Die Ameisen - Bernard Werber - E-Book

Die Ameisen E-Book

Bernard Werber

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Beschreibung

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Als Jonathan Wells das alte, beinahe verfallene Haus seines Onkels in Paris erbt, ahnt er nicht, dass ihn dort mehr erwartet als nur umfangreiche Renovierungsarbeiten. Doch sein Onkel hinterlässt ihm eine Warnung: unter keinen Umständen soll Jonathan den Keller betreten. Zunächst halten sich Jonathan und seine Familie an das Verbot, schließlich war Onkel Edmondo ein genialer Wissenschaftler, und niemand will sich den potenziell gefährlichen Überbleibseln seiner Experimente aussetzen. Doch dann verschwindet Jonathans Hund, und er muss Edmondos Verbot übertreten. Was er im Keller findet, übersteigt seine Vorstellungskraft: Ameisenvölker, deren kollektive Intelligenz ein unglaubliches Niveau erreicht hat. Und die einen grausamen Vernichtungsfeldzug gegen die Menschheit planen ...

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Das Buch

Als Jonathan Wells das alte, beinahe verfallene Haus seines Onkels in Paris erbt, ahnt er nicht, dass ihn dort mehr erwartet als nur umfangreiche Renovierungsarbeiten. Doch sein Onkel hinterlässt ihm eine Warnung: unter keinen Umständen soll Jonathan den Keller betreten. Zunächst halten sich Jonathan und seine Familie an das Verbot, schließlich war Onkel Edmondo ein genialer Wissenschaftler, und niemand will sich den potenziell gefährlichen Überbleibseln seiner Experimente aussetzen. Doch dann verschwindet Jonathans Hund, und er muss Edmondos Verbot übertreten. Was er im Keller findet, übersteigt seine Vorstellungskraft: Ameisenvölker, deren kollektive Intelligenz ein unglaubliches Niveau erreicht hat. Und die einen grausamen Vernichtungsfeldzug gegen die Menschheit planen …

Der Autor

Bernard Werber, geboren 1962 in Toulouse, begann bereits im Alter von 14 Jahren, Geschichten für Fanmagazine zu schreiben. Er studierte Kriminologie und Journalismus und arbeitete danach zehn Jahre lang als Wissenschaftsjournalist für den Nouvel Observateur. Mit seinem Debütroman »Die Ameisen« gelang ihm auf Anhieb ein weltweiter Erfolg: das Buch wurde von Publikum und Presse gleichermaßen gefeiert, verkaufte sich über zwei Millionen Mal und wurde mit dem Prix des lecteurs de Science et Avenir ausgezeichnet. Die beiden Fortsetzungen, »Der Tag der Ameisen« und »Die Revolution der Ameisen«, waren nicht minder erfolgreich. Bernard Werber lebt und arbeitet in Paris.

BERNARD WERBER

DIE AMEISEN

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

LES FOURMIS

Aus dem Französischen von Michael Mosblech

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1991 by Bernard Werber

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Thomas Menne

ISBN 978-3-641-24128-5V002

www.penguinrandomhouse.de

 

Während der wenigen Sekunden, die Sie brauchen, um diese Zeilen zu lesen,

– werden auf der Erde 40 Menschen und 700 Millionen Ameisen geboren,

– sterben auf der Erde 30 Menschen und 500 Millionen Ameisen.

Mensch: Säugetier, dessen Größe zwischen 1 und 2 Meter schwankt. Gewicht: zwischen 30 und 100 Kilogramm. Schwangerschaftsdauer des Weibchens: 9 Monate. Ernährungsart: Allesfresser. Geschätzte Gesamtbevölkerung: über 5 Milliarden Exemplare.

Ameise: Insekt, dessen Größe zwischen 0,01 und 3 Zentimeter schwankt. Gewicht: zwischen 1 und 150 Milligramm. Gelege: beliebig, je nach Bestand der Spermatozoen.

EDMOND WELLS

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 1

EINS

DER WECKRUF

Der Notar erklärte, das Haus stehe unter Denkmalschutz und während der Renaissance hätten Gelehrte darin gewohnt. Wer genau, wisse er nicht mehr.

»Die Wohnung selbst ist ein wenig sonderbar, es handelt sich nämlich um ein Kellergeschoss. Aber dafür ganz schön geräumig! Zweihundert Quadratmeter!«

Sie stiegen die Treppe hinunter und gelangten in einen dunklen Flur. Dort tappte der Notar lange herum, bis er hervorstieß: »Ah, verflixt! Das funktioniert nicht.«

Sie drangen in die Finsternis vor, tasteten sich geräuschvoll an den Wänden entlang. Als der Notar endlich die Tür gefunden, sie geöffnet und, diesmal erfolgreich, auf den Lichtschalter gedrückt hatte, sah er, dass sein Klient blass geworden war.

»Stimmt etwas nicht, Monsieur Wells?«

»Eine Art Phobie. Nicht so schlimm.«

»Angst vor der Dunkelheit?«

»Genau. Aber es geht schon wieder.«

Sie besichtigten die Räumlichkeiten. Obwohl die Wohnung nur durch einige schmale und in Höhe der Decke gelegene Kellerfenster mit der Außenwelt verbunden war, gefiel sie Jonathan.

Sämtliche Wände waren in einem einheitlichen Grau tapeziert, und überall war Staub … Aber er wollte nicht mäkelig sein.

Seine derzeitige Wohnung war nur ein Fünftel so groß. Außerdem verfügte er nicht über die Mittel, künftig die Miete zu zahlen: Das Schlüsseldienstunternehmen, für das er arbeitete, hatte vor kurzem beschlossen, auf seine Dienste zu verzichten.

Diese Hinterlassenschaft seines Onkels Edmond war wirklich ein Glücksfall.

Zwei Tage später zog er mit seiner Frau Lucie, seinem Sohn Nicolas und ihrem Hund Ouarzazate, einem geschorenen Zwergpudel, in das Haus Nummer 3 an der Rue des Sybarites ein.

»Ich finde das gar nicht so schlecht«, erklärte Lucie und reckte ihren dichten roten Haarschopf hoch. »Bei den grauen Wänden hier können wir uns so einrichten, wie wir wollen. Es muss ohnehin alles neu gemacht werden. Als müsste man ein Gefängnis in ein Hotel verwandeln.«

»Wo ist mein Zimmer?«, fragte Nicolas.

»Hinten rechts.«

»Wuff, wuff«, machte der Hund und begann nach Lucies Waden zu schnappen, ohne Rücksicht darauf, dass sie das Hochzeitsgeschirr auf dem Arm hatte.

Aus diesem Grund wurde er prompt in die Toilette geschickt, und sie sperrten die Tür zu, denn er war in der Lage, zur Klinke hochzuspringen und sie herunterzudrücken.

»Kanntest du den gut, deinen spendablen Onkel?«, fragte Lucie.

»Onkel Edmond? Nein, ich kann mich nur erinnern, wie er mich immer als Flugzeug durch die Luft gewirbelt hat, als ich ganz klein war. Einmal hatte ich solche Angst, dass ich ihn vollgepinkelt habe.«

Sie lachten.

»Warst schon immer ein Angsthase, was?«, neckte ihn Lucie.

Jonathan tat so, als hätte er nichts gehört.

»Er war mir nicht böse. Er meinte bloß zu meiner Mutter: ›Schön, jetzt wissen wir wenigstens, dass aus ihm nie ein Flieger wird …‹ Später hat mir Mama erzählt, dass er meine Entwicklung aufmerksam verfolgt hat, aber ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.«

»Was war er von Beruf?«

»Er war Wissenschaftler. Biologe, glaube ich.«

Jonathan blickte nachdenklich drein. Im Grunde war ihm sein Wohltäter vollkommen unbekannt.

6 km davon entfernt: BEL-O-KAN

1 Meter hoch

50 Etagen unterhalb der Erde

50 Etagen über der Erde

Größte Stadt der Region

Geschätzte Einwohnerzahl: 18 Millionen

Jährliche Produktion:

50 Liter Blattlaushonigtau

10 Liter Schildlaushonigtau

4 Kilogramm Lamellenpilze

Kiesausstoß: 1 Tonne

Benutzbare Gänge: 120 km

Fläche am Boden: 2 m2

Ein Sonnenstrahl ist eingedrungen. Ein Bein zuckt. Die erste Bewegung seit Beginn des Winterschlafs vor drei Monaten. Ein anderes Bein, das in zwei Krallen endet, die sich allmählich spreizen, macht langsam einen Schritt nach vorne. Ein drittes löst sich aus der Starre. Dann ein Thorax. Dann ein Wesen. Dann zwölf Wesen.

Sie zittern, um ihr durchsichtiges Blut durch das Netz ihrer Adern zirkulieren zu lassen. Es geht von zähflüssigem in likörartigen, dann in flüssigen Zustand über. Nach und nach setzt sich die kardiale Pumpe wieder in Gang. Sie treibt den Lebenssaft bis in die Enden der Glieder. Die Biomechanismen erwärmen sich. Die hyperkomplexen Gelenke drehen sich. Überall verschieben sich die Kniescheiben mit ihren schützenden Platten, um den Punkt der äußersten Dehnbarkeit zu finden.

Sie stehen auf. Ihre Körper schöpfen Luft. Ihre Bewegungen wirken verzerrt. Ein Zeitlupentanz. Sie räkeln sich leicht, schütteln sich. Ihre Vorderbeine vereinen sich wie zum Gebet, aber nein, sie befeuchten ihre Krallen, um die Antennen zu reinigen.

Die zwölf, die aufgewacht sind, reiben sich gegenseitig ab. Dann versuchen sie, ihre Nachbarn zu wecken. Aber sie haben kaum Kraft, ihre eigenen Körper zu bewegen, sie können noch keine Energie weitergeben. Sie lassen davon ab.

