Der Tag der Ameisen - Bernard Werber - E-Book

Der Tag der Ameisen E-Book

Bernard Werber

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Beschreibung

Die Ameisen sind nicht aufzuhalten

Paris, ein Jahr nach den Ereignissen in „Die Ameisen“: Von den insgesamt 17 Menschen, die im Keller von Jonathan Wells‘ Haus verschwunden sind, fehlt weiterhin jede Spur. Was die Ermittler nicht ahnen: diese Menschen sind nach wie vor am Leben – und Gefangene einer gigantischen Ameisenkolonie, deren Kollektivintelligenz dank der Experimenten von Edmondo Wells ins Unermessliche gesteigert wurde. Sie planen die Ausrottung der Menschheit, doch der enge Kontakt zwischen den Ameisen und ihren Gefangenen geht nicht spurlos an den Angehörigen beider Spezies vorüber.

An der Oberfläche geschieht in der Zwischenzeit eine Reihe von grausamen Morden. Die Opfer sind ausnahmslos Chemiker, die an Insektenvernichtungsmitteln forschen. Der junge Kommissar Jaques Méliès wird mit der Aufklärung des mysteriösen Falles beauftragt. Ihm zur Seite steht Laetitia Wells, Jounalistin – und Jonathan Wells’ Tochter …

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Seitenzahl: 680

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Das Buch

Paris, ein Jahr nach den Ereignissen in »Die Ameisen«: Von den insgesamt 17 Menschen, die im Keller von Jonathan Wells' Haus verschwunden sind, fehlt weiterhin jede Spur. Was die Ermittler nicht ahnen: Diese Menschen sind nach wie vor am Leben – und Gefangene einer gigantischen Ameisenkolonie, deren Kollektivintelligenz dank der Experimente von Edmondo Wells ins Unermessliche gesteigert wurde. Sie planen die Ausrottung der Menschheit, doch der enge Kontakt zwischen den Ameisen und ihren Gefangenen geht nicht spurlos an den Angehörigen beider Spezies vorüber.

An der Oberfläche geschieht in der Zwischenzeit eine Reihe von grausamen Morden. Die Opfer sind ausnahmslos Chemiker, die an Insektenvernichtungsmitteln forschen. Der junge Kommissar Jaques Méliès wird mit der Aufklärung des mysteriösen Falles beauftragt. Ihm zur Seite steht Laetitia Wells, Jounalistin – und Jonathan Wells' Tochter …

Der Autor

Bernard Werber, geboren 1962 in Toulouse, begann bereits im Alter von 14 Jahren, Geschichten für Fanmagazine zu schreiben. Er studierte Kriminologie und Journalismus und arbeitete danach zehn Jahre lang als Wissenschaftsjournalist für den Nouvel Observateur. Mit seinem Debütroman »Die Ameisen« gelang ihm auf Anhieb ein weltweiter Erfolg: das Buch wurde von Publikum und Presse gleichermaßen gefeiert, verkaufte sich über zwei Millionen Mal und wurde mit dem Prix des lecteurs de Science et Avenir ausgezeichnet. Die beiden Fortsetzungen, »Der Tag der Ameisen« und »Die Revolution der Ameisen«, waren nicht minder erfolgreich. Bernard Werber lebt und arbeitet in Paris.

BERNARD WERBER

Der Tag der Ameisen

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

LE JOUR DES FOURMIS

Aus dem Französischen von Michael Hofmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1992 by Bernard Werber

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Thomas Menne

ISBN 978-3-641-24129-2V002

www.penguinrandomhouse.de

 

Alles ist in einem – ABRAHAM

Alles ist Liebe – JESUS CHRISTUS

Alles ist Ökonomie – KARL MARX

Alles ist sexuell – SIGMUND FREUD

Alles ist relativ – ALBERT EINSTEIN

Und dann?

EDMOND WELLS

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens

ERSTES ARKANUM

DIE MEISTER AM FRÜHEN MORGEN

1. Panorama

Dunkelheit.

Ein Jahr ist vergangen. Am mondlosen Himmel der Augustnacht pulsieren Sterne. Endlich verschwimmt die Finsternis. Licht. Nebelschleier legen sich über den Wald von Fontainebleau. Bald löst eine große purpurne Sonne sie auf. Jetzt funkelt alles vor Tau. Die Spinnweben verwandeln sich in orientalische Deckchen voll orangefarbener Perlen. Es wird ein heißer Tag werden.

Unter dem Gezweig wimmeln winzige Wesen. Auf den Gräsern, unter den Farnen. Überall. Sie gehören allen Arten an, und sie sind zahllos. Der Tau, das reine Nass, wäscht die Erde, bereitet sie vor auf das merkwürdigste Abent…

2. Drei Spioninnen im Herzen

Rasch, wir müssen weiter.

Der Duftbefehl ist unmissverständlich: Keine Zeit mehr für müßige Beobachtungen. Die drei dunklen Silhouetten eilen den Geheimgang entlang. Diejenige, die an der Decke läuft, lässt ihre Fühler locker über den Boden streifen. Man bittet sie, herunterzukommen, aber sie versichert, sich so wohler zu fühlen. Sie betrachtet die Realität gern auf den Kopf gestellt.

Niemand besteht darauf. Warum auch? Das Trio teilt sich auf, um in einen engeren Gang einzutauchen. Ehe sie den kleinsten Schritt wagen, sondieren sie jeden Winkel. Im Augenblick wirkt alles so ruhig, dass es fast schon verdächtig ist.

Endlich sind sie im Herzen der Stadt angekommen, einer zweifellos streng überwachten Zone. Ihre Schritte werden kürzer. Die Wände des Gangs sind zunehmend glatt poliert. Sie rutschen auf Stückchen welken Laubs aus. Ein Gefühl von Beklommenheit überflutet alle Gefäße ihrer roten Panzer.

Sie sind nun im Saal.

Sie schnuppern die Gerüche darin. Der Ort riecht nach Harz. Koriander und Kohle. Dieser Raum ist eine ganz neue Erfindung. In allen anderen Ameisenstädten dienen die Kammern nur dazu, die Nahrung oder die Eier zu lagern. Doch letztes Jahr kurz vor dem Winterschlaf hat jemand einen Vorschlag verkündet:

Wir dürfen unsere Gedanken nicht mehr in Vergessenheit geraten lassen.

Die Intelligenz des Volkes wandelt sich zu rasch.

Die Gedanken unserer Vorfahren sollen unseren Kindern nutzen.

Die Vorstellung, Gedanken zu bewahren, war bei den Ameisen ganz neu. Dennoch hatte sie eine große Mehrheit der Bürgerinnen begeistert. Jede war herbeigekommen, um die Pheromone ihres Wissens in die dafür vorgesehenen Behälter zu entleeren. Dann hatte man ihre sämtlichen Kenntnisse nach Themen sortiert und von da an in dieser riesigen Kammer gesammelt: in der »Chemischen Bibliothek«.

Die drei Besucherinnen wandern trotz ihrer Nervosität voller Bewunderung hindurch. Die Zuckungen ihrer Antennen verraten ihre innere Erregung.

Um sie herum sind in Sechserreihen fluoreszierende eiförmige Behälter aufgereiht, umgeben von Schwefeldämpfen, die ihnen das Aussehen warmer Eier verleihen. Doch diese durchsichtigen Schalen bergen kein werdendes Leben. In ihre Sandstollen gezwängt, strotzen sie vor Duftberichten über Hunderte von katalogisierten Themen: die Geschichte der Königinnen der Ni-Dynastie, allgemeine Biologie, Zoologie (viel Zoologie), organische Chemie, oberirdische Geografie, Geologie der unterirdischen Sandschichten, Strategie der berühmtesten Massenschlachten, Territorialpolitik der vergangenen zehntausend Jahre. Man findet dort sogar Küchenrezepte oder Pläne der verrufensten Winkel der Stadt.

Antennenbewegungen.

Schnell, schnell, beeilen wir uns, sonst …

Rasch reinigen sie mit Hilfe der hunderthaarigen Bürste ihrer Ellbogen ihre Fühler. Sie machen sich daran, die Kapseln zu untersuchen, in denen sich die Gedächtnispheromone stapeln. Um sie genau zu identifizieren, fahren sie mit dem empfindlichen Ende ihrer Antennen über die Eier.

Auf einmal erstarrt eine der drei Ameisen. Sie hat das Gefühl, ein Geräusch gehört zu haben. Ein Geräusch? Jede von ihnen denkt, dass es diesmal so weit ist, diesmal werden sie enttarnt.

Sie warten fieberhaft. Wer kann das sein?

3. Bei den Saltas

»Mach auf, das ist bestimmt Mademoiselle Nogard!«

Sébastien Salta erhob sich und drehte den Türknauf.

»Guten Tag«, sagte er.

»Guten Tag, ist es fertig?«

»Ja, es ist fertig.«

Die drei Salta-Brüder holten gemeinsam eine große Kiste aus Polystyrol und hoben daraus eine oben offene und mit braunen Kügelchen gefüllte Glaskugel. Alle beugten sich über den Behälter, und Caroline Nogard konnte sich nicht zurückhalten, die rechte Hand hineinzustecken. Zwischen ihren Fingern rann ein wenig dunkler Sand. Sie schnupperte an den Körnern, wie sie es bei einem Kaffee mit köstlichem Aroma getan hätte.

»Hat Sie das große Anstrengung gekostet?«

»Ungeheure«, erwiderten wie aus einem Mund die drei Salta-Brüder.

Und einer von ihnen fügte hinzu: »Aber die Mühe hat sich gelohnt!«

Sébastien, Pierre und Antoine Salta waren Hünen. Jeder war wohl um die zwei Meter groß. Sie knieten sich nieder, um selbst ihre langen Finger hineinzustecken.

Die merkwürdige Szene erhellte der orangegelbe Lichtschein dreier Kerzen in einem hohen Leuchter.

Caroline Nogard umwickelte den Glasbehälter sorgfältig mit zahlreichen Schichten aus Schaumgummi und verstaute ihn in einem Koffer. Sie betrachtete die drei Riesen und lächelte ihnen zu. Dann verabschiedete sie sich schweigend.

