionsgewehr meine Zielperson eliminierte. Ich war sechzehn und hatte eine etwas eigenwillige Vorstellung von cool sein.

Dann recherchierte ich ein wenig und musste feststellen, dass ein Profikiller für 5000 Euro zu haben ist und die Mehrzahl der in diesem Gewerbe tätigen Personen brutale Männer in Jogginganzügen aus Nylon sind. Keine glamourösen Frauen, die dem Schurken eine der Gesundheit abträgliche Substanz in den Drink träufeln, keine Cocktailpartys, bei denen Agenten beiderlei Geschlechts kryptische Botschaften austauschen, keine Todesgöttinnen, keine geheimnisumwitterten Femmes fatales. Nur das Aufblitzen eines Mündungsfeuers in der Nacht und quietschende Reifen auf Asphalt.

Später, als ich unter der Eingangstreppe der Stadtbücherei in meinen Schlafsack kroch und die Augen schloss, fragte ich mich, wie ich hatte glauben können, Mord sei ein akzeptabler Broterwerb. Aufgrund meiner prekären Lage, ohne Familie, Freunde, Hoffnung auf ein sogenanntes normales Leben, war mir bereits klar, dass ich keine andere Wahl hatte, als eine Verbrecherlaufbahn einzuschlagen, aber musste ich zwangsläufig alle moralischen Bedenken über Bord werfen? Ich malte mir aus, einen Fremden zu töten, und fand, es wäre leichter, als jemanden zu ermorden, den ich kannte. Dann schlief ich ein, und im Traum prügelten Männer auf mich ein, und ich wollte zurückschlagen, aber meine Arme waren gelähmt, ich hatte keine Kraft.

Wehr dich!, schrie mein schlafender Verstand. Wehr dich! Wehr dich! WEHRDICH!

Doch konnte ich mich nicht bewegen, und als ich bei Tagesanbruch aufwachte, stellte ich fest, dass jemand auf das Fußende meines Schlafsacks gepinkelt hatte.

5

Habt ihr Perfection?

Erinnerungen. Muss ich so weit ausholen, um verstanden zu werden?

Kann sein.

Mir fällt ein Wort ein, das Reina manchmal benutzt hat – Pilgerfahrt.

Pilgerfahrt: eine Reise, die man aus einem besonderen, einem höheren Anlass unternimmt.

Ein heiliger Akt.

Google sagt: Pilgerfahrt ist

überholteine Verschwendung von Zeit und Geldimmer noch wichtig.

»Habt ihr Perfection?«, fragte sie. Wo war das?

Dubai, wenige Tage vor Reinas Tod. Ein Hotel auf einer künstlichen Insel, das Burj Al Arab Jumeirah. Ich trat ein, und ein Mann reichte mir ein gekühltes Handtuch, eine Dame reichte mir Datteln auf einem goldenen Teller, an der Rezeption fragte man, ob ich einen der hoteleigenen Bentleys benötigen würde. 650 Pfund kostete die billigste Suite pro Nacht, aber auf diesem bescheidenen Niveau war dein privater Butler möglicherweise ein klein bisschen weniger aufmerksam, und man bekam keinen Zutritt zur VIP-Lounge. Ist dort der Anfang des roten Fadens? Ich denke, ja.

»Habt ihr Perfection?«, wollte Leena wissen, und Reina seufzte hinter ihr. »Der CEO kommt nach Dubai. Wir haben hier einen blühenden Investitionsmarkt. Eigentlich erstaunlich, dass Firmen wie diese um Investoren buhlen müssen, aber Perfection wird das ganz große Ding, das wird mega, ich weiß es. Die App hat mein Leben verändert! Ich werde die Treatments abonnieren!«

Fünf Frauen auf Liegen im Spa, hinter den Panoramafenstern das Meer so blau wie der Morgenhimmel, der Mittagshimmel weiß wie der Mond um Mitternacht. Frauen aus Bangladesch, mit strahlendem Lächeln und gesenktem Kopf, servierten regenbogenfarbige Drinks. Von uns fünfen stammten nur zwei aus Dubai, eine akzentfrei Englisch sprechende Prinzessin Sowieso-Sowieso von Irgendwo und Leenas Cousine Reina, möglicherweise keine Prinzessin, schwer zu sagen, die über Sozialreformen und Gleichberechtigung der Frau bloggte. Leena zufolge war sie »Großartig, ist sie nicht großartig? Aber ich wünschte, sie wäre ein bisschen mehr … nun ja, ihr wisst schon …« Eine Handbewegung, die unseren Blick auf die Genannte lenkte: still auf ihrer Liege, den aufgeklappten Laptop im Schoß, die Augenbrauen konzentriert gerunzelt. Anders als wir anderen trug sie einen Badeanzug, keinen Bikini.

»Treatments zerstören die Seele«, sagte Reina, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. »Treatments zerstören den Menschen, der man ist.«

»Darling«, konterte Leena, »einige von uns halten das für begrüßenswert.«

Jetzt schnellte Reinas Blick in die Höhe, begegnete dem ihrer Cousine, hielt ihn fest, kehrte zum Laptop zurück. »Ich will einfach nur ich selbst sein«, murmelte sie.

»Aber ist das genug?«, fragte Leena. »Oder ist es nur egoistisch?«

Ich setzte mich neben Reina und erkundigte mich, woran sie arbeite, während die anderen sich entspannteren Themen zuwandten.

»Das ist mein Dschihad«, erklärte Reina, ohne mich anzusehen. »Meine Pilgerfahrt.«

Dschihad: Anstrengung, Kampf, Bemühen. Das Ringen um die Nähe zu Gott.

Dinge zu wissen war immer meine Leidenschaft. Es gibt mir das Gefühl, dazuzugehören, trotz allem.

»Gestern hat die Polizei ein vierzehnjähriges Mädchen festgenommen, weil es außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einem Eisverkäufer gehabt haben soll«, sagte Reina. Sie führte ein Zwiegespräch mit ihrem Computer, weil sie schon vor langer Zeit gelernt hatte, dass Menschen ihr nicht zuhörten. »Er hat sie vergewaltigt und wird abgeschoben. Sie geht wegen Ehebruch ins Gefängnis. Ich kann nicht akzeptieren, dass Frauenrechte von der Kultur diktiert werden, in der sie leben.«

»Da seht ihr!«, rief Leena und drehte sich auf den Bauch, damit die Filipina, die das Körpertattoo aus Platinfolie aufbrachte, ihren Nacken erreichen konnte. »Reina ist so … so … ach, so eben.«

»Habt ihr Perfection?«

Eine Amerikanerin, Suzy oder Sandy oder Sophie oder so ähnlich, lag auf dem Rücken, nackt, das Kinn an die Brust gedrückt, um auf ihr Smartphone schauen zu können, während hauchdünne Blättchen Goldfolie behutsam mit einem Bürstchen auf ihre Haut gestrichen wurden, Ornamente und Figuren aus 1000-Dollar-Farbe, die die perfekten Konturen ihres perfekt epilierten, perfekt definierten Körpers betonten.

Ich beugte mich von meiner Liege zu ihr hinüber, um zu sehen, wovon sie sprach.