Und so bahnen sie sich mühsam einen Weg inmitten der statuengleichen Körper ihrer Schwestern. Sie krabbeln auf die Große Außenwelt zu. Ihr Organismus mit dem noch kalten Blut muss die Energie aufnehmen, die das Tagesgestirn bietet.

Ermattet rücken sie vor. Jeder Schritt schmerzt. Sie haben so große Lust, sich wieder hinzulegen, friedlich dazuliegen wie Millionen ihresgleichen! Aber nein. Sie sind die Ersten, die erwacht sind. Es ist nun ihre Pflicht, die ganze Stadt wiederzubeleben.

Sie durchdringen die Hülle der Stadt. Zwar blendet sie das Sonnenlicht, doch der Kontakt mit Energie in ihrer reinsten Form stärkt sie enorm.

Sonne, durchdringe unsre hohlen Panzer

Bewege unsre schmerzenden Muskeln

Und vereine unsre ungleichen Gedanken.

Das ist ein altes Morgenlied der roten Ameisen aus dem hundertsten Jahrtausend. Schon damals hatten sie Lust, beim ersten Kontakt mit der Wärme innerlich zu jubilieren.

Kaum draußen, beginnen sie sich systematisch zu waschen. Sie sondern einen weißen Speichel ab und bestreichen damit ihre Kiefer und ihre Beine.

Sie bürsten sich ab. Das ist eine einzige, immergleiche Zeremonie. Zuerst die Augen. Die eintausenddreihundert kleinen Einzelaugen, die jedes Facettenauge kugelrund formen, werden entstaubt, befeuchtet, getrocknet. Genauso gehen sie bei den Antennen vor, bei den unteren Gliedern, den mittleren und den oberen Gliedern. Zum Schluss putzen sie ihre schönen roten Panzer, bis sie glänzen wie Tropfen aus Feuer.

Unter den zwölf, die aufgewacht sind, ist ein zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Es ist ein wenig kleiner als der Durchschnitt der belokanischen Bevölkerung, hat schmale Oberkiefer, und ist darauf programmiert, nicht länger als einige Monate zu leben. Aber dafür ist es auch mit Vorzügen ausgestattet, die seinen Mitbrüdern vorenthalten sind.

Erstes Privileg seiner Kaste: Da es geschlechtlich differenziert ist, besitzt es fünf Augen. Zwei große, kugelförmige Augen, die ihm ein Sichtfeld von hundertachtzig Grad verleihen. Plus drei kleine Ozellen, die in Form eines Dreiecks auf der Stirn angeordnet sind. Diese überzähligen Augen sind in Wirklichkeit Infrarotsensoren, die es ihm erlauben, aus der Ferne jegliche Wärmequelle zu registrieren, selbst in völliger Dunkelheit.

Dieses Charakteristikum erweist sich als umso wertvoller, als die meisten Bewohner der großen Städte dieses hunderttausendsten Jahrtausends vollständig blind geworden sind, da sie ihr ganzes Leben unter der Erde verbringen.

Aber das ist nicht seine einzige Besonderheit. Es verfügt auch (wie die Weibchen) über Flügel, die es ihm dann eines Tages möglich machen, zu fliegen, um die Liebe zu vollziehen.

Sein Thorax ist durch einen speziellen Schild geschützt: das Mesonotum.

Seine Antennen sind länger und sensibler als die der übrigen Bewohner.

Dieses junge Männchen bleibt eine ganze Weile auf der Kuppel und lädt sich mit Sonne auf. Dann, sobald es schön aufgewärmt ist, kehrt es in die Stadt zurück. Vorübergehend gehört es zur Kaste der »Wärmeboten«.

Es läuft durch die Gänge der dritten unteren Etage. Hier schläft alles noch tief. Die gefrorenen Körper sind erstarrt. Die Antennen hängen schlaff herab.

Noch träumen die Ameisen.

Das junge Männchen schiebt sein Bein auf eine Arbeiterin zu, um sie mit der lauen Wärme seines Körpers aufzuwecken. Dieser Kontakt löst einen angenehmen elektrischen Schlag aus.

Nach dem zweiten Klingeln war ein Tippeln wie von einer Maus zu hören. Die Tür öffnete sich mit leichter Verzögerung, weil Großmutter Augusta erst die Sicherheitskette lösen musste.

Seit dem Tod ihrer beiden Kinder lebte sie zurückgezogen auf diesen dreißig Quadratmetern, ließ sie die alten Erinnerungen vorbeiziehen. Das mochte ihr nicht guttun, an ihrer Liebenswürdigkeit jedoch änderte es nichts.

»Ich weiß, es ist lächerlich, aber zieh bitte die Filzpantoffeln an. Ich habe gerade das Parkett gebohnert.«

Jonathan gehorchte. Sie huschte ihm voraus in ein Wohnzimmer, dessen zahlreiche Möbel mit Schonbezügen versehen waren. Jonathan setzte sich auf die Kante des Sofas, scheiterte aber bei dem Versuch, dem Quietschen der Plastikhülle zu entgehen.

»Ich freu mich so, dass du gekommen bist … Ob du's glaubst oder nicht, ich hatte vor, dich in den nächsten Tagen anzurufen.«

»Aha?«

»Stell dir vor, Edmond hat mir etwas für dich dagelassen. Einen Brief. Er hat gesagt: ›Wenn ich sterbe, musst du Jonathan unbedingt diesen Brief geben.‹«

»Ein Brief?«

»Ein Brief, ja, ein Brief … Hmm, wenn ich nur wüsste, wo ich ihn gelassen habe. Warte mal … Er gibt mir den Brief, ich sag noch, ich werde ihn lieber wegtun, und lege ihn in eine Dose. Das muss eine dieser Blechdosen in dem großen Schrank gewesen sein.«

Sie begann Schlittschuh zu laufen, hielt jedoch nach dem dritten Gleitschritt inne.

»Nein, was bin ich dumm! Was ist das nur für ein Empfang! Du trinkst doch sicher ein Tässchen Tee?«

»Gern.«

Sie verschwand in der Küche, und man hörte Töpfe scheppern.

»Erzähl mir doch, wie's dir geht, Jonathan!«, rief sie.

»Puh, nicht so toll. Ich hab meine Stelle verloren.«

Großmutter steckte kurz ihren weißen Mäuschenkopf durch die Tür, dann erschien sie ganz, mit ernster Miene, eingepackt in eine lange, blaue Schürze.

»Haben sie dich entlassen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weißt du, das mit dem Schlüsseldienst ist schon ein spezielles Metier. Bei unserem Unternehmen, ›SOS Schlüssel‹, da arbeiten wir rund um die Uhr, in ganz Paris. Na ja, und nachdem einer meiner Kollegen überfallen worden ist, habe ich mich geweigert, abends in zwielichtigen Vierteln herumzufahren. Daraufhin haben sie mich gefeuert.«

»Das war richtig von dir. Besser keine Arbeit und gesund als umgekehrt.«

»Außerdem habe ich mich mit meinem Chef nicht besonders verstanden.«

»Und wie ging es dir mit der utopischen Gemeinschaft? Zu meiner Zeit nannte man das ja New-Age-Gemeinschaften.« (Sie lachte verhalten, sie hatte das ausgesprochen wie »'ne Waage«.)

»Das habe ich nach dem Reinfall mit dem Bauernhof in den Pyrenäen aufgegeben. Lucie war es leid, ständig für alle zu kochen und zu spülen. Es gab da ein paar Parasiten unter uns. So etwas ärgert einen. Jetzt lebe ich nur noch mit Lucie und Nicolas … Und wie geht's dir, Großmutter?«

»Mir? Ich lebe. Damit hat man genug zu tun.«

»Du Glückliche! Du hast noch die Jahrtausendwende erlebt …«

»Och, weißt du, am meisten wundert es mich, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Früher, als ich noch blutjung war, da haben wir geglaubt, nach der Jahrtausendwende würden sich außergewöhnliche Dinge ereignen, und wie du siehst, hat sich nichts weiter getan. Es gibt immer noch alte, einsame Leute, immer noch Arbeitslose, immer noch die Autos mit ihren Abgasen. Nicht einmal die Ideen haben sich weiterentwickelt. Guck mal, letztes Jahr hat man den Surrealismus wiederentdeckt, vorletztes Jahr den Rock 'n' Roll, und für diesen Sommer kündigen die Zeitungen das große Comeback des Minirocks an. Wenn das so weitergeht, werden bald noch die Erfindungen vom Beginn des letzten Jahrhunderts wieder hervorgeholt: der Kommunismus, die Psychoanalyse und die Relativitätstheorie …«

Jonathan lächelte.

»Einige Fortschritte gibt es aber doch: Die durchschnittliche Lebensdauer des Menschen ist gestiegen, ebenso die Anzahl der Scheidungen, der Grad der Luftverschmutzung, die Länge der Metro-Linien …«

»Na fein. Ich hab geglaubt, wir hätten alle unser eigenes Flugzeug und könnten vom Balkon abheben. Weißt du, als ich jung war, hatten die Leute Angst vor dem Atomkrieg. Das war eine tolle Angst. Mit hundert Jahren in der Glut eines gigantischen Atompilzes zu sterben, gemeinsam mit dem Planeten unterzugehen, das hatte schon was. Stattdessen werde ich wie eine alte verfaulte Kartoffel enden. Und alle Welt wird sich 'nen Dreck darum scheren.«

»Aber nein, Großmutter, aber nein.«

Sie wischte sich über die Stirn.

»Außerdem wird es immer heißer. Zu meiner Zeit war es nicht so heiß. Da gab es noch richtige Winter und richtige Sommer. Jetzt fängt die Gluthitze schon im März an.«

Sie ging wieder in ihre Küche, hüpfte dorthin, um mit seltener Gewandtheit sämtliche Utensilien zu angeln, die für die Zubereitung eines richtig guten Kräutertees erforderlich waren. Man hörte ein Streichholz aufflammen und kurz darauf das Gas, das durch die altmodischen Düsen ihres Herdes zischte, dann kehrte sie, um einiges entspannter, wieder zurück.