Pierre Salta stieß einen Seufzer der Erleichterung aus:

»Diesmal schaffen wir's, glaube ich!«

4. Verfolgungsjagd

Falscher Alarm. Es war nur das Rascheln eines welken Blattes. Die drei Ameisen nehmen ihre Untersuchung wieder auf.

Sie beschnüffeln nacheinander die mit flüssigen Informationen vollgestopften Behälter.

Schließlich finden sie, was sie suchen.

Zum Glück ist es ihnen nicht allzu schwer gefallen, es zu entdecken. Sie ergreifen den kostbaren Gegenstand, reichen ihn von Bein zu Bein weiter. Es ist ein mit Pheromonen gefülltes und mit einem Tropfen Kiefernharz hermetisch abgeschlossenes Ei. Sie entkapseln es. Ein erster Duft überschwemmt ihre elf Antennensegmente.

Entschlüsseln verboten.

Perfekt. Es gibt kein besseres Qualitätssiegel. Sie legen das Ei hin und stecken begierig die Antennenspitzen hinein.

Der Dufttext steigt in die verschlungenen Wege ihres Gehirns.

Entschlüsseln verboten.

Gedächtnispheromon Nr. 81

Thema: Autobiographie

Ich heiße Chli-pu-ni.

Ich bin die Tochter von Belo-kiu-kiuni.

Ich bin die 333. Königin der Ni-Dynastie und die einzige Legerin der Stadt Bel-o-kan.

Ich habe nicht immer so geheißen. Ehe ich Königin wurde, war ich die 55. Frühlingsprinzessin. Denn das ist meine Kaste und meine Legenummer.

In meiner Jugend glaubte ich, dass die Stadt Bel-o-kan die Grenze des Universums sei. Ich glaubte, dass wir, die Ameisen, die einzigen zivilisierten Wesen unseres Planeten seien. Ich glaubte, dass die Termiten, die Bienen und die Wespen wilde Völkerscharen seien, die aus bloßem Obskurantismus unsere Bräuche ablehnten.

Ich glaubte, dass die anderen Ameisenarten degeneriert und die Zwergameisen zu klein seien, um uns anzufechten.

Damals lebte ich ununterbrochen eingeschlossen in der Kammer der jungfräulichen Prinzessin, im Inneren der Verbotenen Stadt. Mein einziger Ehrgeiz bestand darin, eines Tages meiner Mutter gleich zu werden und wie sie eine politische Föderation zu errichten, die den Unbilden der Zeit und des Wetters widerstehen würde.

Bis zu dem Tag, an dem ein verletzter junger Prinz, Nr. 327, in meine Kammer gekommen ist und mir eine merkwürdige Geschichte erzählt hat. Er behauptete, eine Jagdexpedition sei von einer neueren Waffe mit verheerender Wirkung gänzlich aufgerieben worden.

Damals verdächtigten wir die Zwergameisen, unsere Rivalinnen, und schlugen im vergangenen Jahr die große Schlacht am Klatschmohnhügel. Sie hat uns mehrere Millionen Soldatinnen gekostet, aber wir haben gesiegt. Und dieser Sieg hat uns den Beweis für unseren Irrtum geliefert. Die Zwerginnen besaßen keine flächendeckende Geheimwaffe.

Danach dachten wir, die Schuldigen seien die Termiten, unsere Erbfeindinnen. Wieder ein Irrtum. Die große Termitenstadt im Osten ist zu einer Geisterstadt geworden. Ein geheimnisvolles Chlorgas hat alle Einwohner vergiftet.

Daraufhin haben wir in unserer eigenen Stadt nachgeforscht und sind dabei leider auf eine Geheimarmee gestoßen, die glaubte, die Gemeinschaft zu schützen, indem sie ihr allzu beängstigende Informationen vorenthielt. Diese Mörderinnen gaben einen bestimmten Felsengeruch ab und behaupteten, die Rolle der weißen Blutkörperchen zu erfüllen. Sie stellten die Selbstzensur unserer Gesellschaft dar. Uns wurde bewusst, dass unser Gemeinschaftsorganismus von einem Immunsystem mit allen Mitteln in Unwissenheit gehalten wurde.

Doch nach der außergewöhnlichen Odyssee der geschlechtslosen Kriegerin Nr. 103 683 haben wir es schließlich durchschaut.

Am östlichen Ende der Welt gibt es …

Eine der drei Ameisen unterbricht die Lektüre. Sie hat das Gefühl, dass noch jemand da ist. Die Rebellinnen verstecken sich, lauern. Nichts rührt sich. Eine Antenne lugt schüchtern aus ihrem Versteck hervor, bald gefolgt von fünf weiteren.

Die sechs Fühler werden zu Radargeräten und vibrieren mit 18 000 Bewegungen pro Sekunde. Alles, was in der Umgebung mit einem Duft behaftet ist, wird sofort identifiziert.

Abermals falscher Alarm. Es ist niemand in der Nähe. Sie nehmen die Entschlüsselung des Pheromons wieder auf.

Am östlichen Ende der Welt gibt es Herden von tausendfach riesigen Tieren. Die Ameisenmythen beschreiben sie mit dichterischen Worten. Doch sie sind mit keiner Dichtung zu beschreiben.

Die Ammen erzählen uns von ihrer Existenz, um uns mit Schreckensgeschichten zum Schaudern zu bringen. Sie sind weitaus schrecklicher.

Bis dahin hatte ich diesen Geschichten von riesenhaften Ungeheuern nicht viel Glauben geschenkt, von Wächtern des Endes des Planeten, die in Fünferherden lebten. Ich glaubte, es handele sich nur um Märchen für jungfräuliche und unbedarfte Prinzessinnen.

Jetzt weiß ich, dass es SIE gibt.

SIE waren für die Zerstörung der ersten Jagdexpedition verantwortlich.

SIE haben die Gase verströmt, die die Termitenstadt vergiftet haben.

SIE haben die Feuersbrunst gelegt, die Bel-o-kan verwüstet und meine Mutter getötet hat.

SIE: die FINGER.

Ich wollte sie übersehen. Aber jetzt kann ich es nicht mehr.

Überall im Wald stößt man auf ihre Anwesenheit.

Jeden Tag bestätigen die Berichte der Kundschafterinnen, dass sie sich ein Stück weiter unserer Welt nähern und sehr gefährlich sind.

Daher habe ich heute die Entscheidung getroffen, die Meinen davon zu überzeugen, einen Feldzug gegen die FINGER zu führen. Es wird eine große bewaffnete Expedition werden, um alle FINGER des Planeten auszurotten, solange es noch Zeit ist.

Die Botschaft ist so aufwühlend, dass sie ein paar Sekunden brauchen, um sie zu verarbeiten. Die drei Spioninnen wollten es wissen. Na schön, jetzt wissen sie es!

Ein Feldzug gegen die Finger.

Es gilt, die anderen um jeden Preis zu warnen. Wenn sie nur noch ein wenig mehr davon erfahren könnten. Gemeinsam tauchen sie ihre Antennen wieder ein.

Um diesen Ungeheuern den Garaus zu machen, schlage ich vor, dass der Feldzug von dreiundzwanzig Legionen Angriffsinfanterie, vierzehn Legionen leichter Artillerie, fünfundvierzig Legionen Nahkampftruppen für jedes Gelände, neunundzwanzig Legionen …

Noch ein Geräusch. Diesmal besteht kein Zweifel mehr. Unter einer Kralle knirscht trockene Erde. Die drei Eindringlinge heben ihre Hinterleiber noch voller geheimer Informationen. Alles ist zu leicht gewesen. Sie sind in eine Falle gelaufen. Sie sind davon überzeugt, dass man sie in die Chemische Bibliothek nur hat vordringen lassen, um sie besser entlarven zu können.

Ihre Beine knicken sprungbereit ein. Zu spät. Die anderen sind da. Die Rebellinnen haben gerade noch Zeit, die Schale mit dem kostbaren Gedächtnispheromon an sich zu reißen und durch einen Quergang zu fliehen.

In der belokanischen Duftsprache wird Alarm geschlagen. Es handelt sich um ein Pheromon, dessen chemische Formel »C8-H18-O« lautet. Die Reaktion erfolgt unmittelbar. Schon ist das Aneinanderreiben der Beine Hunderter von Kriegerinnen zu hören.

Die Eindringlinge flüchten mit dem Bauch am Boden. Es wäre zu schade, jetzt zu sterben, wo sie als einzige Rebellinnen in die Chemische Bibliothek vorgedrungen sind und mit Erfolg das vermutlich wichtigste Pheromon der Königin Chli-pu-ni entschlüsselt haben!

Verfolgungsjagd durch die Gänge der Stadt. Die Ameisen laufen so schnell, dass sie wie bei einer Bobrallye in Spiralen durch die Tunnelröhre kreisen.

Manchmal sprinten sie, anstatt sich wiederaufzurichten, einfach an der Decke weiter. Allerdings sind die Begriffe oben und unten in einem Ameisenhaufen relativ. Mit Krallen kann man überall laufen und sogar rennen.

Wie sechsbeinige Rennwagen rasen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit dahin. Hie und da bricht der Stollen ein.

Es geht auf und ab und rundherum. Flüchtende und Verfolgerinnen springen über einen Abgrund. Alle kommen knapp hinüber, bis auf eine, die strauchelt und abstürzt.

Vor der ersten Rebellin taucht ein schimmernder Schutzschild auf. Sie hat keine Zeit zu begreifen, was ihr geschieht. Unter dem Schutzschild richtet sich die Spitze eines Hinterleibs voller Ameisensäure auf. Der kochendheiße Strahl verwandelt die Ameise sogleich in weichen Brei. Die zweite Rebellin macht entsetzt kehrt und stürzt sich in einen Seitengang.

Verteilen wir uns!, brüllt sie in ihrer Geruchssprache. Ihre sechs Beine wühlen sich tief in den Boden – das kostet Energie. Eine Soldatin erscheint an ihrer linken Flanke. Beide laufen so schnell, dass die Kriegerin ihre Beute weder mit ihren Mandibeln zu fassen bekommt, noch einen gezielten Säurestrahl auf sie richten kann. Darum rammt sie sie und versucht, sie gegen die Wand zu drängen.