»Es ist eine App.« Sie wandte sich zu mir, damit ich auf das Display schauen konnte. »Life Coaching. Wegweiser zu einem besseren Ich. Man abonniert die App, erlaubt ihr Zugriff auf seine Daten, und sie hilft einem, das Beste aus sich zu machen.«

»Was für Daten?«

»Ach, alles, eigentlich. Stammkundenkarten, Flugmeilen, Onlineshopping, Bankkonten. Je mehr Informationen sie hat, desto gezielter kann sie dir helfen. Zum Beispiel, als ich damals Mitglied geworden bin, habe ich ein Foto von mir gemacht, und sie konnte mir meine Körpergröße nennen, mein Gewicht, Schuhgröße und so weiter. Genial, echt genial. Damals hatte ich Übergewicht, ich war – nein, vergesst es! Wird nicht verraten! –, aber sie hat mir eine andere Zusammenstellung der Mahlzeiten empfohlen und gute Fitnesstrainer, denn darauf kommt es an, oder nicht? Und jedes Mal, wenn man ein gesetztes Ziel erreicht, also soundso viel Gewicht verloren hat oder bei einem In-App-Händler die perfekten Schuhe kauft, werden einem Punkte gutgeschrieben, und ab einem gewissen Punktekontostand erhält man eine an das Abonnement gekoppelte Belohnung.«

»Was für welche?«

»Oh, ganz fantastische Sachen, wirklich. Bei fünftausend war es ein kostenloser Haarschnitt bei Pike und Ion. Sensationell. Sie verstehen Haare. Bei zehntausend bekam ich dreihundert Dollar zum Verpulvern im SpringYouOutlet in der Mall. Dreihundert! Ich konnt’s nicht glauben, aber natürlich wusste die App, was ich kaufen würde, und nur dadurch, dass ich die richtigen Klamotten ausgesucht habe, bekam ich automatisch einen Fünfhundert-Punkte-Bonus. Jetzt bin ich bei zweiundfünfzigtausend Punkten und kann kaum erwarten, was die nächste Überraschung ist.«

Ich lächelte und sagte, das höre sich toll an und so etwas könne ich auch gut gebrauchen.

»Aber ja, mach das!«, rief sie aus. »Du bist schon so hübsch, mit nur ein klein wenig Anstrengung könntest du auch perfekt sein!«

Ich lächelte. Heute war mein dritter Tag in der Gesellschaft dieser Frauen, für sie aber hatten wir uns eben erst kennengelernt. Soziale Kompetenz stand ganz oben auf der Liste meiner Talente.

Am selben Abend.

»Hast du Perfection?«, fragte ich Reina auf dem Laufband neben mir in dem ausschließlich Frauen vorbehaltenen Fitnesscenter. Wir hatten die Kopftücher abgelegt und unsere Haare waren schweißverklebt.

»Ja«, meinte sie abwesend, »habe ich. Meine Familie erwägt, in die Firma zu investieren.«

»Ist die App so gut, wie die Leute sagen?«

»Ich … Wahrscheinlich kann sie einen gewissen Nutzen haben.«

»Das klingt nicht überzeugt.«

»Leena hat mich überredet, mich anzumelden. Sie hat gesagt, ich wäre … Kennst du das, wenn jemand Sachen zu dir sagt, die richtig gemein sind, aber weil du die Person kennst und weißt, wie sie redet, findest du’s nicht so schlimm?« Eine kurze Pause. »Nur, dass es eigentlich doch richtig schlimm ist.«

»Was für Sachen?«

»Sachen eben. Die üblichen Worte. Fett. Hausbacken. Langweilig. Unattraktiv für Männer. Spielverderber auf Partys. Frigide. Natürlich sollte es mir egal sein, das sind ihre Prioritäten, nicht meine.«

Hallo! Bist du sicher, dass dies das richtige Restaurant für dich ist?

Hier unsere Liste empfohlener Lieferanten mit Zufriedenheitsgarantie von Perfection!

Wir liefen weiter. Dann sagte sie: »Bis vor Kurzem habe ich immer geglaubt, dass es genügt, so zu sein, wie ich bin, damit man mich gern hat.«

Fast hätte ich gelacht, aber in ihren Augen stand eine große Traurigkeit, und ich war außer Atem, deshalb verzichtete ich darauf und sagte stattdessen: »Ganz bestimmt gibt es Menschen, die dich lieben, weil du bist, wie du bist. Menschen mit Herz und Verstand.«

Sie lächelte und schaute zur Seite, und die Unterhaltung war beendet.

6

Warum ich nach Dubai gekommen war?

Um die Herrscherfamilie zu bestehlen, darum. Objekt meiner Begierde war ein Diamant, der Chrysalis, Herzstück eines Kolliers aus kleineren Steinen, das anno 1912 für Emine Nazikeda kreiert wurde, erste Gemahlin von Mehmed VI., letzter Sultan des Hauses Osman. Nach der Abschaffung der Monarchie begann für den Schmuck eine weltweite Irrfahrt durch die Auktionshäuser, er wanderte durch die Hände von Ölmagnaten, Hollywood-Starlets und gehörte zuletzt der Ehefrau des Präsidenten von Kolumbien, bevor er – durch seine Geschichte erheblich im Wert gestiegen – in den Mittleren Osten zurückkehrte, via Shamma bint Bandar, ihres Zeichens eine der etwa viertausend Abkömmlinge des saudischen Königshauses und Leenas Tante.

Warum dieser Diamant?

Weil in den letzten fünf Jahren drei verschiedene Diebesbanden die Finger danach ausgestreckt hatten und gescheitert waren. Aus ihrem Misserfolg ließen sich zwei Schlüsse ziehen: Erstens war die Sache eine Herausforderung, und zweitens gab es einen Käufer.

Ich, in meiner besonderen Lage, kann es mir leisten, Unternehmungen dieser Art amateurhaft anzugehen, aber ich finde, der Kick ist größer, wenn man es angemessen kompliziert macht. Aus einer Laune heraus habe ich einmal dem Präsidenten von Paraguay die Armbanduhr entwendet, aber sie brachte nur 250 Dollar, und der Kick war nichts im Vergleich zu dem, als ich ein Casino um 98 000 Pfund erleichterte und mein Plan, an dem ich monatelang getüftelt hatte, bis in die letzte Einzelheit fehlerfrei funktionierte. In meiner Profession ist man selbst für seine Erfolgserlebnisse verantwortlich.

Shamma bint Bandar kam nach Dubai, um mit den Machern von Perfection zu feiern und der Marke den gehörigen Glanz zu verleihen, und mit ihr kam der Chrysalis.

Leena war meine Eintrittskarte, aber während ich sie umkreiste, lenkte mich Reina ab.

»Wir haben uns noch nicht kennengelernt«, sagte ich zu Reina, als wir zum vierten Mal Seite an Seite auf dem Laufband schwitzten. »Ich bin Rachel Donovan.«

Und: »Wir haben uns noch nicht kennengelernt«, sagte ich in der Bar im Souterrain des Hotels, wo wir uns anlässlich eines Konzerts syrischer Volksmusik eingefunden hatten und – selbstredend zufällig – nebeneinandersaßen. »Aber es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ich gehöre einer einflussreichen Familie an«, bekannte sie später seufzend, als wir uns eine Mango auf einem Bett aus gestoßenem Eis teilten. »Aber hier ist das völlig bedeutungslos. Ich gebe mir große Mühe, besser zu werden.«

»Inwiefern?«

»Überhaupt. Im Umgang mit Menschen, im Lernen, Verstehen, Aussehen, Denken, einfach … in allem besser werden. An sich zu arbeiten ist gut, oder nicht?«

Hast du daran gedacht, die von uns empfohlenen Zeitschriften zu kaufen, die dein Leben verändern können? Lese die inspirierenden Geschichten von Frauen, die ihr perfektes Leben gefunden haben!

»Ja, ich glaube schon.«

»Ich schreibe ein Blog.«

»Ich habe es gelesen.«

»Wirklich? Da sind Sie eine von wenigen – danke. Zu viele Stimmen im Internet, die alle gleichzeitig schreien, möglichst lauter als alle anderen. Manchmal ist es schwer, gehört zu werden. Manchmal glaube ich, die ganze Welt ist ein einziges dummes ohrenbetäubendes Geschrei.«

Ich sagte … irgendwas. Etwas Belangloses, während ich versuchte, bessere Worte zu finden, weise Worte, wie man sie von der Frau erwartete, die mit Reina bint Badr al-Mustakfi Mango löffelte, aber im Lauf unserer Unterhaltung hatte ich die Rolle vergessen, die ich spielte, und nur Hope Arden war noch da und sie hatte nichts Hilfreiches beizutragen.