»Nun denn, du bist sicher aus einem bestimmten Grund gekommen. Heutzutage schaut man nicht einfach so bei alten Leuten vorbei.«

»Sei nicht zynisch, Großmutter.«

»Ich bin nicht zynisch, ich weiß nur, in was für einer Welt ich lebe, das ist alles. Komm, Schluss mit dem Getue, sag schon, was dich zu mir führt.«

»Ich möchte, dass du mir von ›ihm‹ erzählst. Er vermacht mir seine Wohnung, dabei kenne ich ihn nicht mal …«

»Edmond? Erinnerst du dich nicht mehr an ihn? Wo er doch so gern Flieger mit dir gespielt hat. Ich weiß noch, einmal, da hat er …«

»Ja, das weiß ich auch, aber davon abgesehen ist nur gähnende Leere …«

Sie setzte sich in einen großen Sessel, achtete darauf, den Schonbezug nicht allzu sehr zu zerknittern.

»Edmond, hmm, Edmond war eine Persönlichkeit. Schon als er ganz klein war, hat mir dein Onkel Kummer gemacht. Es war kein Zuckerschlecken, seine Mutter zu sein. Weißt du, er hat zum Beispiel all seine Spielsachen kaputtgemacht, einfach, um sie in ihre Teile zu zerlegen, und nicht etwa, um sie danach wieder zusammenzubauen. Und wenn es nur seine Spielsachen gewesen wären! Alles Mögliche hat er auseinandergenommen: Uhren, Plattenspieler, die elektrische Zahnbürste. Einmal hat er sogar den Kühlschrank in alle Einzelteile zerlegt.«

Wie zur Bestätigung begann die alte Wanduhr düster zu schlagen. Auch sie hatte bei dem kleinen Edmond allerhand mitgemacht.

»Und dann hatte er noch eine andere Marotte: Höhlen. Das ganze Haus hat er auf den Kopf gestellt, um sich seine Schlupfwinkel zu bauen. Eine hat er sich mit Decken und Schirmen auf dem Speicher gebaut, eine andere mit Stühlen und Pelzmänteln in seinem Zimmer. Darin hauste er dann den ganzen Tag, einfach so, inmitten der Schätze, die er dort hortete. Einmal hab ich nachgeschaut, beide waren voll von Kissen und anderem Zeug, das er aus den ganzen Geräten zusammengeklaubt hatte. Das sah gar nicht so ungemütlich aus.«

»Das machen doch alle Kinder …«

»Vielleicht, aber bei ihm nahm das wundersame Ausmaße an. Er weigerte sich, ins Bett zu gehen, er schlief nur noch in einer seiner Höhlen. Manchmal blieb er tagelang darin. Als wollte er überwintern. Deine Mutter hat mal behauptet, in einem früheren Leben müsse er ein Eichhörnchen gewesen sein.«

Jonathan lächelte ihr aufmunternd zu.

»Eines Tages wollte er seine Bude unter dem Wohnzimmertisch bauen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dein Großvater, eigentlich ein friedlicher Mensch, hat einen Tobsuchtsanfall bekommen. Er hat ihm den Hintern versohlt, seine Höhlen zerstört und ihn gezwungen, im Bett zu schlafen.«

Sie seufzte.

»Von diesem Tag an hat er sich uns völlig entzogen. Als hätte jemand die Nabelschnur durchtrennt. Wir gehörten nicht mehr zu seiner Welt. Aber ich glaube, diese Zerreißprobe war nötig, er musste begreifen, dass sich die Welt nicht ewig seinen Launen beugt. Später, als er größer wurde, hat das Probleme gegeben. Er ertrug die Schule nicht mehr. ›Wie alle Kinder‹, wirst du wieder sagen. Aber bei ihm ging das darüber hinaus. Kennst du viele Kinder, die sich mit ihrem Gürtel in der Toilette aufhängen, weil sie von ihrem Lehrer einen Rüffel bekommen haben? Er, er hat sich mit sieben Jahren aufgehängt. Der Hausmeister hat ihn runtergeholt.«

»Vielleicht war er zu sensibel …«

»Zu sensibel? Von wegen! Ein Jahr später hat er versucht, einen seiner Lehrer mit einer Schere zu erstechen. Mitten ins Herz hat er gezielt. Zum Glück hat er nur sein Zigarettenetui erwischt.«

Sie blickte zur Decke. Alle möglichen Erinnerungen rieselten ihr wie Schneeflocken in den Sinn.

»Danach hat sich das ein wenig gelegt, weil es einigen Lehrern gelang, seine Begeisterung zu wecken. Er hatte eine Eins in allen Fächern, die ihn interessierten, und eine Sechs in allen anderen. Eins oder Sechs, sonst gab es nichts.«

»Mama hat gesagt, er sei ein Genie.«

»Deine Mutter schwärmte für ihn, weil er ihr erklärt hat, er versuche das ›absolute Wissen‹ zu erlangen. Deine Mutter glaubte seit ihrem zehnten Lebensjahr an ein früheres Leben, und sie hat gedacht, er sei die Reinkarnation von Einstein oder Leonardo da Vinci.«

»Also nicht nur ein Eichhörnchen?«

»Warum nicht auch das. ›Es braucht viele Leben, um eine Seele zu schaffen‹, hat Buddha gesagt.«

»Hat er IQ-Tests gemacht?«

»Ja. Die waren ein totaler Reinfall. Dreiundzwanzig von hundertachtzig Punkten hat er erreicht, was leichten Schwachsinn bedeutet. Seine Lehrer haben gedacht, er sei verrückt, und man müsse ihn in eine Anstalt stecken. Ich aber wusste, dass er nicht verrückt war. Er war nur ›daneben‹. Ich erinnere mich, dass er einmal, oh, da war er keine elf Jahre alt, mit mir gewettet hat, dass ich es nicht schaffen würde, vier gleichseitige Dreiecke mit nur sechs Streichhölzern zu bilden. Das ist nicht einfach, hier, versuch's doch mal …«

Sie ging in die Küche, warf einen Blick auf ihren Teekessel und brachte sechs Streichhölzer mit. Jonathan zögerte einen Moment. Das schien machbar. Er probierte verschiedene Arten aus, die sechs Stäbchen anzuordnen, aber nach einigen Minuten musste er aufgeben.

»Wie ist denn die Lösung?«

Großmutter Augusta konzentrierte sich.

»Na ja, ich glaube, die hat er mir nie verraten. Das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, was er mir als Hilfestellung gesagt hat: ›Man muss anders denken; wenn man so überlegt, wie man es gewohnt ist, erreicht man nichts.‹ Stell dir vor, ein Balg von elf Jahren, der solche Sachen von sich gibt! Ah, ich glaube, da pfeift der Teekessel. Das Wasser kocht wohl.«

Sie kehrte mit zwei Tassen zurück, die mit einer gelblichen, duftenden Flüssigkeit gefüllt waren.

»Weißt du, ich freue mich, dass du dich so für deinen Onkel interessierst. Heutzutage sterben die Leute, und man vergisst sogar, dass sie auf der Welt waren.«

Jonathan ließ die Streichhölzer fallen und trank vorsichtig einige Schlucke Kräutertee.

»Und wie ging es dann weiter?«

»Ich weiß es nicht. Kaum hatte er sein Studium an der Naturwissenschaftlichen Fakultät aufgenommen, haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ich habe nur andeutungsweise von deiner Mutter erfahren, dass er seinen Doktor glänzend bestanden und anschließend in der Nahrungsmittelindustrie gearbeitet hat, die er dann verließ, um nach Afrika zu gehen, und dass er wieder zurückgekehrt ist, um sich in der Rue des Sybarites niederzulassen. Danach hat bis zu seinem Tod niemand mehr etwas von ihm gehört.«

»Woran ist er gestorben?«

»Ja, weißt du das denn nicht? Eine unglaubliche Geschichte. Sie stand in sämtlichen Zeitungen. Stell dir vor, er ist von Wespen getötet worden!«

»Von Wespen? Wie das?«

»Er ist allein durch den Wald spaziert. Er muss aus Unachtsamkeit ein Nest umgestoßen haben. Sie sind allesamt über ihn hergefallen. ›Ich habe noch nie so viele Stiche an einem einzigen Menschen gesehen‹, hat der Gerichtsmediziner gesagt. Er ist mit 0,3 Gramm Gift pro Liter Blut gestorben. Absoluter Rekord.«

»Gibt es ein Grab?«

»Nein. Er hat darum gebeten, unter einer Kiefer im Wald beerdigt zu werden.«

»Hast du ein Foto von ihm?«

»Da, schau mal, an der Wand, über der Kommode. Rechts: Suzy, deine Mutter (hast du schon mal ein Bild von ihr gesehen, als sie noch so jung war?). Und links: Edmond.«

Er hatte eine kahle Stirn, einen spitzen Schnurrbart, Ohren ohne Ohrläppchen wie Kafka, die bis über die Augenbrauenhöhe reichten. Er lächelte spöttisch. Ein wahres Teufelchen.

Suzy neben ihm sah in ihrem weißen Kleid wunderschön aus. Sie hatte einige Jahre zuvor geheiratet, aber stets darauf bestanden, ihren Familiennamen Wells beizubehalten. Als wollte sie nicht, dass ihr Partner die Spur seines Namens bei ihren Sprösslingen hinterließ.

Jonathan trat näher heran und konnte erkennen, dass Edmond zwei ausgestreckte Finger über den Kopf seiner Schwester hielt.