Mit einem dumpfen Geräusch prallen die Panzer gegeneinander. Die beiden Ameisen, die mit über 0,1 km/h durch die engen Gänge schießen, stecken beide harte Schläge ein. Sie versuchen einander Krallenhiebe zu versetzen. Sie stechen sich mit den Mandibeln.

Sie rasen mit solcher Geschwindigkeit, dass keine bemerkt, wie der Gang sich weiter verengt und zu einer Tunnelröhre wird, in der die Gejagte und ihre Verfolgerin kollidieren. Die beiden Boliden explodieren, und im weiten Umkreis fliegen Chitinfetzen herum.

Die dritte Rebellin prescht kopfüber an der Decke entlang. Eine Artilleristin nimmt sie aufs Korn und zerschmettert mit einem gezielten Schuss ihr rechtes Hinterbein. Unter dem Schock lässt die Spionin das Ei fallen, in welchem das Gedächtnispheromon der Königin enthalten ist.

Eine Wache klaubt das unschätzbare Objekt auf.

Eine andere feuert zehn Tropfen Säure ab und verflüssigt eine Antenne der Überlebenden. Die Wucht der Salve beschädigt die Decke, und deren Trümmer blockieren vorübergehend den Durchgang.

Die kleine Rebellin kann einen Moment Atem holen, aber sie weiß, dass sie nicht weit kommen kann. Nicht nur, dass sie ein Bein und eine Antenne eingebüßt hat, die Wachen dürften mittlerweile sämtliche Ausgänge versperrt haben.

Schon sind die Soldatinnen hinter ihr. Säurestrahlen werden abgefeuert. Sie verliert ein weiteres Bein, diesmal vorne. Trotzdem läuft sie mit ihren vier übrigen weiter und schafft es, sich in eine Nische des Gangs zu ducken.

Eine Wache zielt auf sie, doch auch die Verletzte verfügt noch über Säure. Sie schwenkt den Hinterleib, geht schnell in Schussposition und feuert auf die Kriegerin. Volltreffer! Die andere war weniger geschickt, sie hat ihr nur das mittlere linke Bein abgetrennt. Nun bleiben ihr nur noch drei. Die letzte der Spioninnen humpelt keuchend weiter. Um jeden Preis muss sie diesem Hinterhalt entkommen und die übrigen Rebellinnen vor dem Kreuzzug gegen die Finger warnen.

Sie ist dort entlang, dort, sendet eine Soldatin, die den verkohlten Kadaver der Duellantin gefunden hat.

Wie kann sie von hier entkommen? Die Flüchtige gräbt sich, so gut sie kann, in die Decke ein. Die anderen dürften kaum daran denken, nach oben zu schauen.

Die Decke ist zweifellos der ideale Ort für einen improvisierten Unterschlupf.

Die Wachen entdecken sie erst bei ihrem zweiten Durchgang, als eine von ihnen etwas von oben herunterträufeln sieht. Das durchsichtige Blut der Rebellin!

Verfluchte Schwerkraft!

Die dritte Rebellin lässt sich zwischen das Geröll fallen und schlägt mit ihren verbliebenen Beinen und ihrer einzigen noch brauchbaren Antenne um sich. Eine Soldatin packt ein Bein von ihr und dreht es so lange, bis es abbricht. Eine andere durchbohrt ihr den Brustkasten mit der Spitze ihrer säbelförmigen Mandibel. Trotzdem reißt sie sich los. Noch bleiben ihr zwei Beine, um sich hinkend davonzuschleppen. Aber ein endgültiges Entkommen gibt es nicht. Aus einer Mauer kommt eine lange Mandibel hervor und trennt ihr mitten im Lauf den Kopf ab. Der Schädel springt auf und rollt den abschüssigen Gang hinunter.

Der Rest des Körpers schafft noch etwa zehn Schritte, ehe er langsamer wird, innehält und schließlich zusammenbricht. Die Wachen sammeln die Stücke ein und werfen sie auf den Schuttplatz der Stadt, zu den Hüllen ihrer beiden Spießgesellinnen. So geht's denen, die zu neugierig sind!

Sie lassen die Leichen zurück wie drei Marionetten, die unglücklicherweise vor Beginn einer Vorstellung kaputtgegangen sind.

5. Es geht los

In der Zeitung Echo am Sonntag:

MYSTERIÖSER DREIFACHMORD

IN DER RUE DE LA FAISANDERIE

Am Donnerstag wurden in einem Wohnhaus in der Rue de la Faisanderie in Fontainebleau drei Leichen entdeckt. Die Gründe für den Tod von Sébastien, Pierre und Antoine Salta, drei Brüdern, die zusammenwohnten, sind unbekannt.

Das Viertel gilt gemeinhin als sicher. Geld oder Wertgegenstände wurden nicht geraubt, Einbruchsspuren waren nicht festzustellen. Bisher wurde auch keine mögliche Tatwaffe gefunden.

Die voraussichtlich heiklen Untersuchungen wurden dem berühmten Kommissar Jacques Méliès von der Kriminalpolizei Fontainebleau anvertraut. Diese seltsame Geschichte könnte für die Fans von Krimirätseln zum Thriller des Sommers werden. Der Mörder wird sich in Acht nehmen müssen. L. W.

6. Enzyklopädie

Schon wieder Sie?

Sie haben also den zweiten Band meiner Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens entdeckt.

Der erste lag gut sichtbar auf dem Pult des unterirdischen Tempels, dieser hier war schwieriger aufzuspüren, stimmt's? Bravo.

Wer sind Sie genau? Mein Neffe Jonathan? Meine Tochter?

Nein, weder der eine noch die andere.

Guten Tag, unbekannter Leser!

Ich würde Sie gern besser kennen. Nennen Sie vor den Seiten dieses Buches Ihren Namen, Alter, Geschlecht, Beruf, Staatsangehörigkeit.

Wofür interessieren Sie sich im Leben?

Was sind Ihre Schwächen?

Ach, gleichviel. Ich weiß, wer Sie sind.

Ich spüre Ihre Hände, die meine Seiten streicheln. Das ist im Übrigen recht angenehm. Auf Ihren Fingerspitzen, in den Windungen Ihrer Fingerabdrücke errate ich ihre geheimsten Eigenschaften.

Alles ist bis in Ihre winzigsten Teile eingeschrieben. Ich nehme dort sogar die Gene Ihrer Vorfahren wahr.

Wenn man bedenkt, dass diese Tausende von Menschen nicht zu früh sterben durften. Dass sie einander verführen, sich paaren mussten, bis es zu Ihrer Geburt kam!

Heute habe ich den Eindruck, als stünden Sie mir direkt gegenüber. Nein, lächeln Sie nicht. Bleiben Sie ganz natürlich. Lassen Sie mich tiefer in Ihnen lesen. Sie sind viel mehr, als Sie sich vorstellen.

Sie sind nicht bloß ein Name und ein Vorname mit einer Sozialgeschichte.

Sie sind 71% klares Wasser, 18% Kohlenstoff, 4% Stickstoff, 2% Kalzium, 2% Phosphor. 1% Kalium, 0,5% Schwefel, 0,5% Natrium, 0,4% Chlor. Plus einem guten Suppenlöffel voll verschiedener Spurenelemente: Magnesium, Zink, Mangan, Kupfer, Jod, Nickel, Brom, Fluor, Silizium. Plus einer Prise Kobalt, Aluminium, Molybdän, Vanadium, Blei, Zinn, Titan, Bor.

Das ist das Rezept Ihres Daseins.

Alle diese Materialien stammen aus der Verbrennung der Sterne, und man kann sie andernorts als in Ihrem Körper finden. Ihr Wasser ähnelt dem irgendeines Ozeans. Ihr Phosphor macht Sie zum Genossen der Streichhölzer. Ihr Chlor ist identisch mit dem, das man zum Desinfizieren von Schwimmbädern benutzt.

Aber Sie sind nicht bloß das.

Sie sind eine chemische Kathedrale, ein erstaunlicher Baukasten mit Mengenverhältnissen, Gleichgewichten und Mechanismen von kaum vorstellbarer Komplexität. Denn Ihre Moleküle setzen sich ihrerseits aus Atomen, Teilchen, Quarks und Vakuum zusammen, das Ganze verknüpft durch elektromagnetische und elektronische Kräfte sowie solche der Gravitation, deren Feinheit Ihr Vorstellungsvermögen übersteigt.

Wie dem auch sei! Wenn Sie es geschafft haben, diesen zweiten Band zu finden, heißt das, dass Sie durchtrieben sind und schon vieles von meiner Welt wissen. Was haben Sie mit den Kenntnissen gemacht, die Ihnen der erste Band geliefert hat? Eine Revolution? Eine Evolution? Gar nichts, vermute ich.

Also machen Sie es sich jetzt bequem, um besser lesen zu können. Halten Sie den Rücken gerade. Atmen Sie ruhig. Entspannen Sie Ihren Mund.

Hören Sie mir zu!

Nichts, was Sie in Raum und Zeit umgibt, ist nutzlos. Auch Sie selbst sind nicht nutzlos. Ihr flüchtiges Leben hat einen Sinn. Es führt nicht in eine Sackgasse. Alles hat einen Sinn. Während Sie mich, der ich hier spreche, lesen, verspeisen mich Maden. Was rede ich? Ich diene jungen vielversprechenden Kerbelschösslingen als Dünger. Die Menschen meiner Generation haben nicht begriffen, worauf ich hinauswollte.

Für mich ist es zu spät. Das Einzige, was ich hinterlassen kann, ist eine winzige Spur … dieses Buch.

Für mich ist es zu spät, aber für Sie nicht. Haben Sie es sich bequem gemacht? Entspannen Sie Ihre Muskeln. Denken Sie an nichts anderes mehr als an das Universum, in dem Sie nur ein winziges Staubkorn sind.