»Eine Zeitlang habe ich gedacht, dass ich darum kämpfen würde, meinen Platz im Leben zu finden«, sagte Reina leise, schaute dabei ins Leere. »Jetzt möchte ich einfach nur dort glücklich sein, wo ich bin.«

Am nächsten Tag war sie tot.

Ich kopierte ihre E-Mails auf meinen Computer, warf ihr Handy ins Meer.

E-Mails von ihren Eltern, die sich Sorgen machten. Von ein paar Freunden, die hofften, es ginge ihr gut, Fotos glücklicher Familien, heranwachsender Kinder, ist das Leben nicht schön?

Von Aktivistengruppen für Bürgerrechte, Rechte der Immigranten, Verantwortung für die Umwelt, Gesetzesreformen und so weiter.

Von Perfection eine automatisch generierte Erinnerung.

Wir müssen leider feststellen, dass du, was die Einhaltung deines Fitnessprogramms sowie dein Kaufverhalten betrifft, nachlässig geworden bist. In der vergangenen Woche hast du 400 Punkte verloren. Bedenke: Perfektion ist ebenso eine Sache des Geistes wie des Körpers. Du allein entscheidest, ob du perfekt sein willst. Hier einige motivierende Geschichten über perfekte Menschen aus dem Kreis der 106, die dir vielleicht als Ansporn dienen, den begonnenen Weg fortzusetzen.

Ein Link – Fotos, Männer, Frauen. Schön, alle porentief schön. Zähne, Haare, Lippen, Lächeln, Muskeln, Brüste.

Antonyme von frigide: liebenswürdig, liebenswert, willig, scharf, sinnlich.

Ich las weiter bis zum Ende ihres kleinen, handschriftlich geführten Notizbuchs.

Leena ist glücklich, schrieb sie. Sie ist absolut glücklich. Sie ist dumm und träge und verwöhnt und denkfaul, und vielleicht war sie sich früher einmal dessen bewusst, und dann hat sie geschafft, es zu vergessen und zu vergessen, dass sie etwas vergessen hat. Ich dachte, ihr Selbstbewusstsein wäre Fassade, ein Schutzschild, um sich gegen ihre eigenen Gefühle von Traurigkeit und Unzulänglichkeit abzuschirmen, aber jetzt erkenne ich, dass die Hülle der Inhalt ist, die Tiefen sind die Oberfläche.

Gestern habe ich allein zu Abend gegessen, doch als ich auf die Rechnung schaute, standen zwei Gerichte darauf, und nicht ich hatte bezahlt.

Heute hat Perfection mir Fotos von der Hochzeit eines Models geschickt, um mir vor Augen zu führen, was und wie ich sein könnte. Wenn sie einen Kerl vögelt, empfindet er Lust? Oder sie? Wahrscheinlich soll ich das glauben.

Das Geschrei ist so laut heute Nacht. Unerträglich laut.

Ihre letzten Worte. Ich saß am Strand und beobachtete die Wellen, eine Stunde lang, dann zwei. Ich fragte mich, ob es sie wohl freuen würde, dass jemand an sie denkt. Ob es ihr gefiele, was ich tun wollte. Ich hoffte es, und nach einer langen Weile verbrannte ich ihr Notizbuch und streute die Asche ins Meer.

7

Arten von Eigentumsdelikten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Raub und schwerer Raub, Taschen-, Laden-, Auto-, Identitätsdiebstahl, Trickbetrug, Heiratsschwindel, Veruntreuung, Geldfälschung, Hehlerei, Unterschlagung, räuberische Erpressung, Plünderung.

Actus reus: die Tat.

Mens rea: die Motivation.

Eine Frau kann eine fremde Handtasche an sich nehmen – Actus reus –, aber unschuldig sein, da sie dies versehentlich tat. Tut sie dies absichtlich, kommt Mens rea ins Spiel. Bei Erstem ist sie zivilrechtlich haftbar, bei Zweitem ist die Tat strafrechtlich relevant und kommt vor Gericht.

Ich wollte keine Diebin sein.

Mein Vater war Polizist, und hin und wieder ergab es sich, dass ich im Revier auf ihn wartete. Die meisten Menschen waren dort wegen irgendwelcher Straftaten, die sie im Suff begangen hatten, im Drogenrausch oder einem Zustand abgrundtiefer Verzweiflung. Einmal grinste einer breit, ein Drogendealer, und amüsierte sich über den Beamten, der ihm die Fingerabdrücke abnahm, und nannte ihn »Kumpel« und sagte: »Die Scheiße kannst du dir sparen, Kumpel, ist für die Katz!« Er behielt recht und winkte, als er hinausspazierte. »Mehr Glück nächstes Mal, Kumpel«, sagte er, mit schwerer Goldkette um den Hals und schmuddeligen Sneakers an den Füßen.

Der einzige Dieb, den ich je zu Gesicht bekam, war siebzehn Jahre alt, und obwohl ich selbst erst vierzehn war, fand ich, dass er furchtbar jung aussah. Er war käsebleich, stockdürr und schwankte zwischen zwei Gefühlsextremen wie eine Wetterfahne im Sturm.

Jetzt: still, hängende Schultern, Knie eingeknickt, Füße einwärtsgedreht.

Jetzt: aufbäumend, um sich schlagend, tretend, sich auf den Boden werfend, mit dem Kopf gegen den Tresen schlagend.

Dann: still, stumm.

Dann: kreischend, fluchend, fluchend, kreischend und keine anderen Worte außer gekreischten Flüchen.

Dann: kein Mucks. Regungsloses, schweigendes Stieren auf eine verschlossene Tür.

An diesem Tag wollte mein Vater mit mir ins Kino gehen, doch er musste noch einmal zurück und dabei helfen, den Jungen in seiner Zelle zu fixieren. Sie ließen ihn verschnürt wie eine Teppichrolle zwanzig Minuten liegen, wickelten ihn wieder aus, damit er nicht erstickte, und endlich konnten wir los, aber natürlich hatte der Film schon angefangen, und am nächsten Abend wurde der Junge ins Krankenhaus gebracht, weil er sich an der Wand seiner Zelle den Schädel eingerannt hatte.

»Manchmal behaupten die Leute, es wäre leicht«, sinnierte mein Vater auf der Heimfahrt nach unserem missglückten Kinoabend, eine mürrische Tochter neben sich, die eine halb leere Schale Tut-mir-leid-Pommes auf den Knien balancierte. »Es wäre leichter zu stehlen, als zu arbeiten, leichter zu lügen, um sich durchzumogeln. Manchmal behalten sie recht, genaugenommen zu oft, das System ist einfach nicht gerüstet für Menschen, die keine Alternative haben. Die Aussteiger und die Drogenabhängigen und Obdachlose, die niemand haben will. Manchmal ist es leichter, den falschen Weg einzuschlagen, weil das Leben schwer ist. Aber man muss seine Freunde haben und seine Familie und Menschen um sich herum, die einen schätzen und zu einem halten. Hoffnung muss man haben, Zukunftspläne, eine Vorstellung davon, was man sein, was man werden will, denn wenn man das hat, dann wird das Leben leichter – nicht leicht, aber etwas weniger schwer –, und man erkennt, dass der falsche Weg eine Sackgasse ist, aus der es in den allermeisten Fällen kein Zurück gibt.«

Ich schwieg mich aus, immer noch wütend auf meinen Vater, weil ich wieder einmal hatte zurückstecken müssen. Immer kam sein Beruf an erster Stelle, und zu oft brach er seine Versprechen.

Den ganzen Rest der Fahrt sprach er kein Wort mehr, und auch das Radio blieb stumm.

8

Am Tag nach Reinas Tod traf Prinzessin Shamma bint Bandar in Dubai ein, und sie trug das Kollier mit dem Chrysalis. Ich beobachtete, vor dem Hotel neben meinem gepackten Koffer stehend, wie Leena ihre von einer beachtlichen Entourage begleitete Tante begrüßte.