»Er war ein richtiger Schelm, oder?«

Augusta gab keine Antwort. Ein Schleier von Trauer hatte sich über ihren Blick gelegt, sobald ihr wieder das Gesicht ihrer Tochter entgegenstrahlte. Suzy war vor sechs Jahren gestorben. Ein Fünfzehntonner, gesteuert von einem betrunkenen Fahrer, hatte ihren Wagen in eine Schlucht gestoßen. Der Todeskampf hatte zwei Tage gedauert. Sie hatte nach Edmond verlangt, aber Edmond war nicht gekommen. Wieder einmal war er sonst wo gewesen …

»Kennst du noch mehr Leute, die mir von Edmond erzählen könnten?«

»Hmm … Da war ein Jugendfreund, den hat er öfter gesehen. Sie waren sogar zusammen an der Universität. Jason Bragel. Seine Nummer müsste ich noch haben.«

Augusta sah rasch in ihrem Computer nach, dann gab sie Jonathan die Adresse. Liebevoll schaute sie ihren Enkel an. Der letzte Überlebende der Familie Wells. Ein braver Junge.

»Komm, trink deinen Tee aus, sonst wird er kalt. Ich hab auch noch ein paar Madeleines, wenn du willst. Ich backe sie selbst, mit Wachteleiern.«

»Nein, danke, aber ich muss wieder los. Besuch uns doch mal in unserer neuen Wohnung; wir sind fertig mit dem Umzug.«

»Gerne. Warte, geh nicht ohne den Brief.«

Sie durchsuchte fieberhaft den großen Wandschrank, die Blechschubladen, schließlich fand sie einen weißen Umschlag, auf dem in eilig dahingekritzelten Buchstaben stand: »Jonathan Wells.« Die Lasche des Umschlags war mit mehreren Klebestreifen verstärkt, um zu verhindern, dass er von selbst aufging. Jonathan riss ihn vorsichtig auf. Ein zerknittertes Blatt, wie aus einem Schulheft, fiel heraus. Nur ein einziger Satz war darauf notiert:

NIEMALS DEN KELLER BETRETEN!

Die andere Ameise zittert mit den Antennen. Sie ist wie ein Wagen, der lange im Schnee gestanden hat und nur mühsam wieder anspringt. Das Männchen versucht es mehrfach. Es reibt sie ein. Bestreicht sie mit warmem Speichel.

Leben. Da ist es, der Motor springt wieder an. Eine Jahreszeit ist vorüber. Alles beginnt von vorn, als hätten sie nie diesen »kleinen Tod« erfahren.

Das Männchen reibt weiter, um ihr Kalorien zu übertragen. Sie ist jetzt wohlauf. Während sich das Männchen weiter abmüht, richtet sie ihre Antennen in seine Richtung. Sie kitzelt es ganz sanft. Sie will wissen, wer es ist.

Sie berührt das von seinem Kopf aus gesehen erste Segment der Antennen und liest sein Alter: hundertdreiundsiebzig Tage. Auf dem zweiten erkennt die blinde Arbeiterin seine Kaste: zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Auf dem dritten seine Rasse und seine Herkunft: rote Waldameise aus der Hauptstadt Bel-o-kan. Auf dem vierten entdeckt sie die Legenummer, die ihm als Benennung dient: Es ist das 327. Männchen, das seit Herbstanfang geboren wurde.

Dort bricht ihre olfaktorische Identifizierung ab. Die restlichen Segmente sind nicht fürs »Senden« bestimmt. Das fünfte dient dazu, die Pistenmoleküle aufzunehmen. Das sechste ist für einfache Dialoge bestimmt. Das siebte ermöglicht komplexere Dialoge geschlechtlicher Art. Das achte ist den Dialogen mit der Königin vorbehalten. Die drei letzten schließlich dienen als kleine Keulen.

So, sie ist sämtliche elf Segmente der zweiten Hälfte der Antenne durchgegangen. Aber sie hat ihm nichts zu sagen. Also rückt sie von ihm ab und macht sich auf den Weg, um sich ihrerseits auf dem Dach der Stadt zu wärmen.

Das Männchen tut es ihr nach. Schluss mit der Arbeit als Wärmebotschafter, jetzt beginnen die Instandsetzungsarbeiten!

Oben angekommen, konstatiert das Männchen Nr. 327 die Schäden. Die Stadt ist kegelförmig gebaut, um den Unbilden der Witterung möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Dennoch war der Winter verheerend. Wind, Schnee und Hagel haben die oberste Schicht der Zweige weggefegt. Vogelmist verstopft die Ausgänge. Sie müssen sich schnell ans Werk machen. Nr. 327 huscht auf einen großen gelben Fleck zu und fällt mit seinen Mandibeln über die harten, übelriechenden Fäkalien her. Auf der anderen Seite erscheinen bereits die Umrisse eines Insekts, das von innen her gräbt.

Der Spion hatte sich verdunkelt. Jemand schaute von der anderen Seite der Tür hindurch.

»Wer ist da?«

»Mein Name ist Gougne … Ich komme wegen des Einbands.«

Die Tür öffnete sich halb. Gougnes Blick fiel auf einen blonden Jungen von ungefähr zehn Jahren, dann, weiter unten, auf einen winzigen Hund, der seine Nase durch die Beine des Kindes schob und anfing zu knurren.

»Papa ist nicht da!«

»Bist du sicher? Professor Wells wollte bei mir vorbeikommen, und …«

»Professor Wells ist mein Großonkel. Er ist aber tot.«

Nicolas wollte die Tür wieder schließen, doch Gougne ging hartnäckig mit dem Fuß dazwischen.

»Aufrichtiges Beileid. Aber bist du sicher, dass er nicht einen dicken Aktendeckel mit Papieren hinterlassen hat? Ich bin der Buchbinder. Er hat mich im Voraus dafür bezahlt, dass ich seine Aufzeichnungen in Leder binde. Ich glaube, er hatte vor, eine Enzyklopädie anzulegen. Er wollte bei mir vorbeikommen, aber jetzt habe ich lange nichts mehr von ihm gehört …«

»Ich hab doch gesagt, er ist tot.«

Der Mann schob seinen Fuß weiter vor und drückte mit dem Knie gegen die Tür, als wollte er den Jungen umstoßen und eintreten. Der winzige Hund begann wütend zu kläffen. Der Mann blieb stehen.

»Verstehst du, es wäre mir ungeheuer peinlich, wenn ich meinen Verpflichtungen nicht nachkäme, und sei es posthum. Schau doch bitte nach. Irgendwo muss hier ein großer roter Ordner sein.«

»Eine Enzyklopädie, sagten Sie?«

»Ja, er hat dem Ganzen sogar einen Namen gegeben: ›Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens‹, aber es sollte mich wundern, wenn das auf dem Deckel stünde …«

»Hätten wir sicher gefunden, wenn so etwas hier wäre.«

»Entschuldige, wenn ich nicht lockerlasse, aber …«

Der Zwergpudel begann wieder zu zetern. Der Mann wich einen kleinen Schritt zurück, was dem Jungen reichte, um ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

Mittlerweile ist die ganze Stadt aufgewacht. Die Gänge sind voller Wärmeboten, die sich beeilen, die Bevölkerung zu wecken. An einigen Kreuzungen liegen jedoch noch reglose Bürgerinnen. Die Boten können sie noch so schütteln, ihnen Schläge versetzen, sie rühren sich nicht.

Sie werden sich nie mehr rühren. Sie sind tot. Der Winterschlaf ist ihnen zum Verhängnis geworden. Man kann nicht gefahrlos drei Monate mit einem praktisch nicht vorhandenen Herzschlag leben. Sie haben nicht gelitten. Sie sind im Schlaf verschieden, während eines plötzlichen Windstoßes, der die Stadt eingehüllt hat. Ihre Körper werden abtransportiert und auf die Deponie geworfen. Auf diese Weise schafft die Stadt jeden Morgen ihre toten Zellen mit dem anderen Abfall weg.

Kaum hat die Insektenstadt ihre Adern von allem Unrat gereinigt, beginnt ein buntes Treiben. Überall krabbeln Beine. Kiefer wühlen. Antennen zucken vor Informationen. Alles ist wieder wie zuvor. Wie vor dem einschläfernden Winter.

Das Männchen Nr. 327 transportiert gerade einen Zweig, der bestimmt sechzigmal so viel wiegt wie es selbst, als sich eine Kriegerin von über fünfhundert Tagen nähert. Sie klopft ihm mit ihren keulenartigen Segmenten auf den Schädel, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Es hebt den Kopf. Sie drückt ihre Antennen der Länge nach gegen seine.

Sie will, dass es die Instandsetzungsarbeiten aufgibt, um mit einer Gruppe von Ameisen … auf eine Jagdexpedition zu gehen.

Er berührt ihren Mund und ihre Augen.

Was für eine Jagdexpedition?

Sie lässt ihn an einem ziemlich trockenen Fleischstückchen riechen, das in einer Falte eines Gelenks ihres Thorax verborgen war.

Das hat man anscheinend kurz vor Winteranfang im Westen gefunden, und zwar in einem Winkel von 23° zur Mittagssonne.

Das Männchen probiert. Käfer, kein Zweifel. Blattkäfer, genauer gesagt. Komisch. Normalerweise müssten die Käfer noch im Winterschlaf sein. Wie jeder weiß, wachen die roten Ameisen bei 12° Außentemperatur, die Termiten bei 13°, die Fliegen bei 14° und die Käfer bei 15° auf.

Die alte Kriegerin lässt sich von diesem Argument nicht aus der Fassung bringen. Sie erklärt ihm, dass dieses Fleischstückchen aus einer ganz besonderen Gegend stammt, die von einer unterirdischen Quelle künstlich erwärmt wird. Dort gibt es keinen Winter. Es handelt sich um ein Mikroklima, in dem sich eine spezielle Fauna und Flora entwickelt hat.

Außerdem hat die Stadt immer großen Hunger, wenn sie wach wird. Sie braucht dringend Proteine, um wieder in Gang zu kommen. Die Wärme allein reicht nicht.

Nr. 327 willigt ein.

Die Expedition besteht aus achtundzwanzig Ameisen aus der Kaste der Kriegerinnen. Die meisten sind geschlechtslose alte Damen, so auch die, die Nr. 327 zum Mitkommen bewegt hat. Das Männchen Nr. 327 ist das einzige Mitglied aus der Kaste der Fortpflanzungsfähigen. Es mustert seine Gefährtinnen von weitem durch das Sieb seiner Augen.