Stellen Sie sich die Zeit gerafft vor. Flutsch, Sie werden geboren, aus Ihrer Mutter gestoßen wie ein Kirschkern. Zack, zack, Sie stopfen sich mit Tausenden bunter Gerichte voll und verwandeln dabei einige Tonnen Pflanzen und Tiere in Exkremente. Peng, Sie sind tot.

Was haben Sie aus Ihrem Leben gemacht?

Bestimmt nicht genug.

Handeln Sie! Tun Sie etwas, etwas Geringes vielleicht, aber frohen Mutes! Machen Sie etwas aus Ihrem Leben, ehe Sie sterben. Sie sind nicht zu nichts geboren. Entdecken Sie, wozu Sie geboren sind. Was ist Ihre winzige Mission? Sie sind nicht zufällig geboren.

Geben Sie acht.

EDMOND WELLS

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2

7. Verwandlungen

Sie hat es nicht gern, wenn man ihr sagt, was sie tun soll.

Die dicke, grün-schwarz-weiß behaarte Raupe entfernt sich von der Libelle, die ihr rät, sich vor den Ameisen in Acht zu nehmen, und begibt sich ganz ans Ende des Eschenzweiges.

Mit Kriech- und Wellenbewegungen gleitet sie dahin. Erst setzt sie ihre sechs Vorderbeine auf. Ihre sechs Hinterbeine schließen sich dank der Krümmungen an, die sie mit ihrem Körper macht.

Am Ende ihres Ausgucks angekommen, spuckt die Raupe etwas Klebespeichel aus, um ihr Hinterteil zu befestigen, und lässt sich mit dem Kopf nach unten fallen.

Sie ist sehr müde. Sie ist mit ihrem Leben als Larve fertig. Ihre Leiden haben ein Ende. Jetzt heißt es Verwandlung oder Tod.

Still!

Sie mummelt sich in einen Kokon aus einem festen, aber feinen Kristallfaden ein.

Ihr Körper wird zu einem Zauberkessel.

Auf diesen Tag hat sie lange, lange gewartet. So lange.

Der Kokon wird hart und weiß. Der Wind wiegt diese seltsame helle Frucht.

Einige Tage später bläst der Kokon sich auf, als wollte er gleich einen Seufzer ausstoßen. Seine Atmung wird regelmäßiger. Er bebt. Es vollzieht sich eine ganze Alchemie. In ihm mischen sich Farben, seltene Zutaten, zarte Aromen, überraschende Düfte, Säfte, Hormone, Lacke, Fette, Säuren, Fleisch und sogar etwas Kruste.

Alles wird angepasst, mit unvergleichlicher Genauigkeit zugemessen, mit dem Ziel, ein neues Wesen herzustellen. Und dann platzt die Schale oben auf. Aus der Silberhülle taucht schüchtern eine Antenne auf und entrollt ihre Spirale.

Die Silhouette, die sich aus der Grabwiege löst, hat nichts mehr mit der Raupe gemein, aus der sie hervorgegangen ist.

Eine Ameise, die in der Gegend herumgestreunt ist, hat diesen heiligen Augenblick beobachtet. Zunächst von der Pracht dieser Verwandlung hingerissen, kommt sie bald zur Vernunft und ruft sich ins Gedächtnis, dass es sich nur um ein Stück Wild handelt. Sie galoppiert auf den Ast, um das wunderbare Tier zu töten, ehe es sich aus dem Staub macht.

Der feuchte Körper des Falters löst sich ganz aus dem Ei seines Ursprungs. Die Flügel gehen auf. Prächtige Farben. Schillern der leichten, zerbrechlichen und zugespitzten Flügel. Dunkle Zackenmuster, aus denen unbekannte Farbtöne hervorstechen: fluoreszierendes Gelb, mattes Schwarz, leuchtendes Orange, Karmesinrot, Zinnoberrot und Perlmuttanthrazit.

Die Jägerin schwenkt ihren Hinterleib unter ihren Thorax, um sich in Schussposition zu stellen. Mit ihrem Geruch und ihrem Gesichtssinn nimmt sie den Schmetterling aufs Korn.

Der Falter bemerkt die Ameise. Er ist gebannt von der Spitze des Hinterleibs, die auf ihn zielt, weiß jedoch, dass von dort der Tod kommen kann. Er will ganz und gar noch nicht sterben. Nicht jetzt. Das wäre wirklich schade.

Vier kugelrunde Augen starren einander an.

Die Ameise betrachtet den Schmetterling. Er ist zwar hinreißend, aber die Eier müssen mit Fruchtfleisch versorgt werden. Nicht alle Ameisen sind Vegetarierinnen, weit gefehlt. Diese hier ahnt, dass ihre Beute sich zum Abheben bereitmacht, und nimmt deren Bewegung vorweg, indem sie ihr Schussorgan zeigt. Der Schmetterling nützt diesen Augenblick, um sich in die Lüfte zu erheben. Der fehlgeleitete Säurestrahl durchbohrt seine Schwingen und bildet dort ein kleines, vollkommen rundes Loch.

Der Schmetterling verliert ein wenig an Höhe, das Loch in seinem rechten Flügel lässt ein Pfeifen durch. Die Ameise ist eine Eliteschützin und sich sicher, ihn getroffen zu haben. Doch der Falter erhebt sich dennoch in die Lüfte. Seine noch feuchten Flügel trocknen bei jedem Schlag ein bisschen mehr. Er gewinnt an Höhe, erkennt unten seinen Kokon, ganz ohne Wehmut.

Die Jägerin liegt immer noch auf der Lauer. Noch ein Schuss. Ein Blatt schiebt sich vor das tödliche Projektil wie von einer Brise des Schicksals bewegt. Der Schmetterling weicht mit den Flügeln aus und fliegt munter fort.

Die Soldatin Nr. 103 683 aus Bel-o-kan hat danebengeschossen. Ihr Ziel ist nunmehr außer Reichweite. Verträumt betrachtet sie den fliegenden Falter und beneidet ihn einen Augenblick lang. Wohin er wohl zieht? Er scheint sich in Richtung Ende der Welt zu bewegen.

Tatsächlich verschwindet der Falter gen Osten. Er fliegt schon seit mehreren Stunden, und als der Himmel grau zu werden beginnt, entdeckt er in der Ferne ein Licht und stürzt sich sofort darauf.

Er ist wie gebannt und hat nur noch ein Ziel: zu dieser sagenhaften Helle zu kommen. Nachdem er in höchster Eile bis auf ein paar Zentimeter an die Lichtquelle herangekommen ist, beschleunigt er noch ein wenig, um die Ekstase rascher genießen zu können.

Er ist ganz nah an der Flamme. Seine Flügelspitzen stehen kurz davor, Feuer zu fangen. Er schert sich nicht darum, er will sich hineinstürzen, diese warme Kraft genießen. In der Sonne schmelzen. Wird er darin verglühen?

8. Méliès löst das Rätsel des Todes der Saltas

»Nein?«

Er zog einen Kaugummi aus der Tasche und steckte ihn in den Mund.

»Nein, nein, nein. Lassen Sie keine Journalisten herein. Ich will meine Leichen in aller Ruhe untersuchen, und danach werden wir ja sehen. Und löschen Sie mir die Kerzen auf diesem Leuchter aus! Warum sind sie überhaupt angesteckt worden? Ach, es hat in dem Gebäude einen Stromausfall gegeben? Aber jetzt ist doch wieder Strom da, oder? Also bitte, riskieren wir keinen Brand.«

Jemand blies die Kerzen aus. Ein Falter, dessen Flügelspitzen bereits glommen, entging gerade noch der Einäscherung.

Der Kommissar kaute geräuschvoll seinen Kaugummi und inspizierte dabei die Wohnung in der Rue de la Faisanderie.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte sich im Vergleich zum vorigen Jahrhundert nur wenig geändert. Die Techniken der Kriminalisten hatten sich indes leicht entwickelt. Die Leichen wurden jetzt mit Formaldehyd und durchsichtigem Wachs überzogen, damit sie genau in der Stellung blieben, in der sie sich im Augenblick des Hinscheidens befunden hatten. Die Polizei konnte so in aller Seelenruhe den Schauplatz des Verbrechens untersuchen. Diese Methode war viel praktischer als die veralteten Kreideumrisse.

Diese Vorgehensweise konnte einem durchaus ans Gemüt gehen, aber die Untersucher hatten sich schließlich an den Anblick ihrer Opfer gewöhnt, an die offenen Augen, die vollkommen mit durchsichtigem Wachs bedeckten Körper, wie erstarrt im Augenblick ihres Todes.

»Wer war als Erster hier?«

»Inspektor Cahuzacq.«

»Emile Cahuzacq? Wo ist er? Ach, unten … Sehr schön, sagen Sie ihm, er soll zu mir kommen.«

Ein junger Polizist sagte zögernd: »Ah, Kommissar … Da ist eine Journalistin vom Echo am Sonntag, die behauptet …«

»Die was behauptet? Nein! Im Augenblick keine Journalisten. Holen Sie mir Emile.«

Méliès ging im ganzen Wohnzimmer auf und ab, ehe er sich über Sébastien Salta beugte. Sein Gesicht berührte fast das verzerrte Antlitz mit den verdrehten Augen, den aufgerissenen Lidern, den aufgeblähten Nasenflügeln, dem weit aufgesperrten Mund, der herausgestreckten Zunge. Er erkannte sogar Zahnprothesen und die Spuren von dessen letzter Mahlzeit. Der Mann musste Erdnüsse und Rosinen gegessen haben.

Dann wandte Méliès sich den Leichnamen der beiden anderen Brüder zu. Pierres Augen waren aufgerissen, der Mund ebenfalls weit geöffnet. Das Wachs hatte die Gänsehaut konserviert, die seine Haare zu Berge stehen ließ. Antoines Gesicht schließlich war durch eine scheußliche Grimasse des Entsetzens entstellt.

Der Kommissar zog eine Leuchtlupe aus seiner Tasche und besah sich die Epidermis von Sébastien Salta. Die Haare waren steif wie Lanzen. Auch er war in einer Gänsehaut erstarrt.