»Darling, du siehst fantastisch aus!«, jauchzte ihre Tante und quietschte.

»Es gibt so viel zu erzählen, du kannst dir nicht vorstellen, was alles passiert ist«, jauchzte Leena zurück.

Kein Wort über Reina.

Ich stand eine Weile in der heißen Sonne, ignorierte das vom Hotelpagen herangewinkte Taxi, das mich zum Flughafen fahren sollte.

»Ma’am?«, fragte er, und als ich nicht antwortete: »Ma’am? Brauchen Sie das Taxi noch?«

»Nein, vielen Dank«, antwortete ich und staunte über die Entschiedenheit in meiner Stimme. »Ich glaube, ich habe hier noch etwas zu erledigen.«

Damit hob ich den Koffer hoch und kehrte zurück ins Hotel.

Ich sammelte Zubehör für mein Vorhaben.

Die Leute von der Security können jemanden, der in unlauterer Absicht ein Terrain sondiert, auf eine Meile Entfernung erkennen, aber auch diesem geschulten Personal war ich flugs aus den Augen, aus dem Sinn. Ich suchte die Nähe von Prinzen und Königinnen, schüttelte Diplomaten und Agenten die Hand, und keiner schenkte mir einen zweiten Blick. Niemand schenkt mir je einen zweiten Blick, ihrerseits ist es immer der erste.

Den Plastiksprengstoff kaufte ich von einem arbeitslosen Sprengmeister, der seinen Job in Katar verloren hatte, nachdem während seiner Schicht acht Arbeiter ums Leben gekommen waren.

»Da draußen sterben Menschen am laufenden Band«, beschwerte er sich und überreichte mir in einem Stoffbeutel die bestellte Ware. »Menschen sind billiger als Stahl. Kein Grund, sich aufzuregen. Ich bin ihnen grade recht gekommen, um ein Exempel zu statuieren. Blanke Heuchelei! Einen Sündenbock haben sie gebraucht, und ich musste herhalten.«

Auf die Minute genau einen Stromausfall zu bewirken ist nicht einfach, aber keineswegs unmöglich. Den benötigten Virus erwarb ich von einer Händlerin – ich vermutete eine Frau, aber wer weiß das schon so genau –, die sich BarbieDestroyedTheMoonnannte. Sie – bleiben wir dabei – hatte keine Bedenken, brisante Ware über das Darknet zu verticken, denn, wie sie sagte: Bulle, Dieb, Maulwurf oder Dummkopf, du wirst mir niemals auf die Schliche kommen.

Und was genau, fragte ich, bekomme ich für meine Bitcoins?

Die Kopie von einem Virus aus der Bastelstube der CIA, informierte sie mich. Sie wollten damit das Nuklearprogramm der Iranis sabotieren, aber die Sache ist publik geworden und sie konnten einpacken. Die CIA ist ein Haufen lahmer Wichser. Die NSA – vor denen muss man Respekt haben.

Ich programmierte eine Uhrzeit und schleuste den Virus auf den Laptop eines jüngeren Technikers, der an einem unglücklichen und, wie sich herausstellte, völlig unbegründeten romantischen Trauma litt.

»Meine Frau schläft mit einem anderen«, jammerte er. Wir teilten uns Sushi und grünen Tee in einem japanischen Café, dessen Wände eine Tapete mit rosafarbenen, kulleräugigen Cartoonkätzchen schmückte. »Sie schwört, da ist nichts, und ich schwöre, dass ich ihr vergebe, wenn sie es zugibt, aber sie tut’s nicht, und deshalb verzeihe ich ihr nie, nie, bis zu ihrem letzten Atemzug.«

Ich lächelte und strich mit meinem Sushiröllchen behutsam über die Oberfläche der Sojasoße. Niemals Sushi in Soße baden! Ich bin einmal von einem Koch wegen dieser Sünde angebrüllt worden, aber die Kellnerin entschuldigte sich später für ihn und bat um Verständnis: Sein Lieblingsmolch wäre an diesem Morgen gestorben und er habe leider ein überaus hitziges Temperament. »Das kann ich nachfühlen«, hatte ich erwidert, »einen geliebten Molch zu verlieren ist sehr schmerzlich.«

»Natürlich finde ich keinen Beweis für ihre Untreue«, seufzte mein mit ziemlicher Sicherheit nicht gehörnter Techniker. »Aber das zeigt ja nur, wie raffiniert sie ist!«

Ich spielte den Virus auf seinen Laptop, während er für kleine Königstiger war, und am folgenden Tag lud er ihn unwissentlich auf die Computer hoch, an denen er arbeitete, verborgen in seinem Tagesauslastungsplan und einer Anzahl daheim verfasster Poeme über die Qualen verschmähter Liebe.

9

Kriminelle Profession braucht mehr als nur viel Übung.

Man sollte stets kaltes Blut bewahren, niemals wütend handeln, aber Reina war tot, und der Chrysalis nach Dubai gekommen und …

Einatmen, ausatmen. Ein, aus, ein, aus.

Bis zehn zählen.

Herzschlagfrequenz: 76 bpm.

Blutdruck: 118/76. Systolisch/Diastolisch. Im Jahr 1615 veröffentlichte ein Arzt namens William Harvey das Buch Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus – Anatomische Studien über die Bewegung des Herzens und des Blutes. Chinesen und Indianer wussten vor ihm darüber Bescheid, aber erst 1818 erfand Samuel Siegfried Karl Ritter von Basch den Sphygmomanometer.

Wissen ist Macht.

Wissen ist Freiheit.

Wissen ist das Einzige, was ich habe.

Nichts in der Welt kann mich besiegen, außer mir selbst.

Tage der Vorbereitung im Burj Al Arab Jumeirah.

Am Montag war ich eine Fremde, mit der Leena am Pool einige Worte wechselte. Am Dienstag eine Fremde im Spa. Mittwoch eine Fremde, die sie beim Essen ansprach. Ich stahl Leenas Smartphone, kopierte den Inhalt und verlinkte ihre SIM-Karte mit meiner. Sie hatte bei Perfection 634 000 Punkte angehäuft.

Spüre die Freude darüber, dass du dein Potenzial nutzt! Deine Ziele sind keine Träume – sie sind real, greifbar und du kannst, wirst und sollst sie erreichen, um das zu sein, was dir zusteht – perfekt!

Eine SMS auf ihrem Handy:

Ich kann nicht glauben, dass Reina uns das angetan hat! Wie konnte sie so rücksichtslos sein?

Nach zwanzig Minuten ohne ihr Handy machten sich bei Leena Entzugserscheinungen bemerkbar. Ich händigte es einem ihrer Leibwächter aus, der mich argwöhnisch musterte, aber ich ging schnell weiter, entschwand seinem Blick und seinem Gedächtnis.

Ich bin nicht unsichtbar, sondern eher das Opfer einer Art Scheibenwischerfunktion in der menschlichen Wahrnehmung, die nur mich betrifft.

»Wir alle haben Perfection!«, ließ Suzy-Sandy-Sophie oder so ähnlich mich bei einer gemeinsamen Aromatherapie-Sitzung in vertraulichem Flüsterton wissen. »Sogar die Prinzessin! Ich komme aus Ogema, Wisconsin, und mein Vater hat gebrauchte Küchengeräte aus der Garage verkauft, aber jetzt bin ich hier und sitze mit gekrönten Häuptern an einem Tisch, aber man darf sich das nicht zu Kopf steigen lassen, weil das sind auch alles Menschen wie wir, wirklich, obwohl sie Muslime sind.«

Ich lächelte ihr ins Gesicht und sagte: »Sie sind eine abgrundtief dumme Person, wissen Sie das?«

Ihr blieb vor gekränkter Empörung der Mund offen stehen, doch bevor sie sich gefasst hatte, war ich schon nach draußen gegangen, in das Abkühlungsbecken gestiegen und untergetaucht. Mein Kopf schmerzte von dem Kälteschock, aber ich zählte verbissen bis fünfzig, tauchte kurz auf, um Luft zu schnappen, ließ mich wieder sinken und zählte rückwärts von fünfzig bis null.