Mit ihren Augen, bestehend aus Tausenden von Facetten, sehen die Ameisen kein tausendfach wiederholtes Bild, sondern eine Art Gitter. Sie haben Schwierigkeiten, Details zu erkennen. Dafür nehmen sie die feinsten Bewegungen wahr.

Die Kundschafterinnen dieser Expedition machen einen kampfeserprobten, weitgereisten Eindruck. Ihre schweren Bäuche sind mit Säure angefüllt. Ihre Köpfe sind mit überaus mächtigen Waffen behangen. Ihre Panzer weisen die Spuren feindlicher Mandibeln auf.

Seit einigen Stunden gehen sie schnurgerade voran. Sie kommen an mehreren Städten der Föderation vorbei, die weit in den Himmel ragen oder sich unter Bäumen erheben, Töchterstädte aus der Ni-Dynastie: Yodu-lu-baikan (der größte Getreideproduzent), Giu-li-aikan (dessen Killereinheiten vor zwei Jahren eine Koalition der Termiten des Südens besiegt haben), Zedi-bei-nakan (berühmt für seine Chemielabors, in denen hochkonzentrierte Säuren hergestellt werden), Li-wiu-kan (dessen Schildlausalkohol einen köstlichen Harzgeschmack hat).

Die roten Waldameisen schließen sich nämlich nicht nur in Städten, sondern auch in Koalitionen von Städten zusammen. Der Bund macht ihre Stärke aus. Im Jura ist man auf Föderationen von roten Ameisen gestoßen, die auf einem Gebiet von 80 Hektar 15 000 Ameisenhügel umfassten und eine Gesamtbevölkerung von über 200 Millionen Mitgliedern aufwiesen.

So weit ist Bel-o-kan noch nicht. Es handelt sich um eine junge Föderation, dessen erste Dynastie vor fünftausend Jahren gegründet wurde. Der einheimischen Legende zufolge soll eine von einem fürchterlichen Sturm verwehte junge Königin einst hier gelandet sein. Da es ihr nicht gelungen sei, zu ihrer eigenen Föderation zurückzufinden, habe sie Bel-o-kan gegründet, und aus Bel-o-kan seien wiederum die Föderation und die Hunderte von Generationen Ni-Königinnen, die diese bilden, hervorgegangen.

Belo-kiu-kiuni lautete der Name dieser ersten Königin. Das bedeutet eigentlich: »verirrte Ameise«. Aber sämtliche Königinnen der Hauptstadt haben ihren Namen übernommen.

Bislang besteht Bel-o-kan nur aus dieser großen, zentral gelegenen Hauptstadt und 64 mit ihr verbündeten Tochterstädten, die in der Umgebung verstreut liegen. Aber schon jetzt hat sich Bel-o-kan zur größten politischen Kraft in diesem Teil des Waldes von Fontainebleau entwickelt.

Nachdem sie die verbündeten Städte, vor allem La-chola-kan, die westliche belokanische Stadt, hinter sich gelassen haben, erreicht die Gruppe kleine Erhebungen, Erdschollen ähnlich: die Sommernester oder »Vorposten«. Sie sind noch leer. Aber Nr. 327 weiß, dass sie sich, im Zuge der Jagdexpeditionen und der Kriege, mit Soldatinnen füllen werden.

Sie gehen in einer Linie weiter. Der Trupp hastet eine weite, türkisfarbene Wiese und einen von Disteln gesäumten Hügel hinunter. Gen Norden zeichnet sich in der Ferne bereits die feindliche Stadt Shi-gae-pu ab. Aber ihre Bewohner dürften um diese Zeit noch schlafen.

Sie ziehen weiter. Die meisten Tiere ringsum liegen noch im Winterschlaf. Da und dort schieben ein paar Frühaufsteher den Kopf aus ihrem Bau. Kaum sehen sie die roten Panzer, verstecken sie sich verängstigt. Die Ameisen sind nicht gerade für ihre Geselligkeit bekannt. Vor allem nicht, wenn sie derart ausrücken, bewaffnet bis zu den Antennen.

Mittlerweile ist der Trupp an den Grenzen des vertrauten Terrains angelangt. Weit und breit ist keine einzige Tochterstadt mehr zu sehen. Am Horizont nicht die geringste Spur eines Vorpostens. Nicht die Spur eines von spitzen Beinen gegrabenen Pfades. Höchstens noch einige kaum wahrnehmbare Spuren einer alten Piste, mit Duftnoten markiert, die darauf schließen lassen, dass früher einmal Belokanerinnen hier vorbeigekommen sind.

Sie zögern. Das Laubwerk, das vor ihnen aufragt, ist auf keiner Geruchskarte vermerkt. Es bildet ein dunkles Dach, durch das kein Licht dringt. Diese von allen möglichen Tieren bewohnte Pflanzenmasse scheint regelrecht nach ihnen schnappen zu wollen.

Wie sollte er sie davon abhalten, da hinunterzugehen?

Er hängte sein Jackett auf und küsste seine Familie zur Begrüßung.

»Seid ihr fertig mit Auspacken?«

»Ja, Papa.«

»Schön. Übrigens, habt ihr die Küche gesehen? Ganz hinten ist eine Tür.«

»Das wollte ich dir gerade erzählen«, sagte Lucie. »Das muss ein Keller sein. Ich hab versucht, sie aufzumachen, aber sie ist abgeschlossen. Darunter ist ein großer Spalt. Man sieht nicht viel, aber anscheinend geht es dahinter tief hinunter. Du solltest das Schloss knacken. Dann hab ich auch mal was davon, einen Schlosser zum Mann zu haben.«

Sie lächelte und schmiegte sich in seine Arme. Lucie und Jonathan lebten seit dreizehn Jahren zusammen. Sie hatten sich in der Metro kennengelernt. Ein Rowdy hatte eines Tages aus reiner Langeweile eine Tränengasbombe in den Wagen geworfen. Daraufhin gingen sämtliche Fahrgäste zu Boden und husteten sich tränenüberströmt fast die Lunge aus dem Leib. Lucie und Jonathan lagen übereinander, und nachdem sie sich von ihrem Husten und Heulen erholt hatten, bot Jonathan an, sie nach Hause zu begleiten. Später lud er sie dann in eine seiner ersten utopischen Gemeinschaften ein, ein besetztes Haus in Paris, nahe dem Gare du Nord. Nach drei Monaten beschlossen sie zu heiraten.

»Nein.«

»Was heißt das, nein?«

»Nein, wir werden das Schloss nicht knacken, und wir werden auch diesen Keller nicht nutzen. Das Beste ist, wir reden nicht mehr davon, wir gehen gar nicht in seine Nähe und schlagen uns den Gedanken aus dem Kopf.«

»Das ist doch nicht dein Ernst! Erklär mir das mal!«

Jonathan hatte nicht daran gedacht, sich eine logische Erklärung für dieses Verbot zurechtzulegen. Unfreiwillig hatte er das Gegenteil dessen bewirkt, was er wollte. Jetzt waren seine Frau und sein Sohn neugierig geworden. Was sollte er tun? Ihnen erklären, es gäbe da ein Geheimnis um den wohltätigen Onkel, und Letzterer habe sie vor der Gefahr, die im Keller lauerte, warnen wollen?

Das war keine Erklärung. Das war bestenfalls Aberglaube. Die Menschen lieben die Logik, nie im Leben würden Lucie und Nicolas darauf hereinfallen.

Er stammelte: »Der Notar hat mich gewarnt.«

»Wovor hat er dich gewarnt?«

»Im Keller wimmelt es von Ratten!«

»Brrr! Ratten? Die schlüpfen garantiert durch den Spalt«, behauptete der Junge.

»Keine Bange, wir werden alles abdichten.«

Jonathan war ganz zufrieden mit der Wirkung seiner kleinen Lüge. Ein Glück, dass er auf die Idee mit den Ratten gekommen war.

»Na schön, also niemand nähert sich dem Keller, abgemacht?«

Er ging ins Badezimmer. Lucie kam nach.

»Du warst bei deiner Großmutter?«

»Stimmt.«

»Und das hat den ganzen Vormittag gedauert?«

»Ganz genau.«

»Du wirst doch nicht deine Zeit vertun und herumgammeln. Erinnere dich, was du auf dem Hof in den Pyrenäen gesagt hast: ›Müßiggang ist aller Laster Anfang.‹ Du musst wieder Arbeit finden. Unsere Rücklagen schmelzen dahin.«

»Wir haben gerade eine Wohnung von zweihundert Quadratmetern in einem feinen Viertel am Waldrand geerbt, und du redest von einem Job! Kannst du denn den Augenblick nicht genießen?«

Er wollte sie umarmen, sie wich zurück.

»Doch, das kann ich, aber ich kann dabei auch an die Zukunft denken. Ich habe keine Stellung, du bist arbeitslos – wovon sollen wir denn in einem Jahr leben?«

»Wir haben noch Reserven.«

»Sei nicht dumm, wir haben noch genug, um uns einige Monate über Wasser zu halten, aber dann …«

Sie stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften und streckte die Brust heraus.

»Hör zu, Jonathan, du hast deinen Job verloren, weil du nachts nicht durch gefährliche Gegenden fahren wolltest. Okay, das versteh ich, aber du müsstest doch woanders etwas finden können!«

»Natürlich. Ich werde mir Arbeit suchen, lass mich nur erst mal auf andere Gedanken kommen. Ich verspreche dir, danach, sagen wir, so in einem Monat, stürze ich mich auf die Annoncen.«

Ein blondes Köpfchen schaute herein, alsbald gefolgt von einem flauschigen Etwas auf vier Beinen. Nicolas und Ouarzazate.