Vor Méliès zeichnete sich eine vertraute Silhouette ab. Inspektor Cahuzacq. Vierzig Jahre gute und treue Dienste bei der Kriminalpolizei von Fontainebleau. Graue Schläfen, spitzer Schnurrbart, beruhigender Bauch. Cahuzacq war ein stiller Mensch, der sich in der Gesellschaft seinen Platz zurechtgezimmert hatte. Sein einziger Wunsch bestand darin, friedlich und ohne zu viel Aufhebens in Pension zu gehen.

»Also, du warst als Erster hier, Emile?«

»Stimmt genau.«

»Und was hast du gesehen?«

»Na, das Gleiche wie du. Ich hab sofort die Leichen zuwachsen lassen.«

»Gute Idee. Was hältst du davon?«

»Keine Verletzungen, keine Abdrücke, keine Tatwaffe, keine Möglichkeit, herein- oder herauszukommen … Zweifellos eine verzwickte Angelegenheit für dich!«

»Danke.«

Kommissar Jacques Méliès war jung, knapp zweiunddreißig, aber er hatte bereits einen Ruf als gute Spürnase. Er pfiff auf die Routine und verstand es, bei den kompliziertesten Fällen eine originelle Lösung zu finden.

Nach dem Abschluss eines soliden naturwissenschaftlichen Studiums hatte Jacques Méliès auf eine brillante Forscherkarriere verzichtet, um sich seiner einzigen Leidenschaft zu widmen: dem Verbrechen. Anfangs waren es Bücher, die ihn auf die Reise ins Land der Fragezeichen einluden. Er hatte sich mit Krimis vollgestopft. Von Richter Ti über Maigret, Hercule Poirot, Dupin oder Rick Deckard bis zu Sherlock Holmes hatte er sich an dreitausend Jahren polizeilicher Ermittlungen satt gefressen.

Sein persönlicher Gral war das perfekte Verbrechen, das immer wieder mal gestreift, aber nie wirklich umgesetzt wurde. Um sich besser vervollkommnen zu können, hatte er sich ganz selbstverständlich am Institut für Kriminalwissenschaft von Paris eingeschrieben. Dort erlebte er seine erste Autopsie an einer frischen Leiche (und seine erste Ohnmacht). Dort lernte er, wie man mit einer Haarnadel ein Schloss öffnet, eine selbst gebastelte Bombe herstellt oder sie entschärft. Er erkundete die tausenderlei Todesarten des Menschen.

Etwas jedoch enttäuschte ihn bei seinen Kursen: Das Ausgangsmaterial war schlecht. Man kannte nur die Verbrecher, die sich hatten fassen lassen. Die Deppen also. Von den anderen, den Intelligenten, wusste man nichts, da man sie ja nie aufgespürt hatte. Hätte einer dieser straflos Ausgegangenen enthüllt, wie man das perfekte Verbrechen ausführt?

Der einzige Weg, es herauszubekommen, war, bei der Polizei zu arbeiten und sich selbst auf die Jagd zu begeben. Und eben das tat er. Mühelos erklomm er die hierarchischen Stufen. Seinen ersten schönen Coup landete er, als er seinen eigenen Lehrer für die Entschärfung von Sprengkörpern festnehmen ließ – eine gute Deckung für den Führer einer Terroristengruppe!

Kommissar Méliès machte sich daran, den Salon zu durchstöbern, suchte mit den Augen den kleinsten Winkel ab.

»Sag mal, Emile, als du gekommen bist, waren da Fliegen hier drin?«

Der Inspektor antwortete, dass er nicht darauf geachtet habe. Als er angekommen sei, seien die Türen und Fenster zu gewesen, aber dann habe man die Fenster geöffnet, und wenn Fliegen dagewesen seien, hätten sie genug Zeit gehabt, davonzufliegen.

»Ist das wichtig?«, fragte er besorgt.

»Ja. Na ja, nein. Sagen wir, es ist schade. Hast du eine Akte über die Opfer?«

Cahuzacq holte aus seiner Umhängetasche einen Aktendeckel. Der Kommissar sah sich die verschiedenen Papiere darin an.

»Was hältst du davon …?«

»Eine Sache ist da ganz interessant … Alle Saltas waren von Beruf Chemiker, aber einer der drei, Sébastien, war nicht so harmlos, wie es auf den ersten Blick scheint. Er hat ein Doppelleben geführt.«

»Sieh einer an …«

»Dieser Salta war der Spielsucht verfallen. Seine große Leidenschaft war das Pokern. Er hatte den Spitznamen ›Pokerriese‹. Nicht bloß wegen seiner Größe, sondern weil er sagenhafte Summen setzte. Vor kurzem hat er viel verloren. Er steckte in einer Schuldenspirale. Die einzige Möglichkeit, um da wieder rauszukommen, sah er darin, immer höher zu spielen.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ich hab neulich erst im Spielermilieu rumgeschnüffelt. Er war ziemlich in der Klemme. Anscheinend hat man gedroht, ihn umzubringen, wenn er nicht ganz flink zahlt.«

Nachdenklich hielt Méliès mit dem Kauen inne.

»Was diesen Sébastien betrifft, hat's also ein Motiv gegeben …«

Cahuzacq schüttelte den Kopf.

»Du meinst, dass er ihnen zuvorgekommen ist und sich selbst den Rest gegeben hat?«

Der Kommissar überhörte die Frage und drehte sich erneut zur Tür um: »Als du gekommen bist, war sie von innen gut verriegelt, oder?«

»Ganz genau.«

»Und die Fenster auch?«

»Sogar alle Fenster!«

Méliès fing wieder an, eifrig auf seinem Kaugummi herumzukauen.

»Woran denkst du?«, fragte Cahuzacq.

»An einen Selbstmord. Das mag zwar einfältig wirken, aber mit der Hypothese vom Selbstmord lässt sich alles erklären. Es gibt keine Spuren von Fremdeinwirkung, weil niemand von außen eingedrungen ist. Alles hat sich in einem geschlossenen Raum abgespielt. Sébastien hat seine Brüder umgebracht und dann sich selber.«

»Ja, aber mit welcher Waffe denn?«

Méliès schloss die Lider, um besser nach einer Eingebung suchen zu können. Schließlich verkündete er: »Ein Gift. Ein starkes Gift mit Langzeitwirkung. So was wie Zyanid mit Karamellumhüllung. Wenn das Karamell im Magen schmilzt, wird sein tödlicher Inhalt freigesetzt. Wie eine chemische Bombe mit Zeitverzögerung. Du hast mir doch gesagt, er war Chemiker?«

»Ja, am LAC.«

»Sébastien Salta hat also keine Mühe gehabt, sich eine Waffe zu basteln!«

Cahuzacq schien noch nicht so ganz überzeugt.

»Warum haben sie dann alle so entstellte Gesichter?«

»Der Schmerz. Wenn das Zyanid in den Magen eindringt, tut es sehr weh. Wie ein Geschwür, nur tausendmal schlimmer.«

»Ich kann verstehen, wenn Sébastien Salta Selbstmord begangen hat«, meinte Cahuzacq noch immer zweifelnd, »aber warum sollte er seine beiden Brüder umbringen, für die kein Risiko bestand?«

»Um ihnen die Schande des Bankrotts zu ersparen. Außerdem gibt es bekanntlich eine menschliche Neigung, die ganze Familie mit in den Tod zu nehmen. Im alten Ägypten haben sich die Pharaonen doch mit ihren Frauen bestatten lassen, mit ihren Dienern, ihren Tieren und ihren Möbeln! Man hat Angst, allein hinüberzugehen, also nimmt man seine Nächsten mit …«

Allmählich geriet der Inspektor durch die Gewissheit des Kommissars ins Wanken. Es mochte zu einfach oder nachlässig erscheinen: Nur mit der Selbstmordhypothese ließ sich das Fehlen jeglicher fremden Spur erklären …

»Ich fasse also zusammen«, fuhr Méliès fort. »Warum ist alles zugesperrt? Weil sich alles drinnen abgespielt hat. Wer ist der Mörder? Sébastien Salta. Was die Tatwaffe? Ein Gift mit Langzeitwirkung aus eigener Herstellung! Was das Motiv? Verzweiflung, Unfähigkeit, sich den riesigen Spielschulden zu stellen.«

Emile Cahuzacq kriegte sich nicht ein. So einfach war es also zu lösen, das Rätsel, das von den Zeitungen als »Thriller des Sommers« angekündigt worden war? Und das sogar ohne jegliche Überprüfung, Gegenüberstellung von Zeugen, Indiziensuche, kurz, das ganze Trara des Gewerbes. Der Ruf von Kommissar Méliès ließ kaum Platz für Zweifel. Seine Argumentation war jedenfalls die einzig logisch mögliche.

Ein Polizist in Uniform trat vor: »Es ist immer noch diese Journalistin vom Echo am Sonntag da, die Sie interviewen möchte. Sie wartet schon seit über einer Stunde und besteht darauf …«

»Sieht sie gut aus?«

»Sie sieht sogar sehr gut aus. Eine Eurasierin, glaube ich.«

»Ach? Wie heißt sie? Tschung Li oder Mang Schi-nang?«

Der andere erwiderte: »Ganz und gar nicht. Laetitia Ouelle oder so ähnlich.«

Jacques Méliès zögerte, aber ein Blick auf seine Uhr gab den Ausschlag: »Sagen Sie dieser jungen Dame, dass es mir leid tut, aber ich habe keine Zeit mehr. Gleich kommt meine Lieblingssendung im Fernsehen: ›Denkfalle‹. Kennst du die, Emile?«

»Vom Hörensagen, aber gesehen habe ich sie nie.«

»Mensch, das musst du! Das müsste ein Pflichtgehirntraining für alle Kripoleute sein.«

»Ach, weißt du, für mich ist das zu spät.«

Der Polizist hüstelte: »Und die Journalistin vom Echo am Sonntag?«

»Sagen Sie ihr, dass ich der zentralen Presseagentur eine Erklärung abgeben werde. Sie braucht sich bloß davon inspirieren zu lassen.«

Der Polizist gestattete sich eine kleine Zusatzfrage: »Und haben Sie schon eine Lösung für den Fall?«

Jacques Méliès lächelte wie ein Fachmann, der von einem zu leichten Rätsel enttäuscht ist. Er vertraute ihm jedoch an: »Es handelt sich um einen Doppelmord und einen Selbstmord, alles durch Vergiften. Sébastien Salta hat bis zum Hals in Schulden gesteckt und war fix und fertig, er wollte ein für alle Mal Schluss machen.«

Daraufhin bat der Kommissar alle hinaus. Er machte persönlich das Licht aus und die Tür wieder zu.