Warum hatte ich das gesagt?

Ein Lapsus, der einem Profi wie mir nicht unterlaufen dürfte, erst recht nicht in der Ausübung seines Berufs. Ich schaute zu, wie die Gänsehaut sich über meinen Körper ausbreitete, spürte den zunehmenden Druck hinter der Nase und haderte mit mir selbst.

Selbstbeherrschung, immer, in jeder Situation. Disziplin als oberstes Gebot.

Bei meiner Rückkehr in den Aromatherapieraum war Suzy-Sandy immer noch da. Sie lag auf einem weißen Handtuch, öffnete ein Auge, als sie mich hereinkommen hörte, sah nichts Bedrohliches und schloss es wieder.

»Hi.« Ich setzte mich auf die Bank ihr gegenüber. »Ich bin Rachel, ich bin gerade erst angekommen. Wie heißen Sie?«

Am Abend begegnete ich Leena zum allerersten Mal, wie schon an fünfzehn Abenden vorher, und da ich inzwischen Übung hatte, begann ich ohne Umschweife mit: »Ich liebe Ihr Kleid!«

Vorige Versuche: Ich bin fasziniert von dieser unvergleichlichen Stadt. Ich arbeite im Finanzwesen. Ich möchte mehr über Perfection wissen. Ich mache eine Reportage über Frauen in Dubai. Ich kannte Reina, mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust.

Nichts hatte funktioniert, nur die Erwähnung von Perfection hatte ein kurzes Aufflackern von Interesse hervorgerufen. Manchmal stimmt es einfach, dass die plumpe Methode die beste ist, und deshalb:

»Ich liebe Ihr Kleid!«

»Wirklich? Es ist fantastisch, nicht wahr?«

»Vera Wang?«

»Ja! Und Sie …?«

»Dior.«

»Ich verehre Dior.«

»Wer nicht.«

Hohle Worte.

Ich bin mein Lächeln.

Ich bin meine Lippen.

Ich halte beim Sprechen den Kopf gesenkt, sodass ich von unten heraufschaue, dadurch wirken meine Augen größer, runder, gewinnender. Tiere lesen Tiere. Mein Schmuck, mein Kleid, mein Körper, sie sprechen für mich, meine Haut, fast so dunkel wie die meiner Mutter, dazu der Duft des perfekten Parfums für den perfekten Abend am Meer. Der erste Eindruck zählt, wenn er das einzige Pfund ist, mit dem man wuchern kann.

Ich bin das entzückte Kräuseln in meinem Augenwinkel. Ich bin die Frau, die sie gern in mir sehen möchte.

»Ich bin verrückt nach Mode«, sagte ich mit meinen glänzenden Lippen. »Und Sie sind hier die Frau mit dem besten Modegeschmack, bei Weitem.«

Informationen driften durch mein Gehirn.

Vera Wang: Modedesignerin, ehemalige Eiskunstläuferin.

Al Maktum: Herrscherfamilie von Dubai, Nachfahren der Al-Falasi aus der Stammeskonföderation der Bani Yas.

»Sie sind entzückend«, rief Leena aus. »Ich freue mich sehr, dass wir uns kennengelernt haben.«

Hat man sein Opfer ausgemacht, behalte man es in Sichtweite. Erst wenn Menschen mich nicht mehr sehen, vergessen sie mich.

Ich heftete mich an Leenas Fersen, wurde Teil ihres Gefolges, kicherte über ihre Scherze, äußerte meine Ansichten über Mode, Prominente, Reisen. »Die perfekten Freunde, die perfekten Kleider, die perfekten Worte, der perfekte Urlaub!«, rief sie aus, und rings um sie herum wurde gelacht.

»Ich arbeite für Prometheus«, erzählte ein Mann in einem weißgoldenen Nehru-Anzug, in der Hand einen eisgekühlten Cocktail. »Wir möchten wirklich, dass Perfection gut ist für die Menschen, dass es ihnen hilft, ein besseres Leben zu führen. Mit der richtigen Anleitung kann jeder Mensch perfekt sein!«

Ich nickte und lächelte und dachte an eine andere Art von richtig, samyac in Sanskrit, dargelegt von einem seit Langem toten indischen Prinzen. Richtige Einsicht, richtige Gesinnung, richtige Rede, richtiges Handeln, richtiger Lebenserwerb, richtiges Streben, richtige Achtsamkeit, richtige Konzentration. Der achtfache Pfad – auch sein Ziel ist Perfektion, nur auf einer anderen Ebene.

Leena und ich kreisten durch einen Saal mit Goldgitterwerk, Marmorfußboden, frischen Blumen – fliederfarbenen Orchideen mit weißen Sprenkeln. Eine Party in vollem Gang, kaum ein Kopftuch in Sicht, Männer und Frauen in unbefangenem Umgang miteinander, an einer Wand ein Banner: Die Zukunft ist Perfection. Die Kellner waren Inder und Bangladescher aus den in der Wüste verborgenen Arbeitercamps. Expats überall.

»Ursprünglich hatte ich mich auf Staatsanleihen spezialisiert, aber jetzt bin ich umgestiegen auf internationale Warentermingeschäfte.«

»… das Problem bei Versicherungen ist …«

»Warum reden die immer von Steueroasen? Ich meine, wissen die nicht, wie die Presse auf so ein Wort reagiert?«

»… Öl ist nicht attraktiv, wenn man längerfristig plant. Klar, im Moment kann man damit das große Geld verdienen, aber für meine Kinder sehe ich eine Zukunft im digitalen Rechtemanagement …«

Die Bevölkerung in den Vereinigten Arabischen Emiraten besteht zu 75 bis 85 Prozent aus Expats. Welche Auswirkungen haben so viele Landfremde auf eine Gesellschaft? Volvos in Abu Dhabi? Abends schön ausgehen zu McDonalds? Oder keilt die Kultur zurück und beschwört alte Traditionen, die Gedichte von Dhu al-Rummah, den Gesang von Umm Kulthum, die Worte der Hadithe, die Sitten und Gebräuche der Wüstenvölker?

Von beidem etwas, wahrscheinlich.

Umm Kulthums Lieder neu interpretiert im Stil von Beyoncé.

Ich zählte goldene Krawattennadeln.

Ich zählte Smartphones.

Ich zählte die Schritte bis zur Tür.

Ich ließ den Blick schweifen und erspähte das Kollier, das zu stehlen ich gekommen war. Nicht mehr in seinem berührungsempfindlichen, bewegungsempfindlichen, temperaturempfindlichen Sicherheitskoffer, sondern am Hals von Shamma bint Bandar, die eben einen Mann in einem eleganten schwarzen Anzug mit Wangenkuss begrüßte und ihn zu seinem hart erarbeiteten Erfolg beglückwünschte. Hier, an diesem Abend, erfüllte der Chrysalis seine Bestimmung: Eitelkeit macht Menschen verwundbar.

»Ich habe gerade mit meinen Treatments angefangen«, verkündete euphorisch eine Frau auf zwölf Zentimeter hohen Stöckelschuhen unter unglaublich schmalen Knöcheln. Je nach Lichteinfall sah man an den Waden die haarfeine silberne Linie vom Schnitt des Chirurgen glänzen. »Es ist unglaublich, einfach unglaublich. Sie helfen mir, die Welt mit neuen Augen zu sehen!«

Ihr Kleid hatte tiefe Wasserfallausschnitte, vorn, hinten, an den Seiten und bewahrte sich vor dem völligen Herabfallen nur durch einige strategisch platzierte dünne Träger auf den Schultern. Ihr Gesprächspartner trug das traditionelle weiße Kopftuch, von einer goldenen Kordel gehalten, und die Dishdasha, ebenfalls weiß, dazu einen mit Rubinen besetzten Schmuckdolch; ein pechschwarzer Bart umrahmte sein Kinn in einem messerscharf ausrasierten V. Unwillkürlich erwartete ich bei diesen beiden ernsthafte Kommunikationsprobleme, aber nein, er stimmte begeistert zu: »Meine erste Sitzung war fantastisch. Mein Chauffeur kam anschließend herauf, und ich sah ihn wie zum ersten Mal. Nicht einfach ihn, sondern ihn.«

Ich zog weiter meine Kreise.