»Papa, vorhin war ein Mann da, um ein Buch zu binden.«

»Ein Buch? Was für ein Buch?«

»Ich weiß nicht, er hat von einer großen Enzyklopädie geredet, die Onkel Edmond geschrieben hat.«

»Ach nein, sieh an … War er in der Wohnung? Habt ihr sie gefunden?«

»Nein, der sah nicht nett aus, und weil sowieso kein Buch da ist …«

»Bravo, mein Sohn, das hast du gut gemacht.«

Jonathan war zunächst perplex ob dieser Neuigkeit, dann wurde er neugierig. Er durchwühlte das ganze Untergeschoss. Vergeblich. Danach blieb er eine ganze Weile in der Küche und untersuchte die Kellertür, das große Schloss und den breiten Spalt. Welches Geheimnis verbarg sich dahinter?

Sie müssen unbedingt in diesen Busch vordringen.

Dazu macht eine der alten Kundschafterinnen einen Vorschlag. Sich zu einer »Schlange mit dickem Kopf« formieren, der beste Weg, auf ungastlichem Terrain vorzurücken. Sofortige Zustimmung – sie hatten alle die gleiche Idee.

Fünf in einem umgedrehten Dreieck angeordnete Aufklärerinnen bilden die Augen der Truppe. Mit kleinen, gemessenen Schritten tasten sie den Boden ab, schnuppern in den Himmel, inspizieren das Moos. Wenn alles in Ordnung ist, sondern sie eine olfaktorische Botschaft ab mit dem Inhalt: »Vorne nichts!« Dann reihen sie sich am Ende des Zugs ein, um von einzelnen »neuen« Mitgliedern ersetzt zu werden. Dieses Rotationssystem verwandelt die Gruppe in eine Art langes Tier, dessen »Nase« stets hypersensibel bleibt.

Zwanzigmal kommt das »Vorne nichts!« klar und deutlich. Beim einundzwanzigsten Mal wird es von einem grauenhaften falschen »Ton« unterbrochen. Eine der Aufklärerinnen hat sich unbesonnen einer fleischfressenden Pflanze genähert. Eine Dionaea. Ihr betörender Duft hat sie angelockt, ihr Leim hat die Beine der Ameise umschlossen.

Von da an ist alles verloren. Der Kontakt mit den Härchen löst den Mechanismus des organischen Scharniers aus. Die beiden breiten Blätter, durch Gelenke miteinander verbunden, schließen sich unerbittlich. Die langen »Fransen« dienen als Zähne. Sie verschränken sich und werden zu festen Stäben. Wenn das Opfer gänzlich platt gedrückt ist, sondert das pflanzliche Raubtier seine gefräßigsten Enzyme ab, die imstande sind, die härtesten Panzer zu verdauen.

Und so schmilzt die Ameise. Ihr ganzer Körper verwandelt sich in einen schäumenden Saft. Sie stößt einen Duft von Verzweiflung aus.

Aber man kann nichts mehr für sie tun. Das gehört zu den Unwägbarkeiten sämtlicher Expeditionen, die über weite Strecken führen. Es bleibt nur noch, die Umgebung der natürlichen Falle mit »Achtung, Gefahr« zu markieren.

Sie vergessen den Zwischenfall und machen sich wieder auf den von Duftstoffen gekennzeichneten Weg. Die Pistenpheromone zeigen die Richtung an. Nachdem sie das Gestrüpp durchquert haben, ziehen sie gen Westen weiter. Immer noch in einem Winkel von 23° zur Mittagssonne. Sie ruhen sich kaum aus, wenn es zu kalt oder zu warm wird. Sie müssen sich beeilen, wenn sie nicht mitten in einen Krieg zurückkehren wollen.

Es ist bereits vorgekommen, dass Kundschafterinnen bei ihrer Rückkehr ihre Stadt von feindlichen Truppen eingeschlossen fanden. Und eine solche Blockade zu durchbrechen ist kein Kinderspiel.

Da ist es! Sie haben das Pistenpheromon gefunden, das den Eingang der Höhle anzeigt. Wärme steigt aus dem Boden auf. Sie dringen in die Tiefen der steinigen Erde ein.

Je tiefer sie kommen, umso deutlicher nehmen sie das leise Plätschern einer Abflussrinne wahr. Das ist die warme Quelle. Sie dampft und verströmt einen starken Schwefelgeruch.

Die Ameisen löschen ihren Durst.

Kurz darauf entdecken sie ein komisches Tier: eine Kugel mit Beinen, könnte man glauben. In Wirklichkeit ist das ein Skarabäus, ein Pillendreher, der eine Kugel aus Kuhmist und Sand, in der seine Eier luftdicht gelagert sind, vor sich herschiebt. Wie der legendäre Atlas trägt er seine »Welt«. Wenn die Neigung des Geländes günstig ist, rollt die Kugel von allein, und er braucht ihr nur zu folgen. Wenn nicht, muss er sich abrackern, er rutscht aus und muss sie oft unten wieder holen. Erstaunlich, einen Skarabäus hier anzutreffen. Normalerweise hält der sich eher in wärmeren Zonen auf …

Die Belokanerinnen lassen ihn ziehen. Sein Fleisch ist ohnehin nicht besonders schmackhaft, und sein Panzer ist zum Transport viel zu schwer.

Links von ihnen huscht eine schwarze Gestalt davon, um sich in einem Felsspalt zu verstecken. Ein Ohrwurm. Der allerdings, ja, der ist lecker. Die älteste Kundschafterin reagiert am schnellsten. Sie klemmt ihren Hinterleib unter ihren Hals, begibt sich in Schussposition, indem sie sich auf die Hinterbeine stützt, zielt mit untrüglichem Gespür und feuert aus weiter Entfernung einen Tropfen Ameisensäure ab. Der ätzende, zu über vierzig Prozent konzentrierte Saft schießt durch den Raum.

Treffer.

Der Ohrwurm bricht in vollem Lauf, wie vom Blitz erschlagen, zusammen. Vierzigprozentige Säure, das ist kein Fruchtsaft. Die beißt schon bei vierzig Promille, bei vierzig Prozent verätzt sie alles! Das Insekt bleibt tot liegen, und alle stürzen herbei, um sein verbranntes Fleisch zu verschlingen. Die Herbstkundschafterinnen haben gute Pheromone hinterlassen. Die Ecke scheint reich an Wild. Die Jagd wird gut ausfallen.

Sie steigen in einen artesischen Brunnen hinab und terrorisieren alle möglichen Arten von ihnen bis dahin fremden unterirdischen Bewohnern. Eine Fledermaus versucht zwar, ihrer Visite ein Ende zu machen, aber sie vertreiben sie, indem sie sie in eine Wolke von Ameisensäure hüllen.

In den folgenden Tagen lassen sie nicht davon ab, die warme Höhle zu durchkämmen. Sie stapeln die Kadaver kleiner weißer Tiere und die Überreste hellgrüner Pilze. Mit ihrer analen Drüse streuen sie weitere Pheromone aus, die es ihren Schwestern ermöglichen werden, hier ungehindert zu jagen.

Die Mission ist gelungen. Das Territorium hat einen Arm bis hierher, über das Dickicht im Westen hinaus, ausgestreckt. Schwer beladen mit Nahrungsmitteln, kurz bevor sie sich auf den Rückweg machen, hinterlassen sie chemisch die Flagge der Föderation. Ihr Duft lässt es durch die Lüfte schallen: »BEL-O-KAN!«

»Wie war der Name?«

»Wells, ich bin der Neffe von Edmond Wells.«

Die Tür geht auf, und es erscheint ein großer Kerl von fast zwei Metern. »Monsieur Jason Bragel …? Entschuldigen Sie die Störung, aber ich würde gern mit Ihnen über meinen Onkel reden. Ich habe ihn nicht gekannt, und meine Großmutter hat mir erzählt, Sie seien sein bester Freund gewesen.«

»Treten Sie ein … Was möchten Sie über Edmond wissen?«

»Alles. Ich habe ihn nicht gekannt, und ich bedaure es …«

»Hm. Verstehe. Auf jeden Fall gehörte Edmond zu jenen Menschen, die ein wandelndes Geheimnis bleiben.«

»Kannten Sie ihn gut?«

»Wer kann schon behaupten, jemanden zu kennen? Sagen wir, dass wir zwei Leute waren, die oft Seite an Seite gingen, und dass keiner von uns etwas dagegen hatte.«

»Wo sind Sie einander begegnet?«

»An der Universität, am Institut für Biologie. Ich habe mich mit Pflanzen herumgeplagt, er mit Bakterien.«

»Immerhin zwei ähnlich gelagerte Welten.«

»Ja, nur dass meine trotz allem wilder ist«, korrigierte ihn Jason Bragel und deutete auf das wahre Durcheinander von Pflanzen, das sich über das ganze Esszimmer erstreckte. »Sehen Sie die? Die sind allesamt Kontrahenten, bereit, sich gegenseitig für einen Lichtstrahl oder einen Tropfen Wasser umzubringen. Kaum ist ein Blatt im Schatten, stößt die Pflanze es ab, und die benachbarten Blätter wachsen breiter. Die Pflanzen, das ist wirklich eine Welt ohne Erbarmen …«

»Und Edmonds Bakterien?«

»Er selbst hat erklärt, er studiere lediglich seine Vorfahren. Sagen wir, er verfolgte seinen Stammbaum etwas weiter zurück als andere …«

»Und weshalb Bakterien? Warum nicht Affen oder Fische?«

»Er wollte die Zelle in ihrem Urzustand verstehen. Da der Mensch nur ein Konglomerat von Zellen ist, meinte er die ›Psychologie‹ einer Zelle von Grund auf verstehen zu müssen, um daraus das Funktionieren des Ganzen abzuleiten. ›Ein großes, komplexes Problem ist in Wirklichkeit nur die Summe kleiner, einfacher Probleme.‹ Er hat diesen Spruch wörtlich genommen.«

»Hat er nur über Bakterien gearbeitet?«

»Nein, nein. Er war eine Art Mystiker, ein wahrer Generalist, am liebsten hätte er alles gewusst. Er hatte auch seine Schrullen … Zum Beispiel wollte er seinen eigenen Herzschlag kontrollieren.«