Der Tatort war wieder menschenleer.

Die vom Wachs glänzenden Leichen spiegelten die roten und blauen Neonlichter wider, die auf der Straße blinkten. Die bemerkenswerte Leistung von Kommissar Méliès hatte sie jeder tragischen Aura beraubt. Ganz einfach drei Gifttote.

Dort, wo Méliès auftauchte, war es mit der Hexerei vorbei.

Eine Meldung im Vermischten, nichts weiter. Drei hyperrealistische Gestalten, von bunten Blitzlichtern beleuchtet. Drei Bürgerseelen, erstarrt wie die mumifizierten Opfer von Pompeji.

Ein gewisses Unbehagen blieb jedoch bestehen: Die Maske vollkommenen Entsetzens, die diese Gesichter verkrampfte, schien darauf hinzuweisen, dass sie etwas viel Grässlicheres erlebt hatten als die Ausbreitung der Lavamassen des Vesuv.

9. Stelldichein mit einem Schädel

Nr. 103 683 findet sich damit ab, dass ihre Jagd vergebens war. Der schöne, neue Schmetterling ist nicht zurückgekehrt. Sie wischt die Spitze ihres Unterleibs mit einem Klaps ihres behaarten Beins ab und macht sich auf den Weg zum Ende des Asts, um den verlassenen Kokon einzusammeln. Diese Art Gegenstand lässt sich in einem Ameisenhaufen immer gebrauchen. Er kann als Honigamphore wie auch als tragbare Feldflasche dienen.

Nr. 103 683 reinigt sich die Antennen und bewegt sie mit 12 000 Vibrationen pro Sekunde, um in der Nähe vielleicht etwas anderes von Interesse aufzuspüren. Nicht mal der Schatten einer Beute. Na wenn schon.

Nr. 103 683 ist eine rote Ameise aus der Föderationsstadt Bel-o-kan. Sie ist eineinhalb Jahre alt, was vierzig Menschenjahren entspricht. Sie gehört zur Kaste der geschlechtslosen Kundschafterinnen. Sie trägt ihre Antennen hoch aufgerichtet. Die Haltung ihres Halses und ihres Thorax zeugt von ihrem gewachsenen Selbstbewusstsein. Eine ihrer Bürstensporen im Schienbein ist gebrochen, aber die Maschinerie ist insgesamt noch vollkommen funktionstüchtig, selbst wenn die Karosserie von Schrammen übersät ist.

Ihre kleinen Halbkugelaugen überprüfen die Szenerie durch das Sieb ihrer Augenfacetten. Weitwinkelblick. Sie kann gleichzeitig nach vorne, nach hinten und nach oben schauen. In der Umgebung regt sich nichts.

Sie klettert von dem Strauch, indem sie sich der Ankerborsten unter den Enden ihrer Beine bedient. Diese kleinen fasrigen Kugeln sondern eine haftende Substanz ab, die es ihr ermöglicht, sich auf völlig glatten Flächen zu bewegen, sogar in der Senkrechten, sogar rückwärts.

Nr. 103 683 nimmt eine Duftspur auf und läuft in Richtung ihrer Stadt. Die Gräser um sie herum ragen als grüner Hochwald auf. Sie trifft zahlreiche belokanische Arbeiterinnen, die emsig die gleichen Duftwege entlanglaufen. Stellenweise haben Straßenarbeiterinnen die Strecke unterirdisch verlegt, damit ihre Benutzer nicht von den Sonnenstrahlen gestört werden.

Unvorsichtigerweise überquert eine Nacktschnecke die Ameisenstraße. Die Soldatinnen vertreiben sie sofort, indem sie sie mit ihren Mandibelspitzen stechen. Der Weg wird sofort von dem Schleim gereinigt, den sie hinterlassen hat.

Nr. 103 683 trifft ein sonderbares Insekt. Es hat nur einen Flügel und kriecht direkt auf dem Boden dahin. Aus der Nähe betrachtet ist es nur eine Ameise, die einen Libellenflügel transportiert. Man grüßt sich. Diese Jägerin hat mehr Glück gehabt als sie. Denn unverrichteter Dinge oder mit einem Schmetterlingskokon zurückzukehren macht keinen großen Unterschied.

Der Umriss der Stadt beginnt sich abzuzeichnen. Dann verschwindet der Himmel über ihr. Es ist nur noch ein Berg aus Zweigen da.

Das ist Bel-o-kan.

Von einer verirrten Ameisenkönigin gegründet (Bel-o-kan bedeutet »Stadt der verirrten Ameise«), bedroht von den Kriegen zwischen den Ameisen, von Wirbelstürmen, Termiten, Wespen und Vögeln, überdauert die Stadt Bel-o-kan schon seit über fünftausend Jahren.

Bel-o-kan, der Hauptsitz der roten Waldameisen von Fontainebleau.

Bel-o-kan, die stärkste politische Kraft der Region.

Bel-o-kan, der Ameisenhaufen, wo die Evolutionäre Bewegung entstanden ist.

Jede Bedrohung stärkt die Stadt. Jeder Krieg macht sie schlagkräftiger. Jede Niederlage macht sie intelligenter.

Bel-o-kan, die Stadt mit den sechsunddreißig Millionen Augen, mit den hundertacht Millionen Beinen, mit den achtzehn Millionen Gehirnen. Lebendig und glanzvoll.

Nr. 103 683 kennt dort sämtliche Kreuzungen, sämtliche unterirdischen Brücken. In ihrer Kindheit hat sie die Säle besucht, wo die weißen Pilze gezüchtet werden, und jene, wo die Läuseherden gemolken werden, oder jene, in denen Ameisen als Zisternen reglos von der Decke hängen. Sie ist durch die Gänge der Verbotenen Stadt gelaufen, die einst von den Termiten in das Holz eines Kiefernstumpfs gegraben worden sind. Sie ist Zeugin sämtlicher Verbesserungen gewesen, die die neue Königin Chli-pu-ni durchgeführt hat, ihre alte Abenteuergefährtin.

Chli-pu-ni ist diejenige, die die »Evolutionäre Bewegung« erfunden hat. Sie hat auf den Titel einer neuen Belo-kiu-kiuni verzichtet und ihre eigene Dynastie gegründet: die der Königinnen mit dem Namen Chli-pu-ni. Sie hat die Einheit des Längenmaßes geändert: Es gibt nicht mehr den Kopf (3 mm), sondern den Schritt (1 cm). Da die Belokanerinnen immer weitere Reisen unternahmen, war fortan eine größere Einheit nötig gewesen.

Im Rahmen der Evolutionären Bewegung hat Chli-pu-ni die Chemische Bibliothek errichten lassen, und vor allem hat sie alle Arten von Parasiten gesammelt, die sie auf ihre zoologischen Pheromone hin studiert. Sie versucht vor allem die Arten zu zähmen, die fliegen oder schwimmen können. Mistkäfer und Gelbrandkäfer …

Nr. 103 683 und Chli-pu-ni haben sich lange nicht gesehen. An die junge Königin heranzukommen ist schwierig; sie ist zu beschäftigt mit dem Eierlegen und den Reformen für ihre Stadt. Die Soldatin hat dennoch nicht ihre gemeinsamen Abenteuer in den unterirdischen Gewölben der Stadt vergessen, die Nachforschungen, die sie beide gemeinsam angestellt haben, um die Geheimwaffe zu entdecken, die Lomechusa, mit deren Droge sie beinahe vergiftet worden wären, den Kampf gegen die Spioninnen mit dem Felsgeruch.

Nr. 103 683 erinnert sich auch an ihre große Reise nach Osten, an ihre Berührung mit dem Ende der Welt, mit dem Land der Finger, wo alles, was lebt, stirbt.

Schon mehrmals hat die Soldatin darum gebeten, eine neue Expedition auszurüsten. Sie hat zur Antwort bekommen, dass es hier zu viel zu tun gebe, um Selbstmordkommandos an die Grenzen des Planeten zu schicken.

Das alles ist Vergangenheit.

Für gewöhnlich denkt die Ameise nie an die Vergangenheit, im Übrigen auch nicht an die Zukunft. Sie ist sich im Allgemeinen nicht einmal ihrer Existenz als Individuum bewusst. Ohne einen Begriff von »ich«, »mein« oder »dein« verwirklicht sie sich nur durch die Gemeinschaft, für die Gemeinschaft. Da es kein Eigenbewusstsein gibt, gibt es auch keine Furcht vor dem eigenen Tod. Die Ameise kennt keine existentielle Angst.

Doch in Nr. 103 683 hatte sich eine Verwandlung vollzogen. Ihre Reise an den Rand der Welt hatte in ihr ein »Ich«-Bewusstsein entstehen lassen, zwar noch rudimentär, aber trotzdem sehr schwer für sie zu akzeptieren. Sobald man an sich zu denken beginnt, tauchen die »abstrakten« Probleme auf. Bei den Ameisen heißt das die »Krankheit der Seelenstimmungen«. Sie trifft im Allgemeinen die Fortpflanzungsfähigen. Schon allein die Tatsache, dass man sich fragt: »Leide ich an der Krankheit der Seelenstimmungen?«, belegt aus der Sicht der Ameisen, dass man bereits ernsthaft erkrankt ist.

Nr. 103 683 ist also bemüht, sich keine Fragen zu stellen. Doch das fällt schwer …

Um sie herum ist die Straße jetzt breiter. Der Verkehr ist beträchtlich dichter geworden. Sie reibt sich an der Menge, versucht, sich nur noch als ein winziges Teilchen in einer Masse zu fühlen, die ihren Verstand übersteigt. Die anderen sein, durch die anderen leben, sich durch seine Umgebung vervielfältigt fühlen, was gibt es Freudigeres?