Schmuck von einem menschlichen Träger zu stehlen ist für mich einfacher, als ihn aus einer Stahlkammer zu bergen. Überwachungskameras konservieren mein Gesicht, man braucht Experten, um die Tür zu öffnen, die Bewegungssensoren wollen getäuscht werden. Mein Gebiet ist nicht der groß angelegte Coup, sondern der schnelle Zugriff, allein, ohne Komplizen, höchstes Risiko, das jeden abschrecken würde, der fürchten müsste, dass sein Gesicht erkannt wird.

Ich schlendere, schaue, wäge ab.

Zähle die Sicherheitsleute in auffälligem Schwarz – elf – und ihre diskreteren Kollegen, die sich unter die Gäste gemischt haben – vier, soweit ich erkennen kann.

Ich zähle jordanische Scheichs in weißen Gewändern, saudische Prinzen in eleganten Seidenanzügen, Gäste aus der amerikanischen Botschaft, deren Hemdenkragen unaufhaltsam aufweichen. Chinesische Investoren knipsen Selfies vor der Kulisse des in den Festsaal integrierten Wasserfalls, lächeln in die Kameralinse des Smartphones am Ende eines Stocks.

Ich zähle Frauen, die lieber nicht hier wären, deren Münder lächeln, ihre Augen jedoch nicht. Ich zähle Armbanduhren, die mehr kosten, als die Kellner, die sie neidvoll betrachten, in einem ganzen Jahr verdienen, und wie oft ich das Wort »Fairness« herausposaunt höre (neununddreißigmal).

Ich zähle Überwachungskameras.

Ich zähle die Schritte bis zu Prinzessin Shamma und dem 2,2-Millionen-Dollar-Klunker an ihrem Hals. Mein Interesse an Leena ist erloschen, sie hat mit der Einladung zu dieser Party ihren Zweck erfüllt und ist schon ziemlich angesäuselt. Ihre Tante nicht.

Bereit?

Ich zähle Sekunden, manövriere mich in die bestmögliche Ausgangsposition für die Aktion, lockere die Zehen in den albernen, hochhackigen Sandaletten, die im entscheidenden Moment nur hinderlich sein werden.

»Entschuldigung?«

Die Frau spricht Englisch mit einem schwachen amerikanischen Akzent, wie man ihn sich auf einer internationalen Schule aneignet, keinerlei regionale Färbung, klar artikuliert. Ich schaue sie überrascht an. Sie trägt ein chinesisch inspiriertes Kleid mit Stehkragen, silberne Drachen auf schwarzem Grund, und das lackschwarze Haar auf dem Kopf aufgetürmt, mit einer kunstvollen Nachlässigkeit, die viel Geld gekostet haben muss. Armreif und Ohrgehänge aus Silber, schwarzer Mascara, abwartendes Lächeln. Die dunkle Umrandung verleiht den Augen Tiefe, der lang herabhängende Ohrschmuck streckt den Hals. Nach einer durchfeierten Nacht wäre sie ein blasses, vogelzartes Geschöpf, aber hier und jetzt ist sie Mondschein auf Stilettos.

»Sind Sie ohne Begleitung hier?«, fragt sie. »Kennen Sie jemanden von den Gästen?«

Erster Gedanke: Security? Wer sonst hätte einen Grund, mich so lange zu beobachten, dass er mein Alleinsein bemerkt, ohne zwischendurch meine Anwesenheit zu vergessen? Aber sie wahrt präzise den Höflichkeitsabstand – nahe genug, um sich zu verständigen, aber nicht so nahe, dass der andere sich bedrängt fühlen könnte –, hält den Kopf leicht zur Seite geneigt und lächelt weiterhin freundlich.

»Ich … nein«, murmele ich. »Ich kenne niemanden.«

»Sind Sie Britin?«

»Ja.«

»Beruflich in Dubai?«

»Ja. British Council.«

Eine Lüge, schnell, naheliegend. Ich bin hier, um britische Lebensart zu verbreiten. Um die Worte Shakespeares, die Entstehungsgeschichte von Cricket, die Erinnerungen an die Kolonialzeit und den Geschmack von Fish and Chips in die Welt zu tragen. Ich bin ein Symptom des guten Willens. Ich bin ein Adjunkt nationaler Arroganz. Wer weiß?

Die Frau lächelt, sagt nichts.

Ich kapituliere. »Und was tun Sie hier?«

»Ich bin in der Forschung tätig.«

»Auf welchem Gebiet?«

»Ich studiere das menschliche Gehirn.«

»Das hört sich … bedeutend an.«

Zum ersten Mal ein Zucken im Mundwinkel, das ein Lächeln werden könnte. »Alles Denken ist Feedback und Assoziation. Unter dem Einfluss von negativem sozialen Stress reagiert der Körper wie auf eine physische Bedrohung. Kapillaren ziehen sich zusammen, die Herzfrequenz steigt an, die Atmung wird schneller, Muskeln verkrampfen, man beginnt zu schwitzen. Hoher Blutdruck tötet Charisma. Das Erleben gesellschaftlicher Ablehnung bewirkt hirnphysiologische Vorgänge, die sich etablieren. In der Folge werden zwischenmenschliche Kontakte mit Angst besetzt. Eine Kette von Vorannahmen entsteht, die dazu führt, dass soziale Systeme als bedrohlich empfunden werden, was wiederum den Angstreflex auslöst. Alles Denken ist Feedback, manchmal wird dieses Feedback überlaut. Gehören Sie zu den 106?«

»Ich weiß nicht, was das ist.«

Ein Aufflackern von Erstaunen, dann: »Haben Sie Perfection?«

»Was? Ich … nein.«

»Verraten Sie das bloß nicht meinem Bruder.«

»Ist Ihr Bruder …«

»Er will eine Version entwickeln, die islamische Tugenden fördert. Fünftausend Punkte für eine Hadsch, fünfhundert Punkte für jede direkte Spende an eine Wohltätigkeitsorganisation und so weiter. Ich sagte ihm, dass ich nicht glaube, dass Gott durch Belohnungsalgorithmen und Einkaufsgutscheine seine Werke tut, aber man sieht ja …« Eine leichte Aufwärtsbewegung der Hände, die Innenflächen nach oben gekehrt, wie um den Raum von seinem Fundament zu heben und in Augenschein zu nehmen. »Wie es scheint, läuft alles … sehr gut.«

Sie glaubte einmal zu wissen, was »sehr gut« bedeutet, aber nach dem Ausdruck ihrer Augen zu urteilen, bedingen neue Zeiten neue Definitionen.

Ich öffne den Mund, um zu sagen: Oh, wirklich, das ist faszinierend – aber die Zeit reicht nicht aus. Der vor neun Tagen implantierte Virus wird auf die Sekunde genau aktiv und legt dreißig Prozent der Stromversorgung Dubais lahm.

Ein Flackern der Beleuchtung, die Lampen verglimmen, erstrahlen wieder, als die Notgeneratoren des Hotels anspringen. Die Hintergrundmusik sinkt ab, für den kurzen Moment der Stille hängen die nackten Stimmen überlaut im Raum, bis die anflutende melodische Kulisse sie wieder umfängt. Der Blick der Frau fliegt zur Decke, dann aus dem Fenster über die Wasserfläche zum jenseitigen Ufer, wo im Lichtermeer kleine und große dunkle Lücken klaffen.