»Das ist doch unmöglich!«

»Angeblich bringen einige hinduistische und tibetanische Yogis dieses Wunder zustande.«

»Und was hat man davon?«

»Keine Ahnung … Er wollte dahin gelangen, um jederzeit Selbstmord begehen zu können, indem er allein mit seiner Willenskraft sein Herz anhalten würde. Auf diese Weise glaubte er in der Lage zu sein, das Spiel jederzeit abzubrechen.«

»Und zu welchem Zweck?«

»Vielleicht hatte er Angst vor den Schmerzen, die mit dem Alter einhergehen.«

»Hmm … Und was hat er nach seiner Habilitation in Biologie gemacht?«

»Er hat in der Wirtschaft gearbeitet, in einer Firma, die lebende Bakterien für Joghurts herstellte. Die ›Sweetmilk Corporation‹. Das hat sich für ihn gelohnt. Er hat eine Bakterie entdeckt, bei der sich nicht nur ein Geschmack, sondern dazu ein Geruch entwickelte! Er hat dafür den Preis für die beste Erfindung des Jahres 1963 erhalten …«

»Und danach?«

»Danach hat er eine Chinesin geheiratet. Ling Mi. Ein sanftes, fröhliches Mädchen. Er, der Brummbär, ist auf der Stelle umgänglicher geworden. Er war sehr verliebt. Von da an habe ich ihn seltener gesehen. Ganz klassisch.«

»Ich habe gehört, er sei nach Afrika gegangen.«

»Ja, aber erst danach.«

»Wonach?«

»Nach dem Drama. Ling Mi hatte Leukämie. Blutkrebs, da war nichts zu machen. Innerhalb von drei Monaten hat sie der Tod ereilt. Der Ärmste … Da hatte er immer behauptet, nur die Zellen seien spannend und die Menschen Nebensache … Eine grausame Lektion. Und er hatte nichts dagegen tun können. Parallel zu diesem Desaster bekam er Streit mit seinen Kollegen in der ›Sweetmilk Corporation‹. Er hat die Stelle aufgegeben und sich, schwer deprimiert, in seiner Wohnung eingeschlossen. Ling Mi hatte ihm den Glauben an die Menschheit wiedergeschenkt, und ihr Verlust ließ ihn endgültig in seine Misanthropie zurückfallen.«

»Ist er nach Afrika gegangen, um Ling Mi zu vergessen?«

»Vielleicht. Zumindest hat er gehofft, die Wunde würde heilen, wenn er sich Hals über Kopf in seine Arbeit als Biologe stürzte. Er muss ein anderes, ebenso fesselndes Gebiet gefunden haben. Ich weiß nicht genau, was das war, aber die Bakterien waren es nicht mehr. Wahrscheinlich hat er sich in Afrika niedergelassen, weil der Gegenstand dieser Arbeit dort leichter zu untersuchen war. Er hat mir eine Postkarte geschickt mit der Mitteilung, er sei dort unten mit einem Team des Nationalen Forschungszentrums und arbeite mit einem gewissen Professor Rosenfeld zusammen. Mir ist dieser Herr unbekannt.«

»Haben Sie Edmond anschließend wiedergesehen?«

»Ja, einmal zufällig auf den Champs-Élysées. Wir haben ein wenig miteinander geplaudert. Er hatte offenkundig neuen Lebensmut geschöpft. Aber seine Antworten waren sehr vage, allen Fragen, die seinen Beruf betrafen, ist er geschickt ausgewichen.«

»Es heißt, er habe eine Enzyklopädie geschrieben.«

»Jaja, das wollte er schon immer. Das war sein großer Traum. Alles, was er wusste, in einem Werk vereinigt.«

»Haben Sie sie schon gesehen?«

»Nein. Und ich glaube auch nicht, dass er sie jemals irgendwem gezeigt hat. So wie ich Edmond kenne, hat er sie im entlegensten Winkel von Alaska mit einem feuerspeienden Drachen als Wächter versteckt. Das war so seine Art, ganz der große Zauberer.«

Jonathan wollte sich schon verabschieden.

»Ach, noch eine Frage: Wissen Sie, wie man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern legt?«

»Natürlich. Das war sein liebster Intelligenztest.«

»Und, wie ist die Lösung?«

Jason lachte laut auf.

»Nein, das verrate ich Ihnen bestimmt nicht! Wie sagte Edmond? ›Jeder muss allein seinen Weg finden.‹ Und Sie werden sehen, die Befriedigung, wenn Sie es entdeckt haben, wird zehnmal so groß sein.«

Mit all diesem Fleisch auf dem Rücken kommt ihnen die Strecke länger vor als auf dem Hinweg. Die Truppe schreitet kräftig aus, um nicht von den Unwägbarkeiten der Nacht überrascht zu werden.

Ameisen sind in der Lage, von März bis November vierundzwanzig Stunden am Tag ohne die geringste Pause zu arbeiten; jeder Temperatursturz schläfert sie jedoch ein. Aus diesem Grund kommt es selten zu Expeditionen, die länger als einen Tag dauern.

Die Stadt der roten Waldameisen hatte lange über dieses Problem nachgedacht. Man wusste, wie wichtig es war, die Jagdgebiete auszudehnen und ferne Länder kennenzulernen, in denen andere Pflanzen wuchsen und andere Tiere mit anderen Sitten lebten.

Im achthundertfünfzigsten Jahrtausend hatte Bi-stin-ga, eine rote Königin aus der Ga-Dynastie (eine Dynastie im Osten, die seit hunderttausend Jahren ausgestorben war), den wahnwitzigen Plan verfolgt, die »äußersten Enden« der Welt kennenzulernen. Sie hatte Hunderte von Expeditionen in alle vier Himmelsrichtungen losgeschickt. Keine war je zurückgekehrt.

Die derzeitige Königin, Belo-kiu-kiuni, war nicht so ehrgeizig. Ihre Neugierde beschränkte sich auf die Entdeckung dieser kleinen goldfarbenen Käfer, die wie kostbare Steine aussahen (und die tief im Süden zu finden waren), oder auf die Betrachtung der fleischfressenden Pflanzen, die man ihr zuweilen lebendig, mit Wurzel, brachte und die sie eines Tages zu zähmen hoffte.

Belo-kiu-kiuni wusste, der beste Weg, neue Territorien kennenzulernen, bestand darin, die Föderation weiter zu vergrößern. Noch mehr Expeditionen in ferne Gegenden, noch mehr Tochterstädte, noch mehr Vorposten, und all denen, die sich diesem Vorrücken entgegenstemmen, den Krieg erklären.

Sicher, bis zur Eroberung des Randes der Welt war es noch ein langer Weg, aber diese Politik der kleinen, beharrlichen Schritte stand im Einklang mit der allgemeinen Ameisenphilosophie: »Langsam, aber stetig voran.«

Die Föderation von Bel-o-kan umfasste mittlerweile vierundsechzig Tochterstädte. Vierundsechzig Städte mit dem gleichen Duft. Vierundsechzig Städte, die mit einem Netz von insgesamt einhundertfünfundzwanzig Kilometern gegrabener Pfade und siebenhundertachtzig Kilometern Pheromonpisten verbunden waren. Vierundsechzig Städte, die in Schlachten und Hungersnöten zusammenhielten.

Das Konzept der Föderation ermöglichte es einigen Städten, sich zu spezialisieren. Und Belo-kiu-kiuni träumte sogar davon, dass eines Tages eine Stadt nur Getreide produzierte, eine andere den Rest mit Fleisch versorgte und eine dritte sich ausschließlich mit dem Krieg befasste.

Noch war man nicht so weit.

Jedenfalls war das ein Konzept, das mit einem anderen Grundsatz der Ameisenphilosophie im Einklang war: »Die Zukunft gehört den Spezialisten.«

Die Kundschafterinnen sind noch weit von den Vorposten entfernt. Sie beeilen sich. Als sie an der fleischfressenden Pflanze vorbeikommen, schlägt eine der Kriegerinnen vor, sie samt Wurzel auszurupfen, um sie Belo-kiu-kiuni mitzubringen.

Allgemeine Antennenberatung. Sie diskutieren, indem sie winzige Geruchsmoleküle senden und empfangen. Die Pheromone. In Wirklichkeit Hormone, die aus ihrem Körper austreten. Man könnte jedes dieser Moleküle visualisieren wie ein Goldfischglas, in dem jeder Fisch ein Wort wäre.

Dank dieser Pheromone sind die Ameisen einer Kommunikation fähig, deren Nuancen praktisch unendlich sind. Den nervösen Antennenbewegungen nach zu urteilen scheint die Diskussion lebhaft zu sein.

Das ist zu sperrig.

Mutter kennt diese Art von Pflanze nicht.

Wir riskieren Verluste, außerdem haben wir dann weniger Arme, um die Beute zu transportieren.

Sind die fleischfressenden Pflanzen erst einmal gezähmt, dienen sie hervorragend als Waffen. Man könnte ganze Fronten halten, indem man sie einfach in einer Reihe anpflanzt.

Wir sind müde, und es wird bald Nacht.

Sie beschließen, davon abzusehen, krabbeln um die Pflanze herum und setzen ihren Weg fort. Als sich die Gruppe einer Wiese nähert, erblickt das Männchen Nr. 327, das sich am Ende des Zuges befindet, ein rotes Gänseblümchen. Ein solches Exemplar hat es noch nie gesehen. Da gibt es kein Zögern.

Auf die Dionaea haben wir verzichtet, aber das da nehmen wir mit.

Es lässt sich ein wenig zurückfallen und schneidet vorsichtig den Stängel der Blume durch. Klick! Dann drückt seinen Fund an sich und läuft los, um seine Kolleginnen wieder einzuholen.