Munter hüpft sie über die verstopfte Straße. Jetzt ist sie vor dem Zugang zum vierten Tor der Stadt. Wie üblich ein totales Chaos! Es ist so viel los, dass der Durchgang verstopft ist. Der Eingang Nr. 4 müsste vergrößert und in den Verkehrsfluss ein wenig Disziplin gebracht werden. Zum Beispiel dadurch, dass diejenigen, welche die am wenigsten sperrige Beute tragen, den anderen Platz machen. Oder dass jene, die zurückkommen, das Vorrecht vor denen haben, die herauswollen. Stattdessen ein Stau, die Plage aller Metropolen!

Nr. 103 683 hat es ihrerseits gar nicht so eilig, ihren armseligen leeren Kokon einzubringen. Beim Warten darauf, dass die Dinge sich klären, beschließt sie, einen kleinen Spaziergang über den Schuttplatz zu machen. Als sie noch jung war, hat sie es geliebt, im Unrat zu spielen. Mit den Kameradinnen ihrer Kriegerkaste hat sie Schädel hochgeworfen und sie in der Luft mit einem Säurestrahl zu erreichen versucht. Man musste seine Giftdrüse schnell drücken. So ist Nr. 103 683 übrigens zur Eliteschützin geworden. Dort, auf dieser Mülldeponie, hat sie gelernt, schneller als jeder Mandibelbiss blankzuziehen und zu zielen.

Ach, die Deponie … Die Ameisen bauen immer eine vor ihrer Stadt. Sie erinnert sich an eine fremde Söldnerin, die, als sie zum ersten Mal nach Bel-o-kan kam, ausgerufen hatte: »Die Deponie sehe ich, aber wo ist die Stadt?« Man muss zugeben, dass diese hohen Hügel aus Leichen, Getreidespreu und verschiedenen Abfällen die Neigung haben, das Vorfeld der Stadt zu überfluten. Bestimmte Eingänge (Hilfe!) sind total davon verstellt, und anstatt sie freizuräumen, werden lieber anderswo neue Durchgänge gegraben.

(Hilfe!)

Nr. 103 683 dreht sich um. Sie hat den Eindruck gehabt, dass jemand gerade einen Duft geseufzt hat. Hilfe! Diesmal ist sie sich sicher. Ein deutlicher Kommunikationsduft strömt aus diesem Abfallhaufen. Fängt jetzt schon der Müll zu sprechen an? Sie tritt näher, wühlt mit den Antennenspitzen einen Stapel Leichen durch.

Hilfe!

Gerufen hat eines der drei Trümmer dort. Nebeneinander liegen der Kopf eines Marienkäfers, der Kopf eines Heupferdchens und der Kopf einer roten Ameise. Sie tastet sie alle ab und entdeckt einen kaum wahrnehmbaren Lebensduft an einem Stück der roten Ameise, etwa auf Höhe der Antennen. Die Soldatin packt daher den Kopf zwischen ihre beiden Vorderbeine und hält ihn vor ihr Gesicht.

Es muss etwas bekannt werden, sendet die Schädelkugel aus, an der linkisch eine einzelne Antenne hängt.

Wie unanständig! Ein Schädel, der sich noch äußern will! Diese Ameise hat also nicht genug Anstand, den Frieden im Tod anzunehmen. Nr. 103 683 ist einen Augenblick lang versucht, den Schädel hoch in die Luft zu werfen, um ihn dann mit einem Säurestrahl zu zersetzen, genauso wie sie es früher zum Vergnügen tat. Doch nicht allein die Neugier hält sie zurück: Es gilt stets die Botschaften derer aufzufangen, die senden wollen, lautet ein altes Ameisensprichwort.

Antennenbewegung. Nr. 103 683 gibt zu erkennen, dass sie gemäß der Vorschrift alles empfangen wird, was dieser unbekannte Kopf aussenden will.

Der Schädel hat immer größere Schwierigkeiten zu denken. Er weiß jedoch, dass er sich an eine bedeutsame Information erinnern muss. Er weiß, dass er seine Gedanken bis oben in seine einzige Antenne aufsteigen lassen muss, damit die Ameise, deren Körper er einst verlängerte, nicht vergebens gelebt hat.

Aber da er nicht mehr ans Herz angeschlossen ist, wird der Kopf nicht mehr mit Flüssigkeit versorgt. Die Gehirnwindungen sind bereits ein bisschen trocken. Die elektrischen Funktionen arbeiten hingegen, sind noch zufriedenstellend. Im Gehirn ist noch eine kleine Pfütze Neurotransmitter übrig. Neuronen nutzen diese geringe Feuchtigkeit und verbinden sich, kleine elektrische Kurzschlüsse beweisen, dass die Gedanken noch zu einigen sinnvollen Abwägungen gelangen.

Die Erinnerung kehrt zurück.

Sie waren zu dritt. Drei Ameisen. Aber von welcher Art? Rote. Rote Rebellinnen! Aus welchem Nest? Aus Bel-o-kan. Sie hatten sich in die Chemische Bibliothek eingeschlichen, um … um dort ein äußerst überraschendes Gedächtnispheromon zu lesen. Und wovon war bei diesem Pheromon die Rede? Von etwas Wichtigem. Etwas so Wichtigem, dass die Föderationswache Jagd auf sie gemacht hat. Ihre beiden Freundinnen sind tot. Von den Kriegerinnen umgebracht. Der Schädel trocknet weiter aus. Drei Tote für nichts und wieder nichts, wenn er sich nicht erinnert. Er muss die Information hochkommen lassen. Er muss es. Es ist unabdingbar.

Vor den Augenkugeln des Schädels steht eine Ameise, die zum fünften Mal fragt, was er mitzuteilen habe.

Im Gehirn wird eine neue Blutlache aufgespürt. Sie lässt sich dazu benutzen, ein wenig nachzudenken. Die elektrische und chemische Schnittstelle umfasst ein ganzes Erinnerungsfeld und das Sende-Empfangs-System. Gestärkt von der Energie einiger Proteine und von Zuckerverbindungen, die noch im Vorderlappen übrig sind, gelingt es dem Gehirn, eine Botschaft zu übermitteln.

Chli-pu-ni will einen Kreuzzug losschicken, um SIE alle umzubringen. Die Rebellinnen müssen dringend benachrichtigt werden.

Nr. 103 683 begreift nichts. Diese Ameise, oder besser gesagt: dieser Ameisenrest, spricht von »Kreuzzug«, von »Rebellinnen«. In der Stadt soll es Rebellinnen geben? Das ist ja was ganz Neues! Doch die Soldatin spürt, dass der Schädel nicht mehr lang wird Zwiesprache halten können. Nur kein Molekül bei unnötigen Abschweifungen verlieren. Was ist die richtige Frage angesichts eines so bestürzenden Satzes? Die Worte kommen wie von selbst aus ihren Antennen.

Wo finde ich diese »Rebellinnen«, um sie zu benachrichtigen?

Der Schädel unternimmt noch einen Versuch, er vibriert stark.

Über den neuen Nashornkäferställen … Eine Scheindecke …

Nr. 103 683 geht aufs Ganze.

Gegen wen ist dieser Kreuzzug gerichtet?

Der Schädel zittert. Seine Antennen wackeln. Schafft er es, noch ein halbes Pheromon auszuspucken?

Ein an der Antenne kaum wahrnehmbarer Nachgeschmack taucht auf. Er enthält nur ein einziges Duftwort. Nr. 103 683 berührt ihn mit dem letzten Abschnitt ihres Empfindungsapparates. Sie schnuppert. Dieses Wort kennt sie. Sie kennt es nur zu gut.

Finger.

Jetzt sind die Antennen des Schädels vollkommen ausgetrocknet. Sie zerbröseln. In dieser schwarzen Kugel bleibt nicht der geringste Informationsduft.

Nr. 103 683 ist völlig fassungslos.

Ein Kreuzzug, um alle Finger zu massakrieren …

Ausnahmslos.

10. Guten Abend, Nachtfalter

Warum ist das Licht so plötzlich verloschen? Der Schmetterling hatte zwar das Feuer gespürt, das ihm die Flügel verzehren wollte, aber er war zu allem bereit, um von der Ekstase des Lichts zu kosten … Er war so nahe am Erfolg gewesen, dieser Verschmelzung mit der Wärme!

Der enttäuschte Falter kehrt in den Wald von Fontainebleau zurück und schwingt sich ganz hoch zum Himmel empor. Er fliegt lange, ehe er den Ort erreicht, wo er seine Verwandlung vollzogen hat.

Dank seinen Tausenden von Augenfacetten kann er vom Himmel aus die Landschaft klar erkennen. In der Mitte der Ameisenhaufen Bel-o-kan. Darum herum kleine Städte und Dörfer, die von den roten Königinnen angelegt wurden. Die ganze Ansiedlung nennen sie die »Föderation von Bel-o-kan«. Tatsächlich hat diese hier eine solche politische Bedeutung erlangt, dass man bereits von einem Reich sprechen kann. Im Wald wagt niemand mehr die Vorherrschaft der roten Ameisen in Frage zu stellen.

Sie sind am intelligentesten, am besten organisiert. Sie können mit Werkzeugen umgehen, haben die Termiten und die Zwergameisen besiegt. Sie erlegen Tiere, die hundertmal größer sind als sie. Kein Zweifel, dass sie im Wald die wahren Herrscher sind, und die einzigen.

Im Westen von Bel-o-kan erstrecken sich gefährliche Gefilde, wo es von Spinnen und Gottesanbeterinnen nur so wimmelt. (Schmetterling, sei auf der Hut!)

Im Südosten ist eine kaum weniger wilde Gegend voller Killerwespen, Schlangen und Schildkröten (Gefahr).

Im Osten gibt es alle Arten von Ungeheuern mit vier, sechs oder acht Beinen und genauso vielen Mäulern, Giftzähnen und Pfeilen, die einen vergiften, erdrücken, zermalmen, verflüssigen.

Im Nordosten gibt es eine ganz neue Bienenstadt, den Stock von Askolein. Dort leben wilde Bienen, die unter dem Vorwand, ihre Pollenerntezonen erweitern zu wollen, schon mehrere Wespennester zerstört haben.