Dreißig, neunundzwanzig, achtundzwanzig, siebenundzwanzig …

»Ein Transformatorenausfall«, meint sie. »Wahrscheinlich nur eine Sicherung.«

»Eine Freundin von mir hat Perfection genutzt«, sage ich und bin erstaunt, meine Stimme zu hören, ihren Blick zu mir zurückkehren zu sehen. »Damals habe ich nicht geahnt, dass sie unglücklich sein könnte.«

»Das tut mir leid. Wie hieß sie?«

»Reina.« … neunzehn, achtzehn, siebzehn, sechzehn …

Wieder mache ich den Mund auf, um etwas hinzuzufügen, eine banale Bemerkung, und ertappe mich dabei, dass ich ihr stattdessen die Hand hinstrecke, die sie ergreift. »Ich bin Hope.«

»Filipa«, sagt sie. »Sie sind viel interessanter, als Sie vorgeben zu sein.«

»Und Sie viel mehr, als die Leute glauben?«

Sie klemmt die Unterlippe zwischen die Zähne und schaut sinnend zur Decke, wie um einen bestimmten glänzenden Seidenfaden in einem Gewirr von Spinnweben ausfindig zu machen. »Ganz genau. Das denke ich, ja.«

… sechs, fünf, vier …

Sieben Schritte bis zu Leenas Tante, der Verschluss des Kolliers ist kein Problem, ich habe in der letzten Nacht drei Stunden mit geschlossenen Augen an dem gleichen Modell geübt. Drei Personen zwischen mir und meinem Ziel, jetzt vier, die Bewegungsströme im Saal sind gegen mich.

Ich setze an, um etwas Tiefsinniges zu äußern, doch in diesem Moment geht in dem Labyrinth der Flure im Servicebereich mein Klümpchen Semtex hoch.

Die Detonation verursacht keine merkbare Erschütterung, die Ladung war nur eben stark genug, um die Kabel zu verschmoren, an denen sie angebracht war. Schlagartige Dunkelheit, wie eine würgende Hand am Hals. Nur wenige Augenblicke, bis jemand einen Anschlag vermutet, wenige Minuten, bis Techniker den Fehler gefunden haben. Bei einem meiner nächtlichen Rundgänge als Putzfrau hatte ich festgestellt, dass die Generatoren darauf ausgerichtet sind, Erdbeben und Wirbelstürmen zu widerstehen. Man wird den Schaden im Handumdrehen behoben haben.

Im Saal kaum eine Reaktion – das ein oder andere »Huch!«, ein spitzer Schreckenslaut, aber kein Geschrei, keine Panik. Stromausfälle kommen vor – damit muss man leben.

Ich drehe mich um, strecke die Hände aus, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, ertaste meinen Weg zwischen Seide und Samt, vorbei an Spitzen und Perlen, zähle Schritte, fünf, sechs, sieben, keine Hast, bis meine Hand eine Taille streift und ich höre, wie die Person scharf den Atem einzieht.

»Prinzessin Shamma?«, frage ich mit dem Akzent meiner Mutter.

»Ja?«

Ich greife mit einer Hand ihren Unterarm, halte ihn fest und öffne mit der anderen den Verschluss des Kolliers. Kinderleicht. Routine. Sie ist überrascht, aber nur von der unerwarteten Berührung an ihrem Arm. Das Auge folgt immer der großen Gebärde, der Körper reagiert immer auf den stärksten Reiz – jeder Zauberkünstler weiß das.

Ich pflücke das Kollier von ihrem Hals, lasse ihren Arm los und entferne mich ohne Eile.

Es vergingen siebenundvierzig Sekunden, bevor Leenas Tante anfing zu schreien.

10

Ich war nicht immer so, wie ich jetzt bin.

Früher einmal hatte ich einen Platz im Gedächtnis der Menschen.

Ich hatte Freunde und Familie, Lehrer und Hausaufgaben.

Ich war schlecht in der Schule und machte mir nichts daraus.

»Mit deiner Einstellung wirst du es im Leben nie zu etwas bringen«, sagte der Erdkundelehrer.

Und der in Mathe: »Das Fach ist nicht deine Stärke, oder?«

»Schreib das jetzt auf!«

Eines Tages, wir hatten Englisch, wurden wir aufgefordert, eine Minute lang über ein zufälliges Thema zu referieren. Das Mädchen vor mir, Emma Accrington, zog den Begriff Großraumbüro aus dem Hut auf dem Lehrertisch.

»Ich weiß nicht, was das ist«, gestand sie fast weinend, während die Blicke der ganzen Klasse auf ihr ruhten. »Ich könnte mir vorstellen, das ist ein Büro, das sich um große Räume kümmert … wie Bahnhöfe … oder Turnhallen vielleicht …«

Die Klasse grölte, und sie lachte mit, weil ihr die Absurdität des Ganzen bewusst war, und als der Lehrer mich als Nächste aufrief, hatte ich den Lachanfall noch nicht überwunden und brachte kein Wort zu meinem Thema – Gassi gehen – heraus.

»Findest du dich komisch?«, fragte die Lehrerin, während sie den Eintrag ins Klassenbuch schrieb. »Wirst du hier jemals etwas Wertvolles beitragen?«

Wertvoll: aufgrund bestimmter Eigenschaften begehrenswert, kostbar, nützlich sein. Geprägt von guter Absicht und Humorlosigkeit, verdient Respekt und Anerkennung.

Sinnverwandt: Charakter, Prinzipien, Rechtschaffenheit, Mut, moralische Integrität, Empathie.

Gegenteil: wertlos, unnütz. Nichts. Niemand.

Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich durch einen grauen Wintertag nach Hause schlich und wusste, dass ich wertlos und unnütz war.

Mein Zeugnis war ausgegeben worden, und mein Vater nahm es schweigend zur Kenntnis. Ich wartete auf das Donnerwetter, aber es kam nicht. Dafür fiel meine Mutter über mich her, überschüttete mich mit Vorwürfen und malte mir unter Tränen die Zukunft in düstersten Farben.

Ihre Haut war dunkel wie Mahagoni, das Haar an den Schläfen bereits ergraut und so kurz geschnitten, dass es wie eine enge Kappe um ihren Kopf lag. Zum Kochen band sie eine mit Möhren und Blumenkohlköpfen bedruckte Schürze um, und sie kochte an fünf Abenden die Woche, außer Paps hatte Nachtschicht, dann stellte er sich an den Herd, bevor er zum Dienst fuhr. Als ich zehn war, verkündete sie: »Jetzt lernst du kochen!«, und ihr Ton verriet mir, dass Widerspruch zwecklos war. Nyaring Ayun-Arden, meine Mutter, koordinierte den Kundenservice im städtischen Wohnungsamt und war eine gute Köchin, wenngleich Sardinen für sie das Beste waren.

»Ist das nicht großartig!«, rief sie aus. »Fisch, in einer Dose, für sechzehn Pence!«

Mein Vater erzählte, er habe meine Mutter bei einer städtischen Veranstaltung kennengelernt.