Nur diese Kolleginnen, die gibt es nicht mehr. Die Expedition Nr. 1 des neuen Jahres ist freilich direkt vor seinen Augen, doch in welchem Zustand … Emotionaler Schock. Stress. Die Beine von Nr. 327 beginnen zu zittern. Sie hatten nicht einmal Zeit, sich in Gefechtsposition zu begeben, sie sind alle noch zu der »Schlange mit dickem Kopf« formiert.

Das Männchen mustert die Kadaver. Kein einziger Säurestrahl ist abgefeuert worden. Die Ameisen sind nicht einmal dazu gekommen, ihre Alarmpheromone auszustoßen.

Nr. 327 nimmt die Ermittlungen auf.

Es untersucht die Fühler des Kadavers einer Schwester. Olfaktorischer Kontakt. Keinerlei chemisches Bild ist aufgezeichnet. Sie zogen dahin, und plötzlich: Exitus.

Unbegreiflich, nicht zu fassen. Und doch muss es eine Erklärung geben. Zunächst einmal die Rezeptoren reinigen. Mit Hilfe der beiden gebogenen Krallen seines Vorderbeins schabt Nr. 327 an den Fühlern auf seiner Stirn, entfernt den Säureschaum, der sich durch den Anflug von Stress gebildet hat. Es biegt sie zu seinem Mund und leckt sie ab. Wischt sie an dem kleinen bürstenartigen Sporn ab, den die Natur klugerweise über seinem dritten Ellbogen angebracht hat.

Danach senkt das Männchen seine Antennen auf Augenhöhe und bringt sie langsam, mit 300 Schwingungen pro Sekunde, in Bewegung. Nichts. Es erhöht die Frequenz: 500, 1000, 2000, 5000, 8000 Schwingungen pro Sekunde. Es ist bei zwei Dritteln seiner rezeptiven Fähigkeit angelangt.

Sogleich nimmt es die feinsten Gerüche wahr, die durch die Luft schweben: den Dunst des Taus, Pollen, Sporen sowie einen ganz schwachen Duft, den es schon einmal gerochen hat, den zu identifizieren jedoch schwerfällt.

Es beschleunigt weiter. Maximale Frequenz: 12 000 Schwingungen pro Sekunde. In ihrem Wirbel erzeugen seine Antennen einen Saugeffekt, der sämtliche Staubkörnchen anzieht.

Da ist er wieder, diesmal gelingt es ihm, diesen schwachen Duft zu identifizieren. Das ist der Geruch der Schuldigen. Ja, sie müssen es sein, die unerbittlichen Nachbarn im Norden, die ihnen schon letztes Jahr so viele Sorgen bereitet haben.

Sie: die Zwergameisen aus Shi-gae-pu.

Sie sind also auch schon wach. Sie müssen einen Hinterhalt gelegt und mit einer neuartigen, gewaltigen Waffe zugeschlagen haben.

Das Männchen Nr. 327 darf keine Sekunde verlieren, es muss unverzüglich die ganze Föderation alarmieren.

»Sie sind alle von einem Laserstrahl mit sehr starker Amplitude getötet worden, Chef.«

»Von einem Laserstrahl?«

»Ja, eine neue Waffe, die unsere schwersten Raumschiffe aus großer Entfernung in nichts auflöst.«

»Und Sie denken, das waren …«

»Ja, Chef, das können nur die Venusianer gewesen sein. Genau ihre Handschrift.«

»In diesem Fall werden wir Vergeltung üben. Wie viel Gefechtsraketen haben wir noch im Gürtel des Orion?«

»Vier, Chef.«

»Das wird nicht reichen. Wir müssen Hilfstruppen anfor…«

»Willst du noch ein wenig Suppe?«

»Nein, danke«, sagte Nicolas, der wie gebannt auf den Bildschirm starrte.

»Jetzt schau mal auf deinen Teller, sonst wird der Fernseher ausgeschaltet!«

»Och, Mama! Bitte …«

»Hast du immer noch nicht die Nase voll von diesen kleinen grünen Männchen und Planeten, die alle Namen haben wie Waschmittelmarken?«, fragte Jonathan.

»Ich finde das spannend. Ich bin sicher, eines Tages begegnen wir außerirdischen Wesen.«

»Na ja … Das ist doch ein alter Hut!«

»Die haben eine Sonde zu dem Stern geschickt, der der Erde am nächsten ist. Die heißt Marco Polo, die Sonde, und bald werden wir wissen, wer unsere Nachbarn sind.«

»Das wird genauso in die Hose gehen wie mit all den anderen Sonden, die man losgeschickt hat, um den Weltraum zu verschmutzen. Das ist zu weit, glaub's mir.«

»Vielleicht, aber woher willst du wissen, dass die Außerirdischen nicht uns besuchen? Die haben längst nicht alle Rätsel um die Ufos geklärt.«

»Und wenn schon … Was hätten wir davon, wenn wir anderen intelligenten Wesen begegneten? Eines Tages würden wir unweigerlich mit ihnen im Krieg liegen, und findest du nicht auch, dass wir schon genug Probleme unter uns Erdbewohnern haben?«

»Das wäre doch exotisch. Ganz neue Gegenden, und wir könnten da vielleicht in Urlaub hinfahren.«

»Wir hätten vor allem neue Sorgen.«

Er fasste Nicolas am Kinn. »Wenn du groß bist, mein Junge, wirst du auch so denken wie ich: Das einzig wirklich interessante Wesen, das einzige Wesen, dessen Intelligenz sich wirklich von unserer unterscheidet, das ist … die Frau!«

Lucie protestierte der Form halber, dann stimmte sie in Jonathans Lachen ein. Nicolas verzog das Gesicht. Einen seltsamen Humor hatten die, diese Erwachsenen … Seine Hand machte sich auf die Suche nach dem beruhigenden Fell des Hundes.

Unter dem Tisch war nichts.

»Wo ist denn Ouarzazate?«

Er war nicht im Esszimmer.

»Ouarzi! Ouarzi!«

Nicolas pfiff durch die Finger. Gewöhnlich wirkte das sofort: als Antwort ein Bellen, dann ein Tapsen. Er pfiff erneut. Keine Antwort. Er stand auf und schaute in den zahlreichen Zimmern der Wohnung nach. Seine Eltern folgten ihm. Kein Hund zu sehen. Die Wohnungstür war abgeschlossen. Und aus eigener Kraft hatte er sich nicht davonstehlen können, noch wissen Hunde nicht, wie man mit einem Schlüssel umgeht.

Unwillkürlich gingen sie alle in die Küche, genauer gesagt: zu der Kellertür. Der Spalt war immer noch nicht abgedichtet. Und für ein Tier von Ouarzazates Größe war er gerade breit genug.

»Er ist da drin, ich bin sicher, er ist da drin!«, wimmerte Nicolas. »Wir müssen ihn rausholen.«

Wie zur Antwort drang ein abgehacktes Kläffen aus dem Keller nach oben. Es schien von weit her zu kommen.

Sie näherten sich der verbotenen Tür. Jonathan ging dazwischen: »Papa hat dir gesagt, wir gehen nicht in den Keller!«

»Aber Schatz«, sagte Lucie, »wir müssen ihn doch holen. Vielleicht haben ihn die Ratten angefallen. Du hast gesagt, da unten gibt es Ratten …«

Sein Gesicht wurde hart.

»Pech für den Hund. Wir kaufen morgen einen anderen.«

Der Junge war entsetzt.

»Aber Papa, ich will keinen anderen. Ouarzazate ist mein Freund, du kannst ihn doch nicht einfach so sterben lassen.«

»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte Lucie. »Lass mich gehen, wenn du Angst hast!«

»Hast du Angst, Papa, bist du feige?«

Jonathan beherrschte sich mühsam, er murmelte ein »Schon gut, ich guck nach« und holte eine Taschenlampe. Er leuchtete durch den Spalt. Es war schwarz dahinter, absolut schwarz, ein Schwarz, das alles verschluckte.

Er schauderte. Am liebsten wäre er davongerannt. Aber seine Frau und sein Sohn drängten ihn zu diesem Abgrund. Fürchterliche Bilder schossen ihm durch den Kopf. Seine Angst vor der Dunkelheit gewann die Oberhand.

Nicolas brach in ein Schluchzen aus. »Er ist tot! Er ist ganz bestimmt tot! Und du bist schuld!«

»Vielleicht ist er nur verletzt«, beschwichtigte Lucie, »wir müssen schnell nachsehen.«

Jonathan dachte an Edmonds Botschaft. Der Ton war kategorisch. Nur, was sollte er tun? Eines Tages würde sowieso einer von ihnen schwach werden und hinuntersteigen. Er musste den Stier bei den Hörnern packen. Jetzt oder nie. Er fuhr sich mit der Hand über seine schweißnasse Stirn.

Nein, so würde das nicht ablaufen. Endlich hatte er die Gelegenheit, seine Ängste zu überwinden, sich einen Ruck zu geben, sich der Gefahr zu stellen. Würde ihn die Dunkelheit verschlingen? Umso besser. Er war bereit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren.

»Ich gehe!«

Er holte sein Werkzeug und knackte das Schloss.

»Ganz gleich, was passiert, rührt euch nicht fort. Versucht auf keinen Fall, nachzukommen oder die Polizei zu rufen. Wartet auf mich!«

»Du redest so sonderbar. Das ist doch nur ein Keller, wie es in jedem Haus einen gibt.«

»Da bin ich mir nicht so sicher …«

Angestrahlt von dem orangefarbenen Oval einer untergehenden Sonne, läuft das Männchen Nr. 327, einziger Überlebender der ersten Jagdexpedition des Frühjahrs, allein weiter. Unerträglich allein.

Seit einer Weile schon waten seine Beine durch Pfützen, Schlamm und schimmelige Blätter. Der Wind hat seine Lippen ganz ausgetrocknet. Staub hat seinen Körper in einen bernsteinfarbenen Mantel gehüllt. Es spürt seine Muskeln nicht mehr. Einige seiner Krallen sind abgebrochen.