Noch weiter im Osten befindet sich ein Fluss namens »Allesfresser«, denn er verschlingt sofort alles, was sich auf seiner Oberfläche niederlässt. Darum sollte man dort Vorsicht walten lassen.

Sieh an, auf der Uferböschung ist eine neue Stadt entstanden. Neugierig nähert sich der Schmetterling. Sie muss vor kurzem von Termiten errichtet worden sein. Die auf dem höchsten Bergfried des Ortes platzierte Artillerie versucht sofort, den Eindringling abzuschießen. Doch dieser schwebt zu weit oben, als dass ihn diese Schurken gefährden könnten.

Der Falter dreht ab, überfliegt die Steilhänge im Norden, die schroffen Berge, welche die große Eiche umgeben. Dann steigt er nach Süden hinab, dem Land der Gespenstheuschrecken und der roten Pilze.

Plötzlich macht er ein Schmetterlingsweibchen aus, das bis in diese Höhe den starken Duft seiner Geschlechtshormone ausströmt. Er eilt ihm entgegen, um es aus der Nähe zu betrachten. Seine Farben sind noch auffälliger als seine eigenen. Es ist so schön! Aber es bleibt seltsam reglos. Eigenartig. Es besitzt die Ausdünstungen, die Formen und die Beschaffenheit einer Schmetterlingsdame, aber … So eine Gemeinheit! Es ist eine Blume, die sich durch Nachahmung für etwas ausgibt, was sie nicht ist. An dieser Orchidee ist alles falsch: die Gerüche, die Flügel, die Farben. Reiner botanischer Beschiss! Leider hat der Schmetterling das zu spät bemerkt. Seine Beine kleben fest. Von dort kann er sich nicht mehr lösen.

Der Schmetterling schlägt so heftig mit den Flügeln, dass der Luftzug die Pollenschirmchen aus einer Pusteblume entreißt. Sachte rutscht er an den schalenförmigen Rändern der Orchidee entlang. In Wirklichkeit ist diese Blumenkrone nichts anderes als ein weit aufgerissener Magen. Am Grund der Schale verbergen sich die Verdauungssäuren, die es dieser Blume ermöglichen, einen Schmetterling zu verspeisen.

Ist das das Ende? Nein, das Glück zeigt sich in Gestalt zweier zu einer Zange gebogenen Finger, die ihn an den Flügeln packen und ihn aus der Gefahr befreien, um ihn in einen durchsichtigen Topf zu werfen.

Der Topf überquert eine große Entfernung.

Dann wird der junge Schmetterling in ein Lichtfeld gebracht. Die Finger nehmen ihn aus dem Topf, tauchen ihn in eine gelbe, stark riechende Substanz, die seine Flügel härtet. Keine Möglichkeit mehr, sich aufzuschwingen. Dann packen die Finger einen riesigen Pfahl und mit einem festen Stoß … rammen sie ihn in sein Herz. Als Grabspruch befestigen sie gleich über seinem Kopf ein Schildchen: »Papilio vulgaris«.

11. Enzyklopädie

Zivilisationsschock: Die Begegnung zwischen zwei Zivilisationen stellt immer einen heiklen Augenblick dar. Die Ankunft der ersten Europäer in Mittelamerika war der Anlass für eine ungeheure Verwechslung. Die Religion der Azteken lehrte, dass eines Tages Boten des gefiederten Schlangengottes Quetzalcoatl auf die Erde kommen würden. Sie würden weißhäutig sein, auf großen Vierbeinern thronen und Donner spucken, um die Gottlosen zu strafen.

Als man ihnen also im Jahre 1519 meldete, dass gerade spanische Reiter an der mexikanischen Küste gelandet seien, dachten die Azteken, es würde sich um die »Teules« (also »Götter«, in der Aztekensprache Nahuatl) handeln.

Im Jahre 1511, einige Jahre vor deren Erscheinen, hatte ein Mann sie jedoch vorgewarnt. Guerrero war ein spanischer Matrose, der an den Küsten Yucatáns gestrandet war, als Cortés' Truppen noch auf den Inseln Santo Domingo und Cuba im Quartier lagen.

Guerrero wurde ohne weiteres von der einheimischen Bevölkerung akzeptiert und heiratete eine Eingeborene. Er kündigte an, dass die Konquistadoren bald landen würden. Er versicherte ihnen, dass sie weder Götter noch Gesandte der Götter seien. Er warnte sie, sich vor ihnen in Acht zu nehmen. Er lehrte sie, sich zu ihrer Verteidigung Armbrüste zu fertigen. (Bis dahin benützten die Indios nur Pfeile und Äxte mit Spitzen aus Obsidian; doch die Armbrust war die einzige Waffe, die die metallenen Panzer von Cortés' Männern zu durchschlagen vermochte.) Guerrero erklärte immer wieder, dass sie die Pferde nicht zu fürchten brauchten, und empfahl ihnen vor allem, nicht angesichts der Feuerwaffen in Panik zu geraten. Das seien weder Zauberwaffen noch Stücke eines Blitzes. »Wie ihr selbst sind auch die Spanier aus Fleisch und Blut. Sie können besiegt werden«, wiederholte er unentwegt. Und um es zu beweisen, brachte er sich selbst einen Schnitt bei, aus dem das allen Menschen gemeinsame rote Blut floss.

Guerrero unterwies die Indianer seines Dorfes mit solcher Ausdauer und solchem Erfolg, dass Cortés' Konquistadoren zu ihrer Überraschung erstmals in Amerika auf eine ausgebildete Indioarmee trafen, die ihrem Angriff mehrere Wochen lang widerstand.

Doch die Nachricht hatte sich nicht über dieses Dorf hinaus verbreitet. Als im September 1519 der Aztekenkönig Montezuma zur Begegnung mit der spanischen Armee aufbrach, führte er als Geschenk für diese Wagen voller Edelsteine mit sich. Noch am selben Abend wurde er ermordet. Ein Jahr später zerstörte Cortés mit der Gewalt seiner Kanonen die Aztekenhauptstadt Tenochtitlán, nachdem er zuvor durch eine dreimonatige Belagerung die dortige Bevölkerung ausgehungert hatte. Guerrero kam übrigens um, während er einen nächtlichen Angriff auf ein spanisches Fort organisierte.

EDMOND WELLS

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2

12. Laetitia tritt noch nicht in Erscheinung

Nach der raschen Auflösung des Falls Salta wurde Kommissar Jacques Méliès zum Polizeipräfekten Charles Dupeyron bestellt. Der Leiter der Polizei legte großen Wert darauf, ihm persönlich zu gratulieren.

In einem reich geschmückten Salon vertraute der Präfekt ihm sogleich an, dass diese »Geschichte mit den Brüdern Salta« an höchster Stelle einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen habe. Einige unter den prominentesten Politikern hätten seine Untersuchung als »Beispiel für Schnelligkeit und Effektivität nach französischer Art« bezeichnet.

Darauf fragte der Präfekt ihn, ob er verheiratet sei. Überrascht antwortete Méliès, er sei Junggeselle, doch da sein Gegenüber nicht locker ließ, gab er zu, dass er es wie alle anderen halte, er flattere, gleich einem Schmetterling, mal hierhin, mal dorthin und versuche dabei, sich keine Geschlechtskrankheit einzuhandeln.

Charles Dupeyron riet ihm daraufhin, sich eine Frau zu suchen. Das damit verbundene gesellschaftliche Ansehen würde es ihm erlauben, in die Politik zu gehen. Für den Anfang könne er ihn sich gut als Abgeordneten oder Bürgermeister vorstellen. Er unterstrich, die Nation bräuchte, wie alle Nationen, Leute, die komplizierte Probleme zu lösen wüssten. Wenn er, Jacques Méliès, in der Lage sei, herauszufinden, wie drei Menschen hinter verschlossenen Türen umgebracht worden waren, könne er zweifellos auch andere heikle Fragen lösen, zum Beispiel: Wie man der Arbeitslosigkeit begegnet, wie man die Sicherheit in den Vorstädten gewährleistet, wie man das Defizit der Sozialversicherungen zurückführt, wie man den Haushalt ausgleicht. Kurz, sämtliche kleinen Rätsel, denen sich die Führer eines Landes tagtäglich gegenübersähen.

»Wir brauchen Menschen, die dazu imstande sind, ihren Verstand zu benutzen, und wie die Zeiten heute sind, werden solche Menschen rar«, klagte der Präfekt. »Sie sollten daher wissen, dass ich, falls Sie sich in das Abenteuer Politik stürzen wollen, der Erste sein werde, der Sie dabei unterstützt.«

Jacques Méliès erwiderte, dass ihn an einem Rätsel das Abstrakte und Zufällige reize. Er werde sich niemals dazu hergeben, nach Macht zu streben. Die anderen zu beherrschen sei zu ermüdend. Was sein Gefühlsleben angehe, so sei es darum gar nicht so schlecht bestellt, und er ziehe es vor, dass es seine Privatsache bleibe.

Der Präfekt Dupeyron lachte aus vollem Herzen, legte ihm die Hand auf die Schulter und versicherte ihm, dass er in seinem Alter ganz genauso gedacht habe. Doch später habe er sich geändert. Nicht das Bedürfnis, die anderen zu beherrschen, habe ihn angetrieben, sondern das Bedürfnis, von niemandem beherrscht zu werden.

»Man muss reich sein, um das Geld verachten zu können, man muss Macht haben, um die Macht verachten zu können.«

Als er jung war, hatte Dupeyron es daher akzeptiert, die Stufen der menschlichen Hierarchie eine nach der anderen zu erklimmen. Jetzt weiß er sich gegen alles gefeit, er fürchtet die Zukunft nicht mehr, er hat zwei Erben gezeugt und in eine der teuersten Privatschulen der Stadt gesteckt, er besitzt eine Luxuslimousine, viel Freizeit und ist von Hunderten von Höflingen umgeben. Was will man mehr?

Ein Kind bleiben, das von Krimis begeistert ist, dachte Méliès, behielt es jedoch lieber für sich.