Meine Mutter lachte. »So nennst du das!«

Ich hielt das für einen dieser lahmen Erwachsenenscherze, bis eines Tages meine Tante Carol mir zuflüsterte: »Deine Mutter ist zu Fuß durch den Sudan gewandert, durch ganz Ägypten und bis nach Istanbul, kam im Laderaum eines Lastwagens in dieses Land und fand Arbeit in einer Hotelwäscherei, aber bald stand sie wieder auf der Straße und musste betteln, weil die Betreiber der Wäscherei keine Lust hatten, illegalen Immigranten den Mindestlohn zu zahlen. Dein Vater hat sie aufgelesen, für eine Nacht in eine Zelle gesteckt, ihr einen Becher Tee gegeben und eine Fertigmahlzeit aus der Mikrowelle. Drei Jahre später war sie die Chefin der Rezeption im Wohnungsamt in der Stadtmitte, und er war grade zum Sergeant befördert worden. Dein Vater hatte sie vergessen, aber sie nicht ihn, und das war sein Glück.«

In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, brachte auch die Schwester meiner Mutter, im Sudan zurückgelassen, eine Tochter zur Welt und nannte sie Sorrow – Kummer. Meine Mutter, die davon nichts wusste, vielleicht nicht einmal wusste, dass ihre Schwester noch am Leben war, nannte mich Hope – Hoffnung. Die Mitglieder ihrer Familie waren Nuer, doch um ihre Zukunftschancen zu verbessern, hatte mein Großvater darauf bestanden, dass sie alle Arabisch lernten. Er hoffte, seine Kinder würden später im öffentlichen Dienst unterkommen. Die Hoffnung erfüllte sich nicht, aber meine Mutter sang arabische Wiegenlieder und schimpfte auf Arabisch und hielt mir, während sie im Zimmer auf und ab ging, Vorträge auf Arabisch, immer begleitet von ihrem Lieblingsspruch, erst in der einen, dann in der anderen Sprache: »Du wirst mehrere Sprachen beherrschen und die Möglichkeiten haben, die ich nicht hatte!«

Als Kind empfand ich diese Worte als Fluch. Meine Mutter hatte keine Möglichkeiten gehabt und zwang nun mich, ihre Tochter, das Leben zu leben, das ihr versagt geblieben war. Erst später, nachdem ich meine Familie verloren hatte, begriff ich, was sie mir wirklich hatte sagen wollen.

»Ein Polizist, der eine Immigrantin heiratet, besonders in der damaligen Zeit«, sagte meine Tante versonnen, »das lässt ahnen, wie groß die Liebe war. Aber dein Vater ist schon immer in erster Linie ein guter Mensch gewesen und erst in zweiter Polizist, deshalb ist er auch nicht so schnell befördert worden wie die anderen. Und deine Mutter … Sie hat immer das Gute in den Menschen gesehen. Deshalb hat sie dich Hope genannt.«

11

Formloser Rückzug, barfuß, vom Schauplatz eines Juwelenraubs in Dubai.

Ich verließ das Hotel nicht, nicht sofort. Andernfalls hätte jemand mit viel Geduld sich das Filmmaterial vornehmen und vergleichen können, wer vor dem Stromausfall anwesend war und wer fehlte, nachdem das Licht wieder anging, und mein Gesicht wäre übrig geblieben.

Die meisten Polizeibehörden haben die Zeit dafür nicht, und Zeit ist Geld, aber die Polizei in Dubai untersteht dem Kommando von Prinz Soundso, der mit einem Prinzen Soundso verwandt ist, und während man bei einem gewöhnlichen Diebstahl, einer geringfügigen Körperverletzung und einem minderschweren Fall von häuslicher und/oder sexueller Gewalt gern mal ein Auge zudrückt, aus Zeitgründen und Mangel an Energie, vergreift sich niemand ungestraft an einem Mitglied des Herrscherhauses.

Folglich wartete ich ab.

Ich versenkte die Diamanten in einem Plastikbeutel verpackt im Spülkasten der dritten Kabine der Damentoilette im Erdgeschoss. In Hollywoods Krimikomödien würde nun unweigerlich ein trotteliger Einfaltspinsel mit seinem nervigen Sprössling über die Klunker stolpern, es folgten unglaublich putzige Verwicklungen, die große Liebe würde gefunden, und mir bliebe die Rolle der Schurkin mit Sex-Appeal, denn es ist erzähltechnisch unmöglich, dass ich etwas anderes sein könnte als ein männermordendes Luder oder kriminelles Genie.

In der Wirklichkeit begannen die Gesetzeshüter gleich nach ihrem Eintreffen mit der Befragung des Personals, zerrten erwachsene Männer am Hemdkragen herum und brüllten die philippinischen Zimmermädchen an, derweil sich die Partygäste schockiert und aufgewühlt zusammendrängten, denn dieses Ereignis war dramatischer als alles, was sie seit Langem erlebt hatten, und in den nächsten Jahren würde es Gesprächsthema Nummer eins bei jedem gesellschaftlichen Event sein.

In der Lobby schrie ein Mann in sein Handy. Die Frau in Schwarz stand hinter ihm und schaute mit ausdrucksloser Miene zu.

»Bei meiner verdammten Party!«, heulte er. »Bei meiner verdammten Party hat ihr jemand das Kollier vom Hals geklaut. Wissen Sie, was das für uns bedeutet, haben Sie die leiseste Ahnung, um was für Summen es hier geht …?!«

Die Lifttüren stießen zusammen, und ich konnte die Szene nicht weiterverfolgen.

In meinem Schlafzimmer lege ich mich aufs Bett, auf den Rücken, die Arme gekreuzt auf der Brust.

Atmen.

Ein.

Aus.

Beobachte die wellenförmige Spiegelung des Wassers an der Zimmerdecke.

Disziplin.

Jeden Tag: eine Form von mentaler oder körperlicher Übung.

Jeden Tag: eine Form von sozialer Interaktion.

Disziplin.

Ich schließe die Augen und atme.

12

Das Vergessen begann, als ich sechzehn war.

Warum gerade dann? Meine Eltern haben mich geliebt, daran besteht kein Zweifel, doch als meine Schwester zur Welt kam, forderte sie vom ersten Schrei an ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Klein-Gracie, die sich im Alter von vier Jahren im Kindergarten mit Masern ansteckte, bei einem Kind aus ihrer Gruppe, dessen Mutter die Ansicht vertrat, der Masernimpfstoff wäre Gift.

»Was habe ich gesagt?«, rief diese Mutter, als meine Schwester mit 41 Grad Fieber in die Notaufnahme eingeliefert wurde. »Sie ist geimpft, und was hat es genützt?«

Ich fürchtete einen Augenblick, meine Mutter würde ihr an die Gurgel springen, und als mein Vater und ich nach Hause fuhren – allein, denn meine Mutter war bei Gracie in der Intensivstation geblieben –, hätte er um ein Haar einen Radfahrer angefahren. Wir standen zehn Minuten auf der Busspur, bis mein Vater sich erholt hatte.

Verdächtige Symptome für eine Maserninfektion sind Husten, Schnupfen und Fieber, erste Gewissheit bringen die später auftretenden Koplik-Flecken: kalkspritzerähnliche weiße Punkte auf der Mundschleimhaut im Bereich der vorderen Backenzähne. Bemerkt man die Anzeichen früh, kann der Arzt die Diagnose stellen, bevor eine Ansteckungsgefahr besteht. Wir hatten sie nicht bemerkt, wir wähnten uns auf der sicheren Seite.

Bei 42 Grad Fieber werden Organe geschädigt. Ich brauchte nicht zur Schule, aber zum ersten Mal wäre ich gern gegangen, um nicht mitansehen zu müssen, wie sich der rote Ausschlag über Gracies Körper ausbreitete.

Nach fünfzehn Tagen im Krankenhaus konnten wir meine Schwester mit nach Hause nehmen, neun Monate später stand fest, dass ihr Gehirn Schaden genommen hatte. Drei Tage, nachdem wir Gracie aus dem Kindergarten genommen hatten, kam die Mutter des ungeimpften Kindes zu uns. Sie stand in der Tür, eine kleine Frau mit einem regenbogenfarbenen Tuch auf dem Kopf, und redete leise mit meiner Mutter, und zuletzt weinte sie und meine Mutter weinte auch, aber es fiel kein lautes Wort, und ich sah sie danach nie wieder.

Ich möchte behaupten, da hat es angefangen, in den Monaten und Jahren nach den Masern.

Langsam, ganz allmählich, verblassten meine Konturen, und die Welt fing an, mich zu vergessen.

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Dreizehn Stunden nachdem ich das Kollier mit dem Chrysalis in der Damentoilette versteckt hatte, nahm ich es wieder an mich und checkte aus dem Hotel aus.